Heilend, befreiend, erlösend
Von Christian Modehn
„Bei der Freundschaft umfasst uns eine alles durchdringende, dabei gleichmäßige und wohlige Wärme, beständig und mild, ganz Innigkeit und stiller Glanz. Nichts Beißendes ist in ihr, nichts, das uns verzehrt“. Michel de Montaigne erzählt
vom Höhepunkt seines Lebens, von seiner Freundschaft mit Etienne de la Boethie. “Vier Jahre waren mir nur vergönnt, die beglückende Nähe dieses Mannes zu genießen. Sie führte zu einer vollständigen Verschmelzung zweier Seelen“. Sie hatten sich, beide Anfang dreißig, in Bordeaux kennen gelernt und sofort die Gewissheit erlebt: Wir sind als Freunde für einander bestimmt: „Das ist eine Fügung des Himmels, ein Geschenk“. Bei allem Enthusiasmus, aller Zuneigung und Erfahrung des Einsseins: Von homosexuell geprägter Liebe ist keine Rede. Sie konnten alles miteinander besprechen, auch „die flüchtigen Liebeleien“ mit Frauen. Die Freundschaft schätzte Montaigne aber mehr als die Ehe. Sie empfand er wie so viele andere zu seiner Zeit als eine „Geschäftssache“, einen „Handel“, der auch politischen Zwecken verpflichtet ist. „Aber in unserer Freundschaft verschmelzen zwei Seelen“.
In seinem Hauptwerk, den „Essais“, hat Michel de Montaigne ein langes Kapitel der Freundschaft mit Etienne de la Boethie gewidmet. Von 1557 bis zum plötzlichen Tod des erst 33 Jahre alten Freundes waren sie unzertrennlich: Michel, damals noch Parlamentsrat und Etienne, der Schriftsteller.
Als sich Montaigne, inzwischen „freier Philosoph“, unter den Schmerzen der Trauer etliche Jahre später immer wieder an die Freundschaft erinnerte, war ihm klar: Intensive Begegnungen unter Männern, voller Wahrhaftigkeit und Tiefe, „kommen einmal in drei Jahrhunderten vor“. Darum die Warnung an die Leser seiner „Essais“, dieser persönlich formulierte Einsichten für ein glückliches Leben: „Dass man mir die gewöhnlichen Freundschaften ja nicht mit unserer Freundschaft auf dieselbe Stufe stellt“. Montaigne ist durch diese Freundschaft zu einem weisen Mann geworden, zu einem Philosophen; skeptisch gegenüber allen dogmatischen Lehren, respektvoll für fremde Kulturen, tolerant im besten Sinn des Wortes. Er verabscheute alles banale Gerede, das sich als „freundschaftliches Interesse“ ausgibt. Wie hätte er sich lustig gemacht über diese so genannten „Männerfreundschaften“ heutiger Managern oder Staatspräsidenten und ehemaliger Bundeskanzler: Dieses freundschaftliche Getue, das einzig dem persönlichen Profit zu dienen hat.
Oberflächliches Zusammensein von Männern gab es natürlich schon zu Montaignes Zeiten, jenes nur selten stilvolle Plaudern und hintergründige Lachen, jenes gemeinsame Aushecken von Abenteuern im Rahmen einer Kumpanei. In solchen Situationen nennen sich Männer „Freunde“, in Wahrheit meinen sie aber bestenfalls nur „Bekanntschaften“, wie der Philosoph treffend sagt. Montaigne ist ein moderner Denker: Er wusste, dass Männer zum Austausch über die „Tiefe des Herzens“ und zu „innigem Vertrauen“ eher selten in der Lage sind. Seine Gewährsleute kommen von weit her: Er zitiert den paradoxen Satz des griechischen Philosophen Aristotoles: „O meine Freunde, Freunde gibt es nicht“. Und Montaigne erwähnt auch den antiken Dichter Menandros: „Er hat den Mann selig gepriesen, dem es vergönnt ist, auch nur den Schatten eines Freundes kennen zu lernen“. Bis in die Neuzeit immer wieder dieselbe Klage: „Ein echter Freund ist so selten anzutreffen wie ein schwarzer Schwan“, schreibt Immanuel Kant. Allerorten das Verwundern: Männern fällt es leichter, ein Feindbild vom anderen zu entwerfen als sich um das seelische Befinden des anderen Mannes zu kümmern. Es ist für Männer einfacher, andere Männer kaltzustellen und seelisch und körperlich auszulöschen als um eine gemeinsame Freundschaft zu werben und diese mit viel Geduld zu pflegen. „Und wie wenige Freunde würden Freunde bleiben, wenn einer die Gesinnungen des anderen im ganzen sehen könnte“, notiert der Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg im 18. Jahrhundert.
Dabei gab es einmal Männer, die ganz ausdrücklich die Männerfreundschaft pflegten: Etwa zur Zeit der Romantik war der Halberstädter Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719 – 1803) ein Meister freundschaftlichen Zusammenseins, das durchaus elitäre Züge hatte, vielleicht zu „schöngeistig“ und abgehoben vom Alltag. Immerhin, aber eine Ausnahme!
Auch heute ist Freundschaft unter Männern eher eine Utopie. Die wenigen Männerforscher und Männertherapeuten wie Ruedi Josuran oder Allan Guggenbühl, Paul Zulehner oder Rainer Volz, sprechen vom „halbierten Mann“, also von jenem maskulinen Leben, das fast nur der Arbeit gilt oder im Falle der Arbeitslosigkeit dem im Alkohol ertränkten Ärger über diesen Zustand. Der durchschnittliche, der so genannte normale Mann in Europa und Nordamerika ist gestresst im Betrieb, erregt über die übliche Hackordnung in der Firma, getrieben von Verpflichtungen in Sportvereinen, Clubs und Stammtischen, gedrängt von Hobbys, umgeben von zeitraubenden Bekanntschaften, gesteuert vom Drang, in jeder freien Minute im Internet zu surfen. Da werden die Wünsche der Kinder überhört, mit dem Vater etwas zu unternehmen, ja ihn als Mann überhaupt zu erleben. Dieser zerrissene Mann hat für seine Partnerin wenig Zeit und er hat immer weniger Lust auf ein erotisches Zusammensein. Hat dieser Mann noch Raum für eine Freundschaft mit einem Mann oder einer kleinen Gruppe von Männern? Die Therapeuten und Ärzte, Theologen und Philosophen, sind da zurückhaltend. Der halbierte Mann bräuchte so dringend Freunde, um aus seinem eindimensionalen Leben herausgeführt zu werden, was einer Befreiung und Erlösung gleichkäme. Seelische kaputte Männer, ichbezogen und einsam, geben den Ton an, regieren ganze Imperien. Und von den Kirchen ist da nicht viel Hilfe zu erwarten. Sie werden von sich auserwählt fühlenden, oftmals zölibatären, d.h. antierotischen Männern beherrscht. Da ist keinen Raum, in dem Männerfreundschaft wachsen kann.
Dabei ahnen es auch die Männer selbst: Freundschaft könnte heilend sein, könnte den Unfrieden in der Gesellschaft ein wenig einschränken. Aber wie können authentische Männerfreundschaften entstehen? Männer sind gern unter sich: Sie finden es spannend, ihre nach außen gerichteten Interessen gemeinsam auszuleben, über Technisches zu reden, Maschinen zu reparieren, strapazierende Bergwanderungen zu machen usw. Da sind die Männer füreinander die „Kumpels“, ohne Konkurrenz, ohne Hierarchie. In solchen Situationen sind sie froh, sich jungenhaft noch einmal austoben zu können, ohne dass ihre Partnerinnen dabei sind. Kann aus solchem kumpelhaften Zusammensein Freundschaft werden? Ein einzelner Mann muss den Mut haben, das oberflächliche Geplauder zu unterbrechen und Wesentliches zu sagen. Entweder beginnt dann der Prozess der Reifung oder der mutige einzelne wird aus der Gruppe der Kumpels rausgedrängt. Paradoxerweise entwickeln sich heute tiefe und reife Männerfreundschaften in leidvollen Situationen: Ein Mann trifft in einer Reha – Klinik einen anderen, der mehr ist als ein Kumpel. Ein Kollege findet plötzlich die richtigen Worte, wenn der andere von seiner Scheidung berichtet. Ein Nachbar nimmt sich Zeit, wenn der andere von seinen Alkoholproblemen spricht. In solchen Situationen kann tiefere Kommunikation entstehen, die sich zur Freundschaft hin öffnen kann.
Mir schrieb vor einem Jahr mein Freund Roland diese Zeilen: „Auch wenn es für mich als Heterosexuellen am Anfang unserer Freundschaft mit Dir als schwulem Mann einige Missverständnisse gab, darf ich Dir sagen: Ohne unsere Freundschaft hätte ich nicht meine Krise überlebt, also das Ende meiner Karriere, die extreme nervliche Belastung. Immer wieder konnten wir uns sprechen, auch nachts, immer, am Telefon, im Café, zuhause. Ich spürte, dass Freundschaft vor allem tiefes Interesse an mir, an dieser einzelnen Person, ist, getragen von Treue und Zuverlässigkeit. Wie oft habe ich die anderen Menschen nur als Mittel zum Zweck gebraucht. Ich lernte in unserer Freundschaft, zum ersten Mal auf meinen Körper zu hören, Arztbesuche nicht als „technische Reparaturen“ anzusehen, gesunde Ernährung nicht als überflüssigen Luxus“.
Freundschaften zwischen heterosexuellen und schwulen Männern sind eher selten. Unter den 30 jährigen klappt es vielleicht besser, vorausgesetzt, sie haben die notwendige intellektuelle Kraft, sich von Klischee -Vorstellungen zu lösen. Denn die meisten heterosexuelle Männer sind von einer Urangst umtrieben, sie könnten selbst schon bei einer Freundschaft mit verheirateten Männern als Schwule wahrgenommen werden. Was sollen bloß die anderen über meine Freundschaft denken? Ist unser verständnisvolles Zusammensein, unsere Offenheit, unser Weinen Können miteinander in der Trauer, unser Umarmen zur Begrüßung und zum Abschied (das mehr ist als das kumpelhafte Schulterklopfen), unser gelegentliches, nicht mehr so ganz verkrampftes Streicheln: Ist das alles etwa schwul, Ausdruck einer homosexuellen Liebe? Heterosexuelle Männer verzichten lieber auf Freundschaften als irgendwie als Mitglied der „perversen Minderheit“ angesehen zu werden. Die meisten Männer sind offenbar noch so verklemmt, dass sie denken: Auch schwule Tendenzen in mir sind nichts Verbotenes, sondern eine Chance, umfassender Leben und Lieben kennen zu lernen. Aber auch heute gilt: Schon der kleine Junge muss hart und kämpferisch erscheinen. Er darf bloß nicht wie ein Mädchen wirken, bloß nicht mit Puppen anstelle von Panzern spielen.
Werden einmal – vielleicht sogar mit therapeutischer Hilfe – die Zwangsvorstellungen von „dem“ Mann überwunden, dann können Männer sich gemeinsam als Männer schätzen lernen. Sie entdecken, was es heißt, sich selbst als Mann zu lieben, die eigene Sexualität anzunehmen, „das Vermögen hochzuschätzen, kreativ Samen zu verstreuen“, wie es der katholische Theologe und Männertherapeut Richard Rohr einmal sagte. Er sprach damit ein Thema an, das in Männerfreundschaften enttabuisiert wird: Das offene Sprechen über die eigene Potenz. „Es gibt keine Männerfreundschaft ohne das aufrichtige, furchtlose Gespräch über Sex“, sagt der us – amerikanische Schriftsteller Philip Roth.
Amerikanische Philosophen und Psychologen haben noch weiterreichende Vorschläge: Sie wollen die seit Jahrhunderten unbefragte kulturelle Tradition überwinden, nach der Männer eben für immer festgelegt bestimmte Männerrollen spielen und Frauen eben ewig festgelegte Frauenrollen. Diese Identitäten stiften geschlossene Systeme, sie müssen aufgebrochen werden. Diese angeblich ewigen Festschreibungen stiften nur Abgrenzung und Zurückweisung, Herrschaft und Unterwerfung, vor allem die Unfähigkeit, sich selbst seelisch wahrzunehmen. Es ist ein Ziel dieser neuen, „Queer-Theorie“, gegen die festen und fixen sexuellen Identitäten zu argumentieren. Queer bedeutet ja „vereiteln, unterlaufen, Üblichkeiten auflösen“. Als Ziel reifer Freundschaft gilt dann der Mann, der dem anderen Mann wirklich zärtlicher Freund sein kann, und dabei die geringen Anteile schwuler, vielleicht weiblicher Seiten in sich selbst akzeptiert und diese auch liebt. So braucht er selbst vor einem erotischen Kontakt mit dem Freund keine Angst zu haben. Seine Partnerin und Frau wird dankbar sein, einen echten, einen ganzen Mann bei sich zu haben, der seine Pascha- und Macho- Rollen überwunden hat.
Hat die Bibel nicht auch entsprechende Anregungen? Die Erzählung von der Freundschaft zwischen David, dem jungen Hirten, und Jonathan, dem Königssohn, in den Büchern Samuel kann als die einzige schwule Liebensgeschichte der Bibel ODER als eine tiefe Freundschaft heterosexueller Männer gelesen werden. Wie auch immer man die Worte deutet: “Jonathan liebte David wie sein eigenes Leben“ oder, wenn David zitiert wird, „Jonathan, wunderbarer war deine Liebe für mich als die Liebe der Frauen“: Da wird von ganzheitlichen Männern berichtet, die sich die Freiheit für eine ungewöhnliche Beziehung nahmen; die in ihrer Freundschaft die herrschenden Zwangsvorstellungen von korrektem erotischen Verhalten überwunden haben. Wenn man diese Texte auch noch als „Wort Gottes“ wahrnimmt, so liegt darin die Aufforderung: Ihr Männer, gebt alle fest gefahrenen Rollen auf, lasst euch auf die tiefe Freundschaft ein, vielleicht könnt ihr dann gerettet werden und „ganz“ sein.
Die Essais von Michel de Montaigne wurden in der mustergültigen Übersetzung von Hans Stilett zitiert, erschienen im Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1998.