Hannah Arendt: Pluralität und Erfahrung des anderen. Sie haben ihre Wurzeln im Selbstgespräch des einzelnen.

Ein Hinweis auf ein neues Buch von Hannah Arendt.

Hannah Arendt hat als Flüchtling in den USA nur noch politische Philosophie bzw. politische Theorie betreiben wollen, das hat sie etwa auch in dem berühmten Fernseh-Interview mit Günter Gaus betont. 1954 hat Hanna Arendt an der Notre-Dame University Vorträge zu dem Thema gehalten, auch über Sokrates und Platon hat sie gesprochen. Damit zeigte sie, dass die klassischen Themen der klassischen Philosophie für sie doch auch selbstverständlich wichtig blieben; sie wollte diese nur ausdrücklich im Zusammenhang des politischen Zusammenlebens erörtern.

Jetzt ist im Verlag „Matthes und Seitz“ (Berlin) zum ersten Mal eine deutsche Übersetzung ihres Vortrags mit dem Titel „Sokrates. Apologie der Pluralität“ erschienen. Dieser eher knappe Text ist originell und bedeutsam für weitere Diskussionen, weil er die Erfahrung der Andersheit der vielen anderen Menschen (Pluralität) gerade IN der Erfahrung des Selbst begründet: Von Selbstbewusstsein, diesem klassischen philosophischen Begriff, spricht Arendt in dem Text – soweit ich sehe – nicht. Aber sie verweist auf die elementare Denkerfahrung, die sich abstrakt etwa so beschreiben lässt: Ich denke mich und erlebe mich dabei als den von mir Gedachten, wobei das von mir gedachte Ich in gewisser Weise von mir als dem Denkenden verschieden ist. Es ist also eine gewisse Spaltung, “Pluralität”, im Ich oder im Selbstbewusstsein sichtbar und erfahrbar. Also eine Art zweifache Gegebenheit des einen Ich, so dass Hannah Arendt tatsächlich meint: Das Ich ist in seinem Selbstbewusstsein pluralistisch: “In sich selbst trägt der Mensch die Signatur dieser Pluralität in sich” (Seite 60 in dem genannten Buch). Also ist die Vielfalt verwurzelt im Ich selbst, und nur aufgrund dieser pluralistischen Erfahrung kann der einzelne auch den anderen als den anderen erkennen. Dies ist die zentrale These in dem Buch. (Es bietet darüber hinaus und im Gang der Argumentation wichtige Hinweise zu einer Philosophie der Freundschaft oder zur Differenz Sokrates-Platon, darauf kann hier nicht näher eingegangen werden).

Diesen zentralen abstrakten Gedanken formuliert Arendt mit den Begriffen des im einzelnen immer schon gegebenen Selbstgesprächs: „Indem ich mit mir selbst spreche, lebe ich auch mit mir zusammen…. Die Menschen tragen die Signatur der Pluralität in sich“ (S.26 in dem genannten Buch). Das hat ethische Konsequenzen: Ich muss also mit mir (als dem gedachten Ich) ins Reine kommen; ich darf mit mir (als dem gedachten Ich) nicht im Widerspruch stehen. Ziel ist eigentlich: Ich muss mit mir übereinstimmen. Das ist der oberste Lebenssinn für Sokrates. Und Hannah Arendt zeigt in dem Buch, wie Sokrates dieses Mit-sich-Eins-Sein selber lebte und lehrte. Dieses Mit-sich-Eins-Sein ist ein Werden, ein Prozess, eine bleibende Aufgabe.

Wer als Ich diese dauernde Aufgabe erkennt, wird auch mit den anderen Menschen in seiner Umgebung geduldig umgehen, weil diese sich ja auch wahrscheinlich bemühen, mit sich selbst überein zu stimmen. Voraussetzung für eine humane Gestaltung der Pluralität bleibt für Arendt: „Die Einsamkeit mit sich selbst, der Dialog des Zwei-in-Einem ist integraler Bestandteil des Zusammenseins und Zusammenlebens mit anderen“ (S. 81). Nur im Mit mit sich selbst allein sein kann diese Entdeckung der inneren, eigenen Pluralität denkend wahrgenommen werden.

Bedrängend, wenn nicht zerstörerisch ist die Erfahrung, wenn die Nicht-Übereinstimmung des Ich mit sich selbst erlebt und dann aber ignoriert bzw. überspielt wird. Dann wird die Daseinslüge zum Gesetz des Ich.

Jedenfalls ist die innere Pluralität im Selbstbewusstsein des einzelnen für Arendt so elementar, dass sie das große philosophische Wort thaumzein, sich verwundern, darauf bezieht: Im Thaumazein, Erstauntsein und Sich-Wundern, wird ja die Urerfahrung beschrieben, mit der Sokrates und Platon – zunächst über die Sprachlosigkeit im Thaumazein – ins weitere Philosophieren fanden.

Das Ur-Erstaunliche ist also das Selbstbewusstsein, das mit sich selbst übereinstimmen soll, das also die Differenz der Andersheit in seinem Selbst sozusagen positiv gestalten kann.

Diese Begründung der Erfahrung der menschlichen Pluralität, also die Erfahrung des anderen, erscheint für viele wahrscheinlich neu und sicher erstaunlich. Man könnte meinen, Hannah Arendt sei insofern doch klassische Philosophin geblieben, als sie für die Erfahrung des anderen als anderen eine Art apriorische Struktur im Ich entdeckt bzw. freilegt. Diese Denkhaltung könnte man wohl transzendentalphilosophisch nennen. Vielleicht ahnte dies Hannah Arendt, und vielleicht verwendet sie deswegen nicht den klassischen Begriff Selbstbewusstsein. Um eine apriorische Struktur handelt es bei Hannah Arendts Hinweis dann doch, wenn sie auf das in sich plurale „Selbstgespräch“, wie sie sagt, hinweist als Voraussetzung, über die andere Person als andere Person wahrzunehmen und zu respektieren.

Gewonnen ist die wichtige auch politisch so relevante Einsicht: Wir Menschen können und sollen Pluralität unter den Menschen anerkennen. Sie ist normal. Ich sage: Sie ist apriorisch und gehört zum “Wesen des Menschen”, könnte man auch klassisch sagen. Pluralität unter den Menschen ist also etwas allgemein Menschliches, noch einmal anders gesagt, Pluralität – in Gleichberechtigung – ist also zu hegen und zu pflegen.

Die weitere Frage bleibt, die Hanna Arendt nicht beantwortet, ob denn die Erfahrung des “anderen” in mir selbst noch einmal eine andere Qualität hat, als jene Erfahrung im Ich-Du bzw. Ich-Wir, wenn ich dem anderen, leibhaftig vor mir stehenden Anderen, begegne. Ich denke, etwa Lévinas hätte dem zugestimmt. Der leibhaftige Andere ist für ihn wohl die Gründung erst meiner Ich-Erfahrung.

Hannah Arendt lag daran, in einer Zeit kurz nach dem Holocaust und in der Nachkriegsgeschichte entschieden für die unabweisbare Pluralität der Menschen zu plädieren. Und für den Respekt dieser Pluralität einzutreten.

Hannah Arendt, Sokrates. Apologie der Pluralität. Matthes und Seitz Verlag, Berlin. 2016, 109 Seiten. 12 Euro. Übersetzung: Joachim Kalka.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Salon am Freitag, den 23. September 2016: “Erfindet euch neu!”

Der nächste religionsphilosophische Salon findet am FREITAG, den 23. September 2016, um 19 Uhr in der Kunst-Galerie Fantom in der Hektorstr. 9 in Wilmersdorf statt. Das Thema wird sich auf das Buch des französischen Philosophen Michel Serres beziehen: “Erfindet euch neu!” (bei Suhrkamp erschienen, 77 Seiten, 8,30 €).

Dr. Hans Blersch, Mathematiker und praktischer Philosoph und etlichen Teilnehmern unseres Salons bereits bekannt, wird uns in das Thema einführen. Die These von Michel Serres, wie sie auf dem Buch Cover “Erfindet euch neu” mitgeteilt wird, heißt: “In der kurzen Zeitspanne, die uns von den siebziger Jahren (1970 ff.) trennt, ist ein neuer Mensch geboren worden. Er oder sie … kommuniziert nicht mehr auf die gleiche Weise, nimmt mehr dieselbe Welt wahr, lebt nicht mehr in derselben Natur” (wie etwa Michel Serres, Jahrgang 1930!). Ist also (schon wieder ?) ein Bruch der Generationen entstanden? Ist die junge Generation (in Europa oder weltweit ?) der alten überlegen? Hat die ältere Generation die Chance, sich neu zu erfinden? Dies sind nur einige Fragen, die sich spontan stellen.

In jedem Fall: Herzliche Einladung. Und – wegen der begrenzten Plätze – bitte Anmeldung an: christian.modehn@berlin.de   Teilnahmegebühr für die Raummiete: 5 Euro. Studenten bezahlen nichts… Es wird ein interessanter Gesprächs-Abend zur Möglichkeit, “sich neu zu erfinden”…

Luthers Bindung an die Fürsten: Die Sicht niederländischer Forscher

Wer sich mit der Reformation in den Niederlanden im frühen 16. Jahrhundert befasst, ist überrascht: Trotz zahlreicher Freunde und Sympathisanten Luthers in den Niederlanden (und Antwerpen) damals, hat die lutherische Form, Kirche zu sein, dort um 1520 und später keinen zahlenmäßigen Erfolg gehabt. Und das liegt daran, so die Autoren der Studie „Ketters en Papen onder Filip II.“ (herausgegeben vom Rikjsmuseum Het Catharijneconvent Utrecht, 1986), dass Luther 1531 etwa ausdrücklich die Antwerpener Lutheraner warnte: Sie sollten auf versteckte, aber der Öffentlichkeit bekannte Zusammenkünfte verzichten; sie sollten entweder völlig privat, in aller Stille ihre Gottesdienste feiern oder das Land verlassen und dort hin gehen, wo das Wort Gottes frei verkündet werden kann. „Dieser Standpunkt schließt ganz an Luthers Neigung an, Unterstützung zu suchen bei den Fürsten. So ist die lutherische Reformation fast überall das Werk der regierenden Fürsten gewesen. In Deutschland geschah die Reformation von oben nach unten, nach dem Willen und dem Beschluss der Landesherren. Und diese Fürsten behielten die Leitung bei der Sicherung des reformatorischen Geistes. In den Niederlanden war so etwas ausgeschlossen… Das niederländische Volk wandte sich mehr den radikalen Bewegungen der Wiedertäufer zu und später dem militanten Calvinismus“. (S. 45 im genannten Buch, Beitrag von J. Decavele).

Wir erinnern an diese starke Bindung Luthers an die Fürsten, um noch einmal seinen tiefen Hass gegen den sozial-orentierten Reformator Thomas Müntzer (und seine Forderung, dass die Fürsten ihn verhaften und verbrennen) deutlich zu machen.

Copyright: Christian Modehn

Militärdiktatur in Argentinien und die Kirche: Ein verdrängtes Thema kehrt nun wieder

Ein Hinweis von Christian Modehn

33 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur in Argentinien (sie dauerte von 1976 bis 1983) sind am 25. August 2016 – endlich – einige der führenden Mörder und Folterer aus den herrschenden Militärkreisen in der argentinischen Stadt Cordoba verurteilt worden. General Luciano Benjamin Menéndez z.B. wurde in 54 Fällen von Mord, in 656 Fällen von Folter und in 257 Entführungen für schuldig gesprochen; er hatte damals den Titel „die Hyäne“: „Er tötete nach Lust und Laune“, schreibt die argentinische Journalistin Marta Platia in „der Freitag“ vom 1.9.2016, Seite 10 in ihrem ausführlichen Prozessbericht. Dieser Verbrecher hat einen Rekord an lebenslangen Haftstrafen „gesammelt“: Es sind 10 lebenslängliche Strafen und noch einmal zweimal 20 Jahre…Bereut hat er auch nach dem Prozess nicht und nichts. Preisgegeben hat er seine Informationen, etwa zur Lagerung der Ermordeten, auch nicht.

Der Religionsphilosophische Salon Berlin“ ist an der Verteidigung der Menschenwürde und der Menscherechte lebhaft interessiert und engagiert. Von unserem speziellen Interesse an Religionen und Kirchen soll nur darauf hingewiesen werden:

Die Diskussion über die Rolle der katholischen Kirche während der argentinischen Militärdiktatur wird nun hoffentlich auch in Europa, auch in Deutschland, wieder lebhafter und objektiver werden. Durch die Arbeiten der investigativen französischen Journalistin Marie-Monique Robin ist das Thema seit der Wahl Kardinal Bergolios zum Papst immer wieder kontrovers diskutiert worden, zur Lektüre des französischen Textes klicken Sie hier.

Deutlich wird einmal mehr, wie personell gut ausgestattet die Militär-Seelsorge unter den Diktatoren war, dazu haben inzwischen argentinische Historiker lange und offenbar vollständige Listen mit entsprechenden Beschreibungen der Details publiziert. Tatsache ist, dass viele Militär – und Polizeiseelsorger bei den Folterungen aktiv dabei waren. Erwähnt wird unter vielen anderen auch ein Jesuitenpater (Martin Gonzalez SJ) als Militärgeistlicher, der dieses Amt (von 1971 bis 1977), wie allgemein auch in anderen Orden üblich, nur mit Zustimmung seines damaligen Provinzials, Pater Bergoglio, ausüben durfte. Pater Bergoglio war Provinzialoberer seines Ordens von 1973 bis 1979, also zur Zeit der Militärdiktatur.

Die beiden jungen Historiker Lucas Bilbao und Ariel Lede Mendoza haben kürzlich eine umfangreiche Studie über den Militärbischof Victorio Bonamin aus dem Salesianerorden (Militärbischof von 1960 bis 1982!) veröffentlicht: „Bischof Bonamin hatte eine direkte Verbindung zu den Diktatoren und zu den Orten der Folter“, schreiben sie. Beide Autoren konnten die Tagebücher des Bischofs auswerten und entdeckten dort Rechtfertigungen der Folter und Lobeshymnen auf die Diktatur; auch in die Ermordung des (nahezu einzigen) oppositionellen Bischofs Enrique Angelelli (ermordet 1976) war Bonamin verwickelt. Für weitere Infos klicken Sie hier.

Eine gewaltige Aufgabe kommt da auf objektive, also auch der Kirche gegenüber kritische Historiker zu. Ob man es wagt, dabei einmal gründlich die Rolle von Pater Bergoglio bzw. Kardinal Bergoglio in Buenos Aires zu untersuchen, ist fraglich. An dieser Gestalt wagt niemand in dem argentinischen Zusammenhang – vielleicht aus der viel beschworenen Barmherzigkeit – Kritik zu üben. Wer trotzdem kritische Fragen stellt, wird als “Linker” oder so fertiggemacht.

Zunächst aber sollte wohl das Buch über den Militärbischof Bonamin übersetzt werden, es hat in Argentinien den treffenden Titel „Profeta del genocidio“ (Prophet des Völkermords), Verlag SUDAMERICANA, März 2016. Welche katholische Institution wäre dazu bereit, allein schon deswegen, weil Millionen DM-Spenden damals, auch zu Zeiten der Militärdiktatur, nach Argentiniens Kirche überwiesen wurden.

Das Buch ist auch wichtig, weil es den Einfluss reaktionärer katholischer Kreise aus Frankreich in Argentinien im Umfeld der Militärdiktatur zeigt. Die „Cité Catholique“ war dort heftig tätig. Die Autoren schreiben in dem Vorwort: „El libro básico del fundador de la organización, Jean Ousset, es El marxismo-leninismo. Se publicó en Francia en 1961 y su primera edición extranjera al año siguiente en Buenos Aires,18 con traducción y notas del coronel Juan Francisco Guevara, quien entonces era jefe de Inteligencia del Ejército. “El marxismo —dice Caggiano (Kardinal von Buenos Aires bis 1979) en el prólogo— nace de la negación de Cristo y de su Iglesia”.

Damit ist klar: Die rechtsextremlastigen Kleriker brauchten den Marxismus als Feindbild, um die eigene Aggression gegen jegliche Befreiungsbewegung zu begründen. Der Anti-Marxismus war förmlich das herrschende politische Glaubensbekenntnis in weiten Kreisen des maßgeblichen Klerus. Aber das ist ein anderes dringendes Thema, es berührt auch den Umgang Papst Pius XII. mit Hitlers Regime („es ist nicht ganz so schlimm wie der Kommunismus“, hieß es).

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Mutter Teresa, die Heilige mit dem Burn-Out!

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 27.8.2016

Eine Ergänzung am 1.9.2016: Die folgende Kritik an Mutter Teresa erscheint mir selbst noch viel zu milde, wenn man die Studien von Geneviève Chénard (2013) (“Les côtés ténébreux de Mère Teresa”) berücksichtigt oder die älteren Arbeiten von Christopher Hitchens oder die Hinweise des indischen Schriftstellers Aroup Chatterjee. Unser Beitrag bleibt dennoch lesenwert, weil er auf die seelischen Leiden der Mutter Teresa hinweist, die 50 Jahre dauerten und nicht “bearbeitet” wurden…

Am 4. September 2016 hat Papst Franziskus auf dem Petersplatz die katholische Ordensfrau Mutter Teresa (geb. 1910 in Skopje, gestorben 1997 in Kalkutta) heilig gesprochen. Nach katholischer Lehre ist sie nun nicht nur göttlich bestätigtes Vorbild für alle Katholiken. Sondern auch, „zur Ehre der Altäre erhoben“, wie die offizielle Lehre betont, ist Mutter Teresa für die bittenden Menschen, die sich an sie „wenden“, so etwas wie eine Art Beistand „an Gottes Thron“. Über dieses immer noch gültige römisch-katholische Denkbild ließe sich ausführlicher diskutieren im Jahr der Erinnerung an die Reformation…   Mutter Teresa ist weltweit eine allseits bekannte Ikone der Barmherzigkeit. Und man freut sich natürlich, dass in dieser heutigen Welt der brutalsten Macht, diese Frau so viel Zustimmung findet. Und man freut sich doch auch, dass sie als Beispiel der Hilfsbereitschaft hoch gelobt wird. Sie ist als Heilige in jedem Fall viel sympathischer als etwa der heilige Gründer des internationalen Geheimclubs Opus Dei, Josemaria Escriva oder der fromme Scharlatan, der heilige Pater Pio in Süditalien.

Dennoch werden sich manche Leser, kritische Leser, fragen: Kann diese Nonne tatsächlich Vorbild sein, “heiliges Vorbild”, wie die katholische Presse jetzt ständig behauptet? Kann Mutter Teresa Vorbild sein in ihrer strikten Betonung einer Leidens”mystik”, von der Martin Kämpchen in der Jesuiten-Zeitschrift “Stimmen der Zeit” (2010) berichtete: “Daraus hat sich im Orden (Mutter Teresas) eine Leidensmystik entwickelt, in deren Mittelpunkt der gekreuzigte Christus steht. Wie Christus soll der Patient (in den Häusern Mutter Teresas) seine Leiden eher ertragen, anstatt zu versuchen, sie zu mildern”.

Mutter Teresa wird etwa in hinduistischen Kreisen Indiens als die „Mother“ wie eine Göttin verehrt und in der Kirche erinnern viele Darstellungen (Mutter Teresa mit sterbendem Kind usw.) an Marien-Darstellungen, etwa an die Pietà. Gibt es nun, katholisch gesprochen, gleich zweimal „die Mutter Gottes“? Noch einmal soll der Spezialist für indische Religionen und Spiritualitäten Martin Kämpchen zitiert werden: “Im christlichen Symbolbereich nähert sie (Mutter Teresa) sich der Madonna mit dem weiten Schutzmantel an, unter dem alle Platz finden; im Hinduismus sind es die Muttergottheiten Durga und Kali, die gerade in Kalkutta besonders verehrt werden. Mutter Teresas Resolutheit läßt an die Dämonen tötende Durga denken, ihre Barmherzigkeit verbindet sich mit der gütig-milden, schenkenden Neigung von Kali”. Die Frage ist, wie stark im hinduistischen Indien heute auf die Heiligsprechung Mutter Teresas reagiert wird: Ist sie vielleicht eine gemeinsame katholisch-hinduistische Heilige, wenn nicht “Mutter-Gottheit”? Wäre dieses interreligiöse “Mischung” der Heiligen dem Vatikan sympathisch und der “Lehre” entsprechend? Wird Papst Franziskus eine “multireligiöse Heilige” nun etablieren?

Für ihn ist eine heilige Mutter Teresa die stärkste Stütze für seine theologische Lieblingsidee, die Barmherzigkeit unter allen Umständen zu fördern. Universale Barmherzigkeit ist, hier nur nebenbei gesagt, etwas anderes als universale Gerechtigkeit. Es ist eine alte Erkenntnis, dass der Arme, dem Barmherzigkeit erwiesen wird (ein Stück Brot etwa als Geschenk erhält), zunächst dankbar ist; aber immer wieder nach der viel dringenderen Gerechtigkeit schreit. Ist Gerechtigkeit für alle primär? Gewiss doch! Auch dies ist ein anderes Thema.

Es ist keine Frage, dass Mutter Teresa und die von ihr gegründeten Ordensgemeinschaften viel Gutes getan haben und tun. Eben Barmherzigkeit zeigen, so, wie sie Barmherzigkeit verstehen: Die Ordensleute leben als Arme und den Armen, was  in Indien für Ordensleute in ihren nicht gerade erbärmlichen Klöstern so selbstverständlich nicht ist. Und die Schwestern und Brüder Mutter Teresia kümmern sich um die Ärmsten, die Sterbenden, und bieten ihnen eine Art erste Hilfe an, sie kümmern sich auch um Obdachlose in Europa oder Leprakranke in Afrika. Das verdient Respekt. Keinen respekt verdient die allgemeine Abweisung von theologischer Reflexion oder die Zurückweisung, den Verbleib der  vielen Spenden freizulegen, die diese armen Nonnen erhalten…

In jedem Fall werden nach dem 4. September 2016 noch mehr (katholische) Lobeshymnen auf die „Mutter“, die Nonne Teresa, gesprochen werden. Bei einem solchen Jubelfest, das einmal mehr die Strahlkraft des Katholizismus anzeigen soll, sind kritische Fragen natürlich für die Veranstalter deplaziert, um der umfassenderen Wahrheit willen jedoch wohl notwendig. Die Veranstalter von Heiligsprechungen ließen sich durch kritische Fragen allerdings nie stören. Und kritische Studien zur “Mutter” werden a priori abgewiesen, stammen sie doch, so meint man, von Feinden der Religion…Den “Medien” gar, wie etliche Prälaten sagen. Wie manche Schemata im Denken sich doch so durchsetzen bis in neue politische Gruppierungen hinein.

Trotzdem,  in aller Kürze einige zentrale Tatsachen, die einer weiteren wissenschaftlichen Vertiefung bedürfen: Wird es eines Tages auch umfassend-kritische Studien über Mutter Teresa und ihren Orden geben und nicht nur die üblichen Heiligengeschichten? Wir fürchten bei den Verhältnissen: Eher nicht.

Tatsache ist: Mutter Teresa hat von theologischen Reflexionen niemals viel gehalten. Sie wollte nur fromm sein. Und dieses Modell einer theologiefernen Frömmigkeit hat sie ihren Ordenschwestern und Ordensbrüdern übermittelt, bis heute.

Mutter Teresa hat nie viel von medizinischen oder sozialwissenschaftlichen Kompetenzen für ihre Hilfszentren gehalten (von entsprechenden Studien für die Nonnen ganz zu schweigen).

Mutter Teresa hat angesichts des Elends der vielen Millionen Armen nicht von den gesellschaftlichen und politischen Ursachen der Armut gesprochen.

Mutter Teresa wollte nur persönlich helfen, eben nur „Barmherzigkeit” praktizieren. In persönlicher Hilfsbereitschaft sah sie als die Lösung der Probleme, nicht in politischer Aufklärung und politischer Arbeit.

Mutter Teresa hat, der Frömmigkeit des frühen 20. Jahrhunderts entsprechend, viel von Aufopferung, von persönlichem Selbstverzicht, gesprochen und diese Haltung auch total, möchte man sagen, gelebt.

Diese Selbstaufopferung als Selbstverzicht, als Verzicht auf die immer auch nötige Selbstliebe, ist wohl auch die Ursache für ihre lange dauernde tiefe seelische Erschütterung, man könnte sagen: seelische Krankheit (Depression).

Seit 2007 liegen die Tagebücher Mutter Teresa, post mortem, veröffentlicht vor. Ganz eindeutig ist: Mutter Teresa lebte über viele Jahre in tiefer spiritueller „Dunkelheit“, wie ihre Interpreten zugeben. Der Indien-Spezialist und Kenner der indischen Spiritualitäten, Martin Kämpchen, schreibt in der Jesuiten-Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ (2010): „Die Lektüre (der Tagebücher CM) belehrte mich, dass diese Dunkelheit die Ordensfrau Mutter Teresa tatsächlich fast 50 Jahre lang begleitet hat“.

Das heißt: Mutter Teresa lebte 50 Jahre, privat für sich allein, nur ihren Beichtvätern bekannt, in einem seelischen Zustand, den sie Gottesferne, ja Gottlosigkeit und Dunkelheit nannte. Ein etwas längeres Zitat: Schon am 3.9.1959 (!) notiert sie. „In meiner Seele fühle ich, dass Gott mich nicht will, dass Gott nicht wirklich existiert (Jesus, bitte vergib mir meine Gotteslästerungen – es wurde mir gesagt, ich soll alles aufschreiben). Diese Dunkelheit, die mich von allen Seiten umgibt – wofür arbeite ich? Wenn es keinen Gott gibt – wenn es keine Seele gibt, dann Jesus bist du nicht wahr. Der Himmel, welche Leere… Ich verausgabe mich selbst, doch ich bin mehr als überzeugt davon, dass das Werk nicht mein ist…Doch ich habe keinen Glauben, ich glaube nicht“ (in: Mutter Teresa, Komm sei mein Licht, Pattloch Verag, 2007, Seite 228 f). Diese Äußerungen Mutter Teresa werden von den vielen wohlwollenden Interpreten (es ist ja schwer, bei dieser heiligen Ikone, nicht rundum wohlwollend zu sein) als “dunkle Nacht” gedeutet. Damit wird Mutter Teresa eingereiht in die große mystische Tradition einer Theresa von Avila und eines Johannes vom Kreuz, auch sie sprachen ja in ihren wertvollen Büchern poetisch von ihren dunklen Nächten. Ob diese Verbindung zu den Mystikern des 16. Jahrhunderts so treffend ist, bloß weil auch Mutter Teresa ihren Zustand „dunkle Nacht“ nannte, ist fraglich. So wird Mutter Teresa jedenfalls “hoch gedeutet” und, so möchte man meinen, es wird übersehen, dass sie wahrscheinlich doch ein Burn Out, wie wir heute sagen, permanent erlebte, wenn sie nicht auch unter der Krankheit Depression litt. Das wäre selbstverständlich nicht schlimm, und es wäre für eine reife Gesellschaft auch nicht schlimm, dies öffentlich einzugestehen. Eine Krankheit ist keine Schande. Aber wenigstens den ständigen Burn Out öffentlich einzugestehen, passt der Kirche nicht; sie will ein bestimmtes Image von Mutter Teresa verbreiten. Und vor allem: Offenbar hat Mutter Teresa in all den langen Jahres ihres Burn Out bzw. ihrer Depression keine psychotherapeutische Hilfe bekommen. Psychotherapie (als “Erfindung von Sigmund Freud möglicherweise in katholischen Kreisen unbeliebt) stand offenbar außer Reichweite der Nonne Mutter Teresa. Sie wollte und musste wohl auch unter allen Umständen VORBILD sein, als eine Heilige wurde sie schon zu Lebzeiten bewertet und hoch “gespielt” möchte man sagen: Zudem: Wer unbedingt Vorbild sein will, sein muss, weil es übergeordenete Autoritäten wünschen, der bzw. die kommt schnell in psychische Verkrampfungen…

So wurde in katholischen Kreisen auch nicht über die Ursachen ihres 50 Jahre dauernden seelischen Leidens gesprochen. Auf Seite 228 in dem genannten Buch, erst post mortem pubiziert !, stehen, wie gesagt schon 1959 geschrieben, die entscheidenden Sätze Mutter Teresas: „Ich verausgabe mich…“ Und dann die Bitte, das Gebet, dass sie die ihr schon zu Lebzeiten zugewiesene Rolle der leibhaftigen Heiligen auch weiterhin erfülle: „Jesus, lass nicht zu, dass meine Seele getäuscht wird – UND LASS MICH NIEMANDEN TÄUSCHEN“.

Das heißt: Mutter Teresa wusste, dass sie auch bei ihren vielen internationalen Auftritten, bei Katholikentagen und bei den Reden zur Annahme des Friedensnobelpreises (1979), eigentlich die Leute „täuschen“ könne. Sie wusste: Ich sage öffentlich nicht das, was mein Inneres in der Tiefe wirklich bewegt. Sie sprach auch niemals über ihre möglicherweise politische Ahnung zu der himmelschreienden Ungerechtigkeit. Man darf nicht vergessen, Mutter Teresa war ja keine „dumme“ Nonne, sondern zuerst als Lehrerin und Nonne in einem vom Geist der Jesuiten geprägten Schulorden (“Loretto Schwestern”) tätig. Es gilt die Vermutung, dass Mutter Teresa als „Helferin der Sterbenden“ die unpolitische Rolle einer „Barmherzigen“ spielen musste. Solch ein “Heiligentyp”, eine absolut hilfsbereite Frau, wurde einfach in der katholischen Szene gebraucht. Wenn sie denn öffentlich “politisch wurde”, dann niemals als Kritikerin der Ursachen von Elend und Not. Etwa in Oslo, bei der Annahme des Friedensnobelpreises, sprach sie ausschließlich (!) und ständig von ihrer Kritik an der Praxis der Abtreibung in den bösen liberalen Gesellschaften. Darin folgte sie direkt ihrem großen Gönner, dem ebenfalls nun heiligen Papst Johannes Paul II. aus Polen. Und den Impulsen der Pro-Life-Bewegungen. Eine der wenigen kritischen Studien über Mutter Teresa hat der Theologe Werner Fischer verfasst, DTV 1985, jetzt, bezeichnenderweise, nur noch antiquarisch zu haben. Fischer weist darauf hin: Mutter Teresa ist Symbol für die „Inferiorität der Frauen in der Kirche (S. 177), sie war das „Ausstellungsstück konservativer Positionen“ , sie verbreitete in der Öffentlichkeit die These „Abtreibung ist schlimmer als Krieg“ (S.175). Auf das Festbankett zu ihren Ehren in Oslo 1979 verzichtete sie mit der Begründung “Ich bin nichts“! Und viele fanden diese Worte so heilig mäßig überragend und so prächtig-bewundernswert, weil sie nicht wussten: Diese Frau kann sich selbst eigentlich gar nicht lieben, sie kann sich nicht feiern lassen… Wenn sie sich öffentlich feiern ließ, dann nur als der selbst-vergessene und selbst-lose „Engel der Sterbehäuser von Kalkutta“.

Die Frage ist, ob auf diese seelische Befindlichkeit (also auch Krankheit) Mutter Teresas bei der Heiligsprechung hingewiesen wird. Dann gäbe es eine Chance, auch über die Selbstliebe als wesentlicher Form christlichen Lebens und vor allem: seelischer Gesundheit zu sprechen. Hat nicht Jesus gefordert, man solle „den Nächsten lieben WIE SICH selbst“ (Das würde ja bedeuten: Wer sich selbst nicht liebt, kann auch den anderen nicht lieben…)

Wenn Mutter Teresa hingegen als Vorbild katholischen Lebens, auch des Ordenslebens, heute hingestellt wird: Dann sagt man direkt: Leute, die sich total aufopfern, auf sich SELBST verzichten, sind heilig; Menschen, die auf Selbstliebe verzichten, sind heilig. Katholiken, die nur barmherzig und dabei total unpolitisch sind, die werden heilig. Wenn dies die Botschaft am 4. 9. 2016 wäre, dann wäre das ein großes theologisches und psychologisches Problem, vorsichtig formuiert.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.

 

Zu viel Luther? Einige Fragen zum (Bücher) Kult um den Reformator

Eine Art  Luther (- Bücher -) Boom hat gewisse Bereiche des kulturellen und religiösen Lebens in Deutschland erfasst: Claudia Keller hat im “Tagesspiegel” vom 23. August 2016 (Seite 6) für den Herbst etwa 50 neue Bücher über Luther gezählt, es werden nicht die (zeitlich gesehen) letzten sein. Der Reformator aus Wittenberg in allen nur denkbaren Variationen wird da “behandelt”. Nur einige Beispiele: “Luther für Eilige”, “Luther für Neugierige”, “Mensch Luther”, Luther der Rebell” und so weiter. Bald werden wohl diese Titel folgen: “Luthers liebstes Bier”, “Luthers Geheimrezepte”, “Luthers unbekanntes Liebesleben”  usw. Man muss sich fragen: Haben die Autoren und die möglichen LeserInnen keine anderen Sorgen, als alle Details zum Reformator Luther zu verbreiten und zur  Kenntnis zu nehmen? Soll ein neuer, aber ganz alter, nämlich spätmittelalterlicher  “Nationalheld” etabliert werden? In Zeiten, in denen “die Nation” leider in sehr rechtslastigen Kreisen wieder zu wichtig genommen wird? Schwappt wieder einmal die Vorliebe für Sekundärliteratur über und vernichtet alle Lust, Luthers eigene Werke selbst zu lesen? Und vor allem: Welche geistigen und theologischen Energien werden fest gelegt, wenn sich im Reformationsgedenken 2017 dann doch offenbar alles um Martin Luther dreht? Erwartet die Welt, um es einmal großspurig zu sagen, erwartet die Welt heute inmitten von Kriegen, Aggressionen, von Mord und Todschlag und Verhungernlassen ganzer Städte, von Erdulden der Herrschaft von Diktatoren, von Verzweiflung weiter Kreise der Menschheit usw. usw. wirklich, dass sich große Verlage und viele tausend Leser so hyper-intensiv mit Luther befassen? Da sage “man” bitte nicht, alle diese großen entsetzlichen Probleme der Menschheit von heute fänden doch in Luthers Büchern eine Antwort. Etwa gar in seiner eher grausigen augustinischen Lehre von der Erbsünde und der angeblich daduch total verdorbenen menschlichen Vernunft? Zudem: Ist der massive, kommerziell bedingte Bücherboom zu Luther vielleicht eine umgekehrte Fortsetzung des Ablasshandels? D.h. Wollen sich Autoren (und Verlage) frei kaufen von der Notwendigkeit und in unserer Sicht der Pflicht, einen einfachen, einen elementaren, modernen und nachvollziehbaren und berührenden Glauben zu formulieren – jenseits der alten Formeln und dogmatischen Floskeln, die heute selbst sehr nachdenkliche Menschen beim besten Willen nicht mehr verstehen und mitvollziehen können. So versteckt man sich in Theologenkreisen angstvoll in der ewigen Luther-Interpretation, anstatt einen modernen christlichen Glauben neu vorzuschlagen; selbstverständlich auch in einer neuen, entstaubten Kirche. Darum macht man es sich mit dem Bücher-Boom und den bevorstehenden Festivals im Reformationsgedenken 2017 wohl zu einfach, zu bequem. Wem ist damit gedient, d.h.spirituell “geholfen”? Ist das nicht alles Spektakel? Wer fragt, inwiefern und warum die römische Kirche immer noch – 500 Jahre nach der Reformation – an den “Skandalthemen” Luthers festhält, wie Ablasswesen, Klerikalismus, Ablehnung einer synodalen Struktur der Kirche, Zölibat, Unfehlbarkeit des Papstes usw.? Gibt es da Grund zum Feiern? Anstatt diese Fragen zu stellen: Schreibt man lieber Bücher, die Luther als den “Propheten der Freiheit” feiern, vielleicht bloß der inneren, der geistigen Freiheit? Wer schreibt über die grausigen Kämpfe und Attacken zwischen Lutheranern und Calvinisten bis ins 18. Jahrhundert? Merkwürdig ist zudem, dass bis heute der Augustinerorden, dem Luther bekanntermaßen angehörte, nicht die minimalste Äußerung zu seinem “Mitbruder” Martinus publiziert hat? Ist dem Augustinerorden dieser Mitbruder Martinus nur peinlich? Stört er das Ordensleben? Wenn ja, wie? Dazu würde man doch gern etwas vernehmen: “Katholisches Ordensleben heute trotz Luther”

Wenn man sich schon als philosophischer Religionskritiker mit Reformatoren von einst befassen will, dann empfehlen wir zwei unterschiedliche Reformatoren, die im Luther-Rausch der offiziellen Kirche natürlich, möchte ich fast sagen, untergehen und ins Vergessen gedrängt werden. Ich meine den Reformator und Theologen Thomas Müntzer und den Reformator und Theologen Jacob Arminius. Sie können den Namen klicken und werden zu weiterem kritischen Fragen und Nachdenken weiter geführt… über Luther hinaus, natürlich.Und dann wird man doch auch wieder sich Erasmus von Rotterdam zuwenden, dem moderaten, philosophisch gebildeten Theologen, der genau wusste: Auf eine kluge, man möchte sagen, vernünftige Reduzierung dieses ganzen Dogmen-Balastes des Christentums kommt es, also auf ein zeitgemäßes “Wesen des Christentums”. Dieses Projekt wird in Deutschland, von der “neuen liberalen Theologie” abgesehen, nicht bearbeitet. Wäre aber der wichtigste Beitrag im Luther-Jahr.

PS: Zu einem leider wenig beachteten Aufsatz über Erasmus: “Erasmus und sein Gott” des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski, 1965 erschienen. Noch nachzulesen in: L.K.: “Geist und Ungeist christlicher Traditionen”, dort S. 44 bis 58. Merken wir uns, im Blick auf den in dieser Hinsicht völlig verstörten Luther, der der Vernunft und damit der Philosophie nichts zutraute: Kolakowski schreibt über Erasmus` Lehre: “Es ist nicht wahr, dass die Natur und die natürlichen Fähigkeiten (also die Vernunft) durch den Satan monopolisiert sind…Ein durch Gott geschaffener Mensch kann nicht einfach nur böse sein” (S. 51). Das Böse, vorhanden, muss nicht über die Erbsünde im Sinne Luthers verstanden werden. Solche Mythen braucht der heutige Mensch nicht, der weiß, dass Freiheit immer “böse Dimensionen” hat…Wie sehr Luther mit seiner Polemik das allgemeine “Licht” der Kultur  verdunkelt hat, mit unabsehbaren Folgen:  DARAN muss man sich erinnern im berühmten Reformationsgedenken 2017!  Und sich von diesem Aspekt Luthers befreien.

copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

Luther und die Philosophie: Ein verdrängtes Thema, auch heute.

Ein Hinweis von Christian Modehn

In der Rubrik  „Vergessene Texte – heutige Texte“ stellt der Religionsphilosophische Salon philosophische und theologische Bücher und Essays vor, die heute leider fast nicht mehr viel Beachtung finden. Sie verdienen aber große Aufmerksamkeit und weitere Diskussion. Zum Beispiel der Essay des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski (geb. in Radom, PL, 1927, gest. in Oxford GB, 2009). Der Essay heißt: „Der philosophische Sinn der Reformation“, veröffentlicht in dem Buch „Geist und Ungeist christlicher Tradition“ (Kohlhammer Verlag 1971). Dieses Buch ist leider nur noch antiquarisch zu haben, eigentlich schade, dass solche wichtigen Texte so schnell „verschwinden“.

Im Reformationsgedenken, das weithin ein Luther-Gedenken 2017 werden wird, fehlen meines Erachtens Auseinandersetzungen mit dem heiklen Thema „Luther (bzw. auch Calvin) und die Philosophie“. Die evangelischen Organisatoren dieses Reformations-Festivals (mit dem Kirchentag im Mai 2017 in Berlin und Wittenberg) haben meines Wissens dazu keine aktuellen ausführlichen selbstkritischen Studien veröffentlicht. Werden Philosophen bei diesem Reformations-Festival ausgesperrt? Oder werden sie ihre eigenen Vorschläge zum Thema Glauben und Wissen vortragen können? Wenn man Philosophieren und damit Philosophie als die elementare geistige Haltungen des Menschen betrachtet, sind sie im Zusammenhang von Reformation und Glauben genauso wichtig wie „Glaube und Kunst“ oder „Glaube und Musik“…

Die traditionelle extreme Abwehr des philosophischen Denkens als eines möglichen Weges des Menschen zu Gott ist innerhalb der klassischen protestantischen Orthodoxie allseits bekannt. Diese Zurückweisung des lebendigen Philosophierens als eigenständiger „Leistung“ der Menschen hat ihre Gründe zweifellos in der Gnaden-Lehre der Reformatoren. Da wird dann gern darauf verwiesen: Die „Natur“ des Menschen ist so verdorben und so schlecht, dass diese Verdorbenheit eben auch den Verstand betrifft. So ist eigentlich kein hilfreicher, konstruktiver philosophischer Gedanke zur Gottesfrage möglich. Aber: So total verdorben wollten dann die Reformatoren die menschliche Vernunft doch nicht gelten lassen. Sie gestehen immerhin ein: Mit gewissen Restbeständen der Vernunft können selbst die Heiden „ein bisschen was“ von Gott ahnen. Auf diesen letzten “guten Schimmer” von Vernunft etwa bei Calvin hat der Philosoph Leszek Kolakowski hingewiesen, in seinem oben genannten Essay „Der philosophische Sinn der Reformation“. Auf Seite 123 schreibt Kolakowski: „Gott hat den Menschen (im Sinne Calvins) ein wenig natürliche Kenntnis von sich verliehen. So viel nämlich, dass sich niemand vor Gottes Gericht durch Unwissenheit rechtfertigen kann. Das `natürliche Licht` ist demnach in göttlichen Dingen bloß Werkzeug, um den Sündern ein Alibi zu entziehen und Ausflüchte unmöglich zu machen…“ Für den Glauben selbst ist das so genannte natürliche Licht der Vernunft völlig wertlos. Gott als bleibendes Geheimnis, der dogmatische Kern des Glaubens, wird niemals vernünftig thematisiert. Kolakowski vermutet hinter dieser Haltung der Reformatoren: dass der Mensch sich selbst als Vernunftwesen verachten soll. „Für Luther heißt Gott zu lieben sich selbst zu lassen“ (im Sinne von loslassen, aufgeben) (S. 122).

Die Aufgabe des Selbst, des natürlichen Selbst wie das begnadeten, als Verzicht auf die mit dem Selbst angeblich automatisch mit-gegebene Selbstherrlichkeit, zu der Luther auch das philosophische Denken zählt, ist also zentral.

Zunächst soll – über Kolakowski hinaus – an die aktuelle theologische Erkenntnis erinnert werden: „Die Natur“ „des“ Menschen “vor” aller Gnade, also zeitlich gesehen vor aller Anwesenheit des göttlichen Geistes IM Menschen, ist eine abstrakte und unsinnige Konstruktion. „Die Natur“ des Menschen vor (zeitlich verstanden) aller Gnade gibt es eigentlich nicht: De facto ist die Menschheit als ganze immer schon von der Anwesenheit des göttlichen Geistes bestimmt. Dies ist etwa die zentrale Erkenntnis des Theologen Karl Rahner. Er bezieht sich dabei auf ein biblisches Verstehen Gottes, der unmöglich die einen, bloß „natürlichen“ Menschen verdammen, die anderen, die zufälligerweise die Gnade haben, retten kann. Rahner denkt dabei, um das Neue Testament zu zitieren, an den Spruch aus dem ersten Timoteus Brief (2,4): „Gott will das aller Menschen“. Diese Erkenntnis hat, so scheint es, bis heute in der reformatorischen Theologie zu keiner Veränderung des Denkens geführt, in dem Sinne: dass die Gnade IMMER SCHON anwesend ist für alle Menschen. Diese ewigen und so sinnlos erscheinenden Diskussionen über die Prädestination kommen aus der Abweisung dieser Erkenntnis. Rahner hat in dieser Frage recht, weil er Gott NICHT als willkürlich Gnade austeilenden Tyrannen denkt. Ob über diese überholte Prädestinationslehre (also die Erlösung nur einiger Erwählter) im Reformationsjubiläum 2017 nochmals zustimmend und „letztlich“ verstehend gesprochen wird? Gott bewahre uns davor! Es gibt viel Dringenderes!!

Kolakowski erinnert in seinem Beitrag deutlich an diese theologisch überholte Haltung der Reformatoren, die da heißt: „Vernunft und Argumente können in keiner Hinsicht das Christentum stärken… Alle Vorstellungen der Philosophie von göttlichen und menschlichen Dingen macht die Heilige Schrift zunichte (123).

Diese globalen Erkenntnisse sind bekannt. Interessant sind die zwei Konsequenzen, die Kolakowski entwickelt, sie können hier nur in Kürze dargestellt werden, deswegen lohnt sich die ausführliche Diskussion des Textes!

Wenn der einzelne Mensch, selbst der Getaufte, sündhaft auf sich selbst beharrt, also auf seinem „Einzeldasein“ (126) besteht, diese Situation aber überwinden will, dann kann auch dies eine Konsequenz sein: Es ist besser, sich als einzelner förmlich aufzugeben und in der Einheit des Göttlichen zu zerfließen. Diese Haltung nennt Kolakowski die mystische Haltung. Auch sie ergibt sich also aus der Position Luthers! Wenn in der Fixiertheit auf die Gnade, die alles bewirkt, weiter gedacht wird, meint der Philosoph, kann diese Tendenz zum Pantheismus führen, also jener Haltung, in der nur Gott alles wirkt und alles bewirkt. Totale Gnade, könnte man sagen. Alles ist Gott. Kolakowski verweist auf Sebastian Franck, „den ersten Pantheisten, den die Reformation ins Leben rief“ (127), auf Jacob Böhme, Valentin Weigel und Angelus Silesius. Kolakowski sieht – in einer spekulativen These – dass Luther sozusagen unbewusst, also alles andere als gewollt in seiner Theologie ein „Zwischenglied“ bildet zwischen spätmittelalterlicher Mystik und „pantheistischer Mystik späterer Jahrhunderte“ (127).

Dem Titel seines Essays entsprechend gibt Kolakowski noch den Hinweis, dass die praktische Philosophie Kants von Luther mit geprägt ist. „Die Überzeugung, dass die eigentliche moralische Bewertung sich einzig auf den Willen selbst bezieht, ist lutherischer Herkunft“. So wirkt Luther also auch hier ungewollt als Gegner der Philosophie tatsächlich in der Philosophie weiter…

Aber Luther hat durch seine Natur – und Gnadenlehre auch eine „existentielle Richtung“ der Philosophie mit – bewegt und mit -bewirkt, wie Kolakowski schreibt (129). „Christ ist im Sinne Luthers, wer im Glauben lebt. Der Glaube ist nicht Überzeugung, sondern totale geistige Wiedergeburt, völlige Erneuerung, Vernichtung des alten Menschen und der Akt des Eintretens in eine neue Wirklichkeit, ein Akt, den keinerlei natürlicher Mittler (Kirche usw.) anstelle des einzelnen Menschen erfüllen kann“(130). Mit anderen Worten: Der Glaubende ist als erlöster Einzelner ganz auf seinen eigenen Gott gestellt. In Kierkegaard sieht Kolakowski den Propheten dieses extrem existentiellen Christentums. Für Kierkegaard erlebt der Gläubige die völlige Subjektivität, sie ist nur noch auf die göttliche Subjektivität bezogen, kennt nichts anderes. Der einzelne Glaubende braucht die objektiven Bindungen nicht, letztlich nicht die Kirche, nicht die objektiven Sprachregelungen die vorgegebenen Gesetze. Kolakowski sieht auch darin eine Wirkungsgeschichte Luthers, ungewollt natürlich, aber Luther inspiriert förmlich die Existenzphilosophie. Kierkegaard ist ein Zwischenglied zwischen Luther und der modernen Existenzphilosophen. Das ist für Kolakowski „keine künstlich konstruierte Koinzidenz, sondern eine reale energetische Verbindung“ (137). Luther hat, so meint er, durch seine ablehnende Haltung zur Philosophie diese Philosophie doch angeregt, sogar „den Keim der neuzeitlichen Philosophischen Kultur“.

Luther, der große Feind der angeblich verdorbenen Philosophie, hat das philosophische Denken dann indirekt doch inspiriert: Ein schönes Paradox, ein Zeichen, dass sich Philosophieren nicht klein kriegen lässt, auch nicht von theologischen Vorurteilen.

WEITERE TEXTE:

“Wir haben von Luther fast nichts gelernt” ist der Titel eines Hinweises zur Luther-Rezeption im heutigen Katholizismus, klicken Sie hier.

Luther in der Sicht heutiger PhilosophInnen, klicken Sie bitte hier.

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