Der Moskauer Patriarch Kyrill, Profil eines Putin-Theologen

Der Moskauer Patriarch Kyrill, Profil eines Putin-Theologen

Ein Hinweis von Christian Modehn

Am 12. Februar 2016 treffen sich Papst Franziskus und das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, in Havanna. Der Papst macht eine Zwischenlandung auf dem Weg nach Mexiko, der Patriarch hält sich zu  einer Art Freundschaftsbesuch bei den Brüdern Castro auf. Für Rom ist seit Jahren das sehr dringende Verlangen bekannt, Weiterlesen ⇘

Aktualisiert am 25. Januar 2023 durch CM

Christliche Gemeinden als Schulen der Weisheit … gegen Götzendienst …und für einen Gott, der sich nicht fassen lässt. Interview mit dem Religionsphilosophen Johan Goud, Den Haag.

Christliche Gemeinden als Schulen der Weisheit … gegen Götzendienst …und für einen Gott, der sich nicht fassen lässt.

Interview mit dem Religionsphilosophen Johan Goud, Den Haag.

Die Fragen stellte Christian Modehn für die Zeitschrift PUBLIK FORUM.

Publik_Forum: In den Niederlanden nennen sich 49 % der Einwohner unkirchlich. Tendenz steigend. Die Zahl der Katholiken nimmt ständig ab. 2014 waren es noch 24 %; 16 % nennen sich protestantisch. Unter den 18 – 35 Jährigen ist der Anteil der Christen sehr gering. In einigen Jahren könnte es fast keine Kirchen mehr in Holland geben. Sind unkirchliche Holländer auch unreligiös?

Johan Goud: Sicher nicht. Schon im 17. Jahrhundert gab es „Kirche“ bei uns nur in Vielfalt. Keine konnte beanspruchen, „Religion“ und „Christlichkeit“ uneingeschränkt zu repräsentieren. Jetzt gibt es noch mehr Pluralität, religiőse Alternativen nicht-christlicher Art. Nur 24 Prozent der Niederländer zählen sich zu den traditionellen „Theisten“, also zu den Gottgläubigen. Dagegen sagen 62 Prozent, dass sie an ‘Etwas’ glauben, zum Beispiel an eine „universelle Energie“. Sie bejahen den Satz, wonach es „mehr gibt zwischen Himmel und Erde“ oder bezeichnen sich als Agnostiker. Schon 1946 vertrat der Schriftsteller Simon Vestdijk die These, dass der buddhistisch orientierten, mystisch-verinnerlichten Religiosität die Zukunft gehöre. Sein Buch wurde in kirchlichen Kreisen kaum ernst genommen. Er hat aber recht bekommen.

Kann unter diesen Bedingungen die Auseinandersetzung mit Kunst, Philosophie, Poesie auf neue Weise religiöse Erfahrungen ermöglichen?

In unserer Zeit, die beherrscht wird von rationalistischen und ökonomischen Werten, sollten Kunst und Religion einander als Verbündete anerkennen. Zwar erfordert diese gegenseitige Anerkennung, dass sie sich selbst als relativ ansehen und sich voneinander anregen lassen. Vom Literaturkritiker Paul de Man stammt jedoch die provokative Bemerkung: “Meines Erachtens kann ein Gläubiger nicht lesen“. Er meint damit, dass ein gläubiger Mensch nicht imstande sei, sich selber zu relativieren und ironisieren: ‘Ernst ohne Spiel ist blind’, könnte man darum, Kant paraphrasierend, hinzufügen. Für mich sind Aussagen wie diese eine bleibende Herausforderung. Theoretisch geschieht das Bündnis von Religion und Kunst, indem ich eine Theologie entwickle, die sich ins offene Felde der Sprache stellt und die Worte des Glaubens literarisch auffasst. Praktisch geschieht dies, indem man sich als Theologe für die vielen „Götter“ in Kunst und Literatur öffnet und sich behutsam mit ihnen auseinandersetzt. Denn in Kunst und Literatur findet sich eine Genauigkeit, die empfänglich ist für die flüssige Wirklichkeit der Seele, mit ihren Vermutungen, Beschwörungen, Träumen und Wünschen.

Wird die Suche nach Transzendenz immer mehr zur Sache des einzelnen?

War sie das in gewisser Hinsicht nicht immer schon? ‘Transzendenz’, in welchen Gestalten auch immer, übersteigt letzten Endes alle Zugehörigkeiten und sozialen Konventionen. Sie lässt sich nicht aus dem folgern, was ‘man’ für wichtig hält. Sie ist immer eine Sache von Ich und Du, eine Sache des Einzelnen also. Aber wenn ich wirklich von ihr ergriffen werde, kann ich nicht bei mir selbst als Einzelnem bleiben. Das Denken von Emmanuel Lévinas hat mich an diesem Punkt immer tief beeindruckt: Gott ist der Rätselhafte, der „Spielverderber“, den ich nie erwischen kann: ‘Ich nähere mich dem Unendlichen, insofern ich mich selbst vergesse um des Nächsten willen, der mich anschaut’.

Wie sollten christliche Gemeinden gestaltet sein, damit sie den Suchenden, auch den „Nichtkonfessionellen“, Raum bieten?

Es wäre schön, wenn die Gemeinden sich zu „Schulen von Weisheit“ entwickeln würden – ein Ausdruck des katholischen Theologen Edward Schillebeeckx. Im kritischen Sinne geht es um die Entlarvung von Scheinweisheit und Götzendienst, also um die Kritik am Ökonomismus, am Nationalismus, an der Angst vor dem Fremden. Im positiven Sinn meint „Schule von Weisheit“ die Übung im gemeinsamen Fragen (!) nach Gott, im literarischen Verstehen der Bibel und der Tradition, in der mitfühlenden Kraft von Phantasie und Denken, wie die Philosophin Martha Nussbaum es nennt. Deswegen sollten die Pfarrer Lehrer sein, Freunde unter Freunden – statt Hirten mit ihren Schäflein.

Würde sich damit das bekannte Profil des Christlichen verändern?

Eine Veränderung gibt es gewiss, aber meines Erachtens noch keine grundsätzliche. Die kirchliche Katechese wollte immer auch gläubige Kritik an ‘Luft und Leere’, also an der Eitelkeit sein. Was sich also ändern sollte, ist die Vorliebe für Macht und für große Zahlen, für die autoritäre Ordnung. Ändern muss auch sich die Bevorzugung der Sicherheit statt der Herausforderung und der Fragen. Meinte das alles nicht auch Dietrich Bonhoeffer, als er für ein mündiges, religionsloses Christentum plädierte? Es scheint mir wichtig, dieses Ideal zu pflegen! In den Niederlanden gibt es, anders als in Deutschland, seit Jahrhunderten einflussreiche freiheitliche Traditionen in den Kirchen, Glaubensgemeinschaften im humanistischen Geiste von Erasmus, Geert Grote, Hugo Grotius, Arminius und anderer. Wir brauchen Gemeinschaften, die die humane Glaubenspraxis höher schätzen als die richtige Lehre – auch als Widerstand gegen die Medien mit ihrer Propaganda, die neue und gefährliche Formen von Leichtgläubigkeit und Orthodoxie fördern. In Gemeinden, die das undogmatische Suchen und die gemeinsame Debatte über Gott pflegen, sollte der konfessionelle Hintergrund irrelevant sein.

Johan Goud (geboren 1950) ist emeritierter Professor für Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und Theologische Ästhetik an der Universität Utrecht und Pfarrer der protestantischen Remonstranten –Kirche in Den Haag, zur Zeit in Hengelo. Zahlreiche Veröffentlichungen.

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An (und mit) Montaigne denken: Am 28. Februar

Am 28. Februar 1533 wurde Michel de Montaigne geboren. Gestorben ist er am 13. September 1592. Wohl kaum ein anderer philosophierender Autor, den wir durchaus Philosoph nennen sollen, (denn dieser Titel ist doch nicht Universitäts-Professoren vorbehalten), hat in den letzten Jahren so viel Beachtung gefunden, so viele Leser, die mit Vergnügen seine skeptischen und wahrhaftigen Essais lesen. Und als Inspiration begreifen, das Leben “trotz allem” zu lieben.

Ein Hinweis mit einer Lese-Empfehlung:

Michel de Montaigne: Er lehrt die Menschen „wie sie mit sich selbst sprechen sollen“

Ein Hinweis von Christian Modehn

Eigentlich muss man das Werk Michel de Montaignes nicht mehr empfehlen, er ist jetzt beliebt selbst bei Menschen, die sich sonst schwer tun mit philosophischer Lektüre. Dabei wäre es auch falsch, Montaignes Denken „leicht“ zu finden. Ihm gelingt es, komplexe Lebens-Erfahrungen nachvollziehbar und in angenehmer Sprache zu benennen. Er macht Lust am Selber-Denken. Und er ist in Zeiten der Religionskriege des 16. Jahrhunderts kritisch und selbstkritisch, man lese etwa Essay 56 „Über das Beten“ bzw. über die Verlogenheiten beim Beten und die offiziell erwünschte Frömmigkeit.

Was die Lektüre der Essais, also des Hauptwerkes von Montaigne, so erfreulich macht, ist die man möchte sagen umfassende, nahezu absolute Wahrhaftigkeit des Autors; ist die Tatsache, dass da ein Mensch im Angst-besetzten 16. Jahrhundert sich ganz frei zeigt, „ich“ sagt, eigene Überzeugungen begründet, immer als Beispiel, wie Leben auf dieser verrückten und feindseligen Welt doch noch einen Schimmer des Gutseins und der Hoffnung bewahrt. Man lese seine Empfehlung zum Selbst-Denken: “Worauf ihr zu sinnen habt, ist nicht mehr, dass die Welt von euch spreche, sondern wie ihr MIT EUCH selbst sprechen sollt. Zieht euch in euer Inneres zurück, vorher aber macht alles bereit, euch dort empfangen zu können…“ (Essay 39, Über die Einsamkeit). Und vor allem: “Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten, ganz für uns, ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit unseren wichtigsten Zufluchtsort zu machen, unsere wahre Freistatt…“

Unpolitisch war er nicht, bei aller Liebe zu einer skeptischen Lebenshaltung: Schon als junger Mann hat er sich als Stadtrat von Bordeaux um das Wohl der Bürger gekümmert. Und vor allem kann er darauf verweisen, dass er vier Jahre lang als Bürgermeister von Bordeaux tätig war, zur Zufriedenheit der Bürger übrigen. Allerdings hat er selbst auch negative Erfahrungen gemacht: „Die Gesetze werden oft von Hohlköpfen gemacht und noch öfter von Leuten, die die Gleichheit aller Menschen hassen und dabei ihres Sinnes für die Gerechtigkeit beraubt werden. Diese Gesetzgeber sind windige und wetterwenderische Macher…. Ich finde die Gemeinwesen am gerechtesten, die am wenigsten Ungleichheit zwischen Oben und Unten in der Gesellschaft, sagen wir zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, zulassen“.

Nach wie vor empfehle ich die Übersetzung der Essais durch Hans Stilett, eine großartige Leistung. Zuerst 1998 im Eichborn Verlag 1998 in einer prächtigen Ausgabe erschienen.

Copyright: Christian Modehn

DADA lebt

DADA lebt. Der 5. Februar gilt als 100. Geburtstag der DADA-Bewegung.

Ein Hinweis von Christian Modehn, Berlin

Hans Küng ist meines Wissens einer der wenigen heutigen (katholischen) Theologen, die DADA ausdrücklich verteidigen. Vielleicht liegt das daran, dass Küng Schweizer ist (der erste Treffpunkt der Dadaisten befand sich bekanntlich in Zürich)…? Oder weil er eben ein universal gebildeter Theologe ist?

Jedenfalls betont Küng ausdrücklich, dass keine Institution, kein Staat und keine Kirche das Recht haben, sich „aufgrund einer künstlerischen Darstellung ein moralisches Urteil über die Grundeinstellung eines Künstlers anzumaßen und sich als Richter auf Nihilismus, Dekadenz, Amoralität oder Lüge zu befinden. Vordergründig Absurdes kann einen hintergründigen Sinn haben“ (in: Hans Küng, “Musik und Religion”, München 2006, Seite 216f.)

Küng nennt zunächst Giorgio de Chirico, Hans Bellmer, Francis Bacon… Und er sagt weiter, dass selbst hinter dem – so wörtlich – „Unsinn einer dadaistischen Collage aus sinnentleerten Papierschnitzeln noch Sinn stecken kann“, also „Protest gegen die Unsinnigkeit des Krieges, den Rationalismus des technischen Zeitalters, die Verlogenheit der bürgerlichen Kultur, die falschen Götter“. Und Küng zitiert den großen DADA Inspirator Hugo Ball: „Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind“. (S. 217).

Man könnte natürlich einwenden, dass mit Küng eben ein Theologe spricht, der in allem noch so Entlegenen einen Sinn noch entdeckt. Aber was ist falsch an dieser Haltung? Selbst wer von sich paradoxerweise behauptet, etwas Sinnloses zu schaffen, meint doch: Sinnlos ist dies für die alle anderen, nicht sinnlos hingegen für mich als den schaffenden kreativen Künstler. Diese Haltung gilt sicher nicht für die DADA-Bewegung. Die wollte mitten im Ersten Weltkrieg die Gesellschaft provozieren, wach machen für die humanen Werte, indem sie das nach außen, auf den ersten Blick der Alltagsvernunft hin Sinnlose zeigte und aussprach. Dabei macht DADA deutlich, dass die übliche logische Welt – damals, 1916, als sinnlos-kriegerische Welt alles andere als rational – eben nur eine mögliche, ein schlimme Variante des Denkbaren ist. Verrückt war nicht DADA, möchte man sagen, sondern verrückt waren die in sich verkrampften kriegerischen National-Staaten… DADA öffnete so den Geist für Mögliches, für Alternativen. ABER:

Eine in sich verkrampfte, selbstsichere, kriegerisch, brutale bürgerliche Welt konnte und wollte über DADA bestenfalls schmunzeln. Diese Welt war (und ist) schlicht zu blöd, um DADA zu verstehen. Wo ist DADA heute? DADA lebt auf andere Weise: Sicher nicht nur in der Kunst und Literatur im expliziten Sinne. DADA ist dort, wo Ungeahntes dargestellt wird als Möglichkeit, als Ausweg, als Befreiung aus Denkzwängen. Als Widerstand gegen alle Stumpfsinnigen, die da uns belehren wollen mit ihrem neoliberalen Herrschafts-Credo: „Es gibt keine Alternative“. Oder jetzt: „Das Boot ist voll“. Oder: „ Die ewige Tradition lässt keine Revolution zu, etwa in den Kirchen“. Es gibt also eine neues DADA heute, nicht als Spaß der Wortspieler, sondern als Lebensform jener, die die Hoffnung und den Lebenssinn bewahrt haben und sagen: Es gibt Alternativen. Denken wir nur mal nach.Und handeln dann gemeinsam.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.

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Ohne Zweifeln keine Sicherheit im Leben. Warum Descartes hilfreich bleibt.

Ohne Zweifeln keine Sicherheit im Leben. Warum Descartes hilfreich bleibt.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Inmitten der Katastrophen des Dreißigjährigen Krieges, der Religionskriege in Frankreich, der gesamt-europäischen Verfolgung von Ketzern als Folge der brutal agierenden Inquisition, also inmitten einer Zeit allgemeiner Angst und Verwirrung, bietet der Philosoph René Descartes einen Vorschlag geradezu als Lebenshilfe: Es ist seine Lehre vom Zweifeln. Sie öffnet einen Weg, inmitten der Katastrophen noch einen letzten vernünftigen Boden der Lebens-Gewissheit für sich als einzelnen zu entdecken. Dies gilt, auch wenn einige seiner Lehren, etwa die Spaltung von Innenwelt und Außenwelt oder seine Einschätzung der Tiere als Gegenstände, heute überwunden werden müssen. Darin werden die Grenzen seines Denkens sichtbar.

Es gilt jedoch: Wahrheit zeigt sich dem einzelnen denkenden Menschen nur, wenn er sich seines eigenen Verstandes selbständig bedient. Die Kraft der Vernunft ist autonom, von keinem Einspruch eines Herrschers abhängig; einzig Gott, so meinte Descartes, garantiert die richtigen Leistungen der Vernunft. Auf den einzelnen kommt es an, zu fragen, zu zweifeln, darin lebt die Form des „klaren Denkens“. So muss sich der einzelne an den vorgegebenen Lehren, Dogmen, Ideologien, an den Propaganda-Sprüchen abarbeiten, um „sicheren Boden“ selbst für sich zu finden.

Philosophie des Zweifelns wird so zur Befreiung von der Macht der Autoritäten und uralten, deswegen oft falschen (weil etwa wissenschaftlichen erwiesenermaßen überholten) Traditionen.

Die religiösen Autoritäten haben genau erkannt, dass ihre Macht und Verfügung über die geistige Orientierung der Menschen durch Descartes stark bedroht wird. Sie fürchteten vor allem Descartes als Lehrer dieser neuen, emanzipatorischen Geisteshaltung. Seit 1653, drei Jahre nach seinem Tod in Stockholm, stehen seine Schriften auf der päpstlich verfügten Liste der Verbotenen Bücher (Index), 1691 folgte das königliche Verbot in Frankreich, seine Lehren an französischen Schulen zu unterrichten. Auch Universitäts-Professoren wird es untersagt, das Denken von Descartes zu verbreiten und zu lehren. Die Jesuiten veröffentlichen 1706 ein Buch, das die Lehre vom „Systematischen Zweifel“ im Sinne Descartes verbietet (Siehe Georges Minois, Geschichte des Atheismus, 2000, Seite 251), Aber diese Verbote verbunden mit der Drangsalierung von Descartes-Forschern, nützten wenig. In der allmählich antiklerikal eingestellten Gesellschaft etwa Frankreichs wurden seine Bücher mit Begeisterung gelesen, populäre Interpretationen wurden verbreitet („L art de vivre heureux selon les principes de M. Mesdcartes“ aus dem Jahr 1667. Oder, man stelle sich das heute vor, es gab spezielle Descartes-Einführungen für die Damen gelehrter Salons, etwa von René Bary. Und Madame de Sévigne, die berühmte Pariser Salonnière, ist voll des Lobes für Descartes.

Descartes ist nur ein Beispiel, wie zuvor schon in Italien, der Zweifel zu einer Art „Habitus Mentis“ wurde, wie Minois schreibt (S. 117), zu einer allgemeinen Geisteshaltung. Dabei war Descartes persönlich eher ängstlich, er wollte die Auseinandersetzungen mit der Inquisition meiden. In seinen Briefen wird seine Persönlichkeit sichtbar. Dem Philosophen Pater Mersenne vertraut er an: “Mein Wunsch in Frieden zu leben, zwingt mich dazu, meine Theorien für mich zu behalten“ (in Minois, Seite 248). D.h. er hat längst nicht „alles“ öffentlich gesagt, was ihm wichtig war. Trotzdem galten seine veröffentlichten Lehren den Herrschern bereits zu Lebzeiten als hoch gefährlich: Der Philosoph Prof. Theodor Ebert (Erlangen) hat in seiner Studie (Der rätselhafte Tod des René Descartes) gezeigt, dass Descartes in Stockholm sehr wahrscheinlich von dem französischen Priester François Viogué aus dem Augustiner-Orden vergiftet wurde, offensichtlich um Descartes „kritischen (antikatholischen) Einfluss“ auf die zum Katholizismus tendierende König Christine definitiv zu beenden.

Jedenfalls hat sich der Katholizismus in seiner Abwehr des Zweifelns (auch als gültige Dimension der Wissenschaften, der Theologien, der Bibel-Deutung usw.) selbst ins Getto der „Ewig-Gestrigen“ begeben und sich von der intellektuellen Debatte weithin verabschiedet. Die Mentalität der „von Feinden belagerten Stadt“, wie der Historiker Jean Delumeau („Angst im Abendland“) treffend sagt, galt im Katholizismus sozusagen noch bis vorgestern. Diese Abwehr von neuen Erkenntnissen zeigt sich heute etwa im rigorosen Nein zur Vielfalt der Formen der Ehe, also auch der Homo-Ehe. Dabei berufen sich die meisten Katholiken und ihre leitenden ehelosen (!) Bischöfe und Prälaten auf einige Verse aus der Bibel und praktizieren so die Methode, die einige fundamentalistische Muslime in ihrer Koran-Interpretation leisten: Wenn im biblischen Buch Genesis steht: „Als Mann und Frau schuf Gott die Menschen“, (Genesis 1, 27) so schließen die Prälaten aus dieser schlichten Tatsachen-Behauptung: Also hat Gott für alle Zeiten nur die EHE von Mann und Frau zugelassen. Solche Schlüsse entbehren jeder Logik, sie sind Ausdruck fundamentalistischer Bibellektüre. Könnte man nicht gleichermaßen den Satz aus Genesis 2, 18 zitieren: „Es ist nicht gut, dass der Mensch (hier ist der Mann gemeint), allein sei“ und folgern: Also ist wegen der göttlichen Abwehr des Alleinseins auch eine Homoehe eben als Überwindung des Alleinseins gottgefällig? Aber lassen wir den fundamentalistischen Wahn: Jedenfalls glauben die frommen und oft theologisch-dumm gehaltenen Massen diese steilen Sprüche ihrer Glaubens-Hüter, sie können und wollen eben nicht zweifeln (!), wie jetzt, anlässlich der Diskussionen und Demonstrationen gegen die „eingetragene Partnerschaft von Homosexuellen“ in Italien. Bisher hat der Vatikan das Gesetz, selbst im katholischen Spanien seit langem üblich, verhindern können. In Italien darf es eben keine Politik ohne den Vatikan geben. Die auch staatliche, gesetzliche Gestaltung der Sexualität ist die letzte eigene „Bastion“, um die die Kirche heute kämpft. Da will sie die alte Übermacht des Geistlichen über das Weltliche (so die Kämpfe seit dem Mittelalter) noch einmal demonstrieren. Langfristig ist dieser Kampf – Gott sei Dank – vergeblich.

Man sieht, wie aktuell Descartes heute sein kann: Der Zweifel als Lebenshaltung wäre gerade heute eine Tugend, sie könnte die Leichtgläubigkeit beenden, das schnelle Urteilen einschränken, das mediale „Immer schon wissen, was genau passiert ist“. Der Zweifel als Haltung auch der Politiker würde Abstand bringen zum Stress, den Propaganda-Sprüche verursachen. Der Zweifel könnte eventuell den Wahn religiöser Fundamentalisten eben zweifelhaft und falsch erscheinen lassen. Aber die Macht derer, die schnelle Sicherheit versprechen, ist so groß, dass die Tugend des Zweifelns wenige Chancen hat, bestimmend zu werden. Gerade in Zeiten, die von übereilten, so wenig kritischen und selbstkritischen Äußerungen zum Thema Flüchtlinge bestimmt sind, wäre Zweifeln sozusagen die „heilige Tugend“ der Menschen. Aber wehrt lehrt das Zweifeln? Sind Schulen und Universitäten Orte des systematischen Zweifelns? Sollten es christliche oder buddhistische oder jüdische und muslimische Gemeinden nicht auch sein, Orte des selbstkritischen Zweifelns?

Aber viele Menschen können das eigene Zweifeln kaum aushalten, weil sie sich lieber selbst an schnelle, falsche Antworten halten als an das geduldige, die Wahrheit erkundende Fragen. Weil sie im Zweifeln also eine Bedrohung ihrer Existenz sehen und nicht wahrnehmen, dass die ganze Kunst des Lebens darin besteht, am angenommenen und gelebten Zweifeln nochmals selbst zu zweifeln. Um dabei zu entdecken, dass der Zweifel eine Dimension und eine Form der Aktualisierung des menschlichen Geistes ist.

 

Copyright: Christian Modehn

 

Der Leichnam Pater Pios im Petersdom ausgestellt: Eine Scharlatanerie?

Der Leichnam Pater Pios (1887-1968) wird im Petersdom ausgestellt: Eine Scharlatanerie?

Ein Hinweis von Christian Modehn, im Februar 2016.

1.

Es ist ein merkwürdiges und bedenkenswertes Zusammentreffen zweier Ereignisse: Beide dokumentieren auf verschiedenen Ebenen die unvernünftig erscheinende Glaubenspraxis im Vatikan: Am 30.1. 2016 gibt es Massendemontrationen in Italien gegen das Vorhaben der Regierung, auch in diesem Land endlich – sozusagen als Schlußlicht in Europa bei diesem Thema – die eingetragene Partnerschaft von Homosexuellen gesetzlich zu ermöglichen. Der Vatikan ist mit üblichen Argumenten sozusagen der Lieferant ideologischer, religiöser Weisheiten. Aus der schlichten Beschreibung im Alten Testament “Als Mann und Frau schuf Gott die Menschen” (Genesis, 1,27) wird wie üblich und dumm gefolgert: Also kann es deswegen nur eine Ehe von Frau und Mann geben. Von der damals einzig möglichen Heteroehe ist in diesem Bibel-Vers(verfasst ca. 500 vor Christus) keine Rede. Aber der Vatikan entnimmt der Bibel seine Weisheiten, wie es ihm, demVatikan, gefällt.

2.

An dieses Thema traut sich kein katholischer Theologe “ran”: Die merkwürdige angeblich wundertätige Gestalt des süditalienischen Kapuziner-Paters Pio ist für katholische Theologen tabu. Wovor haben diese gut bezahlten Uni-Professoren Angst? Mit diesem angeblich stigmatisierten Kapuziner, der, empirisch erwiesen, in Italien auch heute noch mehr Verehrung findet als Christus oder Maria,  befassen sich “nur”  Soziologen, Historiker oder Kunsthistoriker, wie etwa Urte Krass, Stigmata und yellow press. Die Wunder des Pater Pio”. Bibliographische Hinweise am Ende dieses Beitrags. Wichtig ist das Buch des Historikers Sergio Luzzatto, das nun nach der italienischen Erstausgabe auch in Frankreich publiziert wurde: “Padre Pio. Miracles et politique à l`age laic”, erschienen bei Gallimard , 528 Seiten, 30 €. Das Buch setzt die Gestalt dieses Kapuziners in den historischen Kontext, in dem es das Bedürfnis gab, einen Heiligen zu “schaffen”; es beschreibt auch die Anstrengungen derer, die Pater Pio – sicher aus finanziellen Gründen – in die Gestalt eines zweiten Christus erhöhen wollten.  Der Autor zeigt, wie die Faschisten sich der Gestalt Pater Pios bemächtigten.

3.

Der Religionsphilosophische Salon als Ort der Religionskritik hat sich mit Pater Pio schon seit Jahren mehrfach befasst. Diesmal ein aktueller Hinweis:

Man glaubt es kaum, schon gar nicht bei dem angeblich progressiven Papst Franziskus: Da wird der Leichnam (im Glaskasten) Padre Pios, des Volksheiligen aus Süditalien und Idols u.a. aller Taxifahrer und Mafia-Bosse, aus Süditalien in den Petersdom transportiert und vom 8. bis 14. Februar 2016 ausgestellt, anläßlich des so genannten Heiligen Jahres der Barmherzigkeit. Reliquien, eine einbalsamierte Leiche,  soll also den Gedanken der Barmherzigkeit befördern. Auf welchem theologischen Niveau bewegen sich die Herren des Vatikans eigentlich? Oder geht es nur um Werbung für die Kunstschätze des Vatikans und Roms im Heiligen Jahr? Um mehr Geld in den Kassen des Vatikans und der römischen Hotelbetriebe, zu denen bekanntermaßen heute sicher hundert Klöster gehören. Die Klöster stehen fast leer, und werden in komfortable 4 bis 5 Sterne “Herbergen” verwandelt, die Augustiner, die Nachbarn des Papstes, taten es in Rom, die römischen Franziskaner (die bei dem Projekt pleitegingen) und viele andere…Mit Pater Pio, bei vielen sehr schlichten und weniger schlichten, frommen Gemütern, lässt sich Geld machen…

4.

Religionsphilosophen fragen sich, hat mit dieser Darbietung eines Leichnams in der katholischen Hauptkirche die Vernunft nun endgültig den Vatikan verlassen? Muss der Papst sich so populistisch geben und vielleicht dabei noch konservativere Leute dort versöhnen, dass er den Leichnam Padre Pios, sichtbar und zentral im Petersdom ausstellt? Um was zu bewirken? Dass die naiv gemachten und von ihren Pfarrern ungebildet gehaltenen Frommen dort vor der Leiche beten, den Heiligen bitten und anflehen, seine jetzt nicht mehr blutenden Wunden betrachten und vergessen… dass dieser Mann ein Scharlatan war? Davon sprechen viele Studien, selbst einst die Päpste.

5.

Manche Beobachter fragen: Wie lange will der Vatikan heute eigentlich noch die Nerven der Protestanten strapazieren mit solchen irrigen Kulten um einen heilige Scharlatan? Ist alles Reden von Ökumene im Vatikan nichts als Gerede, indem man genau die Dinge heute ausdrücklich wieder tut, die Martin Luther zurecht verurteilte, wie das Ablasswesen (die “heilige Pforte durchschreiten” usw)., denn auch der Ablass ist bekanntlich wieder so beliebt und eben den Kult um angeblich heilige Leichname bzw. Skelette fördert. De facto sind sich die getrennten Kirchen offenbar bis heute nicht näher gekommen. Das sagt auch jetzt Kardinal Müller, der oberste Glaubenshüter in Rom, wenn er sich die Einheit der Christen nur als Rückkehr zum Papst vorstellen kann. Kurz und gut, warum wagt es kaum jemand zu sagen: Die Ökumene ist nichts als ein schöner, frommer “Schein”? Vielleicht eine Art theologischer Zeitvertreib? Hübsch, wenn man sich zu Konferenzen mit den ewig selben Themen trifft usw. Es geht letztlich unausgesprochen, aber sichtbar im Handeln im Vatikan, nur um die pure Vorherrschaft Roms, eines Roms, som, wie es eben “immer schon war”.

6.

Wir haben schon vor einigen Jahren auf diesen merkwürdigen “Volksheiligen”, der als Priester kaum ein vernünftiges Wort predigen konnte, angeblich mit den Wunden Christi ausgestattet,  aufmerksam gemacht. Zur Lektüre klicken Sie bitte hier.   

Interessante Hinweise, etwa zur Kritik der Päpste an diesem Scharlatan, bietet auch ein Beitrag aus Stuttgarter Zeitungvon 2015, klicken Sie hier.

Wir empfehlen die Lektüre des Beitrags von Urte Krass, “Stigmata und yellow press. Die Wunder des Pater Pio”  in dem Sammelband aus dem Suhrkamp Verlag (2011), hg von Alexander C.T.Geppert und Till Kössler, dort Seite 383-394. Diese Studie von Urte Krass (München) sollte jedem Besucher der wundertätigen Leiche Pater Pios im Petersdom als Pflicht-Lektüre überreicht werden. Geld genug dafür haben ja die Kapuziner mit ihrem “Wunderpriester”, der auch über seinen Tod hinaus für eine wunderbare Geldvermehrung der völlig naiven Frommen seit Jahrzehnten sorgt.

7.

Die Protestanten sollten im Umfeld des Reformationsgedenken 2017 (und des “Ökumenischen Kirchentages” 2017) diese Studie lesen, um sich einen Eindruck zu machen, was heute so alles wichtiggefunden wird in der katholischen Volksspiritualität, mitten im Petersdom, mitten in Italien… Diese total irrationale Volksfrömmgkeit wird amtlich, päpstlich,  gefördert …. weil sie soviel Geld-Segen bringt. Bekanntlich hat ja das riesige Krankenhaus in San Giovanni Rotondo und die dortige “wunderbar-große” Kirche des Stararchitekten Renzo Piano viele Millionen verschlungen…

Ergänzungen am 6.2.2016:  Was sagt der (angeblich progressive) Papst Franziskus von Pater Pio: Ein Zitat aus kath.net: “Nachdem am gestrigen Freitag (5.2.2016) die Reliquien von Pater Pio und Leopold Mandic in Prozession in die Petersbasilika gebracht wurden, wo sie bis zum 11. Februar bleiben werden, begrüßte Papst Franziskus die Gebetsgruppen des heiligen Pio in einer Audienz auf dem Petersplatz. In seiner Ansprache an die Zehntausenden von Pilgern unterstrich der Papst, dass Pater Pio ein „Diener der Barmherzigkeit gewesen sei. Durch das “Apostolat des Hörens, den Dienst der Beichte, sei Pater Pio eine „lebendige Liebkosung des Vaters“ gewesen, der die Wunde der Sünde heile und das Herz mit seinem Frieden aufrichte. Der heilige Pio habe dies tun können, da er immer mit der Quelle verbunden gewesen sei. Er habe ständig seinen Durst am gekreuzigten Jesus gestillt und sei so zu einem „Kanal der Barmherzigkeit“ geworden“. Er habe das Geheimnis des Schmerzes gelebt, den er aus Liebe aufgeopfert habe. So sei sein kleiner Tropfen zu einem großen Fluss der Barmherzigkeit geworden”.

8.

Und der “Fluss der Barmherzigkeit” strömt nach Rom zur Leiche Pater Pio, berichtet ebenfalls kath.net am 6.2.2016: “Pilgeransturm zur Reliquie übertrifft Erwartungen. Fünf Stunden Schlangestehen für fünf Sekunden bei der Pater-Pio-Reliquie. Zehntausende nehmen dies auf sich. Von Stefanie Stahlhofen (KNA). 450 Kilometer hat Filomena für diesen Augenblick hinter sich gebracht. Aus Lagonegro in der Basilikata ist die 65-jährige nach Rom gekommen, um die Reliquie des Heiligen Pater Pio (1887-1968) zu sehen. Dreieinhalb Stunden lang stand sie in der Schlange, andere sollen fünf Stunden gewartet haben. Egal. Filomenas Augen strahlen. «Seelenruhe» habe Pater Pio ihr gegeben, sagt sie. Der Glassarg ist kaum zu sehen vor lauter Menschen. Sie hinterlassen Blumenschmuck und kleine Zettel, pressen einen Schal, eine Hand mit oder ohne Rosenkranz, ein Heiligenbild gegen den Schrein. Sie knipsen Fotos mit dem Handy, murmeln ein Gebet. Vor ihnen der Anblick von Pios Leichnam in der typischen Kutte, die schwarz gewordene Hand über der Brust gefaltet. Eine Silikonmaske verdeckt das Gesicht. Sie verleiht dem Heiligen mit dem grauen Bart einen friedlichen Gesichtsausdruck”.

Für Philosophen: Wie der Philosoph G.W.F. HEGEL den Reliquienkult deutet, lesen Sie hier.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Aktualisiert am 7. September 2025 durch CM

Wenn Menschen zur Sache werden. Ein Hinweis anlässlich des Holocaust-Gedenkens

Wenn Menschen zur Sache werden: Ein Hinweis anlässlich des Holocaust-Gedenkens

Von Christian Modehn

Der 27. Januar ist der Gedenktag an den Holocaust.

Ein Gedenktag einmal im Jahr ist förmlich eine Beleidigung der Millionen Menschen, die im Holocaust, also dem systematischen Ermorden der Juden im so genannten 3. Reich, umgebracht wurden, vor allem und hauptsächlich von Deutschen.

Eigentlich sollte immer “Gedenktag” an den Holocaust sein. Denn er hat seine tiefe Ursache in der Meinung der Herrschenden, es gebe wertlose Menschen, es gebe Menschen, die eigentlich als Sachen und Dinge angesehen werden können. Die zu überflüssigen Stücken geworden sind, die die Wirtschaft stören, die den eigenen Luxus bedrohen, die das unbewusste und bewusste Herrenmenschentum verunsichern. Mit solcher Mentalität hat der Holocaust bereits – geistig – begonnen. Wenn ideologische Systeme zwischen wertvollen und zweitrangigen Menschen unterscheiden und diesen Wahn in die Köpfe hämmern, hat der Holocaust praktisch schon begonnen.

Lassen wir die Diskussionen über die „Einmaligkeit“ oder „einmalige Besonderheit“ dieses Holocausts von 1933-1945 beiseite.

Tatsache ist, dass immer schon und heute wieder Menschen und ganze Gruppen von Menschen, ja „Völker“ (siehe Afrika, Südsudan, Burundi usw.) systematisch und gezielt umgebracht werden. Sie werden vor unser aller Augen getötet oder zum Verhungern gebracht, wir gucken – via TV- in die Augen der Sterbenden im Südsudan, um die sich niemand kümmert… Sozusagen life können wir im Fernsehen in „hübscher Distanz“, deswegen ungerührt, das Krepieren dieser Armen beobachten. Der “aktuelle Holocaust”?

Der Holocaust-Gedenktag ist unseres Erachtens erst dann umfassend bedacht, wenn nicht nur das Damals, das angebliche Vergangensein des tötenden Antisemitismus, erörtert wird. Wenn also der Gedenktag nicht nur als Rückblick existiert. Sondern als kritischer Blick auf die aktuelle Situation der Welt: Wo gibt es heute –verdrängte, bewusst übersehene- Holocausts?

Holocaust beginnt immer dann zu geschehen, wenn Menschen zu „anderen“, zu „Fremden“, zu „bedrohlichen Eindringlingen“ verdinglicht werden, wenn sie entpersonalisiert werden, als Massen betrachtet werden, als Nummern, etwa wie die Flüchtlinge, etwa im „Lageso-Warte-Lager-Berlin-Tiergarten“, die Tagelang in der Kälte warten müssen auf die Gnade der „Bearbeitung“ ihres “Falls”.

Philosophie und mit ihr eine religiöse wie humanistische Spiritualität hat sich heute abzuarbeiten am Thema: Wie können wir das Bewusstsein, den Geist, soweit befreien von dem längst üblich gewordenen Gedanken: Es gibt auf dieser Welt unbedeutende Menschen, unwichtige Personen, die man durchaus ausbeuten kann, die man übersehen kann und wie Sachen und Dinge behandeln und notfalls entsorgen kann. Es ist, nebenbei gesagt, bezeichnend: Die Kritiker der systematischen Tötungen der Armen, besonders der Frauen in Zentralamerika und Mexiko, bewerten die Täter, also die Mörder, aus den Kreisen der Militärs, der Regierungen, der Drogenkartelle, eben als „Herrenmenschen“.

Eine weitere Debatte über die Verdinglichung der Menschen durch einige Herren-Menschen ist dringend geboten.

Copyright: Christian Modehn