Wege der Kunst – Wege zu Gott?
Von Prof. Wilhelm Gräb. Der Beitrag wurde am 6. August 2012 publiziert.
Die Fragen stellte Christian Modehn
Das Interesse an Kunst, wie es sich etwa im Besuch von Kirchen, Kathedralen und Museen zeigt, ist ungebrochen groß. Zeigt sich da Ihrer Meinung nach mehr als ein „übliches Kulturinteresse“, etwa ein „Ausstieg“ aus dem Alltag?
Wenn wir eine gotische Kathedrale wie etwa den Kölner Dom betreten, spüren wir unwillkürlich, dass wir an einem anderen Ort sind. Der Raum öffnet sich ins Hohe wie in die Tiefe. Wir machen in der Tat die Erfahrung des Eingang in eine dem Alltag enthobene Wirklichkeit. Das besondere dieser anderen Wirklichkeit ist, dass sie uns auf eigentümliche Weise berührt. Wir fühlen uns angesprochen, in etwas ausgesetzt, das uns sagt: „Tua res agitur“, „Deine eigene Sache wird hier verhandelt“.
Das ist die Erfahrung, die wir in Kirchen machen können, auch modernen Kirchen wie etwa in der berühmten Walfahrtskirche, die Le Corbusier in Ronchamp, Frankreich, gebaut hat. Dort sind es die kubischen Fensteröffnungen in einem alles Rechteckige und Quadratische von sich abweisenden, in sich zurück gebogenen Raum, die die Erfahrung geradezu einer Lichtoffenbarung machen lassen. Die ganz besondere Raumatmosphäre macht es, dass wir aus unserer Selbstbezüglichkeit herausgeführt werden. Es kann uns aufgehen, dass wir, diese in selbst verkrümmten Wesen, doch zu einer sehr viel größeren Wirklichkeit gehören, ja Teil eines unendlich Ganzen sind. Doch das Universum ist – entgegen aller physikalischen Erkenntnis – nicht stumm, nicht abweisend. Im Gegenteil, es spricht uns an, es hebt uns über uns selbst hinaus, lässt uns aufatmen, gibt uns neue Kraft.
Was ich so zu beschreiben versucht habe ist eine ästhetische Erfahrung, die zugleich auf ihr innewohnende religiöse Momente hin durchsichtig wird, eine ästhetische Erfahrung, die zur Gotteserfahrung werden kann.
Wir können sie überall machen, wo uns ästhetische Erfahrungen, also sinnlich beeindruckenden Sinnerfahrungen geschehen, nicht nur in Kirchen, auch vor großen Werken der Kunst und im Musikerleben, auch vor dem Naturschönen, bei einem Waldspaziergang, am Meeresstrand, oder auf einer Bergwanderung. Immer hat unser ästhetisches Erleben die Chance, ein religiöses Empfinden zu wecken und zu stärken. Religiös ist dieses Empfinden, weil es den meditativen Gedanken bei sich hat, leicht jedenfalls auf sich ziehen kann, dass wir doch in die letztlich fremde, verkehrte Welt passen, dass es ein Glück ist, da zu sein und das Leben genießen zu können. Voll Dankbarkeit! Wem das Religiöse im ästhetischen Erleben bewusst wird, der wird dem empfundenen Dank auch Ausdruck geben wollen – indem er vor seinem Schöpfer auf die Knie fällt.
Wird Kunst überfordert oder gar missbraucht, wenn in ihr Spuren des Transzendenten und des Religiösen entdeckt oder gar bewusst gesucht werden?
Wo wir von der Kunst etwas verlangen oder sie zu etwas gebrauchen, ist das keine Kunst mehr. Wahre Kunst geschieht nur im Spiel der Freiheit. Weil er davor Angst hat, deshalb wollte Kardinal Meisner das im reinen Farbspiel aufgehende Buntglasfenster, das Gerhard Richter im Seitenschiff des Kölner Domes eingesetzt hat, dort nicht haben. Die Kirchen sind immer noch nicht frei davon, die Kunst für die Zwecke der Verbreitung ihrer Dogmen zu missbrauchen.
In der Moderne entzieht sich jedoch die Kunst solcher kirchlichen Funktionalisierung ebenso wie die Religion zu einer Sache der individuellen religiösen Erfahrung wird. Diese kann im Erleben eines schönen (!) Gottesdienstes gemacht werden, aber eben auch in der Begegnung mit großen Werken der Kunst, der Baukunst, der bildenden Kunst, der Musik – nicht zuletzt aber immer auch in den großartigen Werken, die die Natur unserem betrachtenden Auge schenkt und angesichts derer sich uns das Lob unseres Schöpfers doch unwillkürlich auf die Lippen legt.
Welches Göttliche, welcher Gott, zeigt sich etwa in einer Arbeit von Caspar David Friedrich oder vielleicht sogar von Gerhard Richter?
Gott ist ein Wort unserer religiösen Sprache. Was ist der Sinn dieses Wortes? Den müssen wir an dem Gebrauch ablesen, den wir von ihm machen. Dabei stoßen wir gerade im Zusammenhang der Artikulation dessen, was uns an großen Werken der Kunst beeindruckt, darauf, dass sich uns hier die Rede von der Erfahrung des Göttlichen oder auch von einer Gotteserfahrung zwanglos nahelegt. Aber wenn wir – etwa vor dem „Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich oder vor dem durch Friedrich inspirierten „Seestück“ von Gerhard Richter stehend – von einer Gotteserfahrung sprechen, meinen wird ja nicht, dass Gott in dem, was auf diesen Bildern zu sehen ist, in irgendeiner Weise da wäre. Was wir meinen, wenn wir diese Bilder großer Kunst mit Gott oder dem Göttlichen in Verbindung bringen, ist vielmehr eben die religiöse Deutung der ästhetischen Erfahrung, die sie uns machen lassen. Sie sprechen uns auf unsere merkwürdige Stellung in den unermesslichen Weiten eines Universums, das auch ohne uns sein könnte, an. Sie geben uns zugleich das Gefühl, dass wir dazu gehören, in die Welt passen, sie erkennen und gestalten können – stärken uns so vielleicht sogar in der Hoffnung, dass schließlich alles gut wird.
Wenn Kunst eine Erfahrung des Göttlichen und Gottes ist: Wäre dann ein Museumsbesuch – meditativ vollzogen – auch eine Art Gottesdienst?
Der kirchliche Gottesdienst hat kein Monopol auf die Gotteserfahrung. Wenn es ein schöner (!) Gottesdienst ist, den ich in einer Kirche erlebe, dann ist er es deshalb, weil er mich erbaut, weil er mich aus meiner Selbstbezogenheit herausführt und für die größere, unendliche Wirklichkeit Gottes öffnet. Ich kehre mit anderen Augen in den Alltag zurück, gereinigt und ermutigt. Das kann auch an anderen Orten, die die Kraft haben, in eine solche, für die religiöse Deutung offene ästhetische Erfahrung zu führen, geschehen. Zu ihnen gehört selbstverständlich auch das Museum, der Konzertsaal, der Kinosaal. Überall dort kann mit Gott begegnen, wo ich die Erfahrung mache, dass die Wirklichkeit im Vorhandenen nicht aufgeht, sondern ihr ein Geheimnis innewohnt – aus dem heraus aber wir in Wahrheit leben.
Was ergibt sich daraus für eine protestantische Tradition der Abwehr von Bildern Gottes?
Die protestantische Abwehr der Bilder galt den Kultbildern und der Reliquienverehrung, damit der Verdinglichung und Vergegenständlichung des Göttlichen. In dem ist ihr immer noch Recht zu geben. Denn die Verdinglichung der Bilder führt in die Ideologisierung des religiösen Glaubens. Dann vernebelt er die Sinne und macht Menschen der Macht derer gefügig, die die Dogmatisierung der Religion zum Zwecke der Stabilisierung ihrer Herrschaft betreiben.
Für Martin Luther waren die Bilder weder gut noch böse. Er wollte sie ja auch gar nicht aus den Kirchen verbannt wissen. Auf den rechten Gebrauch der Bilder kam es ihm an. Und den sah er gerade darin, dass sie dem befreienden Wort des Evangeliums eine emotional ansprechende, uns über unser Glauben und Verstehen hinaus ergreifende Macht verleihen. Es waren für ihn gute Bilder, wenn sie in Erfahrungen der Transzendenz führen, in die tiefe innere Empfindung, Gott nicht mehr suchen, schon gar nicht für ihn etwas tun oder glauben zu müssen, sondern von ihm selbst, dem Schöpfer und Vollender aller Dinge – aller eigenen Anstrengung voraus – längst schon gefunden und ergriffen zu sein.
Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.