Homosexuelle Päpste und homosexuelle katholische Bischöfe – eine erste unvollständige Übersicht.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 24.1.2022

Das Motto: Die römisch-katholische Kirche ist eine weltweite Organisation, die gelebte Sexualität und Liebe, Partnerschaft und Ehe, bestimmten Menschen, den Homosexuellen nämlich, verbietet.

Diese Menschen, Mitchristen, “Mitbrüder” und “Mitschwestern” sollen als einzelne “keusch”, also a-sexuell, also ohne erotische/sexuelle Liebe zu anderen Menschen, sich durchs Leben quälen. Seelisch krankgemacht und  neurotisch, sollen sie sich von einer rigiden inhumanen Moral des Klerus bestimmen lassen. Es ist der die Bibel und alle Dogmen exklusiv deutende Klerus, der sein eigenes Alleinsein (“Zölibat), anderen Menschen, Homosexuellen, aufdrängt.

Das Wort Gottes, im Mythos des Schöpfungsberichtes ganz vorn in der Bibel (Genesis, 1,18), heißt: “Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei”. Dieses “Wort Gottes” gilt in der offiziellen Lehre der römischen Kirchen NICHT für alle. Diese Kirche betreibt also eine “Auswahl”, eine “Haeresis” (altgriechisch). Diese Kirche lehrt offiziell Häresie, indem sie das Wort Gottes “Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei”, nicht für alle gelten lässt. Das ist die zentrale dogmatische Lehre, an der die klerikalen Bürokraten im Vatikan und anderswo nach wie vor festhalten.

Die Prognose, die sich aufdrängt, wenn man den ARD Film “Wie Gott uns schuf” (24.1.2022) gesehen hat: Wird sich die römisch-katholische Kirche noch zum vollständigen Respekt für queere Menschen offiziell bekehren? Meine Antwort ist NEIN… Sehen Sie selbst den Film und fragen sich, wie viel hoffnungslose Unmenschlichkeit noch offizielle Kirchenlehre und Kirchenpraxis ist. Diese Kirche zerstörte und zerstört Leben. Das ist eine Einsicht des Films.

Wer diese Hinweise nicht glauben will, lese in der Katholischen Zeitung “Tagespost” (20. Januar 2022, Seite 6) den Beitrag über Joe Biden. Darin zeigt der Autor Maxmilian Lutz Verständnis für rechte und rechtsextreme Christen, auch Katholiken, die aus Glaubensgründen LGBT Personen diskriminieren und deswegen gegen Bidens “Equality Act” agieren. Denn wenn diese gesetzliche Gleichbehandlung von Lesben und Schwulen Realität würde, dann, so wörtlich, “würden gläubige Menschen diskriminiert werden (! sic), die sich nicht mehr auf die Glaubens-und Gewissensfreiheit berufen könnten, wenn sie LGBT -Personen bestimmte Dienste wegen ihres Glaubens verweigern”.  Wie “nett”, aus religiösen Gründen die Menschenrechte den LGBT Menschen verweigern, Realität ist (nicht nur) in den USA: Verweigerung von Mietsverträgen an LGBT – Menschen, Diskriminierung am Arbeitsplatz, in den Familien etc.

Dieser Beitrag in der Katholischen “Tagespost” (Würzburg), viel gelesen in Gemeinden und Klöstern, ist eine Schande für den (deutschen) Katholizismus, eine Schande, dass solche Sätze ohne Kommentar publiziert werden. Aber die “Tagespost” ist ein Kampfblatt der (katholischen) Reaktionären, die man bitte nicht als Minderheit einschätzen möge. Man forsche bitte, wie viel Geld etwa aus dem sehr katholischen “Regensburg” zur “Tagespost” fließt…

Wer noch die Kraft hat, suche das Weite…d.h. die Freiheit. Gott oder der Sinn meines/unseres Lebens ist doch auch außerhalb dieser Kirche zu erfahren…Es gibt auch einige wenige “freisinnige christliche Kirchen”.

Selbst wenn die katholischen Bischöfe in Deutschland jetzt Segnungen (!) homosexueller Partnerschaften zulassen, ist diese Entscheidung schon veraltet: Es geht jetzt um Ehe-Schließung, also Sakrament, für homosexuelle Paare, nicht um Segnung. Gesegnet werden auch Autos und Tiere und Handys in der katholischen Kirche.

1.

Am 24.1. 2022 sendet die ARD, 1. Programm, um 20.30 Uhr eine Dokumentation “Wie Gott uns schuf”, darin outen sich 125 katholische Priester und festangestellte MitarbeiterInnen in katholischen Gemeinden Deutschlands. LINK. Ein wichtiger Schritt, um den in der römischen Kirche immer noch vorhandenen § 175 endlich abzuschaffen, LINK !, und homosexuelle Menschen, auch homosexuelle, queere Priester, Nonnen, Pastoralreferenten als elbstverständlich normale Mitglieder der Kirche zu betrachten und zu respektieren. Homosexualität, Queersein etc., ist etwas Normales, das bei niemandem Angst erzeugen darf, das keine Verfolgung duldet, kein Verstecken der eigenen Identität erfordert usw.

Das Beispiel dieses Films in Deutschland wird in anderen Ländern sicher alsbald Nachfolge finden, etwa in Polen, Spanien, Frankreich, Itakiebm Brasilien, Indien usw. usw.

Schade nur, dass sich bisher so wenige Ordensleute, Frauen wie Männer, dem Outen angeschlossen haben. Da müsste es allein in Deutschland viele hundert Bekenntnisse (Outing) geben, bei den Orden von A bis Z schön alphabetisch sortiert, also etwa von den Augustinern über die Benediktiner und Dominikaner und Jesuiten und Kapuziner zu den Salesianern und Steyler Missionaren und Zisterziensern usw. Um nur einige Männerorden zu nennen. Warum schweigen die schwulen Ordensleute? Wer will der erste sein, der sich outet, das ist dich wohl nicht die Frage.

In den Niederlanden gibt es einen allseits bekannten, also öffentlichen Kreis, eine Art Arbeitskreis, mit eigenen Studientagen, die “Homopastores”: “Werkverband vam katholieke Homopastores”, WKHP. Dieser Arbeitkreis hat sich von allen permanenten Drohungen des katholischen Episkopates in Holland nicht beirren lassen. Diese Homopastoren haben die Freiheit gelebt, den Widerstand geleistet. Viele Jahre war der Dominikanerpater Theo Koster (jetzt Rotterdam) einer der Verantwortlichen der niederländischen katholischen Homopastores: LINK

Vielleicht finden sich einmal in Deutschland Dominikaner, die den Kreis “schwuler Priester” leiten? Ein Vorbild, Pater Theo Koster, haben sie ja… Tatsache ist: Solche Kreise gibt es in Deutschland auch, aber die Herren in Deutschland bleiben unter sich, sind öffentlich nicht sichtbar. Diese Kirche macht ihnen unsäglich Angst! Wie lange wird das so bleiben … nach diesem Film?

Die Initiative, deren Mitglieder sich in dem ARD Film äußern: #OutInChurch – für eine Kirche ohne Angst

Mich erstaunt als Berliner, dass sich in der ARD Sendung keine Priester aus dem Erzbistum Berlin outen. Kommt vielleicht noch, als umfangreiche Sondersendung … oder sind die alle zu ängstlich und eingeschüchtert?

2.

Bei so vielen, die sich schon heute,24.1.2022, als homosexuelle, queere Pfarrer und Kirchenmitarbeiter outen, wird es den oft selbst schwulen Herren der Kirche schwerfallen, diese alle zu bestrafen. In dem Falle könnten ja auch mal einige Herren der Kirche geoutet werden. Anders gibt es wohl keine globale Reformation in der römischen Kirche.

Die Herren der römischen Kirche und alle anderen werden sich daran erbauen, dass Historiker längst eine Liste schwuler Päpste zusammengestellt haben. Eine Liste homosexueller Bischöfe ist natürlich viel umfangreicher, da kann man zunächst nur jene Bischöfe nennen, die wegen ihrer offenkundigen Homosexualität aus ihren Ämtern entfernt wurden…

3.

Homosexuelle Päpste: Ein Hinweis aus „Schwulengeschichte.ch”, publiziert April 2007.

Es waren sechs Päpste, die Jürg Amstein mit ihrem ho­mo­se­xu­el­len Ver­hal­ten sorg­fäl­tig re­cher­chiert und belegt vor­stell­te:  Quelle: https://schwulengeschichte.ch/epochen/6-aufbruch/soh/19751976/hey-1976-paepste/

Diese Liste ist selbstverständlich unvollständig.

Johannes XXII. (um 1245-1334)

Leo X (1475-1521)

Sixtus IV (1414-1484)

Julius II (1443-1513)

Paul II (1418-1471) 

Klemens VII (1478-1534)

Sie sind hier in der Rei­hen­fol­ge ihres Er­schei­nens im hey auf­ge­führt, die nicht mit der his­to­ri­schen Abfolge über­ein­stimm­te. Einzelne Por­traits waren auf zwei Hefte verteilt. Die ganze Serie endete mit der Sommer-Dop­pel­num­mer von 1977.

Im Mai wurde zudem ein bissiger Kom­men­tar der deut­schen Bild-Zeitung nach­ge­druckt:4 Roger Pey­re­fit­te, be­kann­ter Fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler, hatte Paul VI selber als Ho­mo­se­xu­el­len geoutet und die un­ge­schick­te öf­fent­li­che Reaktion des be­lei­dig­ten Papstes bot na­tür­lich bestes Futter für ein Blatt wie die Bild-Zeitung.

Im Juni meldete sich die hey-Re­dak­ti­on:5

“Die Serie ‘ho­mo­se­xu­el­le Päpste’ ist eine Antwort auf die jüngste Kon­gre­ga­ti­ons-Er­klä­rung aus Rom […]. Diese Pu­bli­ka­tio­nen dienen einzig dem Zweck, auf­zu­zei­gen, dass auch die ‘Hei­li­gen’ nicht immer so sind. Wir erachten es […] als er­freu­lich, dass gleich­ge­schlecht­li­che Nei­gun­gen in jedem Winkel der Welt und auf allen Etagen zum Spielen kommen […].”

In der sicheren Annahme und Hoffnung, die römische Er­klä­rung sei ein vor­über­ge­hen­der Rückfall – was auch die Ansicht schwuler Ka­tho­li­ken und zweier meiner Pries­ter­freun­de war – erklärte ich (Ernst Ostertag) im Okotber als “Marco” und Re­dak­ti­ons­mit­glied:6

“Wir sind der Meinung, dass eine solche Pu­bli­ka­ti­on nützlich sei im kir­chen­in­ter­nen Ringen um eine weitere Öffnung und ein Zu­rück­däm­men gewisser kon­ser­va­tiv-ad­mi­nis­tra­ti­ver Kräfte. Denn sie schafft ori­en­tier­te Menschen, die […] den nötigen Druck auch von aussen heilsam ausüben und ver­stär­ken werden.”

Seine Serie schloss Jürg Amstein:7

“Mit Klemens VII endet die Zeit der spät­mit­tel­al­ter­li­chen und der Re­nais­sance-Päpste. Ihre grossen Aus­schwei­fun­gen waren trotz allem mensch­lich-na­tür­lich, sie schämten sich nicht, sich öf­fent­lich mit ihren Lieb­lin­gen zu zeigen: nichts war ver­drängt. Nun beginnt das Ver­tu­schen dessen, was sie ‘fleisch­li­che Sünde’ nennen. Die moderne Zeit bricht an und […] die Nach­fol­ger Klemens VII über­tün­chen die ‘fri­vo­len’ Gemälde im Bad (bis heute) und ver­ste­cken gar vieles in Hin­ter­ge­mä­cher, wo His­to­ri­ker kaum mehr Be­weis­ba­res finden.”

4. Homosexuelle Bischöfe:

Roman Catholic Church.  Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Gay_bishops

Further information: Homosexuality and Roman Catholic priests

Bishop Thomas Gumbleton, a retired Catholic bishop in the Diocese of Detroit, has consistently been a supporter of New Ways Ministry and has also called for homosexual priests and bishops to “come out” and be truthful to themselves and others.[citation needed] Gumbleton has acted as a keynote speaker at Call to Action conferences. In 1995 he wore a mitre at a church service on which were symbols of the cross, a rainbow and a pink triangle in solidarity with the gay community.[39] Later, he came into the public eye before the Vatican’s Instruction with regard to the ordination of homosexual men was released, arguing against Andrew R. Baker’s article on the issue in America.[40]

Francis Spellman, Cardinal Archbishop of New York, was long rumored to have been gay, according to a book by John Cooney, who said that many whom he interviewed took his homosexuality for granted.[41] In addition, a book published in 1998 claims that during the Second World War, Spellman was carrying on a relationship with a chorus boy in the Broadway revue One Touch of Venus.[42] Spellman defended Senator Joseph McCarthy‘s 1953 investigations of subversives and homosexuals in the federal government.[citation needed]

Archbishop Rembert Weakland of Milwaukee, Wisconsin, retired on 24 May 2002 following the revelation that he had used $450,000 in archdiocesan funds to settle a lawsuit accusing him of sexual harassment. In a statement one week later, he admitted the falsity of his previous assertion that income he had earned outside of his priestly occupation (and turned over to the Church) exceeded the $450,000.[43] In 2009 he confirmed that he was gay, but did not reveal any details of his relationships.[43][44][45][46]

The auxiliary Roman Catholic Bishop of Cape Town, South Africa, Reginald Cawcutt, resigned in July 2002 following allegations that he outed himself as gay on a sometimes-sexually charged website set up for gay priests. Bishop Reginald Cawcutt blamed the scandal on the conservative US organization Roman Catholic Faithful which infiltrated the now closed website, called St. Sebastian’s Angels, and traced posting addresses.[47]

In 2003, Cardinal Hans Hermann Groër was removed from office by Pope John Paul II for alleged sexual misconduct with younger men who were students in his care. Officially, the Pope accepted the resignation letter which Groër had written on the occasion of his 75th birthday. This made Groër, who had adamantly refused to ever comment in public on the allegations, one of the highest-ranking Catholic clerics to become caught up in the sexual abuse scandals.[48]

In 2005, Juan Carlos Maccarone, the Bishop of Santiago del Estero in Argentina was forced to resign after images were released of him engaged in sexual activity with another man. Suggestion was made that the former state governor Carlos Juarez had been involved in the release after criticism of the governor’s human rights record.[49]

Francisco Domingo Barbosa Da Silveira, the Bishop of Minas in Uruguay, was forced to resign in July 2009, following a gay sex scandal in which he had faced extortion.[50][51]

In February 2013, Cardinal Keith O’Brien, leader of the Catholic Church in Scotland, was forced to resign as archbishop three months ahead of planned retirement because of allegations of inappropriate acts with four priests during the 1980s, but also more recently. O’Brien had been a vocal critic of the UK Government’s plans to introduce same-sex marriage.[52]

In October 2016, a group in favour of same-sex marriage in Mexico called the Pride National Front (FON) alleged that a number of Catholic leaders were homosexual. The list included Hipólito Reyes Larios, Archbishop of Xalapa in Veracruz.[53]

Es fehlt in der Liste der Erzbischof von Posznan, Polen, Julius Paetz (dort Erzbischof von 1996-2002), CM.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der unbekannte (?) Priester Peter H.(ullermann)

Sexueller Missbrauch: Der unbekannte (?) Priester Peter H.(ullermann).

Ein Hinweis von Christian Modehn, am 23.1.2022

Die Studie über den sexuellen Missbrauch durch Priester im Erzbistum München- Freising, veröffentlicht am 20.1.2022 in München, erstaunt mich auch hinsichtlich der Geheimhaltung des Namens eines in dem “Gutachten” oft erwähnten Priesters. Er wird in der Presse (wie etwa in der SZ am 22.1.2022, Seite 2) nur geheimnisvoll Peter H. genannt. Er spielt eine sehr zentrale Rolle für die Frage: Was wusste Erzbischof Ratzinger von München, als er Peter H. in sein Bistum aufnahm? Machte sich Ratzinger schuldig, einen schon damals bekannten Missbrauchstäter in sein Bistum auzunehmen? Bisher will EX-Papst Benedikt davon nichts gewusst haben bzw. damit nichts zu tun zu haben. “Schuld” hat, wie üblich in hierarchischen Systemen, ein Untergebener, der damalige Generalvikar, übernommen.

ABER: Man muss nur das Buch des Vatikan-Spezialisten Marco Politi lesen „Benedikt. Krise eines Pontifikats“ (auf Italienisch 2011, auf Deutsch 2012), um schnell die Identität von Peter H. festzustellen.

Auf Seite 343 ff. der deutschen Ausgabe von Politis Buch wird klar von Peter Hullermann gesprochen, übrigens auch mit einem Verweis auf einen Bericht im “Spiegel” vom 22.3.2010. Politi bezieht sich auf den Übergang des Kaplans Peter Hullermann von seinem Heimatbistum Essen ins Erzbistum München, dieser Übergang wurde am 15.1. 1980 in München beschlossen. Damals war Ratzinger Erzbischof von München.

Der Klarname von Pfarrer Peter H., also Peter Hullermann, wird auch in der umfangreichen Studie des us-amerikanischen Info-Dienstes Alchetron.com verwendet. https://alchetron.com/Peter-Hullermann

Und auch die englische Wikipedia bietet einen Peter Hullermann Beitrag https://en.wikipedia.org/wiki/Peter_Hullermann

Hat die deutsche Presse Angst vor Klarnamen?

Als background für Austrittswillige: Wer aus der katholischen Kirche austritt, der ist vom ewigen Heil ausgeschlossen, das behauptet noch, kaum zu glauben, das 2. Vatikanische Konzil. LINK: https://religionsphilosophischer-salon.de/14529_wer-aus-der-katholischen-kirche-austritt-achtung-da-passiert-was-himmlisches_alternativen-fuer-eine-humane-zukunft

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Pressefreiheit in der katholischen Kirche? Überlegungen anlässlich von 50 Jahre „PUBLIK FORUM“.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.

Von Pressefreiheit spricht auch das „Zweite Vatikanische (Reform-)Konzil“, aber nur ganz kurz. (Siehe Fußnote 1: Über die absolute Ablehnung der Pressefreiheit durch Papst Gregor XVI. 1832). In dem offiziellen Konzils-Dekret „Über die sozialen Kommunikationsmittel“, am 4. 12. 1963 feierlich verkündet, heißt es in §12: „Die öffentliche Gewalt … hat die wahre und rechte (sic!, CM)) Freiheit der Information zu verteidigen und zu schützen… das gilt besonders für die Pressefreiheit“.

Das ist alles, was von katholischer Seite zur Pressefreiheit vom angeblich bahnbrechenden 2. Vatikanischen Konzil offiziell gesagt wird. Dieses magere Bekenntnis zur staatlichen, also auch gesetzlich geschützten Pressefreiheit, kommentieren die beiden katholischen Theologen Karl Rahner und Herbert Vorgrimler: „Aber das Recht auf Information in der Kirche wird mit Schweigen übergangen“ („Kleines Konzilskompendium“, Freiburg i.Br., 1966, S. 92).

2.

Damit wird bereits das Thema „PUBLIK -FORUM“ angesprochen. Dies ist eine Zeitschrift, deren Gründung als Widerstand begriffen werden muss gegen die Unterdrückung der Pressefreiheit im Katholizismus schon kurz nach Ende des Konzils. Deswegen ist es wichtig, an Publik-Forums „50.Geburtstag“ zu erinnern. Die deutschen „Oberhirten“ hatten so viel Mut, 1968 eine freie katholische Wochenzeitung zuzulassen und auch zu finanzieren: Die vom theologischen Anspruch, von dem Niveau wie auch vom Format her große Wochenzeitung erschien dann im September 1968, wurde aber schnell wieder eingestellt, im November 1971 erschien die letzte Ausgabe. Die relativ umfassende Freiheit der Information, die PUBLIK leistete, missfiel den allermeisten Bischöfen: Sie verweigerten dann die weitere finanzielle Unterstützung für dieses für katholische Verhältnisse ungewöhnliche Projekt (95.000 verkaufte Exemplare) … und bereiten so sein Ende. Finanzielle Unterstützung hatten die Bischöfe nach einiger Zeit plötzlich wieder für die stramm mit der CDU sehr verbundene Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“. Ein Beispiel mehr für die klerikale Verlogenheit, „kein Geld zu haben“. Die Lehre kann nur heißen: Bischöfe wollen nicht freie Diskussionen, Pluralität der Meinungen, sondern sie wollen Propaganda, Mission, in der kirchlich finanzierten Presse.

Das wurde in der expliziten „Parteien-Presse“ in der BRD so nicht praktiziert. Der SPD – „Vorwärts“ zeigte immerhin die Pluralität der Meinungen in der Partei. Lediglich die kommunistische Presse in westlichen Demokratien, wie „L Humanité“ (PCF) in Paris oder „Unsere Zeit“ (DKP) oder „Die Wahrheit“ (SED-Westberlin) waren, genauso wie die katholische Presse, Verlautbarungsbarungsorgane des ZK der Partei.

3.

Harald Pawlowski, Redakteur bei PUBLIK, leistete Widerstand und schuf aus eigener Initiative und mit viel Mühe und Einsatz die alle 14 Tage erscheinende, vom Format her viel kleinere Zeitschrift PUBLIK – Forum. Die erste Ausgabe erschien am 28. Januar 1972. Ich lebte damals im Kloster und in der Hochschule der „Gesellschaft vom göttlichen Wort“ (SVD in St. Augustin bei Bonn und spürte auch bei einigen anderen jüngeren Ordensmitgliedern die Begeisterung: „Es geht weiter“.

Und es geht weiter. Die Zeitschrift hat jetzt eine Auflage von ca. 36.000 Exemplaren. Es handelt sich um Abonnenten, am Kiosk oder in Buchhandlungen wurde Publik- Forum nie verkauft, „Publik-Forum“ war und ist insofern nur „halb-öffentlich“. Das hat mich, etliche Jahre „ständiger Mitarbeiter“, immer verwundert. Den ursprünglichen, besseren Titel „PUBLIK“ hat die VERDI Gewerkschaft für ihre Mitgliederzeitschrift übernommen.

Dass Publik-Forum nach dem Beitritt der DDR zur BRD die Redaktionszentrale nicht in Berlin finden konnte und wollte, sondern im angestammten Oberursel (in der „Krebsmühle“) verblieb, ist mir ebenfalls nicht nachvollziehbar. Selbst das ZdK (die offizielle Vertretung katholischer Laien) hat sich nun doch nach 33 Jahren deutscher Einheit, 2022, für Berlin als „Sitz“ entschieden, für Berlin, als den Ort, wo nun zweifelsfrei „die politische und kulturelle Musik gespielt wird“. Aber das sind andere Themen, über die kaum diskutiert wird.

4.

„Publik Forum“ lebt selbst die Pressefreiheit in der katholischen Kirche. PUBLIK FORUM ist keine Kirchenzeitung (diese sind von Kirchensteuer – Geldern finanziert), befindet sich nicht in der kontrollierenden Obhut der Bischöfe bzw. der Ordensoberen.

Das ist das Schockierende: Bischöfe verstehen die katholische Presse auch heute heute (2022) als „Apostolat“, also als Medium für missionarische Aktivitäten.

Nur ein Beispiel: Mit diesem klerikalen Anspruch haben die Bischöfe im Osten Deutschlands den Tod des Kirchenzeitungsjournalisten Matthias Holluba bedauert. Holluba war Redakteur der Bistumszeitung „Tag des Herrn“. „Welches Herrn?“ , fragte mich kürzlich ein nicht- religiöser Kollege in Pankow. Dazu gehört schon etwas, in der traditionell-katholischen Ecke zu verharren, indem man noch heute ein Blatt mit dem Titel „Tag des Herrn“ herausgibt. Es war ja in den sechziger Jahren angeblich schon das Lieblingsblatt der katholischen Eichsfelder und Lausitzer, DDR.) In der Erklärung der Bischöfe also heißt es u.a.: „Matthias Holluba hat seine Arbeit auch immer als Übersetzung und – wichtiger noch – als Verkündigung verstanden. In dem Päpstlichen Dekret Inter Mirifica (gemeint ist das oben genannte Konzils-Dekret, CM) heißt es über die Sozialen Kommunikationsmittel: Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Erholung und Bildung des Geistes; sie dienen ebenso auch der Ausbreitung und Festigung des Gottesreiches“.

Da kehrt die alte Abwehr der Pressefreiheit in der Kirche wieder: Die katholischen Medien werden als Instrumente der Kirchenführung verstanden, sie dienen „Ausbreitung des Gottesreiches“, also nicht zuerst der umfassenden und damit immer kritischen Information. Wer den Konzilstext genau anschaut, stellt fest: Diese bischöfliche Überzeugung, im Jahr 2022 formuliert, entspricht ganz dem oben erwähnten Konzilstext: Dieses Dokument hat bekanntlich der Klerus und er allein damals im Vatikan verfasst. Schon in § 3 des Konzilstextes heißt es: „Die Katholische Kirche ist von Christus, dem Herrn, gegründet, um allen Menschen das Heil zu bringen, und darum der Verkündigung des Evangeliums unbedingt verpflichtet. Deshalb hält sie es für ihre Pflicht, die Heilsbotschaft auch mit Hilfe der Sozialen Kommunikationsmittel zu verkündigen und Grundsätze über deren richtige Anwendung aufzustellen.“

Die Katholischen Medien: Nichts anderes als Varianten von Predigten, deren korrekten Inhalt selbstverständlich einzig der Klerus festgelegt.

5.

Umfassende kritische Analysen zum vielfältigen Leben der Kirche und des Klerus sind in dieser „Kirchenpresse“ ausgeschlossen. Wie viel mehr Klarheit und Betroffenheit angesichts des sexuellen Missbrauchs durch Priester hätten bewirkt werden können, wenn schon seit 1970 über den Klerus umfassend kritisch berichtet worden wäre und man nicht nur von Hochwürden und Eminenzen und Heiligen Vätern lobeshymnenmäßig gesprochen hätte. Die lange Liste der Journalisten, die von den Bischöfen aus ihren Ämtern innerhalb der „Kirchenpresse“ rausgeworfen wurden, ist kaum zu überschauen. Ich erinnere als Berliner nur an Pfarrer Günter Renner, den Redakteur der Bistumszeitung für West-Berlin, mit dem hübschen Titel „Petrusblatt“ für eine Metropole wie West-Berlin… Pfarrer Renner hatte es gewagt, kritische Fragen im Blatt zu publizieren, Leserbriefe zu veröffentlichen….Er wurde deswegen seines Amtes von dem reaktionären Berliner Kardinal Alfred Bengsch enthoben. Viele weitere Beispiele der klerikalen Repression ließen sich nennen. In Italien wurden Redakteure der weit verbreiteten Zeitschrift „Famiglia Cristiana“ entfernt, in der Jesuitenzeitschrift Etudes wurde der Chefredakteur Pater Valadier entfernt, ähnliches gilt für die spanische Zeitschrift „Vida nueva“ und so weiter. Mir sagte der damalige Chefredakteur der „Stimmen der Zeit“ (bis 2009), Pater Martin Meier SJ, wie stark er unter der Kontrolle und den Drohungen vonseiten Kardinal Ratzingers in Rom leide.

6.

Es gibt also keine Pressefreiheit in der katholischen Kirche. Und wenn es sie da und dort gibt, ist sie mit Mühe und Leiden erkämpft, siehe „Publik Forum“. Jetzt, in Zeiten des totalen Schwindens des Vertrauens in diese institutionelle klerikale Kirche, können die Bischöfe öffentliche Kritik in ihren Blättern nicht mehr unterdrücken, insofern hat – paradoxerweise – der sexuelle Missbrauch durch Priester in den letzten 3-4 Jahren den Missbrauch der freien Meinung in der Kirche etwas reduziert.

Andererseits gibt es die militante „kirchentreue“ Presse als Minderheiten-Presse nach wie vor, überall in Europa, auch n Deutschland, man denke an die „Tagespost“ und den „Fels“ und ähnliche Blätter, die aber im Vatikan bei den Glaubenshütern viel Beachtung finden. Für die katholische Presse aber interessieren sich jetzt immer weniger Menschen. Die Auflagen sinken, die Bistumsblätter werden stapelweise verschenkt, weil sie keiner mehr kauft.

7.

In einer Zeit, in der die Bindung an eine insgesamt korrupte bischöfliche Kirchenführung immer schwächer wird, die Menschen wenig Vertrauen in die katholische Kirche haben, also ein tiefgreifender religiöser Umbruch Tatsache ist, kann man die Frage stellen: Wie geht es weiter mit den Print-Medien, die sich auf die Themen Religionen, Kirchen, Atheismus, Sinnfragen usw. spezialisieren wollen.

8.

Ich empfinde es als großen Verlust, dass es nicht eine große kirchenunabhängige Monats-Zeitschrift gibt etwa mit dem Titel “Religionen heute“. Eine solche objektive, immer religionskritische, aber religionswissenschaftliche und religionsphilosophische Monats-Zeitschrift für „breite Leserschichten“, hätte, falls gut gemacht, mit einem weiten Netz von Korrespondenten, eine Chance. „Religion heute“ könnte dem heutigen globalen religiösen Bewusstseinswandel (und der „Entkirchlichung“) entsprechen… Man bedenke: Selbst kleinere philosophische Blätter, wie „Hohe Luft“ oder Philosophie Magazin“, haben sich inzwischen doch etwas etaliert. Und die Monatszeitschrift „Psychologie heute“, im 1974 gegründet, hat heute eine Auflage von 47.000 Exemplaren pro Monat…und ist in Zeitschriftenläden zu haben. Für eine Zeitschrift „Religionen heute“ fehlt es vielleicht nur an Mut. Und es wird schwierig sein, die völlige Unabhängigkeit von jeglicher Religion zu wahren…

9.

Die offizielle, bischöflich kontrollierte Kirchenpresse geht dem Ende entgegen. Die Auflagen sinken und sinken. Unvorstellbar ist heute für viele diese katholische Welt, die sich in den esoterischen Titeln spiegelt. Von 1960 bis ca. 1980 ist von diesen katholischen Zeitschriften zu berichten, es  waren meist Monatszeitschriften, die im Abonnement bestellt wurden, und damals noch mit Erfolg gekauft wurden.

Ich nenne als Kostprobe und Studienobjekt für Mentalitätsgeschichtler nur einige Titel:

„Im Dienste der Königin“, Montfortaner

„Gottesfreund“, Dominikaner

„Maria vom guten Rat“, Augustiner.

„Maria siegt“, Johannesbund

„Hoffnung“, Johannesbund

„Weinberg“, Oblaten

„Jesusknabe“, Steyler Missionare

„Stadt Gottes“, Steyler Missionare,

„Franziskusglocken“, Minoriten

„Hiltruper Monatshefte“, Herz Jesu Missionare

Und so weiter…. Den „Altöttinger Liebfrauenboten“ will ich nur noch erwähnen oder die ominöse „Neue Bildpost“ oder „Herz voran“ oder den „Volksmissionar“, „Nach der Schicht“ war für Arbeiter in den Gruben im Saarland bestimmt.

„Wort und Wahrheit“ war eine sehr lesenswerte katholische intellektuelle Monatszeitschrift, Mitarbeiter waru.a. Friedrich Heer, gegründet wurde sie von Otto Mauer (Wien). Das Ende von „Wort Und Wahrheit“ (Wien) wie das Ende der Jesuitenzeitschrift „Orientierung“ (Zürich) sind nur zwei Beispiele für das Ende des intellektuellen Katholizismus in deutschsprachigen Ländern. Die katholische Kirche hat definitiv Intellektuelle auch publizistisch nicht „binden“ können. Die katholische Kirche in deutschsprachigen Ländern ist auch intellektuell sehr arm, natürlich, es gibt noch TheologInnen an den Unis, aber sie sind als TheologInnen nur ein kleiner „Sektor“ von Intellektualität.  Ein Thema, das kaum debattiert wird.

10.

Viele dieser oben genannten Blätter konnten keine neuen Leser mehr gewinnen, sie waren zu dröge, zu traditionell-katholisch und abergläubisch und intellektuell meist zu anspruchslos. Die AbonnenTinnen sind allmählich verstorben … oder einige Orden geben sich alle Mühe und führen ihre Zeitschriften in neuem Gewand und Titel noch mal weiter, mit wesentlich kleinerer Auflage… bis zum baldigen Ende?

Fußnote 1:  Papst Gregor XVI. hat in seinem Lehrschreiben „Mirari Vos“ (1832) u.a. im 8. Kapitel geschrieben:
„Die Erfahrung bezeugt es und seit uralter Zeit weiß man es: Staatswesen, die in Reichtum, Macht und Ruhm blühten, fielen durch dieses eine Übel erbärmlich zusammen, nämlich durch zügellose Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Neuerungssucht. Hierher gehört auch jene nie genug zu verurteilende und zu verabscheuende Freiheit der Presse, alle möglichen Schriften unter das Volk zu werfen, eine Freiheit, die viele mit äußerst verbrecherischem Eifer fordern und fördern. Mit Schaudern stellen Wir fest, ehrwürdige Brüder, mit welchen Ungeheuern von Lehren oder besser Ausgeburten von Irrtümern wir erdrückt werden, die überall verbreitet werden durch eine gewaltige Menge von Büchern, durch Broschüren und Schriften, an Gewicht zwar klein aber übergroß an Bosheit, aus denen Wir mit Schmerz den Fluch über die Erde ziehen sehen. Leider aber gibt es Leute, die in ihrer Vermessenheit so weit gehen, dass sie hartnäckig behaupten, diese aus der Pressefreiheit hervorgehende Flut von Irrtümern würde übergenug wettgemacht durch irgendein Buch, das inmitten dieses großen Sturmes von Schlechtigkeiten zur Verteidigung von Religion und Wahrheit herausgegeben wird. Es ist unrecht, es ist wider alles Recht, absichtlich eine offenkundige und größere Untat zu begehen, weil zu hoffen ist, dass daraus etwas Gutes entsteht. Welcher vernünftige Mensch wird je sagen, es dürfe Gift frei ausgestreut, öffentlich verkauft, mit sich getragen, ja, gebraucht werden, weil es wohl irgendein Heilmittel gibt, durch dessen Gebrauch man vor dem Tode bewahrt wird?“

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die katholische Kirche ist am Ende

Ein Hinweis von Christian Modehn am 21.1.2022

Schon 2019 habe ich darauf hingewiesen, dass die römisch katholische Kirche de facto am Ende ist. D.h. : Sie kann institutionell zwar noch fortbestehen, weil es noch sehr viele Festangestellte gibt, die sich zur Kirche nach außen hin bekennen müssen. Aber innerlich “bewegt”, geschweige denn vernünftig überzeugt, sind wohl die wenigsten.

Es ist der Ballast der KirchenLEHRE, es sind die Dogmen, die Gesetze, die das spirituelle Leben behindern. Diese Lehren und Gesetze treiben die Gläubigen aus der Kirche. Vor allem  Abergläubische und Wundergläubige (Verehrung heiliger Knochen (Reliquien), heiliger Wasser, “Heiliger Väter” etc.) bleiben noch in dieser Institution. Über die umfassende Reduzierung der Lehre, der Dogmen, wäre endlich zu sprechen! Zum Beispiel: Weg mit dem Dogma von der Erbsünde.

Aber es wird immer noch kleine fundamentalistische Gruppen geben, die sich gern dem Klerus unterwerfen. Diese Kreise meinen, Jesus von Nazareth selbst habe diese Kirche, so, wie sie ist, begründet und damit auch den Männer-Klerus als ewige Institution gewollt. Aber solche Überzeugungen und fundamentalistischen Bibelinterpretationen in katholischen Kreisen werden in Europa und Amerika minoritärer werden, aber sie bleiben einflussreich im Vatikan usw.

Die vielen Skandale zur Korruption des Klerus (sexueller Missbrauch, Bereicherung etc.) führen über die Kirchenaustritte zur globalen Veränderung des religiösen Bewusstseins, ein Thema, das genauso wichtig ist wie die Korruption des Klerus , der Korruption … bis hin zum “Ex-Papst”, der bald endlich ein Ex-Ex-Papst sein sollte.

Warum haben die Kardinäle eigentlich 2005 einen solchen “Typen”, salopp gesagt, zum Papst gewählt? Dachten sie auch so wie er? Wahrscheinlich.

Ich empfehle meinen Beitrag zur Debatte: “Die Katholische Kirche ist am Ende”. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der neue Roman von Houellebecq: „Vernichten“. Bekenntnisse eines Reaktionären.

Über den neuen Roman und die Religion Houellebecqs

Ein Hinweis von Christan Modehn.  Siehe auch: Ein katholischer Erzbischof lobt “Vernichten”: LINK

1.

Der neue Roman von Michel Houellebecq liegt jetzt auch auf Deutsch vor. „Vernichten“ ist der Titel. Was oder wer vernichtet wird, erscheint erst am Ende des umfangreichen Romans, der Titel lässt Schlimmstes erahnen. Der Titel “Vernichten” bedient sich eines Verbs, einer Tätigkeit, der Eindruck ist: Es handelt sich um ein Geschehen, eben Vernichten, das zwangsläufig geschieht, schicksalsmäßig. Ein Ausrufungszeichen als Befehl findet sich hinter “Vernichten” nicht. Ein Befehl würde noch Freiheit der Täter voraussetzen.

Dabei liest sich das neue Opus des „Stars“, manche sagen „Popstars“ der gegenwärtigen Literatur auch ausnahmsweise, möchte man sagen, manchmal wie eine Art Familiengeschichte mit Einsprengseln einer Art von „Liebesroman“ und kurzen Szenen einer Naturmystik und politischen Irritationen durch Terroranschläge… wobei das Elend der menschlichen Beziehungen selbstverständlich – wie üblich – weit ausgebreitet wird.

Es ist eine elende Welt vornehmlich der Reichen, die da vorgeführt wird, elend hinsichtlich der seelischen Verfassung, der Langeweile, des Scheiterns im Miteinanderleben in Beziehungen und Ehen. Dabei ist es keine Frage: Die sprachliche Gestalt, die „Komposition“ des Romans, der Mix aus Reportage und Elementen philosophischer Reflexion, diese Analysen des seelischen Zustandes einer gewissen Oberschicht können die LeserInnen an das umfangreiche Buch durchaus binden.

Der Roman enthält viele Fakten, das ist evident…Wenn Houellebecq etwa Kirchengebäude nennt, dann sind diese nicht fiktiv, sondern real; wenn er das Kapuzinerkloster der Traditionalisten in Morgon nennt (siehe die ausführlichen Hinweise in Fußnote 1, unten), dann gibt es dieses Kloster wirklich; wenn er von der katholisch-rechtsextremen Bewegung “Civitas” Bewegung spricht, dann gibt es diese wirklich. Er kennt diese Leute! Man denke bloß nicht, dieser Text, Roman genannt, sei im ganzen Fiktion. Dieser Roman hat auch den Charakter eines religionskritischen Sachbuches. “Die Ordnung der Welt ändet sich also gerade” (S. 225) könnte als Leitwort gelten.

2.

In Frankreich ist „Anéantir“ seit dem 7.1. 2022 in den Buchhandlungen, Startauflage 300.000. Auch Raubkopien hat es vorweg gegeben. Das Interesse an Houellebecqs Werk ist enorm, trotz oder auch wegen seiner oft ins politisch Rechte und Rechtextreme abdriftenden Statements. Es ist ja bekannt, dass sich Houellebecq etwa in seinen als Essays titulierten Schriften deutlich absetzt vom Geist der modernen Aufklärung, auch vom Protestantismus und der Renaissance, so etwa erneut in seinem vierten Essayband „Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen“(2020). „Die Linken“ sind die Feinde des Autors, das bekam einmal mehr deutlich zu spüren Daniel Lindenberg (Prof. für Politologie und Mitglied der Sozialistischen Partei P.S.), als er in seinem Buch „Le rappel à l ordre“ („Der Ruf zur Ordnung“) von 2002 Houellebecq ein diffuses reaktionäres Denken nachweisen konnte. In seiner Erwiderung anlässlich der Annahme des „Schirrmacher Preises“ 2016 fand Houellebecq äußerst scharfe und polemische Worte gegen Daniel Lindenberg. Houellebecq ist eben nicht nur Literat, schon gar nicht ein „klassischer Dichter“. Er hat sich einem gesellschaftlichen Projekt mit aller Kunst und Leidenschaft und Ironie verschrieben, und das Projekt heißt: Rückkehr zu den alten Werten, etwa der „intakten“ Familie, dem Respekt der religiösen (nicht nur der politischen!) Lehren des traditionellen Katholizismus. Das wird etwa deutlich in einem langen Interview, das Houellebecq dem Journalisten Geoffroy Lejeune von der extrem rechten Wochen-Zeitschrift „Valeurs Actuelles“ im Jahr 2019 gab. Darin sagte Houellebecq offenbar allen Ernstes: „Zu den Zeiten, als der Islam verborgen war, wo es einen Islam im Keller gab, da lief alles gut. Jetzt, machen die Muslime Probleme. Weil man ihnen sagt, sie könnten sichtbar sein. Um das zu regeln, wäre es besser, die katholische Religion würde stärker werden („reprenne le dessus“)“.

Der Schriftsteller Thomas Lang schreibt dazu: „Bemerkenswert scheint mir einerseits der grundlegende Konsens zwischen dem Journalisten und Houellebecq in der Sehnsucht nach einer unangreifbaren Institution, die im Besitz der Wahrheit ist und Trost spenden kann. Andererseits findet sich auch wieder die Konfrontationsstellung unterschiedlicher Richtungen. Rechts gegen links, christlich gegen muslimisch, das sind die besten Voraussetzungen für die Ausweitung einer Kampfzone“ (zit. in „Volltext“, Wien, Heft 4 (2020, S. 7). Die katholische Kirche braucht Houellebecq für seine politischen Ideen und Nostalgien als Stützen der Moral und des Staates. Das ist die alte, aber immer noch nicht vergessene  französische Konzeption der „Action Francaise“, die sich zu Beginn der Zwanzigsten Jahrhunderts als politische Ideologie katholischer Franzosen etablieren wollte, die keinen religiösen und biblisch geprägten Glauben hatten, wohl aber eine politische Liebe zur Institution Kirche als Hüterin der alten Ordnung. „Jesus Nein, hierarchische Kirche Ja“, war die Devise, die auch Houellebecq zentral findet, Jesus ist ihm viel zu links, viel zu revolutionär…(Siehe dazu: Yann du Cleuziou: Apologie du catholicisme dans les romans de Houellebecq, https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-02296265/document).

3.

Der maßgebliche Literaturkritiker von „Le Monde“, Jean Birnbaum, hat im Dezember 2021 mit Houellebecq einige Stunden in dessen Arbeits-„Studio“ in Paris sprechen dürfen. Auf drei Seiten berichtet er ausführlich von dem Besuch, der ganz dem  neuen Buch gilt (Le Monde, 7. Janvier 2022,  Seite 1-3 in der Abteilung „Le Monde des Livres“). Der Titel des Beitrags sagt schon Entscheidendes über den neuen Roman: „Houellebecq, die Versuchung des Guten“.  Dazu passend, auf Seite 1, ein Zitat des Schriftstellers: „Mit guten Gefühlen macht man gute Literatur“. Diese Aussage mag überraschen! Houellebecq sagt: „Es gibt (bei mir) kein Bedürfnis, das Böse zu feiern, um ein guter Schriftsteller zu sein. Und es gibt wenige Übeltäter in dem Roman „Anéantir“. Damit bin ich sehr zufrieden. Der größte Erfolg wird sein, wenn es überhaupt keine Übeltäter mehr gibt“.

Während des Gesprächs mit dem Redakteur von „Le Monde“  fällt Houellebecq plötzlich ein, so heißt es dann in der Zeitung:  „Das ist verrückt, seit vier Stunden diskutieren wir und man hat noch immer nicht von Zemmour (einem der rechtsradikalen Präsidentschaftskandidaten 2022) gesprochen“. Darauf der Redakteur: „Das ist stimmt. Man kann es immer noch tun“. Aber wollen Sie das wirklich?  „Non“ antwortet Houellebecq sehr knapp „a mi-voix“, heißt es, „halblaut“. Dem Journalisten fällt nichts anderes ein als das eine Wort zu sagen: „Bon“, also: “Na gut“. Keine Nachfrage also, eine verpasste Chance mehr Klarheit über die Beziehung Houellebecq – Zemmour zu erfahren.

4.

Jean Birnbaum erwähnt im Gespräch auch die ihn emotional berührenden Aussagen im Roman. Houellebecq antwortet darauf mit einem Hinweis zum eigenen Erleben beim Schreiben: „Jene Passagen im Roman, die Sie berührt haben, die habe ich nicht gedacht, die haben sich mir aufgedrängt. Wenn Sie das ernst nehmen, was ich schreibe, dann muss man eine irrationale Voraussetzung annehmen, nach der die Personen im Roman wie von selbst handeln… Oft glaubt der Autor, die Persönlichkeiten im Roman zu kontrollieren, aber die Persönlichkeiten drängen ihr Sein dem Autor auf“. Houellebecq erlebt sich offenbar wie einer Art „Diktat“ ausgesetzt. Aber: Wer „diktiert“ da eigentlich? In den biblischen Schriften, die ja auch manche für „inspiriert“, säkular gesagt von anderem „diktiert“ halten, war es Gott, der da die Feder führte…. In jedem Fall sieht sich Houellebecq offenbar wie ein Meister der Weisheit, der Gesehenes, Gehörtes, kundtut.

5.

Über seine spirituelle Suche hat Houellebecq oft gesprochen, auch über seine Versuche, sich in den katholischen Glauben zu vertiefen. Auch in dem Roman „Vernichten“ ist oft von der Bedeutung des katholischen Glaubens die Rede: Cécile, die Schwester des Protagonisten Paul Raison, ist eine tief-fromme praktizierende Katholikin, der es sogar gelingt, ihren eher skeptischen Bruder zur Weihnachtsmesse in die Dorfkirche im Beaujolais mitzunehmen. Die Reflexionen Pauls über die Bedeutung Gottes angesichts des menschlichen Leidens könnte man wohl auch als persönliche Fragen Houellebecqs denken (S. 261)..

Der Katholizismus ist jedenfalls immer ein Thema bei Houellebecq, auch wenn er in „Vernichten“ durch ausführliche Beschreibungen des Wicca-Kultes wohl andeutet: Es könnte auch eine andere, eine neue (alte) Religion in Europa wichtig werden. Bekannt ist zudem, dass er die Gastfreundschaft der Benediktinermönche von St. Martin de Ligugé (bei Poitiers) erlebt hat (im Gästezimmer 11). Die Mönche berichteten später, sehr aufmerksam die Romane Houellebecqs zu lesen.  Und die Zeitschrift „Le Point“ schrieb  am 21.4.2015, in ihrer Klosterbuchhandlung hätten die Mönche auch die (damalige) Neuerscheinung des Houellebecq Romans „Soumission“  („Unterwerfung“) zum Kauf angeboten.

Für den Redakteur von Le Monde berichtet Houellebecq: Zu Weihnachten (2021) hätten ihm, so wörtlich, “reaktionäre Katholiken”, „die Freunde geworden sind“, Grüße und Nachrichten geschickt. „Darin sagten sie, dass sie für mich gebetet hätten, das ist bewegend, finden Sie nicht auch? Es gibt Leute, die interessieren sich für meine Seele. Das deute ich als Zeichen von sehr starker Freundschaft. Sie hoffen, dass ich von der Gnade berührt werde“. Bemerkenswert ist, dass Houellebecq selbst offenbar ohne ironischen Unterton (ohne ein “so genannte”) von seinen “reaktionären katholischen Freunden” spricht. Diese Haltung dieser Katholiken findet er offenbar gut, in diesem Freundes-Milieu fühlt er sich wohl. Hat Houellebecq endlich seine katholische Ecke gefunden, wo er sich wohlfühlt?

Ob die reaktionären Katholiken, auch in moralischer Hinsicht nicht gerade liberal, mit Houellebecqs Satz (gesprochen vom Protagonisten Paul) einverstanden sind: “Dafür waren Nutten da, um einem wieder Leben einzuhauchen” (S. 307)? Wahrscheinlich sehen reaktionäre Katholiken auch über die Sex-Szenen im Roman “Vernichten” hinweg, wichtig ist ihnen die politische Haltung Houellebecqs, da ist er wohl einer der ihren…

Tatsache ist: Reaktionäre Kreise im französischen Katholizismus sehr viel zahlreicher und “bunter” und einflußreicher als etwa im deutschen Katholizismus.  Es sind in Frankreich nicht nur die zahlreichen traditionalistischen Pius-Brüder von Mgr. Lefèbvre und deren Gemeinden, es sind die Katholiken aus den Kreisen “Manif pour tous”, von der Zeitschrift Valeurs Actuelles, die Katholiken, die von “Bevölkerungsaustausch” wegen der Muslime in Frankreich schwadronieren usw., von “Civitas” war schon die Rede.

6.

Der Schriftsteller Thomas Lang hat in der Zeitschrift VOLLTEXT manche Aussagen Houellebecqs zur Politik treffend „schwammig“ (S. 6) genannt. Schwammig sind auch einige Ausführungen des Schriftstellers in dem genannten Gespräch mit Jean Birnbaum von Le Monde. Darin ist erstaunlich, wie milde Houellebecq die bekannten Nazi-Autoren der Okkupationszeit bewertet. Er sagt: „Man war im 20. Jahrhundert fasziniert von der Transgression, dem Bösen. Von daher auch das Wohlgefallen gegenüber Autoren wie Morand, Drieu, Chardonne. Und dann das Urteil Houellebecqs: „Autoren, die ich mittelmäßig finde“.

Morand und Drieu waren von ihrer formalen schriftstellerischen, sprachlichen Leistung her gesehen sicher viel mehr als mittelmäßig. Aber sie waren viel weniger als mittelmäßig, nämlich schändlich, in ihrer antisemitischen Nazi-Ideologie. Von der Nazi-Ideologie der Autoren spricht Houellebecq vornehmerweise nicht. Oder „Le Monde“ zitiert unvollständig.

7.

Was oder wer ist also „Vernichtet“, um den Titel des neuen Romans aufzugreifen? Das werden die LeserInnen entdecken. Aber betrachtet man die Grundüberzeugung und die herrschende „Stimmung“ von Houellebecq dann steht fest: Vernichtet ist die alte europäische Ordnungswelt. PolitikerInnen, die angeblich noch diese alte Werte bzw. Unwerte -Ordnung reanimieren wollen, werden von Houellebecq in „Vernichten“ freundschaftlich mit dem Vornamen angespochen, eben Marine Le Pen, im Jahr 2022 Chefin der rechtsextremen Partei „Rassemblement National“ (früher „Front National“). Sie heißt im Roman nur freundschaftlich „Marine“.

Wichtiger als Ergänzung zum Thema „Vernichten“ dürften die Ausführungen Houellebecqs sein anlässlich der Verleihung des „Oscar-Spengler Preises“ 2018, ein Preis, der auch stark von rechten CDU und auch AFD Politikern inszeniert und finanziert wird. Bei der Entgegennahme des Preises in Brüssel sagte Houellebecq: „Bezogen auf die Demographie und die Religion ist es evident, dass ich zu den exakt identischen Schlussfolgerungen wie Spengler komme: Der Westen befindet sich in einem Zustand sehr fortgeschrittenen Niedergangs.“ Das hat man schon oft gehört von Houellebecq…

8.

… Es ist das Jammern des Reaktionären heute…Ob es weiterhilft in der umfassenden Krise der Gesellschaften und Staaten ist sehr fraglich, meine Antwort heißt nein. Trotzdem werden wieder viele tausend Menschen auch den neuen, den etwas freundlicher gestimmten Houellebecq-Roman lesen. Weiterführende Impulse für eine humanere Welt (der Menschenrechte) werden sie von dem umfangreichen Buch nicht erhalten. Politische Prognosen eines „Weisen“ oder gar prophetische Perspektiven wird man auch diesem Houellebecq – Roman nicht entnehmen können. Da verbreitet ein “weltberühmter Autor” nur auf seine Art “Stimmung” für eine autoritäre Gesellschaft und einen entsprechenden Staat der “uralten Werte”. Und viele, werden dies, leider, glauben.

Fußnote 1:

Im November 2017 hatte Houellebecq ein Interview („Testament“ genannt), ursprünglich für den SPIEGEL gegeben, das dann von der reaktionären Wochenzeitung „Valeurs actuels“ übersetzt  wurde . LINK Houellebecq betont in dem Interview: „Die Integration der Muslime könnte nur funktionieren, wenn der Katholizismus (in Frankreich) wieder Staatsreligion (Religion d Etat) wird“.  Diese Forderung „Katholizismus als Staatsreligion“ wird von der rechtsextremen Partei „Civitas“ vertreten. Ein Kapuziner aus dem traditionalistischen Kloster in Morgon ist offizieller „Partei-Kaplan“ (aumonier genannt) von „Civitas“.   Von diesem Kloster ist in „Vernichten“ die Rede, Houellebecq kennt diese Leute offenbar. Es lohnt sich, zum Studium die website dieser Mönche anzusehen! LINK: Das Houellebecq-Zitat zur katholischen Staatsreligion ist auf Deutsch erreichbar (gelesen am 15.1.2022): LINK

Die reaktionären und traditionalistischen Katholiken von Civitas gehören auch zu den heftigen „Impfgegner“ in Frankreich, sie nennen die staatliche Impfkampagne „Plandémie satanique“. Diese Tatsachen werden ausführlich ausgebreitet in der religionswissenschaftlich-politologischen Studie „Le Nouveau Péril sectaire“, von Jean-Loup Adénor und Timothée de Rauglaudre, erschienen in den Editions Laffont, 2021, 21,50 EURO.

Michel Houellebecq, “Vernichten”. Roman.  2022, Dumont – BuchVerlag Köln. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek. 621 Seiten, 28 Euro. 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Papst Franziskus – ein Papst der Widersprüche. Versuch einer Erklärung.

Ein Hinweis von Christian Modehn, zuerst veröffentlicht am 14.2.2022.

Inhaltsverzeichnis zu diesem Hinweis:

1.Der von Kardinal Bergoglio gewählte Papst-Name Franziskus (von Assisi) ist von vornherein ein Hinweis auf die inneren Spannungen und Widersprüche in seinem „Pontifikat“.

2. Die offenkundigen Widersprüche im Reden und Handeln von Papst Franziskus lassen sich auch mit der zentralen Ideologie seiner argentinischen Herkunft, konkret: seiner Nähe und Sympathie für die „Guardia de Hierro“, „die Eiserne Garde „des Peronismus, besonders von 1972-1974, erklären.

Das Motto:

Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie muss sich immer gleichzeitig mit der gedanklichen Entwicklung von Beziehungen des Menschen zu einer göttlichen Wirklichkeit befassen UND in gleichem Maße mit den gegenwärtigen Formen sich religiös nennender Praxis. Kritik der Religionen (auch Kritik des Glaubens, der sich „Atheismus“ nennt) und Kritik der Kirchen gelingt nur mit dem Maßstab der Vernunft. Sie ist die innere Mitte der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie. Es ist also ausgeschlossen, dass religiöse, konfessionelle Normen oder so genannte heilige Bücher das Kriterium liefern für religionsphilosophische Debatten.

Erinnerung an einige allseits bekannte Fakten:

Das wissen alle, die sich mit dem jetzigen Papst Franziskus beschäftigen: Papst Franziskus ist eine zwiespältige Gestalt. Er glaubt an den Teufel, argumentiert oft in  volkstümlicher Überzeugung mit dessen Existenz. Andererseits gibt Papst Franziskus sich theologisch ein bisschen auf der Höhe der Diskussionen: Er fordert mehr synodale Strukturen,  also eine Art bescheidene katholische Variante von Demokratie. Aber er führt als Papst synodale Entscheidungen nicht zu Ende, siehe die berühmte „Amazonas-Synode“ und die dort geforderte Aufhebung des Pflichtzölibates für Priester. Einerseits zeigt er sich als Freund der Armen und Flüchtlinge, er besucht Lampedusa, auch Lesbos usw. und diese Besuche lassen ihn in der Öffentlichkeit glaubwürdig erscheinen. Andererseits ist er als Papst schon aufgrund des Amtes autoritärer Herrscher im Vatikan (Legislative, Judikative, Exekutive alles in seiner „Hand“). Er hat nach wie vor nicht die Erklärung der Universalen Menschenrechte unterschrieben. Einerseits plädiert Papst Franziskus für „mehr Ökumene“, aber er verfügt nicht, dass die römische Kirche volles Mitglied im Ökumenischen Weltrat der Kirchen (Genf) wird. Denn so glaubt er: Die katholische Kirche ist eben doch etwas Besseres und Einmaliges, das ist die Botschaft der Päpste bis heute! Einerseits will er vieles gegen die Sexualverbrechen durch Kleriker tun, ist aber in der Realisierung dieses Vorhabens sehr zurückhaltend, gerade was den umfassenden Respekt für die Opfer angeht.

Es gibt hunderte weiterer Beispiele: Papst Franziskus sagt nicht nur mal dieses und dann mal jenes. Seine Worte und Taten sind oft widersprüchlich. Diesem Papst fehlt die innere konsequente Linie. Er jongliert. Nur gelegentlich spricht er päpstliche Allmachtsworte, wie den Rausschmiss Kardinal Müller aus dem Amt des obersten Glaubensbehörden-Verwalters, später wurde Müller wieder etwas rehabilitiert. Gegen die aktuelle Polemik Müllers schreitet er hingegen nicht ein…

1.Papst FRANZISKUS

Für die Widersprüchlichkeit im Sprechen und Handeln von Papst Franziskus (man denke nur an die elenden Debatten um Homosexuelle) gibt es eine erste Erklärung, sie wurde meines Erachtens bisher zu selten beachtet: Es ist die Spannung, wenn nicht der Widerspruch, der sich im Namen und Titel „Papst Franziskus“ zeigt. Mit anderen Worten und etwas zugespitzt gesagt: Ein Papst kann sich eigentlich nicht und darf sich nicht „Franziskus“ nennen, wenn denn mit „Franziskus“ der heilige Franziskus von Assisi gemeint ist. Bis jetzt hat sich auch kein Papst „Petrus II“ .genannt, offenbar aus Ehrfurcht (oder Aberglauben) vor diesem verheirateten Fischer, der angeblich von Jesus höchstpersönlich zum „Fels“ der Kirche ernannt wurde.

Zur Biographie des ständig idealisierten un auch verkitschten Franziskus von Assisi: Er war ein Laie, der im Mittelalter bei einer reichen Kirche in Italien für eine radikale Kirchenreform kämpfte. Er wollte eine Reform-Bewegung von Laien, die gegen die mittelalterliche Prunksucht der Päpste und Bischöfe aufbegehrten und eine andere Kirche wollten, eine Kirche im Sinne des armen Jesus von Nazareth, ohne die Allmacht des Klerus, auch die Allmacht der Päpste. Sein Zeitgenosse, Papst Innozenz III., selbst ein Allmächtiger, wusste, welche theologische „Sprengkraft“ in Franziskus von Assisi vorhanden war… und ihm gelang es, Franziskus, den Antiklerikalen, in diese bestehende Kirche einzubinden. So wurde des Franziskus` eher papstkritische Laienbewegung der Armen gestoppt … und ein klerikaler Franziskanerorden entstand.

Wenn sich ein Papst auf diesen Franziskus von Assisi bezieht, tritt er selbst automatisch in eine antiautoritäre, antiklerikale und letztlich antipäpstliche Tradition ein. Er kann sich aber als weiterhin im Vatikan-Staat mit seinen Palästen, allerdings dort bescheiden lebender Papst damit trösten, dass Franziskus von Assisi sozusagen von Innozenz III. und den Kardinälen „umgedreht“ wurde und sich auf eine „Entschärfung“ und „Ent-Radikalisierung“ seiner Botschaft einließ…in Gestalt eines strukturierten klerikalen Ordens.

Mit anderen Worten: Wenn ein Kardinal sich als Papst den Namen Franziskus (von Assisi) gibt, kündigt er eigentlich mit dieser Wahl auch das Ende des (bislang üblichen) Papsttums an.  Dieser Namenswahl könnte etwa, leicht zugespitzt, eines Tages auch der Papstname „Papst Martin Luther I.“ entsprechen. Das wäre sicher das Ende des „klassischen“ Papsttums, hoffentlich, ist aber unwahrscheinlich.

2. Bergoglio – der Peronist.

Es wurde in der theologischen und religionskritischen Forschung bis jetzt leider der wichtige Aufsatz von Colm Tóibín übersehen, den der irische Journalist und Literaturwissenschafter, Lehrbeauftragter an der Stanford University usw., in der Zeitschrift „Lettre International“, Ausgabe Frühjahr 2021, S. 68 -75, veröffentlichte.

Der Titel von Tóibíns Studie: „Das Lächeln Bergoglios. Vom peronistischen Jesuiten zum Heiligen Vater im Vatikan – Eine Karriere“.

Tatsache ist, dass Bergoglio von 1972 bis 1974 der peronistischen Bewegung „Guardia de Hierro“ („Eiserne Garde“) nahestand, das wird von Historikern überhaupt nicht bestritten. Wie sich daraus eine Nähe UND Distanz des Provinzials der argentinischen Jesuiten Bergoglio zu den mordenden Militärs in Argentinien (von 1976-1983) entwickelte, wird noch weiterhin hoffentlich umfassend studiert und diskutiert. Der Sozialist und Ökonom Roberto Pizarro H. entschuldigt förmlich die bekannte damalige „Schwäche“ („debilidad“) des führenden Jesuiten Bergoglio in dieser Zeit damit, dass Bergoglio nun als Papst so viel Gutes tut zugunsten der Armen. So kann man auch politische Fehler eines Jesuitenprovinzials reinwaschen. Quelle: https://www.eldesconcierto.cl/opinion/2018/01/13/el-papa-francisco-la-guardia-de-hierro-y-el-genocida-massera.html.

Über die undeutliche Haltung des Jesuitenprovinzials Bergoglio während der Militärdiktatur spricht auch Tóibín in seinem Artikel. Auch seine spirituelle Praxis, volkstümlicher Art („Verehrung von Heiligenbildern und der Kultus der Madonna“, S. 70) wird ausführlich behandelt. Wichtig ist die innere Verbundenheit mit „dem“ Peronismus: „Bergoglio ist ein Peronist, und die Pointe des Peronismus ist es, dass er sich niemals definieren lässt. Die Montoneros, die in den siebziger Jahren Argentinien mit einer Terrorismuskampagne überzogen, waren Peronisten. Und die Eiserne Garde, die rechte Gruppe, mit der Bergoglio in Verbindung stand, bestand ebenfalls aus Peronisten. Präsident Carlos Menem war Peronist und die Präsidenten Kirchner waren es auch. Ein Peronist zu sein, heißt alles und nichts. Es heißt, dass man zeitweise mit genau den Dingen einverstanden sein kann, die man ansonsten ablehnt. Man kann sowohl Reformer sein wie gleichzeitig ein Konservativer“ (S. 74). …“Bergoglio konnte in einem Augenblick den Anarchisten spielen und im nächsten in seine autoritäre Rolle zurückfallen“ (S. 73).

Das heißt: Es ist dieses taktische Lavieren, dieses Schwanken je nach der machtpolitischen Situation zwischen Ja und Nein, es ist diese Dialektik von Zustimmung und Widerspruch ohne zu einer neuen höheren Ebene zu führen, die den – in Deutschland weithin unbekannten – Peronismus auszeichnet…und die, wie Colm Tóibín schreibt, auch den peronistischen Jesuiten Bergoglio und Papst Franziskus prägt. So wird eine Antwort gegeben auf das widersprüchliche Verhalten dieses Papstes etwa zum Zölibat – angesichts der „Amazonas-Synode“ – oder zur konsequenten Bestrafung von sexuellen Missbrauchstätern im Klerus. Oder zum äußerst verständnisvollen und geduldigen Umgang mit den in dem Zusammenhang hoch belasteten Kardinälen (wie Woelki in Köln). Andererseits: Der rasante Rausschmiss des Pariser Erzbischofs Aupetit, der den „furchtbaren“ Makel hat, sich in eine Frau ein bisschen verliebt zu haben und das auch noch dummerweise veröffentlichte. Aber solche heterosexuellen  Makel werden wohl immer seltener, mangels heterosexueller Priester…

Das ist erstaunlich: Die katholische Wochenzeitschrift „Christ in der Gegenwart“ (Herder-Verlag) scheibt in ihrem Kommentar vom 6.1.2022, wie Papst Franziskus geradewegs ungeniert und nur aus machtstrategischen Überlegungen (dies ist auch peronistischer „Geist“ !) Kardinal Marx (München) zur Fortsetzung seines Amtes als Erzbischof verdonnert, obwohl Marx nachweislich viele Fehler begangen hat…Weil er viele pädosexuelle Verbrechen im Klerus nicht der staatlichen Justiz übergab. André Lorenz scheibt in „Christ in der Gegenwart“: „In bitterer Erinnerung bleibt der Satz von Papst Franziskus aus seinem Schreiben an Kardinal Marx, in dem er dessen Rücktrittsangebot am 10. Juni 2021 abgelehnt hatte: „Das ist meine Antwort, lieber Bruder. Mach weiter, so wie Du es vorschlägst, aber als Erzbischof von München und Freising. “Das ist das Problem…:So lange Bischöfe, in deren Zuständigkeitsbereich sexueller Missbrauch durch Geistliche systematisch vertuscht worden ist, im Amt bleiben dürfen, wird nichts mehr gut in unserer Kirche“, soweit „Christ in der Gegenwart“. .

Man wird also sagen: Trotz aller großen Worte und so sympathischer populärer Gesten (Umarmen von Kindern, Fußwaschungen von Obdachlosen etc.), ist auch Papst Franziskus ein Vertuscher, ein Machtpolitiker üblicher vatikanischer Tradition seit Jahrhunderten, und eben ein Peronist.

Und man wird dadurch erneut aufgefordert, Bergoglios Verhalten als Provinzial der Jesuiten in Argentinien zu studieren, sein zwiespältiges Verhältnis zur Militärjunta und zu so genannten linken Jesuiten, die sich seines Schutzes als Provinzial vor der Gewalt des Militärregimes nicht sicher fühlten, also etwa die Jesuiten Franz Jalics und Orlando Yorio…

Pater Jalics hat nach seiner Freilassung aus den Gefännissen der Militärs Bergoglio freigesprochen, für die erlittenen Qualen durch die Militärs mit-verantwortlich zu sein. Es war „die ständige Anrufung Jesu im Gebet“, die bei dem frommen Pater Jalics diese Läuterung des Verzeihens (gegenüber Bergoglio) bewirkte. (Fußnote 15 im wikipedia Beitrag zu Franz Jalics SJ).

Papst Franziskus wird, wenn nicht ein Wunder geschieht, als jonglierender, hin – und her zerrissener Papst in die Geschichte eingehen. Er ist eben nur zum Teil ein so genannter Progressiver. Und es sieht alles danach aus, dass die tatsächliche Allmacht der katholischen Klerus-Kirche (die manche noch verbliebenem Katholiken förmlich zur Verzweiflung bringt heute) ad aeternum fortbestehen wird. Wenn einmal ein persönlicher Hinweis erlaubt ist: Wer noch Vernunft und Mut hat, sollte darüber nachdenken, sich dem theologisch-liberalen Protestantismus anzuschließen, auch als Beitrag zur Ökumene, oder den mystischen Weg zu gehen… Man muss nur gut hinhören in all den Kommentaren aus seriösen katholischen Zeitschriften, wie „Christ in der Gegenwart“. Der Tenor ist doch klar: Dieser klerikale Katholizismus ist vorbei, inhaltlich, theologisch, spirituell, auch wenn er noch als machvolles institutionelles Skelett mit vielen alten Klerikern fortbesteht (solange das Geld fließt)…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ein christlicher Glaube, befreiend, kein Opium: Vor 50 Jahren erschien das Buch „Theologie der Befreiung“

Ein Hinweis von Christian Modehn am 19.11.2021

1.Der große Inspirator: Gustavo Gutiérrez

Die christlichen Kirchen erleben außerhalb Europas – zahlenmäßig – einen „Boom“. Sie zeigen eine bunte, verwirrende und manchmal widersprüchliche Vielfalt christlichen Glaubens. Dies betrifft vor allem die „unglaublich“ vielen charismatischen, pfingstlerischen und evangelikalen Gemeinschaften. Aber es gibt auch eine Minderheit: Christen und vor allem katholische Gemeinden, die sich dem politischen Projekt einer ganzheitlichen Befreiung der Armen aus Elend und Ausbeutung verpflichtet wissen…und entsprechend handeln! Und diese Minderheit der „links-politisch“ Frommen haben eine Theologie: Die „teologia de la liberacion“, die Befreiungstheologie. Sie ist unter diesem Namen auch mit verschiedenen neuen Ansätzen, etwa zur Ökologie oder zum Feminismus, lebendig. Ihr „Gründervater“ bzw. Initiator ist der Peruaner Gustavo Gutiérrez (geb. am 8.Juni 1929 in Lima). Zur Biografie nur ganz kurz: Gutiérrez hat neben Philosophie und Theologie auch Medizin und Sozialwissenschaften, vor allem in Lyon und Louvain, studiert, er ist katholischer Priester, Autor zahlreicher Studien zur Befreiungstheologie, vielfach mit Ehrendoktoraten geehrt, sowie im Jahr 1975 Gründer des befreiungstheologischen Studienzentrums „Bartolomé de las Casas“ in Lima-Rimac. Mit dem dort rigoros-engstirnig herrschenden Kardinal Cipriani vom Opus Dei hatte auch Gutiérrez viele heftige Konflikte durchzustehen.

2.Regionale Herkunft-universale Bedeutung

Die „teología de la liberación“, die Befreiungstheologie, ist zwar regional in Lateinamerika entstanden und verwurzelt, sie hat aber universale Bedeutung nicht für Christen, sondern für alle, denen eine gerechte Welt als politische Ziel der Menschheit wichtig ist. Begrenzter Herkunftsort und universale Bedeutung schließen sich bekanntlich nicht aus, siehe die Herkunft der universal geltenden Menschenrechte aus Europa…

Diese Theologie der Befreiung hat nun sozusagen einen Geburtstag, einen wichtigen Gedenktag: Als dieser gilt der 1. Dezember. Vor 50 Jahren wurde das grundlegende und international verbreitete Buch des peruanischen Theologen Gustavo Gutiérrez mit dem Titel „Theologie der Befreiung“ veröffentlicht. Es kann hier nicht der gesamte Inhalt dieses wichtigen Buches zusammengefasst werden, das zudem 1992 in seiner 10. Auflage gewisse Korrekturen des Autors aufweist, etwa hinsichtlich der Einschätzung der sozialwissenschaftlichen Dependenztheorie.

Anlässlich des „Gedenktages“ soll nur auf einige besonders relevante und „auffällige“ und nach wie vor aktuelle Themen hingewiesen werden, um Interesse zu wecken an der Lektüre des Buches…

3.Gutiérrez und seine vielen MitstreiterINNEN

Das erste große Werk von Gustavo Gutierrez, die „Theologie der Befreiung“ , ist 1973 auch auf Deutsch erschienen, in einer Übersetzung des Lateinamerika-Spezialisten Horst Goldstein. Inzwischen liegt das Buch in 20 Sprachen vor. Es geht auf Vorträge zurück, die Gutiérrez einige Jahre zuvor etwa in Montréal gehalten hatte und dann auch in Chimbote, Peru. Auch andere Theologen, wie der gleichermaßen bedeutende Juan Luis Segundo SJ aus Uruguay (1925-1996), hatten schon vorher von „Befreiungstheologie“ gesprochen. Aber Gustavo Gutiérrez war eben mit seinem Buch von 1971 etwas Grundlegendes, bei einem Umfang von 288 Seiten, gelungen. Seitdem ist die Liste der tatsächlich berühmten Befreiungstheologen lang, Leonardo Boff, Frei Betto, Pablo Richard, Elsa Tamez, Jon Sobrino, Franz Hinkelammert und so weiter. Wichtig ist auch: Einige Bischöfe waren mit der Befreiungstheologie verbunden, wie der in Deutschland leider unbekannte Pedro Casaldaliga, der Mystiker und Poet aus Sao Felix, Brasilien.  LINK:

4.Das zentrale Bild: Reich Gottes

Die zentrale Erkenntnis der Befreiungstheologie, auch im Sinne von Gutiérrez, heißt: Der von Jesus von Nazareth verkündete Sinn und das Ziel des Lebens der Menschen ist in dem Bild „Reich Gottes“ ausgedrückt, als eine Art erstrebenswertes Ideal der Gerechtigkeit für alle, auch und vor allem für Arme, der gelungenen Versöhnung der Menschen untereinander und mit dem, was religiöse Menschen die göttliche Wirklichkeit nennen. Die Armen und ihre Lebensrechte stehen im Mittelpunkt dieser Theologie. Den Armen gilt die Befreiung … hin zur Freiheit, zum realen Erleben der Gültigkeit der Menschenrechte auch für sie. Und dies nicht als frommer Traum oder als Vertröstung auf etwas Jenseitiges. Das Reich Gottes kann und soll reale, auch materielle, auch politische Wirklichkeit werden. Vorbei also sind die Zeiten, als Glaube nur etwas Spirituelles, nur etwas Seelisches war. Diese „innere“ Dimension bleibt bestehen, aber sie wird eingefügt (und dadurch relativiert) in den Rahmen des politischen Eintretens für Befreiung der Armen.

5.Auch die Unterdrücker müssen befreit werden

Wer den Spuren Jesu von Nazareth als seiner „Lebensphilosophie“ folgt, d.h. wer also religiös glaubt, ist berechtigt, die Erlösung schon hier, auch irdisch, in weltlichen – politischen Zusammenhängen, zu erleben, vor allem in demokratischer Verfassung, in Gleichheit der Menschen….  Das „gute Leben“ der Ernährung, der Bildung für alle, des humanen Wohnraums außerhalb der Dreckhütten, der Abwehr von krimineller Gewalt der Banden und der Herrscher, all das ist ein Anspruch, den der christliche Glaube als Heil und Erlösung predigt und fordert. Dabei ist für Gutiérrez klar: „Wer von Klassenkampf spricht, propagiert ihn nicht etwa! Nein, er stellt einfach eine Tatsache fest“ (S. 261). „Alle Menschen lieben heißt nicht, Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen und eine fiktive Harmonie aufrechterhalten. Universale Liebe bemüht sich vielmehr, in Solidarität mit den Unterdrückten auch die Unterdrücker von ihrer Macht, ihren Ambitionen und ihrem Egoismus zu befreien“ (S. 263). „Die Befreiung von Armen und Reichen ist ein gleichzeitiger und wechselseitiger Prozess“, betont in diesem Sinne auch der katholische Theologe Jules Girardi“ (ebd.)

Aber dabei bleibt es nicht: Inmitten der zerrissenen und ungerechten Welt kann Friede und Gerechtigkeit wenigstens fragmentarisch erfahrbar werden.  Dies ist eine, man könnte sagen, optimistische Sicht, angesichts der grausam – und meist hoffnungslosen Kämpfe um eine gerechte, auch ökologisch gerechte Welt.

6.Erlösung soll – wenigstens als „Vorschein“ -materiell/politisch erfahrbar sein

Gustavo Gutiérrez schreibt (S. 148 in der deutschen Übersetzung): „Wer gegen eine Situation des Elends und der Ausbeutung kämpft und eine gerechte Gesellschaft aufbaut, hat ebenfalls teil an der Bewegung der Erlösung, die freilich erst noch auf dem Weg zur Vollendung ist…“ Und zuvor hat Gutiérrez geschrieben: „Wer arbeitet und diese Welt verändert, wird mehr Mensch, trägt zur Gestaltung einer menschlichen Gesellschaft bei und – wirkt erlösend“. Die so genannte Heilsgeschichte, also die Geschichte Gottes mit den Menschen, und die politische Geschichte sind also eng verbunden.  Für eine Trennung von „Zwei-Reichen“, das eine Reich ist weltlich, das andere, das religiöse, daneben und getrennt, gibt es also keinen Platz! Es gibt nur die eine Geschichte der Menschheit, nur die eine Geschichte von Heil und Unheil, an der die Menschen verantwortlich beteiligt sind.

7.Es gibt nur die EINE Geschichte der Menschen

Es ist entscheidend zu sehen, dass diese Theologie, die für ein materiell erfahrbares „religiöses Heil“ bzw. eine materiell historisch-politisch Erfahrung von Erlösung eintritt, auch von dem großen europäischen Theologen Edward Schillebeeckx (1914-2009) – er lehrte in Nijmegen (NL), unterstützt wird.

Dabei ist zweifelsfrei: Die umfassend und ganze heile und gerettete Menschheit ist in dieser Ganzheit eine Utopie: Sie vollständig „durchsetzen“ zu wollen, wäre ein totalitärer Wahn. Andererseits ist auch zweifelsfrei: Der religiösen Erlösung, allein als seelischen Gewinn oder fernes, himmlisches Ziel zu verkünden, widerspricht einerseits: Dass es die Erfahrungen des Guten und Erfreulichen („Heilen“) im privaten wie im gesellschaftlichen Leben – wenigstens kurzfristig – gibt. Und dass andererseits auch im politischen und ökonomischen Zusammenleben doch noch positive, humane Erfahrungen, also ein humaner Fortschritt, erlebbar sind, zwar selten, aber immerhin.

Schillebeeckx schreibt also in seinem Aufsatz „Befreiende Theologie“ (in „Mystik und Politik“, 1988): „Die Spur des Handelns Gottes muss auch auf der gesellschaftlich-politischen Ebene lesbar sein…Es besteht die Hoffnung, Fragmente des Heils hier und heute schon in unserer Geschichte anzusiedeln“ (S. 70). Mit anderen Worten: Der Katholik Schillebeeckx wehrt sich gegen die „Zwei-Reiche-Lehre“ Luthers, „die der Einheit der Geschichte widerspricht“, sagt Schillebeeckx (S. 71).

8.Die strukturelle Sünde

Dem entsprechend erhält der alte und belastete, oft nur moralisch verwendete Begriff der Sünde eine neue, politische und ökonomische Bedeutung. Gegen Sünde, das lehrten ja auch die europäischen klerikalen Theologen, soll der Glaubende kämpfen. So auch in der Theologie der Befreiung: Denn sie wissen, das inhumane Verhalten („Sünde“ ) so vieler verfestigt sich in der Welt, in den Strukturen der Gesellschaft und des Staates. Es gibt also ganz offensichtlich eine „strukturelle Sünde“. Gutiérrez schreibt: „Sünde wird greifbar in unterdrückerischen Strukturen, in der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, in der Beherrschung und Versklavung von Völkern, Rassen und sozialen Klassen“ (S. 169). Und, wie gesagt, gegen diese Strukturen, also inhumaner, „sündiger“ Strukturen, hat die Kirche und mit ihr die Theologie zu kämpfen.

9.Karl Marx und Thomas Müntzer und die anderen

Selbstverständlich wird an dieser zentralen Erkenntnis der Befreiungstheologie deutlich, wie stark sie sich auf die Gesellschaftskritik bezieht, die Karl Marx vorgetragen hat (siehe etwa die Verweise  auf Marx in den Fußnoten 96 und 98, s. 169 f.) Und dieser Hinweis auf Marx ist sehr treffend und selbstverständlich berechtigt, will doch die Befreiungstheologie anknüpfen an die großen berechtigen, philosophisch formulierten Sehnsüchte auch nach Erlösung inmitten dieser als grausam erlebten Welt. Kein Wunder, dass sich einige Befreiungstheologen auf einige Einsichten des Reformators Thomas Müntzer beziehen, wie etwa der katholische Priester und Theologe Hugo Echegaray, Lima, Peru (1960-1979): „Christus spricht nicht von Tugenden, es geht nicht um Tugendmoral, sondern um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“ (in: Alejandro Zorzin, „Thomas Müntzer in Lateinamerika“, 2010, S. 14). Das Thema müsste vertieft werden, auch die Beziehungen zur Philosophie von Ernst Bloch müssten erörtert werden, an die Gestalt des revolutionären kolumbianischen Priesters Camilo Torres (1929-1966) hat der Religionsphilosophische Salon Berlin kürzlich erinnert: LINK

10.Lebenserfahrungen poetisch zur Sprache bringen

Die Befreiungstheologie ist also keine Schreibtischtheologie von hochbezahlten Professoren an gut ausgestatteten Universitäten, wie üblich in Europa, viele BefreiungstheologINNEN arbeiten in sehr bescheidenen, finanziell auf Spenden angewiesenen wissenschaftlichen Instituten. Die Befreiungstheologie ist keine bürgerliche Theologie im Sinne der üblichen „Spiegelung des Glaubens gut-situierter frommer Christen“. Sondern eine Theologie, die inmitten der Armen und Arm-Gemachten lebt. Diese Theologie hat eine eigene Spiritualität, aber diese ist Ausdruck der politischen wie der religiösen Erfahrungen und der Bibel-Lektüre der Armen und Unterdrückten. Man denke etwa an das bekannte Buch „Das Evangelium der Bauern von Solentiname. Gespräche über das Leben Jesu, aufgezeichnet von Ernesto Cardenal“, Band 1, Wuppertal 1976.

Befreiungstheologen sind mit dem politischen Befreiungskampf der Armen verbunden, und sie bringen deren Lebenserfahrungen gern zum Ausdruck. Ihre theologischen Reflexionen leben von der dichten Verbindung mit dem verzweifelten Kampf um Gerechtigkeit. Deswegen wurden und werden Befreiungstheologen verfolgt wie ihre Freunde, die Armen in den Slums oder den entlegenen Dörfern, inmitten der abgefackelten Urwälder oder den Hungerzonen in den Metropolen. Diese TheologINNNEN sind genauso bedroht wie ihre Companeros/Companeras: Sie reiben sich auf im Kampf um elementare Menschenrechte, werden von Herrschenden bedrängt und …ermordet, siehe Guatemala, Honduras, Nikaragua, Brasilien usw. Zur Befreiungstheologie gehört immer auch die Märtyrer-Erfahrung. Wer als Theologe kein religiöses Opium verkauft, das den Herrschenden gefallen würde, lebt gefährlich. Man denke an die Ermordung der Jesuiten in El Salvador im November 1989, etwa an den Befreiungstheologen Pater Ignacio Ellacuria. Oder an die Ermordung des befreiungstheologischen Erzbischofs Oscar Romero schon 1980. Die Mörder waren bekennende rechtsextreme Katholiken ebenfalls aus El Salvador, die Waffen lieferten „Ausbildungszentren“ in den USA… Wer ermordete Erzbischof Romero: LINK

11. …und die TheologInnen Europas?

Die Befreiungstheologie muss als ein radikaler Einschnitt verstanden werden innerhalb der — bis 1970 – europäisch zentrierten und europäisch beherrschten Theologien bzw. klerikalen theologischen Ideologien. Europäische TheologInnen stehen meist zu den herrschenden sozio-ökonomischen Verhältnissen in einvernehmlichem oder moderat kritischem Verhältnis. Sie wollen schließlich nicht ihren gut bezahlten Job verlieren.

12.Die Angst der Hierarchie vor Basisgemeinden

Ihren inspirierenden Ort fanden und finden Befreiungstheologen in den Basisgemeinden. Sie waren und sind Zusammenkünfte von Katholiken in Städten wie auf dem weiten Land, sie fühlen sich als Christen zurecht berufen, selbst und eigenständig ihre Gemeinden zu gestalten, gerade weil kein Priester für sie zur Verfügung stehen. Indem aber der Vatikan den Laien es untersagte, Eucharistie zu feiern oder Frauen von vorrangigen Funktionen in der Gemeinde ausschloss, waren viele tausend kleinen Basisgemeinden aufgrund des rigiden Verhaltens des Papstes nicht von langer Dauer. Viele tausend frustrierte Katholiken sind zu den charismatischen evangelischen Gemeinden übergewechselt, in etlichen lateinamerikanischen Staaten (wie Guatemala oder Chile) sind Katholiken längst nicht mehr die zahlenmäßig stärkste Konfession. Dass Lateinamerika nun aufhört, als katholischer Kontinent zu gelten, ist auch die Schuld der dogmatisch rigiden katholischen Kirche. Mit ihrer Kritik an der Befreiungstheologie ging immer die Kritik an selbstständigen Laien-Basis-Gemeinden einher. Wer noch im Sinne der katholischen Kirche denkt, muss also sagen: Die Führung der katholischen Kirche ist für ihren eigenen Niedergang in Lateinamerika verantwortlich. Die große Amazonas-Synode im Vatikan (2019) hätte eine Korrektur bewirken können. Die weitrechenden Reformvorschläge wurden aber von Papst Franziskus zurückgewiesen, wie die Aufhebung des Zölibates wenigstens für Priester in der Amazonas-Region…

13.Die Feinde der Befreiungstheologie, das Opus Die, die Legionäre Christi usw.

Man muss die globalen Zusammenhänge vor Augen haben, um das Besondere der lateinamerikanischen Befreiungstheologie zu verstehen. Diese anti-bourgeoisen katholischen Theologen und Theologinnen wurden auch vom Vatikan, dem Papst und vielen Bischöfen drangsaliert, der Häresie angeklagt, als Kommunisten bezeichnet, um so die aggressive Aufmerksamkeit des antikommunistischen CIA auf diese Christen zu lenken. Das Image der Befreiungstheologie und der mit ihr verbundenen Basisgemeinden der Armen wurde jedenfalls von Anfang an ramponiert, und zwar durch die Kirchenführer selbst, allen voran von Kardinal Ratzinger und Johannes Paul II. im Verbund mit Reagan und Co. Sowie später setzte sich die Diffamierung kirchenoffiziell fort, etwa durch die den Studienkreis „Kirche und Befreiung“, gegründet 1973, inszeniert von Bischof Franz Hengsbach, Essen, und Erzbischof Lopez Trujillo, Kolumbien, später Vatikan. Von Bischof Franz Hengsbach ist das skandalöse Wort überliefert: „Die sogenannte Theologie der Befreiung führt ins Nichts. In ihrer Konsequenz liegt der Kommunismus…“ (KNA, 13.5.1977). Der Erzbischof und spätere Kardinal Lopez Trujillo war in diesem Kreis zweifelsfrei einer der übelsten Hardliner des reaktionären Flügels der römischen Kirche. Er war als definitiver Feind der Befreiungstheologen ein Freund von Johannes Paul II. und,so wird berichtet, der Drogenmafia. Über seine privaten Leidenschaften hat der Pariser Soziologe Frédéric Martel geforscht, siehe sein Buch „Sodom“, 2019, dort die Recherchen zu Kardinal Lopez Trujillo, Seite 358 und bes. S. 365. LINK

14.Zur Wirkungsgeschichte

Hier wurde mit Nachdruck an den großen Inspirator der Befreiungstheologie Gustavo Gutiérrez erinnert. Aber, wie gesagt, gehören zur Befreiungstheologie viele andere TheologInnen, sie haben weitere Akzente gesetzt, etwa zum Feminismus oder zur Ökologie (wie etwa die letzten Bücher von Leonardo Boff), auch vorsichtige Ansätze einer schwul-lesbischen lateinamerikanischen Befreiungstheologie machen sich bemerkbar, siehe etwa die Studien von André Sidnei Musskopf, Brasilien. Und vor allem: Auch in Afrika und Asien haben sich eigene Formen der Befreiungstheologie entwickelt. In Europa müsste eine Befreiungstheologie eine Befreiung der Kirche aus dem Kapitalismus sein, aber zu einer solchen Theologie ist nur sehr marginal die Rede.

15.Kritisches zu Gutiérrez

Aber bei allem Respekt vor dem Werk von Gustavo Gutierrez: Er hat sich theologisch und kirchenpolitisch weit nach vorn gewagt, aber, offenbar um zu überleben in dieser Welt feindlicher Systeme, hat er sich auch nicht zu weit nach vorn gewagt: Ein treffendes Beispiel für die Ängstlichkeit vor der klerikalen Hierarchie ist sein Verhalten anlässlich eines Vortrages 1970 in Corodoba, Argentinien, für die Gruppe der „Priester für die die Dritte Welt“. Bei diesem Vortrag hatte sich Gutierrez die Anwesenheit des inzwischen mit einer Frau zusammenlebenden EX-Bischofs von Avellaneda, Jeronimo Podestá (1920-2000 ) ausdrücklich verbeten. Jeronimo Podestas Frau, Clelia Luro, hatte sich später noch einmal klagend wegen dieses Verhaltens an Gutierrez gewandt. Quelle: https://es.wikipedia.org/wiki/Gustavo_Guti%C3%A9rrez_(te%C3%B3logo)

Im Unterschied zu dem bedeutenden und für ökologische Fragen äußerst anregenden Befreiungstheologen Leonardo Boff aus Brasilien hat sich Gutiérrez eher selten über die unterdrückerischen Strukturen der hierarchisch verformten Katholischen Kirche geäußert. Vielleicht ließ man ihn deswegen im Vatikan weithin „in Ruhe“. Deswegen muss mit Nachdruck auf Boffs Buch „Kirche – Charisma und Macht“ empfehlend hingewiesen werden.

16.Der Freund, Kardinal Gerhard Ludwig Müller

Und merkwürdig erscheint auch die von Kardinal Gerhard Ludwig Müller (Regensburg-Vatikan) viel beschworene Freundschaft mit Gustavo Gutiérrez. Natürlich kann jeder mit jedem befreundet sein, warum nicht ein sehr Rechter und ein Linker? Für katholische Verhältnisse bleibt es aber erstaunlich, wenn ein theologisch bekanntermaßen sehr europäischer und sehr konservativer Theologe, also Müller, mit einem doch eher linken und Befreiungstheologen, befreundet sein könnte. Aber vielleicht hat diese Freundschaft Gutierrez vor Verfolgungen durch den Vatikan bewahrt…

Erstaunlich ist auch, dass Gutierrez im Alter von 72 Jahren (im Jahr 2001) dem Dominikanerorden beigetreten ist, ein ungewöhnlicher Vorgang; manche vermuten, dass die Spannungen mit dem reaktionären Opus-Dei – Kardinal von Lima, Juan Luis Cipriani, zu stark wurden, so dass sich Gutiérrez förmlich in den relativ selbständigen und aufgeschlossenen Orden der Dominikaner flüchtete.

17.Ein Kongress in Lima

Vom 25. bis 29.Oktober 2021 fand in Lima, Peru, ein internationaler Kongress statt, anlässlich von „50 Jahre „teología de la liberación“. Referenten aus Europa waren nicht dabei. Siehe, auch mit einem Statement von Gustavo Gutierrez: LINK

https://bcasas.org.pe/mensaje-de-gustavo-gutierrez-al-clausurar-seminario-internacional-sobre-teologia-de-la-liberacion/

18.Die Kirche in Deutschland hält sich ans Spenden. Nicht an die Kapitalismus – Kritik

Hat die lateinamerikanische Befreiungstheologie die römische Kirche zum Beispiel in Deutschland verändert? Schwer zu sagen, wie die indirekten Wirkungen aus Lektüre und Begegnungen zu bewerten sind. Aber das Verhältnis der Kirche in Deutschland etwa gegenüber Lateinamerika und seiner Kirche ist weiterhin vom Geist der Spenden, der begrenzten Hilfsbereitschaft und der marginal bleibenden Studien bestimmt. Die grundlegende Kritik an den Zusammenhängen von Ausbeutung (Europa) und Unterdrückung (Lateinamerika) wurden im Sinne der Befreiungstheologie auch in Deutschland artikuliert, aber die große Wende einer Parteinahme der ganzen Kirche in Deutschland für die globale Gerechtigkeit hat nicht stattgefunden. Die Kirche in Deutschland ist und bleibt ein Teil der reichen Welt, und verhält sich auch entsprechend in ihrer repräsentativen Selbstdarstellung. Die Art, katholische Kirche zu sein, bleibt eher unberührt von der Befreiungstheologie. Basisgemeinden finden in Deutschland kein Wohlgefallen in der Hierarchie, Kapitalismuskritik (etwa auch Kritik am Kirchensteuersystem) schon gar nicht. Man schämt sich als Kirchenführung nicht, über 6 Milliarden Kirchensteuer pro Jahr zu haben. Dabei erleben die Kirchenführer hilflos, wie die Katholiken zu Hunderttausenden aus dieser über Milliarden verfügenden Amts-Kirche austreten. Die offizielle Antwort der Kirchenführungen auf das Elend weltweit heißt: Spenden, Almosen geben. Diese sind natürlich angesichts des realen Elends nett, aber strukturell wirkungslos.

19.Auch in Lateinamerika jetzt eher marginal

Aber man mache sich auch keine Illusionen: Die Befreiungstheologie ist auch im lateinamerikanischen Katholizismus eher ein marginales Phänomen geworden. Die charismatischen Katholiken werden beliebter und offiziell propagiert, man schätzt eher das fromme Tralala und Alleluja-Singen, also letztlich das religiöse Opium, das für kurze Zeit Glücksmomente beschert in einer eigentlich hoffnungslosen Gesellschaft gravierender Ungerechtigkeit.

Der größte Skandal ist wohl, dass viele brasilianische Bischöfe Bolsonaro unterstützen. Ein angesehene Politiker,der wahrscheinlich künftige Präsident Luiz Inacio Lula, ist ein alter Freund der Befreiungstheologen. Er nennt Bolsonaro explizit „einen Verbrecher und Faschisten“. (Tagesspiegel, 16.11.2021). Und den unterstützen die Reichen Brasiliens, die man naiv „Eliten“ nennt.

20.Ein Hinweis zum Autor dieses Beitrags

Der Autor dieser kurzen Hinweise, Christian Modehn, hatte bereits im Juni 1973 in St. Augustin bei Bonn die erste große internationale Tagung in Deutschland über die Befreiungstheologie angeregt und mit-gestaltet, er war damals Theologiestudent innerhalb des Ordens „Gesellschaft vom göttlichen Wort“, SVD. Zum Tgungsbericht in Orientierung, Zürich: LINK. 1975 verfasste er eine erste kleine Einführung in die Befreiungstheologie „Der Gott, der befreit“, 1977 veröffentlichte er zusammen mit Karl Rahner SJ und Hans Zwiefelhofer SJ „Befreiende Theologie“, (Kohlhammer Verlag) als Sammelband mit Beiträgen u.a. von Jon Sobrino, Juan Carlos Scannone, Leonardo Boff, Michael Göpfert, Miguel Manzanera und anderen. Das Buch fand viel Interesse und die erste (und einzige) Auflage war schnell vergriffen. Vor allem Horst Goldstein (1939-2003) hat sich als einer der ersten als Übersetzer und Autor um die Rezeption der Befreiungstheologie in Deutschland verdient gemacht. Wichtig sind für den deutschen Sprachraum die zahlreichen, auch befreiungs-philosophischen Studien von Raul Fornet-Betancourt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon Berlin.de.