Jesus der Hund: War Jesus ein Zyniker?

War Jesus ein Zyniker?

Um die Antwort – für möglicherweise beunruhigte Leser – gleich vorwegzunehmen: Jesus war wohl kein Zyniker, sondern ein Kyniker. Aller Wahrscheinlichkeit nach. Aber, wie in der neuen “Enzyklopädie Philosophie” (Meiner Verlag 2010, S.3137) betont wird, gibt es durchaus einen sachlichen und nicht nur sprachlichen Zusammenhang zwischen Kynismus und Zynismus.
Worum geht es?
In vielen unterschiedlichen Bildern und Begriffen wird von Jesus von Nazareth gesprochen. Gerd Theißen, der „Neutestamentler“, nennt ihn z.B. einen „Wandercharismatiker“. Jetzt legt der bekannte Paderborner „Alttestamentler“ Bernhard Lang in einer Art Zuspitzung dieser These eine neue, sehr ernsthafte Diskussionsebene vor: Jesus war ein Kyniker, also ein Weiser, der nach Art der damaligen „Kyniker“ Schule lebte, und das Lebensprinzip war die Bedürfnislosigkeit, die Feindesliebe, die Unruhe, in dieser Welt keinen Platz zu haben, was man gern „Unbehaustheit“ nennt. Bernhard Lang ist also als Historiker der Meinung, dass diese philosophische Orientierung, wenn nicht die „Schule“ der Kyniker, durchaus präsent und prägend war im damaligen Israel; der Kulturaustausch war damals – nebenbei gesagt – sehr viel größer, als sich heutige Menschen vorstellen, die meinen, die Globalisierung sei ihre Erfindung des 20. Jahrhunderts…Griechenland und Israel, oft gegeneinander als unvermittelbare Konzepte ausgespielt, scheinen doch einander gar nicht so fern zu sein…“Jesus und die griechischen Kyniker haben vieles gemeinsam: Sie verzichten auf Besitz, Ehe und Lebensvorsorge, sie verstehen Gott als Vater aller Menschen, ….sie lehnen Vergeltung ab, und sind bereit zum Leiden. Mit traditionellen religiösen Geboten gehen sie unbefangen um“, schreibt Bernhard Lang.
Im Rahmen unseres religionsphilosophischen Salons ist es äußerst interessant zu sehen, dass Jesus offenbar nicht nur in Johannes dem Täufer einen „Vorläufer“ hat, sondern wahrscheinlich eine Art (mythischen) Vorläufer in der Gestalt des Diogenes von Sinope (400 – 328), er wurde wegen seines sehr alternativen Lebensstils von der Öffentlichkeit verächtlich „Kyon“ auf Griechisch, also Hund, also Kyniker, genannt. Später wurde Antisthenes, dein Schüler des Sokrates, zum Inspirator der kynischen Bewegung erklärt. Kyniker haben sich vom Staat und der bürgerlichen Ordnung abgewandt, sie wollten als Bettler das Ideal der völligen Unabhängigkeit verkörpern. „Um die Zeitenwende erfährt der Kynismus ein Wiederaufleben in Rom und hält sich dort bis ins 5. Jahrhundert“, schreibt Josef Fellsches in dem überaus empfehlenswerten Buch „Enzyklopädie Philosophie“ (Meiner Verlag 2010) auf Seite 3137. Jesus als Kyniker – das könnte eine heiße theologische und philosophische Debatte von 2011 werden. In dem modernen Begriff “zynisch”, von “Kynisch” abgeleitet, wird nur noch eine Seite des Kynismus festgehalten, die Moralverachtung, alles Spöttische und Schamlose wurde in der späteren kirchlichen Entwicklung erst “cynisch”, dann “zynisch” genannt, darauf hat der Philosoph H. Niehues – Pröbsting hingewiesen. Interessant wäre die Frage: Wie könnten sich Kirchenführer, Päpste und Bischöfe z.B., neu orientieren, wenn sie sich auf Jesus den Kyniker einließen? Diese Frage ist nicht zynisch, sondern kynisch gemeint. Trotzdem: Würde Jesus von Nazareth als Kyniker heute vielleicht auf die real existierenden Kirchen in ihrer z.T. barocken Macht und ihrem Reichtum doch ein bißchen zynisch reagieren? Wer weiß.

Bernhard Lang, Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers. C H Beck Verlag, 2010.

Moderne Texte für alte religiöse Lieder

„Licht“ – alte religiöse Lieder mit neuen Texten
Die Zeit der frommen Floskeln ist vorbei
Von Christian Modehn

Die in den Niederlanden hoch geschätzte Dichterin, Autorin und Übersetzerin Coot van Doesburgh hat sich auf Einladung der Remonstranten Kirche auf ein nicht nur für Holland wegweisendes Projekt eingelassen: Sie hat zu alten, auch vertrauten religiösen Liedern („Kirchenliedern“) neue, zeitgemäße und poetische Texte geschrieben. So können die alten, noch immer beliebten Melodien weiterhin voller Begeisterung gesungen werden, in Gruppen und Gemeinden, ohne dass jemand wegen der uralten, sprachlich auch kaum noch zumutbaren und „vergangenen“ Floskeln und Bilder doch lieber den Mund hält.
Ende November 2010 wurde das Liedbuch mit dem Titel LICHT in Holland vorgestellt. Die Autorin hat für 100 Lieder neue Texte geschrieben, die das Lebensgefühl des modernen Menschen treffen. Warum soll man sich denn auch sprachlich und gedanklich ans 17. Jahrhundert binden, wenn man alte und schöne Melodien singen will?
Ein entscheidender Schritt ist getan, ein Schritt der Verständigung zwischen musikalischer Tradition und moderner Lebenswelt. Selbstverständlich will die Remonstranten Kirche einige Lieder auch in ihren Gottesdiensten singen. Der Name des Buches LICHT ist ja bezeichnend für diese freisinnige Kirche. Man könnte LICHT geradezu als ein entscheidendes Symbol dieser Kirche bezeichnen, geht es ihr auch um „Lumières“, um Licht im Sinne der Aufklärung, um die selbstverständliche Geltung der Vernunft auch in der Kirche, auch in den Liedern. Natürlich wird bei diesem Projekt die Poesie gerade nicht abgeschafft, aber sie wird mit dem Erleben der heutigen Menschen verbunden. „Coot van Doesburgh hat mit ihren neuen Texten ein Wunder vollbracht, alte Gesänge haben durch ihre Worte ein neues Leben erhalten, zeitlose menschliche Gefühle hat sie in die Sprache von heute übertragen. Ich fühle das Verlangen, diese Lieder mit voller Brust gern mitzusingen, denn sie sind schön geworden, so klar, sie anrührend in ihrer Einfachheit“, schreibt der landesweit bekannte und (königlich) geehrte Schauspieler und Kabarettist Paul van Vliet.
Die Remonstranten Kirche hat sicher einen weiteren Beitrag geleistet, „modern“ und „christlich“ zusammenzuführen. Das beachtliche Medienecho in Holland zeigt, dass das „LICHT“ in dieser Weise sozusagen „fällig“ war. Dem Buch ist auch eine CD beigelegt. Das Projekt „LICHT“ wurde inszeniert von Tom Mikkers, dem Allgemeinen Sekretär der Remonstranten Kirche. Man darf gespannt sein, ob LICHT auch in Deutschland zu ähnlichen Projekten inspiriert, um schöne alte Melodien vom uralten Staub der uralten Texte zu befreien. Warum gibt es eigentlich so wenige Übersetzungen wichtiger niederländischer Bücher aus den Bereichen Religionen ins Deutsche, eine Frage, die wir schon vor kurzem bei der Veröffentlichung des großartigen „Catechismus van de compassie“ stellten. Wir haben das Buch auf der Website www.remonstranten-berlin.de vorgestellt.

LICHT. C. van Doesburgh
Uitgerverij Boekencentrum 2010
ISBN: 9789023967361
Paperback
126 Seiten.
€ 12,50

Die unbekannte Dimension der Vernunft

Philosophisches Wort zur Woche ....
durchaus passend zur philosophischen Gestaltung der Weihnachtszeit, die ja als Zeit der Kindheit, der Nostalgie, der „verlorenen Heimat“, der Naivität beschrieben wird.

Eine unbekannte Dimension der Vernunft: die Naivität erkennen und annehmen.

„Die Vernunft kann nicht anders als ergründen, erklären, interpretieren, d.h. in die Vielfalt Einheit, ins Disparate Zusammenhang, Ordnung, Sinn bringen. Das tut die Vernunft selbst dann noch, wenn sie behauptet, dass alles sinnlos sei. Ihr Tun dementiert dann ihren Inhalt. Ihr Bedürfnis nach Konsistenz, nach Auflösung von Ungereimtheiten, nach Überwindung von Widersprüchen ist von Metaphysik nicht keimfrei sauber zu bekommen.
Metaphysik ragt ins alltägliche Tun der menschlichen Vernunft hinein. Metaphysik hat eine Naturbasis, die Kreatur weiß nichts davon. Der Zusammenhang zwischen Triebleben und Ewigkeit ist ihr verborgen, aber das Seufzen der Kreatur stellt den Zusammenhang her. Vernunft, die diesen Zusammenhang ignoriert, statt ihm Sprache zu verleihen, ist weder über die Natur noch über sich selbst genügend aufgeklärt.

Das Bedürfnis nach Konsistenz, nach Stimmigkeit, ist insgeheim das Bedürfnis nach einer heilen Welt. Ohne dieses Bedürfnis zu haben, kann Vernunft nicht rückhaltlos aufklären: über die Welt wie über sich selbst.

Ohne die blauäugige, durch nichts verbürgte Hoffnung, dass noch nicht aller Tage Abend sei, kann die Vernunft den gegenwärtigen Weltzustand nicht auf den Begriff bringen.

…Den religiösen Kinderwunsch noch in seinen verstohlensten Formen als unausrottbares Moment des Denkens aufzuspüren und in Vernunft zu übersetzen: das ist Aufklärung. Der Versuch, der Vernunft alle Naivität ohne Rest auszutreiben, treibt die Vernunft selbst aus“.

Der Philosoph Christoph Türcke, in seinem sehr empfehlenswerten Buch „Kassensturz. Zur Lage der Theologie“. Fischer Taschenbuch, 1992, S 139 f.. Der Beitrag hat den Titel: „Naivität“.

Vom Glauben an ein “Höheres Wesen”

Vom Glauben an ein “Höheres Wesen”. Eine Bemerkung vorweg:
„Ich bin weder gläubiger Christ noch fühle ich mich als Atheist. Ich glaube nur noch an etwas Höheres, Größeres“. Ein Bekenntnis, das heute in allen Teilen Europas immer mehr Menschen formulieren. Religionssoziologen bestätigen diesen Abschied vom „klassischen“ biblischen Gottesbild. In den Niederlanden wird schon von der stetig wachsenden Konfession der „Ietsisten“, also der „Etwas – Gläubigen“, gesprochen. Theologen untersuchen dort dieses Phänomen. In Deutschland gab es schon in der Romantik Menschen, die angesichts außergewöhnlicher Lebenserfahrungen ins Staunen gerieten: „Da muss es doch noch etwas geben zwischen Himmel und Erde“… In den neuen Bundesländern ist diese Überzeugung längst zur „zahlenmäßig größten Spiritualität“ geworden, wie Forscher an der Universität Leipzig betonen. Aber auch immer mehr Kirchenmitglieder im „Westen“ begrenzen ihre Spiritualität auf die Verehrung dieses „höheren Etwas“. Ist dieses unnennbare „Etwas“ vielleicht sogar der letzte Gott, den man, von allen Eigenschaften befreit, als säkularer Mensch heute noch bejahen können?

Die Langfassung der Ra­dio­sen­dung:
WDR am 13, Mai 2010 um 8.30.

„Da muss doch noch etwas sein…“
Wenn Menschen noch an ein „Höheres Wesen“ glauben
Von Christian Modehn

Der Text wird hier so präsentiert, wie er für eine Hörfunk Sendung üblich ist.

1.SPR.: Erzähler
2.SPR.:Zitator
3.SPR.:ÜbersetzerIN

31 O TÖNE insges. 17 45“.

1. O TON, 0 31“, Bärbel Jaeschke
Im Grunde interessiere ich mich für das Baudenkmal Kirche, weil die alten Kirchen sehr interessant sind und die bunten Fenster, wie das Licht einfällt. Dann hat es sich so ergeben, nachdem mein Mann gestorben war, dass ich zum ersten Mal eine Kerze angezündet hatte, beim nächsten Kirchbesuch irgendeiner anderen Kirche habe ich dann wieder eine Kerze angezündet.

1. SPR.:
Bärbel Jaeschke, im Ruhrgebiet aufgewachsen, lebt jetzt an der Ostsee. Vor einigen Jahren ist sie aus der Kirche ausgetreten.

2. O TON, 0 15“, Bärbel Jaeschke
Ich sehe die Kirche nur als etwas Gesetzgebendes. Wenn ich so sehe, was in der Katholischen Kirche passiert: Für meine Person muss ich das total ablehnen, weil sehr viel Verlogenheit für mich darin steckt.

1. SPR.:
Auch an der offiziellen Kirchenlehre hat Bärbel Jaeschke kein Interesse. Für sie ist allein wichtig ihr privater, persönlicher Glaube. Ihre Hoffnung wird unterstützt von einem bescheidenen Ritus, dem Anzünden einer Kerze für ihren lieben Mann:

3. O TON, 0 26“, Jaeschke
Das drückt Verbundenheit aus oder Sehnsucht oder Erleuchtung. Ich kann es nicht genau beschreiben, warum. Mittlerweile ist es allerdings zur gewissen Tradition von mir geworden. Wenn ich in eine Kirche gehe, suche ich den Kerzenständer auf und zünde für meinen Mann eine Kerze an. Es ist irgendetwas Überirdisches, ich weiß es nicht.

1. SPR.:
Selbst wenn sich Bärbel Jaeschke vom Glauben der Kirche verabschiedet hat:, unreligiös oder atheistisch ist sie nicht geworden. Sie lebt in Verbundenheit mit „irgendetwas Überirdischem“, wie sie sagt. Auch Musik erleben viele Menschen als eine offene, undogmatische religiöse Sprache. Sie gehört nicht mehr zu dieser „irdischen Welt“, meint Nikolaus Wilcke, er arbeitet als Pädagoge.

4. O TON, 0 46“. N. Wilcke
Um Abstand vom Alltag zu finden oder auch die Herausforderungen des Schicksals zu bewältigen, zu überstehen, hilft mir vor allem das Hören vom klassischer Musik. Es ist für mich wie das Eintreten in eine andere Welt, vor allem in den Solopartien von Opern oder auch Kantanten erlebe ich den Ausdruck von Demut, Erhabenheit Schmerz Liebe und Erbarmen. Also meinen ganzen Weltschmerz, wenn man so will, der durch die Musik ausgedrückt wird und in eine andere, vielleicht geheimnisvolle Wirklichkeit gehoben wird. Dort bekomme ich neue Kraft, die andere vielleicht in einem Gebet oder einer Meditation finden.

1. SPR.:
Es gibt viele Möglichkeiten, „die geheimnisvolle Wirklichkeit“ mitten im Alltag zu berühren. Einige Menschen zieht es in die Natur, wenn sie meditieren wollen. Uli Scheidl möchte deswegen auf seinen Garten in Brandenburg nicht mehr verzichten:

5. O TON, 0 19“, Scheidl
Herrlich, herrlich. Ich setz mich manchmal um halb sechs hier hin. Die Sonne kommt hoch, die Vögel zwitschern, das ist Beruhigung für die Seele. Das ist einfach schön, kann man gar nicht beschreiben. Die ganze Natur ist ein Wunder. Wie ist die Erde überhaupt entstanden? Normalerweise ist der Mensch viel zu klein, um das zu begreifen.

1. SPR.:
Es sind nicht überschwängliche Esoteriker oder enthusiastische Charismatiker, die von „etwas Wunderbarem“ mitten im Leben sprechen. Sie sind nur überzeugt, dass es eine in sich abgeschlossene, bloß „weltliche Welt“ nicht gibt. Und damit befinden sie sich in guter Gesellschaft. Von einem Verschwinden der Spiritualität oder von einem Triumph des Atheismus spricht heute in Europa kein Soziologe mehr und auch kein Philosoph. „Gott ist tot“ – Diese These wurde noch Ende der neunzehnhundertsiebziger Jahren von Religionssoziologen und Theologen lautstark verbreitet. Die Entwicklung neuer Formen der Frömmigkeit scheint sie jedoch zu widerlegen. Und die außerkirchlich Frommen sind keineswegs immer fundamentalistisch oder evangelikal geprägt. In den Niederlanden z.B. bilden viele tausend Menschen eine Art „neuer Konfession“. Sie ist eher nüchtern, rational, sie kennt keine festen Strukturen und hat keine feste Glaubenslehre. Diese Menschen halten sich für „Ie-t-sisten“. Mit diesem Titel beziehen sie sich auf das niederländische Wort „iets“: Es bedeutet – ganz schlicht – „etwas“. Der Amsterdamer Pastor Dik Mook:

6. O TON, 0 18“, Dik Mook.
Ietsismus heißt: Man glaubt an etwas, weil man nicht glauben kann, dass es NICHTS gibt. Es gibt etwas, da muss etwas sein, das mehr ist, als wir uns denken können, was mehr ist, was wir sehen können.

1. SPR::
„Irgendetwas Besonderes, Erstaunliches oder Wunderbares wird es schon geben“: Im Plauderton, vielleicht am Stammtisch, lässt sich ein solches „Bekenntnis“ schnell formulieren. Aber: Sprechen da die ernstzunehmenden Ietsisten, die „An – Etwas – Glaubenden“? Der protestantische Theologe Herbert Wevers aus Den Haag will doch lieber differenzieren:

7. O TON 0 41“, Herbert Wevers
Iestismus – ist das nicht artikulierte Glauben der ganz großen Menge der Bevölkerung. Das ist ein oberflächliches Glauben. Man sitzt im Sofa, die Beine hoch und denkt ein bisschen mit einem Glas Wein über das Leben. Und nicht so viel weiter. Das ist der dünne Ietsismus. Und man hat auch das dicke Ietsimsus, das ist positiver, ein erster Schritt im Glauben.

1.SPR.:
Mit diesen „dicken“ Ietsisten, wie Herbert Wevers sagt, also denen, die ernsthaft nach einem tragenden Grund der Welt und den Konsequenzen daraus fragen, setzen sich Theologen auseinander, zum Beispiel Professor Gijs Dingemans. Er hat bis zu seiner Emeritierung an der Universität Groningen gelehrt und dabei viele Menschen kennen gelernt, denen die alten, schlichten Gottesbilder der Kindheit zerbrochen sind.

8. O TON, 0 19“ Dingemans,
Dann gibt es sehr viele Leute, die suchen und die sagen, ich hab von der Kirche aus und von meiner Jugend so viel mitgekriegt, das muss ich erst mal loswerden und zu einem Nullpunkt oder so etwas kommen, und dann kann man vielleicht etwas weiter kommen.

1. SPR.:
An „Gott Vater“, der im Himmel thront, zu glauben ist zu viel verlangt für manche vernünftige Menschen. Viele religiös Interessierte in ganz Europa haben auch Probleme, einen „Herrn, der alles so herrlich regieret“, zu verehren. Wer sich von angelernten religiösen Formeln und Lehren befreit, meint an den religiösen Nullpunkt zu gelangen, aber spürt doch eine merkwürdige Nähe von „Etwas“ Göttlichem:

9. O TON, 0 34“, Dingemans
Das Zurückgehen zu einer Nullinterpretation, also dass etwas sein muss, habe ich in Verbindung gebracht mit einer Sache, die in allen Religionen anwesend ist, das ist das Mysterium, dass es etwas gibt, das heilig ist. Das, was unbedingt angeht. Und ich sehe, dass viele Leute suchen, wo fühle ich das Geheimnis der Welt, wie kann ich damit etwas weiterkommen, wie kann ich das erfahren.

1. SPR.:
Und die Menschen finden für dieses „Geheimnis der Welt“ ihre eigene Antwort. Sie fühlen sich gestärkt sich von einem „überirdischen „Etwas“, das sogar den Tod überdauert. Barbara Jaeschke:

10. O TON, 0 23“, Bärbel Jaeschke
Der Mensch besteht aus Energie. Und in der Physik haben wir ja gelernt, Energie geht nicht verloren, sie kann umgewandelt werden. Und diese Energie, die ja in einem Körper steckt, der dann stirbt, die entweicht diesem Körper, wird umgewandelt und ist auch irgendwo noch vorhanden, weil Energie einfach nicht verloren geht.

1. SPR.:
Eine persönliche Antwort auf die Herausforderung der eigenen Endlichkeit: Eigenwillig vielleicht, aber wahrhaftig. Mit eindeutigen, wissenschaftlich – exakten Antworten ist bei diesem Thema ohnehin nicht zu rechnen. Der Sinn des Lebens und der Sinn des Sterbens, dieses große „Warum“, bleibt auch für den Theologen Gijs Dingemans immer etwas Geheimnisvolles.

11. O TON, 0 15“, Dingemans
Wir haben verschiedene Antworten auf die Weise, worauf wir das Mysterium sehen. Ich denke, es wäre besser, als wir nicht die Wahrheitsfrage stellen. Da kommt man nicht weiter, wer die Wahrheit hat.

1. SPR.:
In Holland begleiten einige Pfarrerinnen und Pfarrer ausdrücklich auch Menschen außerhalb der Kirchengemeinden. Oft sind es „Ietsisten“, die sich bei ihrer Suche nach dem „Etwas“, dem Mysterium, sogar nach neuen Ritualen sehnen. Jeder zweite Niederländer ist aus der Kirche ausgetreten; für diese Menschen kommen die klassischen katholisch oder evangelisch geprägten Riten nicht mehr in Frage. Pfarrerin Christiane Berckvens (Aussprache?) stammt aus Belgien, sie arbeitet in der holländischen Remonstranten – Kirche als „Ritual-Lehrerin für Ietsisten“:

12. O TON, 0 48“, Christiane Berckvens
3. Sprecherin:
Es gibt viele Menschen, die wollen einen Übergangsritus beispielsweise anlässlich einer Geburt, Hochzeit oder Bestattung. Viele Menschen, die nicht einer Kirche angehören, wünschen einen Ritus, der etwas ihrem Leben mehr Tiefe verleiht. Darin zeigt sich ein spirituelles Bedürfnis! Deswegen entwickele ich Riten für die unterschiedlichen Menschen, etwa, wenn ein Partner gläubig ist und der andere nicht. Wichtig ist allein, mit diesen Menschen die Spiritualität zu vertiefen.

1.SPR.:
Und diese „Hilfe“ beginnt bei neuen religiösen Riten zur Geburt eines Kindes, sie gilt für Eheschließung oder auch Ehescheidung sowie für die Trauerfeier. Die Etwas–Gläubigen erleben die neuen Riten als Hilfe, den Übergang in neue Lebensphasen zu bewältigen. In repräsentativen Umfragen, wie z.B. dem „Religionsmonitor“, wurde deutlich: 15 Prozent der nicht–religiösen Menschen beten noch regelmäßig. Und eine noch größere Gruppe von bisher ungläubig genannten Menschn bezeichnet sich ausdrücklich als spirituell interessiert. Im Angesicht des Todes suchen offenbar sehr viele Menschen nach etwas Bleibendem, vielleicht Zeitlosem. Andrea Richau gestaltet als Rednerin Trauerfeiern in Berlin. Sie versteht sich als atheistische Humanistin, organisiert aber doch regelmäßig wie sie sagt, etwas „romantische“ Feierstunden für Trauernde.

13. O TON, 1 01“, Andrea Richau.
Wir haben immer wieder dasselbe Motto: Nicht derjenige ist tot, der gestorben ist, sondern derjenige, der vergessen wird. Das heißt, alle, die kommen, schreiben den Namen auf, der ihnen wichtig ist an dem Tag. Und die Namen werden vorgelesen und für jeden eine Kerze angezündet. In diesem Kerzenschein spiegelt sich Warmherzigkeit, Ruhe, Besinnung, auch ein Leuchten. Und das Schöne ist ja, wie sich Erinnerungen in Gesprächen von Generation zu Generation weiterreichen. Das verknüpft sich für mich z.B. mit dem so genannten ewigen Leben. Dieses ewige Leben, das eben sich aufhebt in den Erzählungen derer, die es mit denjenigen zu tun hatten. Also ein Urenkel z.B. erzählt: Meine Oma hatte meine Mutter gehabt, was Schöneres kann doch dem Menschen gar nicht passieren, als dass er in den Erinnerungen der anderen fort besteht.

1. SPR.:
Der Tote lebt „irgendwie“ weiter, selbst wenn Humanisten das „ewige Leben“ des Verstorbenen eher zeitlich begrenzt ansetzen und die Erinnerung auf zwei oder drei nachfolgende Generationen einschränken. Trotzdem: Das Gedenken als eine geistige, spirituelle Haltung bleibt etwas Besonderes.

14. O TON, 0 12“, Andrea Richau
Was heißt denn Glauben? Glauben ist ja nun nicht eindeutig definiert. Glauben heißt Treue, Glaube heißt auch Unerschütterlichsein oder Glauben heißt, jemanden mein Herz verschenken.

1. SPR.:
Wer es nicht fertig brachte, einem Angehörigen zu Lebzeiten „sein Herz schenken“, will wenigstens noch dem Toten seine Liebe ausdrücken; ein merkwürdiger Wunsch, für den die Bestatterin Claudia Marschner in Berlin durchaus Verständnis hat: Sie nimmt die Menschen ernst, die meinen, dass die Toten in „irgendetwas Überirdischem“ noch erreichbar sind:

15.O TON, 0 23“, Marschner.
Hier gibt es einen Briefkasten: Und wenn du wütend bist, traurig bist, wenn du noch Fragen offen hast, weil deine Mutter sich das Leben genommen hat oder durch einen Unfall gestorben ist oder dein Freund oder deine Oma, dann kannst du einen Brief schreiben, den ganz geheim zukleben, der wird nicht gelesen, und in die Post to heaven geben. Und da ist auch ne Briefmarke, die kostet auch Geld, das ist richtig ein Postamt.

1. SPR.:
Mit dem kleinen Unterschied, dass dieser Briefkasten von der Bestatterin geleert wird. Wenn 20 Briefe zusammengekommen sind, werden sie im Krematorium feierlich verbrannt, die Verfasser der Briefe sind dann dabei:

16. O TON, 0 07“, Marschner
Und die Asche ist dann Zeichen nach der Kremierung für die Ankunft der Briefe. Und dann ist die Post im Heaven.

1. SPR:
Post in den Himmel senden: Der individuellen Suche nach „etwas Überirdischem“ sind heute keine Grenzen gesetzt. Religionssoziologen haben für diesen Glauben an „etwas Transzendentes“, an ein „großes Weltgeheimnis“, einen Begriff geprägt: „Believing without belonging“. Glauben, ohne einer festen Konfession anzugehören. Volker Krech arbeitet als Religionssoziologe an der Universität Bochum:

17. O TON, 0 32“, KRECH
Religionswissenschaftlich haben wir zu beobachten und zu analysieren. Und in dieser Perspektive ist es schon eine längere Entwicklung, dass zugespitzt: Hauptsache etwas glauben, woran man glaubt, wird dann gewissermaßen den religiösen Experten überlassen. Seit wir Umfragedaten haben seit den 60 Jahren in repräsentativer Hinsicht kann man durchaus diese Entwicklung bestätigen, dass die allgemeine, inhaltlich unbestimmte Religiosität zunimmt.

1.SPR.:
Diese Entwicklung ist in ganz Europa zu beobachten, nicht nur im säkularisierten Holland oder in Schweden, auch in Spanien oder Frankreich. Im Osten Deutschlands wurden über viele Jahre atheistische Überzeugungen vom Staat selbst propagiert. Aber auch dort ist ein Wandel der „weltanschaulichen Mentalität“ festzustellen, betont die Soziologin Monika Wohlrab–Sahr .

18. O TON, 0 21“ Wohlrab
Es hat sicherlich etwas damit zu tun, dass mit der Wiedervereinigung ein anderes gesellschaftliches Klima entstanden ist. Es ist mehr an Wissensbeständen verfügbar. Es ist auch nicht mehr so klar, dass religiöse Denkgebäude per se illegitim sind. Das macht einen großen Unterschied, also dass man einen breiteren Horizont an legitimen Denkmöglichkeiten hat.

1.SPR.:
Monika Wohlrab-Sahr arbeitet als Professorin an der Universität Leipzig. Mit ihrem Team hat sie kürzlich ein genaues Bild zur neuen religiösen Befindlichkeit im Osten Deutschlands gezeichnet:

19. O TON, 0 38“ WOHLRAB
In einem Teil dieser Gespräche haben wir eine Frage gestellt an die Familien, was glauben Sie, kommt nach dem Tod. Und in diesem Zusammenhang fällt eben diese Äußerung: Ich würde mir das offen lassen. Das ist gewissermaßen so eine Zwischenstellung zwischen einer klar entweder atheistischen oder christlichen Positionierung und in der Mitte eben diese Haltung: ich lass mir das offen. Man sagt klar nicht mehr dezidiert: Da kommt gar nichts. Also man ist nicht mehr klar atheistisch positioniert. Eine Tür steht offen im Hinblick auf das was da vielleicht kommen könnte. Aber es deutlich eine Grenze da gegenüber einer klar inhaltlichen Füllung.

1. SPR.:
An „irgendetwas“ Höheres und Größeres glauben: Noch sind es Minderheiten, die in den neuen Bundesländern solches bekennen. Aber besonders junge Leute orientieren sich neu:

20. O TON, 0 47“, Wohlrab
Es gibt aber natürlich auch Umfrageergebnisse, die sich auf 19 bis 29 beziehen. Da ist deutlich, dass sich eine spirituelle Öffnung andeutet.
Oder eine Öffnung gegenüber religiösen Denkräumen. Das zeigt sich auf statistischer Ebene insbesondere daran, dass diese Altersgruppen wieder stärker von sich sagen, dass sie an ein Leben nach dem Tod glauben. Also die Zahlen sind stark angestiegen. Und interessant ist, dass der Glaube an ein Leben nach dem Tod oder der Glaube, dass da was sein könnte, um es mal vorsichtig auszudrücken, nicht unbedingt was zu tun hat mit christlicher Orientierung oder hinduistischer Orientierung, also mit einer inhaltlichen religiösen Orientierung, sondern eher einen Denkhorizont aufstößt.

1. SPR.
20 Jahre nach der Wende ist also der vom Staat verordnete Atheismus alles andere als selbstverständlich.

21. O TON, 0 28“, Wohlrab
Dieses Spekulieren über das Leben hat was mit Transzendenz zu tun. Das Leben ist nicht begrenzt auf das, was hier und jetzt erfahrbar ist. .
Ob da was Göttliches mitspielt, da wäre ich vorsichtig. Ich hab den Eindruck, dass eher gedacht wird in Vorstellungen, es gibt vielleicht eine höhere Macht, aber dass diese höhere Macht doch in der Abstraktion belassen wird und nicht personalisiert im Sinne einer christlichen Gottesvorstellung etwa gedacht wird.

1. SPR.:
Kirchliche Mitarbeiter im Osten Deutschlands können diese Entwicklung aufgrund ihrer praktischen Erfahrung nur bestätigen. Die Jesuiten z.B. haben in Leipzig das Informations- und Beratungszentrum „Orientierung“ eingerichtet. Es soll katholisches Leben darstellen in einer Stadt, in der 85 Prozent der Bewohner „konfessionslos“ sind. Unter den zahlreichen Kursen zur religiösen Vertiefung finden einige ganz besonderen Zuspruch, betont Pater Hermann Kügler:

22. O TON, 0 55“ Kügler
Rein von den Zahlen her sind unsere Angebote von Yoga und Zen, diejenigen regelmäßigen Veranstaltungen, die die größte Teilnehmerzahl haben. Nämlich dreimal in der Woche jedes Mal etwa 20 Personen. Da kommen junge Leute, 20 Jährige, alte Leute bis 70, und solche, die religiös oder auch christlich, aber auch sehr viele, die keine religiöse Orientierung haben. Und offenbar merken sie etwas, das hört man ja nachher beim Nachgespräch nach den Meditationsabenden, dass sie da Erfahrungen machen, die sie in ihre wirkliche eigene Tiefe führen. Jetzt wird’s es ein bisschen lyrisch, aber anders kann ich es nicht sagen, die sie wirklich auf den Grund ihrer Seele, ihrer Existenz führen. Und es ist, als wenn sie da durch eine Tür gehen in Räume ihres Lebenshauses, die ihnen anders verschlossen werden.

1. SPR.:
Pater Kügler fühlt sich in Leipzig nicht als Missionar, er macht keine direkte Werbung für seinen klassischen kirchlichen Glauben.

23. O TON, 0 38“, Kügler
Wir haben ja in den letzten 50 Jahren einen sehr starken Individualisierungsschub. Und da ist es nicht mehr so, dass Menschen sich von einer Institution, sei es die Kirche oder der Staat, ihr Verhalten vorschreiben lassen. Sondern sie bestimmen selbst Nähe und Distanz zur Institution. Und das heißt, sie sind auch ehrlich ihren eigenen Erfahrungen gegenüber. Das heißt, das habe ich zur Kenntnis zu nehmen. Und wenn ich es dann bewerte, dann muss ich sagen: Das ist doch toll, wenn Leute in Kontakt sind mit ihrem eigenen Inneren und ehrlich sind. Manchmal sage ich: Dann hört aber bitte nicht zu früh mit dem Nachdenken und Nachfühlen auf.

1.SPR.:
Die meisten Menschen, so berichtet Pater Kügler, halten sich an einen unbestimmten Glauben an „etwas Höheres“. Aber gerade diese offene Haltung im Leben, das Fragen und Suchen, auch das Zweifeln, sind die Voraussetzungen für einen wirkliche Beziehung zu Gott. Der weltbekannte Theologe und Jesuit Karl Rahner hat immer wieder betont: Mitten im menschlichen Alltag zeigen sich die Spuren des „göttlichen Geheimnisses“. Hier eine Archiv-Aufnahme des im Jahr 1985 Verstorbenen:

31. O TON. 1 03“, K. Rahner
So etwa, wenn der Mensch plötzlich einsam wird, wenn alles einzelne wie in eine schweigende Ferne hinein sich zurückzieht und darin auflöst. Wenn alles “fraglich“ wird, wie wir zu sagen pflegen. Wenn die Stille dröhnt, eindringlicher als der übliche Alltagslärm. So etwa, wenn man plötzlich unerbittlich sich seiner Freiheit und Verantwortung überantwortet erfährt, ihr als einer und ganzer, die das ganze Leben umgreift, keine Ausflucht mehr zulässt, keine Entscheidung. Was mit Gott gemeint ist, ist zu verstehen von dieser Erfahrung her, weil sonst immer die Gefahr droht, sich unter dem Wort Gott etwas Sinnloses zu denken.

1. SPR.:
Die Suche nach dem „göttlichen Geheimnis“, dem „Mysterium“ und „Etwas“, ist ein deutlicher Ausdruck für den religiösen Wandel heute.
Religionswissenschaftler erinnern allerdings daran, dass diese Entwicklung so neu gar nicht ist. Volkhard Krech:

24. O TON, 0 18“, Krech
Soweit ich die Daten einschätzen kann, ist das schon ein länger andauerndes Phänomen. Vielleicht, wenn man tiefer in die Geschichte guckt, ist das auch eher die Ausnahme, dass man einen inhaltlich sehr bestimmten Glauben hat, und zwar eben nicht nur bei den theologischen Experten, sondern auch in der Normal-Bevölkerung.

1. SPR.:
Diese „Normalbevölkerung“ ist heute von dem allgemeinen, kulturellen Klima geprägt. Der inhaltlich eher unbestimmte Glaube an „etwas Transzendentes“ wurde z.B. schon von Philosophen im 18. Jahrhundert als authentische, menschliche Lebensmöglichkeit dargestellt. Immanuel Kant hat die klassischen Gottesbeweise zwar entschieden zurückgewiesen. Aber er hat sehr wohl in seiner praktischen Philosophie für einen vernünftig vertretbaren Glauben an „Etwas Höheres“ plädiert:

2. SPR.:
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender
Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das
Nachdenken damit beschäftigt, der gestirnte Himmel über mir
und das moralische Gesetz in mir.

1. SPR.:
Kant denkt dabei nicht an den Gott der Bibel, sondern an die göttliche Stimme, die sich im Gewissen „unbedingt“ äußert. Das wunderbare Etwas hat also seinen Platz im menschlichen Geist! Der Philosoph Martin Heidegger hat weitergedacht und die entscheidende Frage vorgelegt: Warum ist überhaupt ETWAS und nicht vielmehr Nichts? Was ermöglicht das Bestehen der Welt? Heidegger hat dabei selbst eine Art Elementar–Religion gefördert, die heute noch aktuell sein kann, betont der Freiburger Philosoph Professor Günter Figal:

25. O Ton, 1 04“, Figal
Heidegger hat versucht, den Erfahrungsgehalt von Religion in eine philosophische Sprache zu bringen, nämlich hinter die dogmatischen Theologien zurückzugehen, also hinter die Theologien, die eine bestimmte Lehre verkünden zurückzugehen. Und das Geschehnis von Gottespräsenz als eine für sich bestehende Möglichkeit zu denken. Also er hat nicht weniger versucht, als sich vorzustellen, wie das Göttliche oder ein Gott jenseits religiöser Dogmen als geschehend erfahren werden kann. Es ist das Wesen des Göttlichen, befreit von religiösen Erscheinungsformen.

1. SPR.:
Dieses Namenlose, Heilige, das allem Dasein gewährt, ist mehr als ein abstrakter Begriff. Es kann zu einer persönlichen Spiritualität inspirieren, meint der Berliner Philosoph Lutz von Werder:

26. O TON, 0 42“, L. v Werder
Meine Konsequenz ist ein Beten ohne Worte, das heißt also ein Schweigen. Das heißt also: Wenn man am Tag einmal, zweimal absolut ruhig ist, dann ist das dem Gemeinten und Erfahrenen vielleicht am angemessensten. Eine Meditationstechnik, die ich mache, indem ich mich in einen Zustand völliger Gedankenlosigkeit begebe. Und das ist ein Zustand, der in gar keiner Weise irgendein weder positives noch negatives Gefühl hervorruft, ein Zustand der schlichten, unbefragbaren Vorhandenheit.

1. SPR.:
Christen und Theologen, die an der traditionellen Kirchenlehre und ihrer Dogmatik festhalten, haben noch ihre Probleme mit diesem relativ neuen Phänomen, dem Auftreten der „Etwas–Glaubenden“. Ein entschiedener Kritiker ist Christian Lehnert, er arbeitet als Theologe an der Evangelischen Akademie in Wittenberg:

27. O TON, 0 52“, Lehnert.
Es gibt ja eine weite Volksfrömmigkeit, dass Gott als irgendein Prinzip gibt oder dass es irgendwo ein kosmisches Wesen gibt, das Sinn mir schenkt. Und diesen Gott verehre ich, indem ich in der Natur spazieren gehe, und Sonnenaufgang genieße, das ist ja eine ganz weit verbreitete Meinung. Es ist einfach ein Zeichen von mangelnder Kompetenz im Umgang mit Religion. Weil es eben diesen Gott nicht gibt jenseits der großen Traditionsströme der christlichen Religion, ja. Diesen Gott gibt es nicht jenseits des Zentrums Jesus Christus z.B. Es gibt keinen Gott in der Natur ohne Jesus Christus. Es entstehen ja selbst gebastelte religiöse Welten. Das ist eine, für meine Begriffe, dürre Basis, weil diese selbst gemachten Bilder, wenn es denn hart auf hart kommt, oft nicht tragen.

1. SPR.
Warum können sich Menschen nicht in einem göttlichen Geheimnis genauso geborgen fühlen wie in einem als Dreifaltigkeit gedachten „personalen“ Gott? Ein göttliches Geheimnis kann doch auch „trösten“ und „Halt bieten“, meint Professor Gijs Dingemans:

28. O Ton, 0 32“, Dingemans
Ich habe mehr den Eindruck, dass Menschen, die aufgewachsen sind in einer gewissen Religion, dass sie mehr egoistisch, subjektiv sind in der Welt und mehr ihre Meinung weiter tragen als Ietsistsen. Die sind doch relativierender, sie wissen; Es gibt es ein Geheimnis, ich weiß nichts genau, wie das ist. Ietsismus führt zu Offenheit, Toleranz. Ich finde es interessant etwas von anderen Leuten zu lernen, das ist auch da drin.

1. SPR.:
Zu dieser Lernbereitschaft sind einzelne Christen durchaus in der Lage. Die Ordens – Schwester Susanne Schneider hat in Leipzig viele Kontakte mit Atheisten, Skeptikern, Menschen, die an „etwas“ glauben. Im Gespräch mit diesen Menschen hat sie zu ihrem persönlichen Gottesbild gefunden.

29. O Ton, 0 45“, Susanne Schneider.
In einer normalen guten Dogmatik, wird sogar gesagt, das ist sogar Lehre, Laterankonzil, wir können über Gott mehr sagen, was er nicht ist, als was er ist. Und das haben wir vergessen. Über Gott werden Sätze gemacht, die müssen falsch sein, weil das nicht geht, über Gott zu reden wie über einen Gegenstand. Wir wissen alles ganz genau, das stimmt nicht. Was ich wirklich als Häresie brandmarken täte, wenn ich zu klar weiß, was der liebe Gott will, was nicht, womöglich noch für andere, das ist eine Katastrophe, so hat die Kirche lange sich verhalten

1.SPR.:
Noch ist nicht abzusehen, ob ein Austausch zwischen den traditionell geprägten Christen und den undogmatischen Freunden des göttlichen Lebensgeheimnisses, den Ietsisten, gelingen kann. Offensichtlich fühlen sich viele amtliche Vertreter der Kirchen in ihrem eigenen Milieu besonders wohl, ungewöhnliche spirituelle Erfahrungen irritieren da eher. Einzelne Bischöfe empfehlen aber dringend eine dialogbereite Haltung. Zu ihnen gehört der Alt – Erzbischof von Uppsala in Schweden, Karl Gustav Hammar. Er kennt die vielen „Etwas–Glaubenden“ aus zahllosen Begegnungen und Gesprächen. Seine Vorschläge, so meint der lutherische Theologe, hätten Gültigkeit für ganz Europa:

3O. TON. 0 46“, KG Hammar
2.SPR.:
Es gibt in Schweden eine Spiritualität, die sehr eng verbunden ist mit der Natur, es gibt eine Verbindung mit dem Ganzen, der Schöpfung. Sicherlich, diese Spiritualität ist nicht kirchlich geprägt, die Leute sind nicht kirchlich gebunden. Aber sie sind doch spirituell. Aber die Kirche ihrerseits muss betonen: Nicht die Beziehung zur Kirche als einer Institution ist wichtig. Entscheidend ist die Verbindung mit der Tiefe unserer Wirklichkeit. Darüber muss man öffentlich sprechen: Die Kirche muss in dieser Situation ein Partner sein, nicht jemand, der die Lösungen und die Antworten parat hat. Wir müssen die Leute nicht „erwecken“, sondern mit ihnen zusammen unterwegs sein.
copyright: christian modehn.

Für einen “europäischen Islam”. Ein neues Buch

Für einen Euro – Islam
Benjamin Idriz, Penzberg, macht weit reichende Vorschläge

„Grüß Gott, Herr Imam“ ist der Titel eines Buches von Benjamin Idriz, er ist Imam im bayerischen Penzberg. Und er gehört, wie der Titel nahe legt, für viele seiner Mitbürger offenbar längst ganz selbstverständlich zur bayerischen Heimat. Denn der Gott, den der Imam „grüßen“ soll, ist von dem Gott wohl gar nicht so verschieden, den die anderen, die christlichen Bayern, ebenfalls mit derselben populären Formel „grüßen“ sollen. Der Imam würde wohl sagen, es ist derselbe Gott, den Juden, Christen und Muslime – unter verschiedenen Namen – verehren. Benjamon Idriz hat sich mit seinem überaus anregenden Buch viel vorgenommen: Er will seine Glaubensbrüder und Glaubensschwestern mit allem Nachdruck darauf hinweisen: Sie sollten hier in Deutschland und überhaupt in Europa einen modernen, demokratischen, einen europäischen Islam aufbauen. Benjamin Idriz, er stammt aus Mazedonien, hat in Damaskus studiert und ist seit 1995 in Penzberg, möchte „das eigentliche Wesen des Islam“ herausarbeiten. Dafür hat er Vorbilder unter Islam – Gelehrten aus Bosnien. Der reformierte, der moderne Islam kann nur in den Blick geraten, wenn auch der menschlichen Vernunft die entscheidende Bedeutung zugesprochen in der Erkenntnis dessen, was der Koran wirklich meint. „Der Mensch ist das würdigste Geschöpf Gottes, daher sind seine Vernunft, Freiheit und Würde, sein Glaube und sein Leben unanstastbar“ (S. 17). „Alle Propheten (also auch die jüdischen und christlichen CM.) sind gleichgestellt, denn sie haben eine gemeinsame Botschaft… Alle Menschen sind auf Erden vor dem Recht gleich….Aggression und Usurpation sind Vergehen“ (S. 18)… „Der Friede ist heilig, der Krieg ist zu verabscheuen“ ) S. 19. Solche grundlegenden humanistischen Anschauungen eines aufgeklärten europäischen Islam kann man seitenweise in dem Buch lesen. Besonders wichtig erscheint mir das Kapitel, das Benjamin Idriz mit “Das Porträt der idealen muslimischen Persönlichkeit in Bezug auf Integration“ überschrieben hat. Abschließend heißt es in dem Kapitel: „Sie (die ideale muslimische Persönlichkeit) unterzieht ihr Religionsverständnis einer Prüfung durch die Vernunft und hält dadurch Abstand von extremen Haltungen“. (S 31).
Treffender wäre es wohl gewesen zu schreiben, „diese Person missbilligt und verurteilt extreme Haltungen“.
In jedem Fall verdient das ausdrückliche Bemühen, einen, so wörtlich, „europäischen Islam“ aufzubauen, hohe Anerkennung. Man würde sich beinahe wünschen, dass dieses Buch gratis in allen Moscheen in Deutschland, aber auch in allen Kirchen, Synagogen und religiösen Zentren gratis verteilt würde. Die in dem Buch genannte Liste der Freunde und Unterstützer des Penzberger Projekts und damit auch seines Initiators ist lang, sie umfasst Bischöfe und Bürgermeister, auch den CSU Politiker und Vorsitzenden des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken, Alois Glück. Merkwürdig, dass die Vorwürfe des bayerischen Innenministers („verkappter Radikaler“) vom Sommer 2010 gegenüber der Penzberger Moschee in dem Buch nicht ausführlich behandelt und erwidert werden. Benjamin Idriz leidet offenbar darunter, wie stark heute noch im alltäglichen Islam, auch in Europa, die „eigentlich“ universalen Werte des Korans und die Werte des Humanismus überlagert werden durch volkstümliche (arabische, türkische usw.) Traditionen, die kulturell zu verstehen sind, aber eigentlich mit dem Islam nichts zu tun haben (das gilt etwa für die Rolle der Frauen in der unreflektierten islamischen Alltagspraxis). Als oberstes Gebot gilt darum für den Penzberger Imam die Bildung.
Vielleicht kann von Penzberg aus tatsächlich eine umfassende Reformbewegung des Islam gefördert werden, vielleicht schließen sich mehr Imame dieser vom humanistischen Geist geprägten Islam – Theologie an. Merkwürdig bleibt, warum dieses globale Projekt eines „humanistischen, vernünftigen und kritischen Islam“ auf Europa beschränkt bleiben soll. Man würde sich dringend wünschen, dass diese globale Islam -Reformation auch die islamische (und politische) Praxis in den Ländern Arabiens usw. erreicht. Es geht doch um viel mehr, als bloß um einen reformierten Euro – Islam. COPYRIGHT: Christian Modehn.

Benjamin Idriz, „Grüss Gott, Herr Imam!“. Eine Religion ist angekommen. Diederichs Verlag München, 2010,223 Seiten, 16,99 Euro.

Wegweiser in ein glückliches Leben: Die “goldene Regel”

Der „Religionsphilosophische Salon“ bietet auch Anregungen zur Lebensorientierung. Eine ethische Weisung, überkonfessionell und in zahlreichen Philosophien vertreten, ist die „Goldene Regel“.

Wegweiser in ein glückliches Leben
Die „goldene Regel“
Von Christian Modehn

In einem philosophischen Gesprächskreis forderte kürzlich der Moderator die Teilnehmer auf, einen wichtigen Weisheitsspruch zu nennen, der ihnen Orientierung im Leben bietet. Vorher hatte man ausführlich über Grundsätze der Ethik diskutiert: Wann ist unser Handeln gut? Wie lässt sich das Böse überwinden? Anstelle abstrakter Spekulationen sollten nun unmittelbar Probleme des Alltags besprochen werden. Tatsächlich waren mehrere Teilnehmer bereit, ihre persönliche „Maxime“, ihre „Lebensregel“, mitzuteilen:
„Es kommt immer anders, als man denkt“, sagte ein Student der Biologie. Eine Dame mittleren Alters, sehr schlank und etwas verhärmt, meinte mit sanfter Stimme: „Lerne leiden ohne zu klagen“. Nicht ohne Stolz verwies ein älterer Herr, ein pensionierter Beamter, auf seinen Grundsatz: „Willst du gelten, mach dich selten“. Ein Lehrer entgegnete mit ironischem Unterton: „Was Hänschen nicht lernt, das lernt Hans nimmer mehr“.
Die meisten Teilnehmer mussten schmunzeln: Sie hatten erlebt, wie unbescheiden „ihr“ Pensionär sich oft verhielt in seinem offenkundigen Bedürfnis viel „zu gelten“. Kein Wunder also, dass sich das Gespräch auf die „Lebensregel“ konzentrierte:
„Willst du gelten, mach dich selten“.
Aber mit welcher Berechtigung können wir eine Lebensweisheit hoch schätzen, die Ehre, Ansehen und öffentlichen Respekt in den Mittelpunkt stellt, fragte der Leiter des philosophischen Kreises:
„Welchen persönlichen Gewinn haben wir, wenn wir als etwas Besonderes „gelten“ oder gar verehrt werden? Ist der Preis dafür nicht zu hoch: Um sich „selten“ zu machen, darf man gerade nicht umgänglich und kommunikativ sein. Verträgt sich diese Lebensweisheit überhaupt mit dem Grundsatz, dass jeder Mensch am besten „in gleicher Augenhöhe“ seinen Mitmenschen begegnen sollte?“
Dieser Erkenntnis konnten die meisten in der Runde nur zustimmen. Sie wussten nun: Maximen und Weisheitssprüche müssen immer kritisch betrachtet werden. Wer persönlichen Grundsätzen folgt, die in sich nicht stimmig sind, macht sich das Leben nur schwer. Darauf haben schon die frühen philosophischen Weisheitslehrer aufmerksam gemacht; zum Beispiel der chinesische Denker Konfuzius. Er lebte in der Mitte des sechsten Jahrhunderts vor Christus. Als Erzieher und Lehrer der Moral überprüfte er auch die gängigen Lebensregeln und Weisheitssprüche seiner Zeit. Mit dem Meisterdenker Lao Tse hat er sich auseinandergesetzt, von ihm ist der Grundsatz überliefert:
„Wer weiß, der spricht nicht“.
Lao Tse bezog sich dabei auf das Wissen vom Ursprung der Welt und auf den Sinn des menschlichen Lebens. Und darüber soll der Wissende nicht sprechen? Konfuzius wollte dieser „weisen Empfehlung“ nicht folgen. Er hat gesprochen und gelehrt, seine Weisheitsregeln sollten die Menschen verbreiten, weil sie das „gute, das gelungene Leben“ fördern:
„Der edle Mensch unterstützt in den anderen Menschen das Schöne. Der gemeine Mensch das Unschöne.
Der edle Mensch vernachlässigt nicht seinen Nächsten.
Wer einen Wohnort wählt, achte auf den Geist der Humanität, der dort herrscht“.
Aber diese „Maximen“ waren für Konfuzius noch zu anschaulich, zu konkret. Er wollte alle Menschen in ganz unterschiedlichen Situationen zu gutem Handeln inspirieren. Deswegen, so meinte er, könne nur eine allgemein formulierte, eine grundsätzliche Maxime wirklich helfen. Schließlich entdeckte Konfuzius eine Formel, die bis heute weltweit bekannt ist:
„Was man mir nicht antun soll, das will auch ich anderen Menschen nicht zufügen“.
Wie auch immer Konfuzius diese Formel drehte und wendete, er war überzeugt: Wenn sich Menschen an diese Regel halten, kann das Zusammenleben respektvoller und friedlicher aussehen, im privaten Umfeld der Familien wie auch in der gesetzlichen Ordnung eines Staates. Diese Regel fordert den einzelnen auf, in seiner Situation genau überlegen: Welche Konsequenzen hat mein Tun für die anderen? Verletze ich sie mit meinem Handeln? Schränke ich meine Mitmenschen ein, beraube ich sie ihrer menschlichen Würde?
Die Suche nach einer allgemeinen Richtschnur ethischen Handelns hat seitdem die Menschen fasziniert. Davon begeistert war zum Beispiel der englische Arzt und Psychiater Thomas Sydenham im 17. Jahrhundert, einer der berühmtesten Mediziner seiner Zeit. Er wird der „englische Hippokrates“ genannt, für sich selbst hatte er eine Maxime formuliert:
„Niemand ist anders von mir als Arzt behandelt worden, als ich behandelt sein möchte, wenn ich dieselbe Krankheit bekäme“.
Heute wären viele Patienten vielleicht froh, wenn sich ihre Ärzte an diese Form der Goldenen Regel hielten… Im 18. Jahrhundert wollten Schriftsteller und Philosophen mit Aphorismen oder klugen Lebensregeln die Menschen aufklären, zu einem „guten, einem wahrhaft menschlichen Leben ermuntern. In den Mittelpunkt stellten sie einen Spruch, der seitdem weltweit „Goldene Regel“ genannt wird. In einer populären Formulierung fand sie weltweit Verbreitung:
„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“.
Dieser Spruch mag ein wenig schlicht erscheinen, wie ein gut gemeinter pädagogischer Ratschlag für Kinder und Jugendliche. Philosophen und Historiker aber haben diesen Spruch ausdrücklich „golden“, also von höchstem Wert genannt, weil sie wussten: Diese Lebensweisheit steht im Mittelpunkt der Ethik aller großen Religionen. In der indischen Versdichtung Mahabharata, geschrieben im 4. oder 3. Jahrhundert vor Christus, wird die weite spirituelle Welt des Hinduismus in diesem einzigen Spruch zusammengefasst:
„Man tue niemals einem anderen Menschen das an, was man selbst als verletzend erlebt“.
Auch buddhistische Traditionen haben später die „Goldene Regel“ als Inspiration und Wegweisung für alle Menschen hoch bewertet:
„Was für mich eine unangenehme Sache ist, das ist auch für den anderen eine unangenehme Sache. Wie könnte ich das einem anderen aufladen?“
Fast zur gleichen Zeit wurde im Alten Orient, vor allem im Gebiet des heutigen Irak und seiner Nachbarschaft, ein ähnlicher Weisheitsspruch verbreitet:
„Was dir selbst übel erscheint, das tue auch deinen Mitmenschen nicht an. Tu keinem Böses an, damit niemand einen Anlass sieht, auch dir Böses anzutun“.
Historiker haben nachgewiesen, dass diese nahezu gleich lautenden ethischen Prinzipien unabhängig von einander in verschiedenen Teilen der Welt entstanden sind. Eine erstaunliche Tatsache. Denn offenbar ist die Goldene Regel tief in die menschlichen Vernunft, in die Vernunft aller Menschen, „eingeschrieben“. Philosophen erinnern daran, dass ähnliche Weisungen auch von den großen Denkern des klassischen Griechenland, etwa von Aristoteles, formuliert wurden.
Im Judentum gilt Rabbi Hillel, ein Zeitgenosse Jesu von Nazareth, als der bedeutendste Verteidiger der goldenen Regel, er hat sein Volk auf den Spruch verpflichten wollen:
„Was dir nicht lieb ist, das tue nicht auch deinem Nächsten. Das ist das ganze jüdische Gesetz. Alles andere ist nur Erläuterung dieses Satzes“.
Die goldene Regel stellt das angeblich so selbstverständlich erscheinende Vergeltungsprinzip in Frage. Sie hat das Ziel, den ewig wiederkehrenden Gedanken an Rache zu überwinden, sie will den Zirkel von Gewalt und Gegengewalt unterbrechen. Aufforderungen zu Mord und Totschlag haben angesichts der goldenen Regeln keine ethische Berechtigung mehr. Der Spruch „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ sollte deswegen aus dem Gedächtnis der Menschheit gelöscht werden. An diesem Thema arbeitet seit Jahren die Theologin und Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong aus London, sie hat die goldene Regel neu formuliert:
„Unter allen Umständen sollen die Menschen den Schmerz anderer Menschen verhindern“.
In diesen Worten, meint Karen Armstrong, kämen auch die ethischen Weisungen des Neuen Testaments zum Ausdruck. Jesus von Nazareth hat seine eigene „Goldene Regel“ bezeichnender weise nicht in negativ abwehrenden oder warnenden Worten, sondern in positiven, ermunternden Formulierungen vorgetragen.
„Ich sage euch: So wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun, so tut auch ihr ihnen“.
Diese Weisung gilt in der Bibel – Wissenschaft als unmittelbares Jesuswort, es entstammt der sogenannten „Logienquelle Q“. Die Evangelisten Matthäus und Lukas berichten von fast gleich lautenden Formulierungen Jesu. Die Goldene Regel und das Evangelium Jesu von Nazareth sind also aufs engste verbunden. In einer hoch geschätzten frühchristlichen Schrift, der Didaché, aus dem Jahr 150 heißt es:
„Alles, von dem du nicht willst, dass es dir geschieht, das füg auch einem anderen nicht zu“.
Später findet man ähnliche Formulierungen in der muslimischen Tradition. Auch wenn Mohammed selbst keine „eigene“ Goldene Regel formuliert hat, nach dem Tod des Propheten wurden weitere „Überlieferungen“ von ihm verbreitet, die so genannten Haddithe. In einer Sammlung dieser Verse aus dem 13. Jahrhundert heißt es:
„Keiner ist gläubiger Muslim, solange er nicht für seinen Bruder wünscht, was er sich selbst wünscht“.
Heutige Islamwissenschaftler erinnern auch gern an einen Spruch, den Abu Hurayra, ein Gefährte Mohammeds, überliefert hat:
„Wünsche den anderen Menschen, was du dir selbst wünschst. Dann erst wirst du ein wahrer Muslim“.
Je populärer die Goldene Regel in aller Welt wurde, desto mehr lassen sich Menschen auch zu zynischen oder polemischen Äußerungen hinreißen. Mit Beispielen aus dem Alltagsleben wollen sich besonders kritisch wähnende Geister über diesen universalen ethischen Grundsatz lustig machen. Sie behaupten zum Beispiel:
„Die Goldene Regel kann gar nicht universell gelten. Die viel geschmähten Politessen etwa müssen Strafzettel wegen falschen Parkens ausstellen, obwohl sie selbst als Privatperson einen Strafzettel ja niemals erhalten möchten. Fügen die Politessen da nicht anderen Menschen negativ – belastende Dinge zu, die sie selbst nicht erleiden wollen? Widerspricht dieses Verhalten nicht der Goldenen Regel?“
Was dem ersten Eindruck nach plausibel klingt und noch manchen Lacher erzeugt, hat jedoch keine Gültigkeit. Denn das falsche Parken ist ein Verstoß gegen geltendes Recht, dem ist auch eine Politesse unterworfen, wenn sie selbst einmal falsch parken sollte. Mit dem Ausstellen von Strafzetteln widerspricht sie nicht der Gültigkeit der Goldenen Regel. Dieses Beispiel ist so lächerlich nicht, weil es daran erinnert: Grundsätzlich muss jede individuelle Lebensregel, jede Maxime, einer kritischen Prüfung unterworfen werden muss. Wenn ich z.B. meine individuelle Maxime ganz hoch schätze: Möglichst wenig zu verreisen, sondern immer zu hause zu bleiben. Kann dann meine Maxime bedeuten, dass ich auch anderen empfehle, nicht zu verreisen, bloß weil ich das Reisen ablehne? Welchen Grund habe ich denn, mein Desinteresse an Reisen anderen vorschreiben zu wollen? So wird hier deutlich: Nicht jede persönliche Vorliebe kann ich unter Berufung auf die Goldene Regel anderen „antun“ oder „aufdrücken“. Der Philosoph Immanuel Kant hat für solche Fälle einen „Prüfstein“ formuliert, als er – sinngemäß – sagte:
„Überlege genau, ob deine individuelle Maxime wirklich auch allgemeines Gesetz für alle werden kann“.
Direkt auf die goldene Regel bezogen, könnte die Einsicht des großen Denkers aus Königsberg heißen:
„Behaupte niemals, dass deine persönliche Maxime oder Lebensweisheit automatisch der Goldenen Regel entspricht. Die Übereinstimmung muss genau geprüft werden“.
Die Goldene Regel hat heute ein gediegenes philosophisches Fundament. Und das hat ihre Akzeptanz weltweit nur gefördert. Historiker, Religionswissenschaftler und Philosophen weisen darauf hin, dass z.B. In New York zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Art „multi – religiöse Kirche“ gegründet wurde. Sie nannte sich „Die Goldene Regel Bruderschaft“ und wollte die unterschiedlichen Religionen aus dem Nebeneinander, vor allem aber der feindlichen Abgrenzung herausführen. Friedliche Kooperation sollte beginnen. Zu den Unterstützern gehörten hochrangige Politiker der USA, Schriftsteller, Philosophen und Theologen. Das Projekt wurde aber in der Öffentlichkeit schnell als utopisch diskreditiert, resigniert zogen sich die Initiatoren zurück. Von Erfolg gekrönt ist hingegen die Grundsatzerklärung des „Weltparlamentes der Religionen“: Es hatte sich 1893 in Chicago als Ort interreligiösen Dialogs etabliert. Immer wieder wurden Treffen organisiert, vor kurzem tagte dieses spirituelle „Weltparlament“ mit Vertretern aller Religionen in Melbourne, Australien. Auch hier wurde die Goldene Regel wieder als Maßstab mitmenschlichen Verhaltens empfohlen. Der ökumenische Theologe Hans Küng hat sich von diesem Geist universaler Menschlichkeit inspirieren lassen und vor 20 Jahren sein Programm für ein „Projekt Weltethos“ vorgelegt. Hans Küng schreibt:
„Wir brauchen in dieser globalisierten Welt auch eine minimale Übereinstimmung in grundlegenden Werten, Normen und Haltungen. Dieses Ethos soll lebensbejahend für alle sein. Dabei spielt die Goldene Regel eine entscheidende Rolle. Aber sie soll nicht nur zwischen Individuen, sondern auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Nationen und Religionen gelten“.
Hans Küng versteht die Goldene Regel als einen elementaren Ausdruck für die universale Menschlichkeit; sie stellt nicht den Wert der vielen verschiedenen Kulturen und Religionen in Frage. Aber sie bietet einen „ethischen Minimalkonsens“ für die ganze Menschheit. Aus dieser universalen ethischen Basisregel hat Hans Küng vier weitere konkrete Imperative abgeleitet:
„Die Goldenen Regel schließt die Überzeugung ein: Jeder Mensch wünscht zu leben. Deswegen dürfen wir nicht morden. Niemand will sein gerecht erworbenes Eigentum verlieren, deswegen dürfen wir nicht stehlen. Niemand will betrügerisch behandelt und mit unwahren Informationen bedient werden, deswegen dürfen wir nicht lügen. Niemand will nur wie eine Sache in Erotik und Sexualität benutzt werden. Deswegen ist Sexualität menschlich zu gestalten, z.B. durch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen“.
Aber auch diese „Lebensregeln“ sollten niemals wie eine Art mechanischer Gebrauchsanweisung für den Umgang mit anderen Menschen angewandt werden. Die Goldene Regel wird missverstanden, wenn sie nur als banale Aufforderung gilt, in äußerlicher Korrektheit und ohne innere Anteilnahme mit anderen Menschen zusammen zu leben, also z. B. nur zu schauen: Füge ich Schmerzen zu? Entscheidend ist vielmehr: Die Goldene Regel lenkt mein Nachdenken auch auf mich selbst: Sie führt mich zu der Frage: Welches Leiden finde ich selbst denn unerträglich, welche Umgangsformen will ich vonseiten anderer Menschen niemals erleben? In welcher Weise möchte ich von anderen Leuten respektiert werden? Erst wenn ich genau weiß, wie ich selbst nicht behandelt werden möchte und dann auch positiv beschreiben kann, wie ich wahrhaft leben will, kann ich mich anderen zuwenden. Die Goldene Regel ist also eine Aufforderung, in sich selbst zu schauen, „zu reflektieren“, wie die Philosophen sagen. In diesem Zusammenhang werden alte Weisheitssprüche aus dem Pali Kanon, den Lehrreden des Buddha, neu entdeckt:
„Wie ich bin, so sind auch diese;
Wie diese sind, so bin auch ich.
Wenn so dem anderen er sich gleichsetzt,
Mag er nicht töten oder töten lassen“.
Für Buddha kommt es entschieden darauf an, die Goldene Regel als Ausdruck von Spiritualität wahrzunehmen, als Impuls, Mitgefühl und Mitleid zu entwickeln. In einer anderen Lehrrede heißt es:
„Auf mich selbst achtend, achte ich auf den anderen,
Auf den anderen achtend, achte ich auf mich selbst“.
Buddhas tiefes Verstehen der Goldenen Regel, in dieser gleichzeitigen Hochschätzung des anderen Menschen wie auch der eigenen Person, gilt heute weltweit als ethischer Maßstab, und zwar nicht, weil Buddha, der „Erleuchtete“ da gesprochen hat, sondern weil Buddha nur allgemein Vernünftiges und sehr Menschliches gesagt hat. Diese Goldene Regel wird so zur universalen „Formel“ für eine allgemeine, eine humanistische Ethik, betont die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong:
„Die Goldene Regel verlangt, dass wir uns als einzelne nicht für etwas Besonderes halten, sondern uns stets zu anderen Menschen in Beziehung setzen“.
Das Leben der Mitmenschen nicht nur an sich „heranlassen“, sondern versuchen, mit ihnen zu fühlen, sich in ihre Welt hinein zu versetzen, zu verstehen, warum sie anders sind als ich: Damit beginnt das Mitgefühl, die Empathie, der ethische Kern der Goldenen Regel. Geradezu schlicht erscheint deswegen heute der viel zitierte Spruch des Preußenkönig Friedrich des Großen, des „Alten Fritz“:
„Jeder soll nach seiner Facon selig werden“.
In Zeiten konfessioneller Feindseligkeiten formuliert, hat dieser Spruch vielleicht dafür gesorgt, dass die Menschen einander nicht töten, sondern „tolerieren“, also ertragen. Das Schweigen der Waffen ist ja bekanntlich schon viel. Aber eine tiefere Lebensphilosophie, eine Aufforderung zum Mitgefühl oder gar zur Versöhnung, ist diesem Spruch nicht zu entnehmen. Da sind die Einsichten des Psychotherapeuten und Philosophen Erich Fromm schon hilfreicher; er wurde weltweit bekannt durch sein Buch „Die Kunst des Liebens“. Fromm hat eine weit reichende Lebens – Philosophie der Goldenen Regel entwickelt:
„In unseren Beziehungen mit anderen Menschen tun wir ihnen immer etwas an, Gutes oder Böses. Entscheidend ist die Erkenntnis: In beiden Fällen wirkt sich unser Handeln auch auf uns selbst aus. Was wir anderen tun, das tun wir uns selbst an. Wenn wir z.B. voller Aggression die lebendigen geistigen Kräfte in einem anderen Menschen zerstören, wenn wir ihm etwa aufgrund seelischer Verletzungen Hoffnung und Zuversicht rauben, dann schlägt solches Tun auf uns selbst zurück. Wir meinen dann schließlich selbst, dass geistige und seelische Kräfte, Hoffnung und Zuversicht, keine Bedeutung haben. Niemand bleibt unverletzt, wenn er andere verletzt“.
Die Goldene Regel, in ihrer tiefen Bedeutung ausgeleuchtet, wird so zu einem Plädoyer für eine bessere Gesellschaft. Darin dürfen die anderen Menschen niemals bloß als Objekte oder Mittel für meine eigenen Interessen eingesetzt werden. Auch darauf hat Erich Fromm hingewiesen:
„Man folgt einem Missverständnis, wenn man die Goldene Regel nur als Aufforderung zu einem fairen Verhalten in Wirtschaftsbeziehungen versteht. Fairness bedeutet nur, auf Betrug und Tricks beim Austausch von Gebrauchsgütern zu verzichten. Fairness heißt in der heutigen Gesellschaft: „Ich gebe dir nur so viel, wie du mir auch gibst“, dies ist die Grundlage kapitalistischer Ökonomie. Die Goldene Regel hingegen verlangt mehr als die gesetzlich vorgeschriebene Korrektheit. Sie verlangt Mitgefühl, ja, durchaus Liebe, und zwar Liebe den anderen gegenüber wie auch mir selbst gegenüber“.
Die Goldene Regel lehrt das Lieben, das Wertvollste, zu dem Menschen in der Lage sind. Deswegen wird sie zu einer Art Wegweisung ins menschliche Glück. Erfüllung und Zufriedenheit stellen sich nicht automatisch mit materiellem Erfolg oder ökonomischem Wohlstand ein. Aber auf dieses Ziel hin orientieren sich viele ihr Leben lang. Wer Glück nur als zukünftigen Zustand, als Utopie des „Irgendwann – Einmal“ begreift und wie einen unwahrscheinlichen Millionen Gewinn im Lotto erwartet, verliert die Lebensfreude. Er lebt nicht mehr im Jetzt, in der Gegenwart, ist einfach nicht mehr „da“, sondern mental in die Ferne gerückt. Aber Leben ist einem breiten Strom philosophischen Denkens entsprechend einfach Freude am Dasein, am geistvollen Lebendigsein mit anderen zusammen und auch für mich selbst, betont der Philosoph Otfried Höffe: „Wer voller Sehnsucht das Glück in ferner Zukunft erwartet, ist vor immer neuen Enttäuschungen nicht gefeit. Er verfällt in Resignation und denkt: Der glückliche Mensch sei im Plan der Schöpfung nicht enthalten. Hingegen liegt das Glück im gelungenen Lebensvollzug, es verwirklicht in jedem Augenblick des Lebens“.
„In jedem Augenblick“ des alltäglichen Lebens werde ich vor die Frage gestellt: Wie entscheide ich mich? Was will ich mit anderen Menschen erleben? Worin sehe ich meinen Lebenssinn? Die Goldene Regel bietet dann in ihrer elementaren Einfachheit die notwendige Orientierung und Hilfe. Vielleicht sollte man sie gelegentlich wie ein Mantra laut vor sich her sagen… Wenn sie sich im Geist eingeprägt hat, meldet sie sich sanft, aber im Gewissen durchaus hörbar mit den verführerischen Worten: Folge meiner Weisung. Denn sie ist vernünftig.

Copyright: Religionsphilosophischer –Salon. Christian Modehn 2010.