Gibt es „das“ Böse? Oder “nur”die bösen Menschen?

„Das Böse“ entsteht aus der Freiheit der Menschen.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Die These:
„Das Böse“ zeigt sich nur im Tun nicht-guter, oft inhumaner Taten durch den Menschen. Böses – Tun ist Ausdruck einer freien Tat des Menschen. Nur diese Analyse bringt Klarheit in der traditionellen komplexen Frage: Was ist „das“ Böse?
Die Antwort, kurz gefasst vorweg genommen: „Das“ Böse ist nur die Objektivierung nicht guter Taten freier Menschen.
Dazu folgen die Hinweise, die in einem Vortrag im Kreis „philosophisch Interessierter“ zur Diskussion gestellt wurden.
Diese Hinweise sind wichtig, weil wir überflutet werden von Beiträgen, im Film, in der Literatur usw., die einer Faszination für „das Böse“ Ausdruck geben. Dass der Krieg Putins gegen die Ukraine und die demokratische Welt ein Geschehen „des Bösen“ sei, wird allgemein naiv formuliert und oft behauptet. Dabei ist auch der böse Krieg Putins Ausdruck einer freien Entscheidung des russischen Herrschers und der Seinen. Wer nicht sieht, dass es einzig auf der Verständnis „der Bösen“ (der bösen Menschen) ankommt, klammert sich an stets verworrene, irritierende (Wahn)-Ideen und Vorstellungen von „der irgendwie und irgendwo  herumgeisternden, irgendwie alles bestimmenden Idee des Bösen“.

Einige Erläuterungen:

1.
Man spricht im Alltag von „dem Bösen“. Als ob es sich dabei um eine unsichtbare geistige Über-Macht handelt, eine mysteriöse Kraft, die immer wieder von sich aus willkürlich das Geschehen der Welt der Menschen bestimmt: Im Mord und Totschlag, im Betrug, in der maßlosen Gier, in Angriffskriegen, in der Missachtung der Menschenrechte, in diktatorischen Regimen, im fundamentalistisch-religiösen Wahn und so weiter: Menschen werden dann zu Instrumenten „DES Bösen“ und seiner Herrschaft.

2.
Welchen Erkenntnisgewinn bietet diese ewige Klage und das Jammern über die Herrschaft „DES Bösen“? Welche praktischen Konsequenzen werden dann gezogen?
Immer wird im Glauben an „DAS Böse“ eine bestimmte Gruppe, ein Volk, als Inkarnation „DES Bösen“ von den religiösen und politischen Herrschern festgelegt: Als böse Menschen werden sie fixiert und dann als „Träger DES Bösen zur Auslöschung freigegeben, etwa Juden, bestimmte „ungewöhnliche“ Frauen (Hexen), Homosexuelle, Ungläubige, Heiden… Sie werden von einer Gesellschaft, die „DAS Böse“ analytisch und kritisch gar nicht versteht, nicht analysieren kann und will, ausgegrenzt und getötet. In diesem üblichen Morden zur Überwindung „des“ Bösen zeigen sich aber keine greifbaren und dauerhaften Konsequenzen, keine Ansätze zur Überwindung „des Bösen“, „das“ Böse wird eher immer umfassender.

3.
Das Christentum, vor allem die katholische Kirche, hat als Ort der Überwindung „des Bösen“, kirchlich verstanden „der Sünde“, für den einzelnen Menschen den Beichtstuhl erfunden: Da werden wirkliche oder bloß der Beichtverpflichtung wegen erfundene „böse Taten“ dem Priester gestanden, mit ihm ultra-kurz besprochen, dann bereut, etwas Buße wird geleistet („Drei Vater Unser beten“)… und.. das war es dann auch. Eine tiefere Erklärung der Wirklichkeit „des Bösen“ im Menschen blieb aus: Mit „dem Bösen“ muss man also leben, man kann ja immer wieder beichten und die Belastungen durch „das“ Böses-Tun sozusagen himmlisch mit Gott (durch das Priesters Vermittlung!) verhandeln, alles spielt sich auf einer rein geistigen, man könnte sagen „metaphysischen Ebene“ ab.
Im kirchlichen Leben wird theologisch der Kampf des einzelnen Individuums gegen „das Böse“ als geistige, spirituelle Auseinandersetzung eingegrenzt. Hingegen: Im politischen und religiösen, auf Macht besessenen Denken der Hierarchen wird „das Böse“ dann doch mit Gewalt politisch bekämpft, weil die Herrscher zu wissen meinen, wer die bösen Feinde des eigenen Staates oder der eigenen Kirche sind. Die Feinde der Herrschaft werden zu Inkarnationen „des Bösen“ erklärt.

4.
Die Hilflosigkeit der offiziellen (katholischen und orthodoxen) Kirche im Verständnis „des“ Bösen zeigt sich im Glauben dieser Kirche an den Teufel.
Der Kampf gegen den Teufel wurde wichtiges Ereignis in der christlichen Moral: Man soll dem Teufel widerstehen, dem Verführer, dem Lügner, heißt es. Alle klassische kirchliche Moraldoktrin lebt von diesen geistigen Kampf gegen den Teufel, dabei ist er nichts als eine imaginäre Gestalt.

Zum Profil des Teufels: Es gilt als der Herr der Lüge, der Herr der (sexuellen) Verführung, die Macht, die zu den Todsünden verleitet. Aber es wird übersehen: Auch die Todsünden, etwa die Gier bzw. die Habsucht, haben immer auch konkrete menschliche Gesichter: Zum Beispiel: Völlig vom Egoismus beherrschte Milliardäre und Multimillionäre, denen der Zustand der Welt und das Allgemeinwohl völlig egal ist. Oder: Autokraten, Diktatoren, Folterknechte, Kriegstreiber, auch ideologisch-theologische Kriegstreiber, wie der Patriarch Kyrill von Moskau, der als Putin Freund und KGB Mann unbedingt Mitglied im Weltrat der Kirchen (Genf) bleiben soll.
Erst wenn diese Leute als konkrete Übeltäter, Verbrecher, benannt werden, kann eine politische Auseinandersetzung beginnen und eine Überwindung der bösen Taten und Haltungen.
Diese Überwindung „des Bösen“ läuft darauf hinaus, durch demokratische Gesetze zum Beispiel das maßlose Eigentum dieser von Gier beherrschten Herren zu begrenzen. Dieser politische Umgang mit „DEN Bösen“ (also bösen Menschen) ist etwas anderes als die Praxis der klassischen Theologie, die den Teufel nur herbeizitiert. Dies ist auch etwas anderes als das viel besprochene „Mysterium der Bosheit und des Bösen“, um die teuflische Gier oder Habsucht zu benennen. Dieser Appell an das Mysterium zu glauben, ist nur eine Art Denkverbot, eine Erstarrung vor dem Nicht Guten, das man Böses nennt. Der Hinweis auf das Mysterium des Bösen soll irgendwie durch religiöse Praktiken den Teufel einschränken, durch geistliche Buß – Übungen und Gebete etwa.
Wer das Böses – Tun zum Mysterium erklärt, gleitet ab ins Diffuse, Neblig-Trübe, in dem keine Klarheit des Denkens mehr möglich ist.

5.
Die entscheidende Frage ist: Gibt es denn eine sichtbare Realität, die diesen abstrakten „metaphysischen“, rein geistigen Oberbegriff ,„das Böse“ , anschaulich, greifbar und dadurch tatsächlich überwindbar macht? Das ist nicht der Fall. Es gibt nicht „das Böse“ als eine eigenständige metaphysische Wirklichkeit.
Die einzig weiterführende Frage also heißt: Sind die genannten Phänomene „DES Bösen“ nicht immer nur als sichtbare Taten konkreter Menschen zu verstehen, als Taten der Freiheit? Diese Taten werden real durch eine innere Reflexion m Menschen, im Nachdenken, in der Auseinandersetzung mit einer unabweisbaren Stimme im Gewissen, die auffordert, den Normen des Guten zu entsprechen. Alle Taten des Menschen, auch die Taten, die der Humanität widersprechen, objektivieren sich in der Gesellschaft, im Staat, in den Religionen. Sie verfestigen sich also wie alle anderen geistigen Taten der Menschen strukturell. Eine böse Welt als Resultat freier Entscheidungen wird so erlebbar, siehe den Krieg Putins gegen die Ukraine und die demokratische Welt. Bewusst geförderte Hungerkatastrophen, soziale Ausgrenzung, Sklaverei, Menschenhandel usw. sind Ausdruck von freien Entscheidungen der Menschen gegen das Humane, gegen das Gute.
Man sollte also nur von den Bösen, also von den bösen Menschen, sprechen. Dabei aber nicht in ein “Schwarz-Weiß-Denkschema” geraten, als wären nur die extrem Bösen wirklich böse. Alle Menschen haben die Fähigkeit und Freiheit böse zu sein, böse zu handeln. Nur einige Schwerstverbrecher, oft Diktatoren, sind aber Inbegriff  “der bösen Menschen”:

6.
Mit dieser Konkretisierung der bösen Taten der Menschen wird nicht eine Hexenjagd auf böse Menschen eröffnet. Hexenjagden gab und gibt es, wie oben gezeigt, wenn man „das Böse“ in einer nur ideellen, metaphysischen Weise auffasst und dann je nach Herrscherlaune einzelne Gruppen für negative Erscheinungen (Krieg, Hungersnöte…) verantwortlich machte.
Dabei gibt es Abstufungen des Böses-Tuns: Wer ein Pfund Äpfel stiehlt und dadurch den Händler etwas schädigt, ist auf andere Weise böse als ein Hitler oder Stalin … oder jetzt aktuelle Kriegstreiber.
Wer das Böse versteht als Tat der Bösen eröffnet keine Hexenjagd, weil in diesem Verständnis, die Täter des Bösen nach demokratischen Gesetzen bestraft und entsprechend resozialisiert werden.
Wer also die Frage nach „dem” Bösen zur Frage nach den bösen Menschen umgestaltet, respektiert die demokratischen und hoffentlich gerechten Gesetze der Demokratie zur Überwindung „des“ Bösen.
Wer auf diese Weise „das“ Böse versteht, weiß aber auch: Jeder Mensch handelt in seiner Freiheit auf die eine oder andere Art, mit Abstufungen also, gegen die Normen der Humanität.

7.
Schwieriger wird es, wenn demokratische Staaten, den Menschenrechten verpflichtet, sich mit Diktatoren und Kriegstreibern in der näheren oder weiteren Nachbarschaft auseinandersetzen müssen. Da hilft die Erkenntnis: Kriegstreiber müssen mit Mitteln der Demokratie bekämpft, das heißt in ihrem Tun des Bösen (im Krieg) eingeschränkt und auch schlimmstenfalls mit Waffen der Verteidigung im Angriffskrieg entmachtet werden. Dabei ist es für die Demokratien in der näheren und weiteren Nachbarschaft dieser Diktaturen entscheidend, schon bei den ersten Anzeichen der verbrecherischen Taten dieser Leute zu handeln und diese zu isolieren, zu bestrafen usw. Widerstand hat nur Sinn, wenn er rechtzeitig und früh geschieht.
Nebenbei: Leider haben gute Widerstandskämpfer manchmal Pech: Der Nazi-Gegner Johann Georg Elser war viel reflektierter und mutiger als die späteren adeligen Widerstandskämpfer von 1944: Elser hatte am 8. November 1939 einen umfassenden Sprengstoffanschlag auf Hitler im Bürgerbräukeller in München vorbereitet, der Anschlag scheiterte leider, weil Hitler und die Seinen 13 Minuten vor der Explosion der Bombe das Gebäude verließen.

8.
Muss man noch – förmlich als Illustration des philosophischen Hintergrundes – an elementare Erkenntnisse erinnern?
Zentral ist die Erfahrung der Normen des Humanen in jedem Menschen!
Im Erleben des Menschen gibt es die Einsicht: Ich habe Böses getan. Oder auch: Ich nehme wahr: Der andere hat Böses getan, ganze Gruppen, ein Volk, haben Böses getan. Es gibt also unabweisbar im Bewusstsein der Menschen (sofern sie nicht unter physischen Störungen ihrer Gehirnfunktion leiden) das Bewusstsein von den elementaren Normen der Humanität. Es gibt das faktisch sich im Gewissen zeigende Wissen: Es gibt moralische Grenzen des eigenen Handelns, es gibt ungeschriebene Gebote und Gesetze zu dem, was ich nicht tun darf, und was kein Mensch tun sollte.
Solche Einsichten des absolut Verwerflichen sind tatsächlich universal und nicht nur auf einen europäischen Kulturkreis begrenzt: Kein Mensch würde es normal und richtig und gut finden, wenn Kinder die eigene Mutter töten … aus bloßer Lust am Töten. Kein Mensch, nirgendwo, würde es normal finden, wenn Menschen sich an einem Tisch satt essen und schlemmen und direkt in Sichtweite Hungernde sitzen und im Laufe der Mahlzeit vor den Augen der Schlemmenden unter Schmerzen sterben. Diese Situation ist in gewisser Weise real, auch wenn einige hundert Kilometer zwischen Berlin und dem Südsudan oder dem Süden von Madagasca liegen. Weitere Beispiele, dass es „evident Verwerfliches“ gibt, kann jeder und jede leicht finden.

9.
Die Korrektur im Verständnis „des“ Bösen führt also zu einer Analyse der bösen Menschen. Sie befreit von verworrenen Denken, das leicht ins Phantasieren abgleitet. Die Klimakatastrophe ist Ergebnis von freien Entscheidungen bestimmter, dem Namen nach bekannter Unternehmen, nur an Karriere denkender Politiker und sehr vieler „einfacher Bürger” vor allem in der reichen Welt. Es sind die Chefs gieriger internationaler Firmen, die auf der Suche nach Gold etwa die Nebenflüsse des Amazonas verseuchen und das Wasser für die armselig dort lebenden Bewohner ungenießbar machen. Da zeigt sich nicht „das Böse“, sondern da handeln bestimmte böse Menschen, die die Weltgemeinschaft und die Staaten zur Rechenschaft ziehen müsste. Aber der Amazonas ist weit entfernt, was interessieren uns die „Indianer“ in den Urwäldern in Peru. Sehr oft sind es noch die dort lebenden katholischen Gruppen, katholischen Priester und Ordensleute, die am Amazonas den aussichtslosen Kampf gegen die bösen multinationalen Industriellen des Nordens (Europa, Kanada, USA, China usw.) führen und dabei ihr Leben riskieren.

10.

Der Kampf gegen das Böse als ein Kampf gegen die extrem Bösen bedeutet: Die ethische Bildung aller Menschen zu fördern, die Erkenntnis und das Erleben des Gewissens zu bilden. Kant sagt: Es geht im Kampf gegen „das“ Böse um den praktischen Respekt des Kategorischen Imperativs. Wer es etwas schlichter will: Es geht um den Respekt der „goldenen Regel“, die von allen großen Religionen gelehrt, aber von ihnen selbst selten respektiert wird.
Kategorischer Imperativ und „goldene Regel“ erschließen sich nur im Nachdenken eines jeden Menschen, in der Entwicklung der eigenen kritischen Urteilskraft, die zur Basis humanen Lebens gehört.
Philosophie muss an solche elementaren Erkenntnisse erinnern, die alles andere als „Sonntagsreden“ sind.

11.
Hören wir also auf, vom „dem Bösen“ als einer mysteriösen Realität zu sprechen. Wenden wir uns der Analyse und Kritik DER Bösen zu. Das könnte diese zerstörte Welt etwas menschlicher machen. Man könnte sie besser verstehen, und die politische Aktivität wäre nicht erstickt vor der Angst vor “DEM” Bösen.  Es geht um den Kampf gegen extrem böse Menschen. Maßstab bleiben die universell geltenden Menschenrechte.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Gibt es „das“ Böse“? Oder nur „den bösen Menschen“?

Für einen differenzierten Umgang mit „dem moralisch Bösen“.

Ein Hinweis als Diskussionsbeitrag von Christian Modehn.

1.

Es gibt Taten: Folter, Mord, Totschlag und Erschießen Unschuldiger im Krieg, also Taten, die von jedem Menschen verurteilt und bekämpft werden, von Menschen, die sich ihre Menschlichkeit bewahrt haben und ihrem Gewissen entsprechen.
In solcher theoretischen wie praktischen Zurückweisung von Folter, Mord, Totschlag, Erschießen Unschuldiger im Krieg usw. stellt sich, spontan, wie von selbst, bei Menschen mit Gewissen die Erkenntnis ein: Diese Taten sind böse. Sie dürfen nicht sein, sie sollen deswegen verhindert/beendet werden und sie müssen bestraft werden.

2.

Bestimmte Taten bestimmter Menschen, also der Mörder, der hemmungslos mordenden Soldaten, der Politiker und Generäle, die vom sicheren Schreibtisch aus das Morden befehlen, werden von der Vernunft und dem mit ihr korrespondieren Gewissen als böse bewertet: “Diese Taten darf es unter Menschen nicht geben“.
Und genau so wichtig ist die evidente Erkenntnis: Es sind Menschen, Täter, Mörder, die, fast umfassend bestimmt von böser Gesinnung und wegen ihrer freien Entscheidung fürs Böse, als böse Menschen bewertet werden.

3.

Es ist nicht so, dass man, wie so oft in der theologischen und philosophischen Tradition, annehmen muss: Angesichts böser Taten böser Menschen sollte man zuerst und vor allem von „dem Bösen“ sprechen. Dabei wird „das Böse“ als eine objektiv bestehende Macht angenommen, die sozusagen als solche für sich – als „Idee“ etwa – existiert und die dann bei bestimmten Menschen sichtbar wird und sich spürbar durchsetzt. Die Täter werden in diesem traditionellen Denkmodell zu Leuten, die dieses Böse als eine objektive Idee verwirklichen und sichtbar in die Welt setzen.

4.
Einen treffenden Ausdruck für diese traditionelle These bietet die immer noch bestehende Praxis des katholische Exorzismus: Dabei versucht ein speziell ausgebildeter Priester als Teufels-Spezialist durch verschiedene Gebete und Riten, einen Menschen von der (angeblichen) Gewalt des Teufels zu befreien. Der Teufel wird dann als die objektive Macht des Bösen angesehen: Der Teufel bzw. das Böse habe von dem Menschen Besitz ergriffen. Und diese objektive Macht kann durch die Kraft Gottes, vermittelt durch den Priester, aus dem Menschen vertrieben werden.

5.

Ein anderes Beispiel für die traditionelle Bewertung „des Bösen“: Der Theologe Kardinal Karl Lehmann hat auf dem Ökumenischen Kirchentag 2001 in Berlin einen sehr umfangreichen Vortrag gehalten zum Thema: „Ratlos vor dem Bösen?“ Und er begann, selbstverständlich für einen Theologen, sogleich von dem „Geheimnis des Bösen“ zu sprechen, er sprach am Anfang sogar von dem „fast undurchdringlichen Geheimnis des Bösen“, er sprach davon, „das das Böse sich gerne in seinem eigenen Ursprung verbirgt“ usw.
Also: „DAS Böse“ wurde und wird noch immer von vornherein als eine ideelle Realität angenommen, als ein metaphysisches Prinzip, das ins Menschenleben förmlich inkarniert ist.
Nicht der böse Mensch wird dann analysiert, sondern es geht um die metaphysische Frage: Wie kann Gott dieses Prinzip, „das Böse“ , neben sich als dem Allmächtigen zulassen? Ist Gott selbst vielleicht irgendwie auch „ein bißchen böse“ mit einem bösen „Neben-Gott“? Genau dies sind konsequenterweise die Themen, die der traditionell gelehrte Kardinal Lehmann dann „abhandelt“. Aber zur Klärung, der Frage: Wie umgehen mit den sichtbaren und spürbaren bösen Taten böser Menschen (!) und den sich festsetzenden bösen Mentalitäten und Strukturen, findet sich in dieser metaphysischem Spekulation nichts.
Diese traditionelle Reflexion hat für die bösen Täter nur den „Vorteil“, dass sie als solche theologisch und philosophisch gar nicht angeklagt und gegebenenfalls ausgeschaltet werden müssen. Es ist ja „das Böse“, diese „Idee,“ die in den Menschen waltet! „DAS Böse“ muss, wie auch immer, bekämpft werden, also in diesem traditionellen Denken nicht der Böse oder die Böse. Aber „DAS Böse“ zu bekämpfen, ist schon aufrgrund der Allgemeinheit und Unbestimmtheit zum Scheitern bestimmt. Trotzdem wird theologisch davon immer nich geplaudert, wenn das Böse in dieser Optik bekämpft wird, dann nach kirchlicher Vorstellung geistig, spirituell, vor allem sakramental, durch Taufe, Beichte, Kommunion.

Auch die alte theologische Ideologie der Erbsünde muss in dem Zusammenhang genannt werden, also die so genannte totale Verfallenheit aller Menschen seit Anbeginn in einen sündigen Zustand. Die Erbsünde wurde in diesem Mythos von Gott als Strafe verhängt, als die ersten Menschen im Paradies sündigten. Das ist ein Mythos, der keinerlei vernünftige Aufklärung zum Thema Böses erschließt. Man sollte ihn beiseite legen, er hat viel Unsinn bewirkt und seelisches Leiden erzeugt: Etwa: Diese Erbsünde werde in der sexuellen Begegnung und Zeugung/Empfängnis übertragen, so die offizielle Lehre der katholischen Kirche bis heute. Daran wird festgehalten, nur weil dieser heilige Greis Augustinus (gestorben 430) dies einmal gesagt und mit aller Gewalt durchgesetzt hat…Er wollte damit die Kirche und den Klerus als Macht stärken, denn nur der Klerus der Kirche kann die Taufe spenden, die von der Erbsünde befreit…

6.

Der Kampf gegen „das Böse“ wird also für die klassische Reflexion nur metaphysisch, nur religiös, geführt. Entsprechend versteht die Kirche die Bitte, an Gott gewandt, im „Vater Unser“ (Matthäus Evangelium, Kap. 6, 13): “Erlöse uns von dem Bösen“ als Bitte, von der wirksamen Idee und metaphysischen Realität DES (sachlich verstandenen) Bösen erlöst zu werden. Dabei ist diese Deutung einseitig! Auf Altgriechisch heißt es:
ἀλλὰ ῥῦσαι ἡμᾶς ἀπὸ τοῦ πονηροῦ.
O πονηρós bedeutet zweierlei: Die schlechte Eigenschaft von Dingen UND auch die moralisch schlechte, nichtswürdige, boshafte Person. Darum sollte man im Gebet „Vater Unser“ diese Bitte auch so verstehen: Erlöse uns von der bösen und nichtswürdigen Person, etwa dem Diktator, dem Henker, dem Mörder, dem Krieger. So würde Beten politisch analytisch präzise… Nebenbei: Die Bitte „Erlöse uns von dem Bösen“ fehlt in der Überlieferung des „Vater Unser“ im Lukas-Evangelium!

7.

Ich plädiere also dafür, anstelle von „Das Böse“ im ideellen, metaphysischen Sinn nun vor allem und vermehrt DEN und DIE bösen Menschen zu reflektieren und zu analysieren.
Dabei wird nicht geleugnet, dass jeder Mensch in einzelnen seiner Taten auch böse ist, aber diese alltägliche Boshaftigkeit ist etwas anderes als die grausame Tat, wie das(Kriegs-) Verbrechen usw.
Der Philosoph Martin Seel hat in seinem empfehlenswerten Buch „111 Tugenden – 111 Laster“ (Frankfurt M. 2012) gezeigt, dass alle von ihm vorgestellten Tugenden auch zu Lastern werden können und ebenso alle Laster auch zu Tugenden werden können. In diesem “Hin und Her” zwischen Tugend und Laster bewegen sich die Menschen.

Nur ein Laster wird nie eine Tugend: Die Grausamkeit (S. 30-31). „Der Grausame nimmt die Schmerzen seines Gegenüber nicht wahr, oder sie sind ihm gleich – oder er ergötzt sich daran… Er sieht nur sich und seine Begierden und Ideale: Eine Extremform der Egomanie und Bösartigkeit, von der auch staatliche wie nichtstaatliche Vereinigungen befallen sein können…Wer anderen gegenüber habituell grausam ist, ist es zugleich gegen sich selbst. Der Grausame muss eine Härte auch sich selbst gegenüber entwickeln, mit der er die eigenen Regungen under Zartheit und des Mitleids, der zugestandenen Unsicherheit und Schwäche unterdrückt…Sein Tun ist nicht einmal zu seinem Guten“ (S. 31). Hanna Arendt sagt in ihren Vorlesungen “Über das Böse” (München 2015, Seite 42) zum Sadismus als dem Tun des Bösen um des Bösen willen: “Sadismus ist das Laster aller Laster”.

8.

Jeder und jede wird bei diesen Sätzen zu den grausamen Bösen (Sadisten) konkrete Leute nennen, nicht nur Hitler oder Stalin usw., sicher heute auch die jetzige Clique der Führer in der russischen Diktatur. Und man wird sich in dem Zusammenhang fragen, ob die Politiker in Europa, vor allem in Deutschland, die geistige und moralische Kraft hatten, die Bösen (Menschen, Politiker) als solche, etwa in Russland, RECHTZEITIG zu erkennen.

Mit anderen Worten: Wer sich vor allem für DAS Böse als Idee usw. interessiert, übersieht DEN Bösen.

9.

Wer das Böse bekämpfen und überwinden will, muss also konkret den Bösen oder die Bösen verstehen, beim Namen nennen, bekämpfen und überwinden. Wer hingegen auf „DAS Böse“ fixiert bleibt, kann nur noch beten, dass das Böse, das Übel, der Teufel usw. bitte wieder verschwinden.

Wer nur „das Böse“ bekämpfen will, weigert sich, bewusst oder unbewusst, sich auf das politische Analysieren und das politische Handeln einzulassen. Nur dann wird außer Kraft gesetzt das „metaphysische Jammern“, das sich bekanntlich so äußert: „Das Böse hat sich wieder durchgesetzt“. Oder: „Gott hat uns verlassen“, „Die Apokalypse beginnt“, „Der Teufel und der Antichrist beginnen ihre Weltherrschaft“. Gegen solche diffusen Objektivierungen im Erleben böser Taten gilt es zu argumentieren. Sie verhindern den klaren Blick, und der gilt der deutlichen Analyse der bösen Tat eines bösen Menschen.

10.

Zur Erklärung und Vertiefung sollte man sich auf die Erkenntnisse von Immanuel Kant beziehen. Hier nur einige Grundlinien zu dem von Kant selbst als sehr komplex, als sehr schwierig verstandenen Thema „das Böse“.
Für Kant gilt: „Sittlich böse ist nur, was unsere eigene Tat ist“.
Der Ursprung des „Böses Tun“ zeigt sich in der Analyse der menschlichen Freiheit und der aus ihr folgenden Handlung. Es gibt für Kant keinen Naturtrieb im Menschen, böse zu sein.

Das Böses-Tun folgt vielmehr einer Maxime, die sich jemand frei wählt, also einen eigenen, bloß subjektiven Grundsatz, um dann von der allgemeinen Sittlichkeit abzuweichen. Der böse Mensch kennt also die moralischen Gesetze, die zum Guten aufrufen im Gewissen, aber setzt sich in freier Tat von diesen Grundsätzen ab und folgt seinen eigenen bösen Maximen. Dieser Mensch glaubt, für sich selbst Ausnahmen gelten zu lassen hinsichtlich der absoluten Gültigkeit des moralischen Gesetzes. Dieser Mensch, betont Kant, belügt sich selbst. Dabei bietet der kategorische Imperativ eine Art Kompass, der die Entscheidung erleichtert, was gut und was böse ist.

Das Setzen böser Maximen durch die Menschen ist für Kant nicht das Sich-Durchsetzen eines dem Menschen schon bereits vorgegebenen bösen Zustandes. Vielmehr: Das Setzen böser Maximen ist ein Gebrauch der Freiheit.

Aber wer sich für böse Maximen entschieden hat, also dann auch böse handelt und Böses in die Welt setzt, hat für Kant aber noch das Erlebnis einer Pflicht, die ihn aufruft, sich zu bessern. Diese Veränderung der Denkungsart des bösen Menschen ist so umfassend, dass sie Kant eine „REVOLUTION der Denkungsart“ nennt. Diese Änderung entspricht, so wörtlich, der „Heiligkeit der Pflicht“, die fordert, dem Gewissensspruch zu entsprechen. Wer guten Maximen folgt, also dem universalen moralischen Gesetz folgt, lebt als eine Art „neuer Mensch“ dann im Reich der Tugend, und dieses Reich ist so etwas wie das Reich Gottes auf Erden.

Es gibt für Kant also keine böse Natur des Menschen, der Mensch ist für Kant nicht wesentlich, nicht vom Wesen her böse, wie bestimmte (vor allem klassisch-protestantische) Theologen in Treue zu Augustinus aus dem 5. Jahrhundert noch heute sagen.

Es gibt aber für Kant im Menschen einen „Hang“ zur Annahme böser Maximen, einen Hang, nicht moralischen Maximen zu folgen.

11.

Diese Erkenntnisse hat Hannah Arendt vertieft, etwa auch in der genannten Vorlesung aus dem Jahr 1965 “Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik”. Sie legt allen Nachdruck darauf, dass jeder Mensch zum Gespräch mit sich selbst (auch Reflexion genannt) in der Lage ist. In diesem prüfenden Gespräch des Menschen mit seinem eigenen Denken und seinem Tun erlebt der Mensch, wie ihm der eigene Geist, die Vernunft, die Möglichkeit der guten und der bösen Entscheidung freilegt. “Das moralische Gesetz in mir (von dem Kant spricht) erhebt meinen menschlichen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit , in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwwelt unabhängiges Leben offenbart” (ein Zitat, das Arendt auf S. 35 f des genannten Buches bietet, es stammt von Kant selbst aus seiner “Kritik der praktischen Vernunft”, A 289).

Hannah Arendt legt allen Nachdruck darauf, dass das, was Gewissen genannt wird, heute als Bewusstsein seiner selbst verstanden werden sollte, als “die Fähigkeit, mit deren Hilfe wir uns selbst kennen und wahrnehmen” (S. 49). Nur wer zum Gespräch mit sich selbst bereit ist, hat die Chance, Gutes zu tun... “Die größten Übeltäter sind jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten” (S. 77). Die schlimmsten Typen sind also “die gedankenlosen Kreaturen” (S. 76). Wer total zum Bösen abgedriftet ist, realisiert das “wurzellose Böse, dann  gibt es keine Person mehr, der man je vergeben könnte” (S. 78).

12.

Zurück zu Kant: Dies sind die Perspektiven, die Kant eröffnet: Der Mensch kann sich in seiner Freiheit entscheiden, er kann gegen sein Gewissen handeln und Böses tun, also etwa aus politischen und wirtschaftlichen Interessen Mord und Totschlag freiwillig begehen. Mit diesem Denken, das als Denken dem verbrecherischen Handeln vorausgeht, wird ein Mensch durch seine Entscheidung ein böser Mensch. Hier ist die Rede von Menschen, die zu einer eigenen Reflexion und zur eigenen freien Entscheidung in der Lage sind, das sind wohl die meisten. Nicht gemeint sind Mörder, die aufgrund einer physischen Abartigkeit etwa ihres Gehirns, zu einem zwanghaften bösen Tun getrieben sind.

13.

Das Handeln in Freiheit hat naturgemäß immer persönliche und genauso auch gesellschaftliche Voraussetzungen. Wenn etwa die Geld-Gier oberste Norm für viele Menschen in der Gesellschaft ist oder der Nationalismus und die Sehnsucht nach dem allmächtigen, starken Staat, dann kann der einzelne sich nur mit Mühe diesem Trend entziehen… und nur mit Mühe moralisch gut leben. Man denke etwa an das Eingebundenen der meisten Menschen in die kapitalistische und neoliberale „Ordnung“, an deren Verheißungen in der total gewordenen Werbung und dem Konsumismus. Unter diesen Bedingungen nicht gierig und böse zu werden, ist schwer und gelingt in alternativen Gruppen.
Diese Gewöhnung an das Böses-Tun kann so stark werden, dass für den Täter bzw. die Täter keine Umkehr zur Vernunft und Menschlichkeit möglich erscheint. Im individuellen Bereich werden solche Täter in Rechtsstaaten bestraft und eingesperrt, in der Politik muss der Rechtsstaat im äußersten Fall diese Leute isolieren und ausschalten.
Dabei steht auch fest: Wer Mörder bestraft oder mörderische Politiker ausschaltet, ist als freier Mensch auch selbst immer gefährdet, seine eigene Freiheit zu missbrauchen. Es gibt also nicht einerseits “den Bösen“ und „den Guten“ auf der anderen Seite. Wer aktuell Böse bestraft, war vielleicht selbst einmal böse oder wird böse.

14.

Wer über Böses nachdenkt, sollte den Menschen analysieren und nicht in ideelle metaphysische Welten ausweichen. Diese vernebeln nur die Klarheit im Verstehen oder sie führen zu Ausreden und Entschuldigungen, etwa: „Nicht ich war schuld am Böses-Tun, es war der Teufel, die Erbsünde, die Partei, die Kirche usw., die mich zur Tat angetrieben hat“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

„Der Mensch ist böse und Gott hat ihn geschaffen“. Thesen im Rückblick auf den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 26.10.2016

Von Christian Modehn

Notiert am 9. November 2016: Entscheidend bleibt die Erkenntnis von Hannah Arendt: Böses entsteht, wenn Menschen nicht mehr die Kraft und den Willen haben, selbstkitisch nachzudenken, wenn sie weithin gedankenlos handeln. Und unverzichtbar bleibt, selbst wenn es manchmal zu “spät” ist, die fundamentale Erkenntnis Kants, die auch im Politischen gilt: Wenn sich die Maximen des einzelnen und ganzer  großer Gesellschaftsgruppen vom dummen Egoismus bzw., was prinzipiell dasselbe ist, sich vom ebenso dummen Nationalismus bestimmen lassen  und nicht mehr in Übereinstimmung mit dem kategorischen Imperativ handeln, entsteht Böses.

Über „das Böse“ nachzudenken: Da bleiben mehr Fragen als Antworten. Aber Fragen führen weiter. Antworten, etwa religiöser Traditionen, fixieren auf eine bestimmte Weise zu denken. Entscheidend ist die Frage:

„Gibt es“ „das Böse“ überhaupt ? Das Böse verstanden als dingliche Gegebenheit, als Macht und Kraft, vielleicht sogar irgendwie als „Subjekt“, wie ein Teufel und böser Dämon?

Sicher „gibt es“ für kritische Erkenntnis nicht dieses greifbare und verfügbare und umfassend erkennbare Böse verdinglichter Art. Den Menschen fällt es leicht, diese Verdinglichung, „das Böse“, vorzunehmen und es dann zu beschwören in Riten usw., die den klaren Verstand gerade aber ausschalten. Insofern wird dann oft noch mehr Böses befördert. Man spricht, um der schnellen Verständigung willen, auch in philosophischen Büchern, von „dem Bösen“. Denkt aber dabei nicht an eine dinghafte oder „personale“ Gegebenheit. „Das Böse“ ist also lediglich eine begriffliche Hilfskonstruktion. „Den Teufel“ sollte man vernünftigerweise längst aus dem Denken und der furchtbaren religiösen Praxis vertrieben haben (Teufelaustreibungen gibt es bis heute im Katholizismus und eine Schande fürs Christentum: Die Verteufelungen etwa von Frauen, Hexen usw.).

Das Böse ist also nur ein Begriff, der wie eine abstrakte Idee dann verwendet wird, wenn Menschen so handeln, dass sie in ihrem Gewissen, dem „moralischen Gesetz“ (Kant), wissen: Diese meine Handlung war nicht gut, sie beschädigt mich und andere. Diese meine Handlung ist also böse.

Das Wort böse hat eigentlich nur Sinn, wenn man es auf Handlungen aus Freiheit bezieht. Darin zeigen sich dann unterschiedliche Aspekte des Tuns des Bösen.

In einer philosophischen Reflexion über das Böse, die auch das Religiöse einbeziehen will, muss an die Schöpfung der Welt und den Sündenfall erinnert werden. Im ersten Kapitel der hebräischen Bibel, Altes Testament genannt, ist davon die Rede. Die beiden dort erzählten Mythen sind sicher die am meisten besprochenen und am meisten künstlerisch gestalteten: Nur ein Beispiel: Lucas Cranach der Ältere und der Jüngere haben schätzungsweise 50 mal dieses hübsche Thema des fast nackten Paares in kürzester Zeit gemalt. Wer hat diese Gemälde bestellt, und warum gewollt gerade in der Reformationszeit?

Dieser Mythos enthält viele bedenkenswerte Elemente, die bis heute in den Köpfen sich festgesetzt haben: Das Paradies, die verführerische Schlange, sozusagen ein erstes Bild des Teufels, der Glaube an Teufel und Hexen hat letztlich in der verführerischen Schlange ein gewisses Urbild. Durch den Ungehorsam Evas und Adams haben die beiden Menschen Erkenntnis gewonnen, sie erkannten einander als sexuelle Wesen. Aber Gott hat den Ungehorsam bestraft. Ohne Ungehorsam keine Erkenntnis, könnte man denken. Im Alten Testament ist als göttliche Strafe nur die Rede von der Notwendigkeit zu arbeiten für den Mann; und für die Frau, dass sie Kinder nur unter Schmerzen zur Welt bringen kann. Dass sie aus Adams Rippe stammt, also dem Mann unterlegen und von ihm abhängig ist und untertan, das haben die alten Theologen nicht als Übel betrachtet. Das war offenbar normal. Paulus ist in seinem Römerbrief der Überzeugung, dass „der Tod durch die Sünde des einen Menschen, Adam, in die Welt gekommen ist“ (Kap. 5, 12). Die Sterblichkeit der Menschen ist also eine Strafe für die Sünde im Paradies, die dann später als Erbsünde (schon durch Paulus) gedeutet wird.

Philosophen haben sich von der unmittelbaren Lektüre des Mythos gelöst und auf einige Unstimmigkeiten in den Erzählungen aufmerksam gemacht.

Ich nenne hier nur den Philosophen Pierre Bayle, einen Protestanten aus Frankreich, der sich unter Ludwig XIV. nach Holland, nach Rotterdam, retten konnte und dort u.a. ein umfassendes und viel gelesenes Dictionnaire, eine Art Lexikon, verfasste. Darin geht es um die zentrale Frage, damals, um 1690, genauso aktuell wie heute:

Wenn man annimmt, Gott habe die Welt und die Menschen geschaffen: Dann stellt sich die Frage: Wie ist es dann möglich, dass Gott, wenn er denn Gott ist, also allmächtig und gütig, es zulassen kann, dass in seiner Schöpfung die Menschen, als seine Geschöpfe, moralisch Böses tun? In dieser Reflexion wird Gott sozusagen zum verfügbaren Gegenstand für die Reflexion. Die Sache wird komplizierter: Wer aber hat denn die Freiheit geschaffen? Ist es nicht Gott gewesen, der den Menschen als Menschen, also als freies Wesen mit Vernunft, geschaffen hat? Ist also Gott nicht nur unweise und unallmächtig, also ohnmächtig, zu nennen, sondern auch unfähig, weil er den Menschen mit der Freiheit ausgestattet hat, eben auch Böses zu tun. Ist die Freiheit selbst also etwas Böses, heißt die Frage, die dann viele umtreibt. Die Spekulation reicht noch weiter: Oder versteckt sich hinter dem offenbar böse agierenden Gott noch der eigentliche Gott, der diesen bösen Gott als Gegner sich gegenüber sieht. Aber durch diese Verdoppelung Gottes wird das Problem nur verschoben.

Die Erbsündenlehre interpretiert den genannten biblischen Mythos. Die Erbsündenlehre wurde im 4. Jahrhundert als eine bis heute allmächtige Kirchenlehre erfunden, um irgendwie theoretisch zu klären, warum denn alle Menschen irgendwie immer Böses tun. Diese universale Dimension, dass der Mensch, jeder Mensch, immer und überall, ein irgendwie auch böses Wesen hat, sollte mit dem Begriff der Erbsünde erklärt werden. Da gab es nur die Schwierigkeit, dass Sünde immer eine vom einzelnen begangene in freier Entscheidung getätigte Untat ist. Sünde des einzelnen ist also etwas Erlebbares. Die Erbsünde hingegen ist als solche nicht erlebbar. Sie ist ein gedankliches Konstrukt, pure Theorie, manche sagen Ideologie. Warum wurde von Augustinus dieses Konstrukt erfunden? Er wollte die totale Übermacht des gnadenhaften göttlichen Handelns angesichts des Bösen und der sündigen Menschen unterstreichen. Nur Gott rettet ist seine Devise.

Wegen der Erbsünde müssen schon Babys getauft werden, wenn sie als Babys sterben, kommen sie in die Hölle, darum ist die Kirche und der taufende Klerus so wichtig usw. Die Erbsünde wird übertragen im Moment der Zeugung. Sex überträgt das Böse, deswegen ist, so heißt es dann weiter, Sex sowieso irgendwie doch nicht so gut, wenn nicht böse. Wenn Kinder geboren werden und nicht getauft werden, dann kommen sie in die Hölle. Denn vor der Hölle kann einzig die Gnade Gottes bewahren.

Die Lehre von der Erbsünde hat das Bewusstsein der Christen verdorben. Es hat jede Lebensfreude genommen, jede Zuversicht, im freien Tun etwas Gutes zu schaffen. Eine düstere Wolke der Verzweiflung und Angst („Hat mich denn nun der willkürlich erlösende Gott tatsächlich erlöst? ) hat sich über das sich christlich nennende Europa gelegt. Die Überwindung der Erbsündenlehre des Augustinus ist eine der dringenden Aufgaben der heutigen Theologie, die aber noch nicht angepackt wird

Immanuel Kant versucht, die Debatte über das Böses Tun weitgehend von der Bezogenheit auf Gott zu befreien, er ist ein Gegner der orthodoxen Erbsündenlehre. Wenn Kant über „das Böse“ nachdenkt, dann nur Zusammenhag der gelebten menschlichen (Willens)-Freiheit. Ich kann mir Maximen, individuelle für mich geltende Lebensentwürfe, schaffen: Und dabei das moralische Gesetz, den Gewissensspruch, ignorieren. Wenn Maximen nicht mehr dem kategorischen Imperativ entsprechen, sind sie böse. Im Spruch des Gewissens äußert sich das moralische Gesetz, wer ihm folgt, folgt dem moralisch guten Leben. Aus der dauerhaften Praxis moralisch böser Taten entwickelt sich der „Hang“ zum Bösen, von dem Kant in einer gewissen Unentschiedenheit spricht: Ist er „angeboren“ oder/und erworben? Es gibt für Kant jedenfalls so wörtlich einen „faulen Fleck“ in unserer Gattung, den herauszubringen, also lozuwerden, notwendig ist, um den „Keim des Guten“ in uns zu entfalten (S. 48 in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Hamburg 2003).

Für Kant aber ist die Anlage zum Guten herrschender und stärker als der “Hang“ zum Bösen: Denn selbst wer als Egoist Böses tut, meint noch in dieser Tat zumindest für sich selbst etwas Gutes getan zu haben. Das heißt: Der Bezogenheit auf Gutes kann kein menschlicher Geist entkommen. Man könnte diese Bezogenheit auf Gutes „transzendental notwendig“ nennen.

Für Kant ist Religion und die Stimme eines göttlichen Wesen im Gewissen zu vernehmen. Das Gewissen ist der ort, wo das moralische Gesetz und letztlich auch Gott spricht. Kant sieht: Es gibt Vorwürfe des Gewissens gegen unser Tun. Diese Stimme des Gewissens ist nur dann von Wirkung, wenn man sie als Repräsentanten Gottes denkt: „Gott hat einen erhabenen Stuhl über uns und in uns einen Richterstuhl“, so in der „Schrift über Pädagogik“, 1803. Zit nach „Kant Reader“, Würzburg 2005, S. 335. Dieser Gott im Gewissen vernehmbar ist für Kant die Grundlage aller vernünftigen Religion. Alle anderen Formen (dogmatischer Fremdbestimmung) lehnt er als unvernünftig und für den Menschen eher schädlich ab. Über dieses Gottes-„Bild“ von Kant wäre heute aus aktuellen Gründen einer veräußerlichten, gewalttätigen Religion vermehrt zu sprechen! Kant spricht auch vom Hang zum Bösen, wenn er an die Geschichte der Kirchen erinnert, an ihre Machtbesessenheit, an das blinde Wüten der verfeindeten Konfessionen. Kurz: Die Religionen folgen selbst nicht dem Kategorischen Imperativ. (Dazu S. 177 ff. in „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“)

Ein Hinweis auch zu Hannah Arendt, sie ist stark bezogen auf Kant, mit ihm oft verbunden, auch in ihrem Buch „Über das Böse“, bei Piper erschienen.

Von Hannah Arendt stammt das Stichwort von der „Banalität des Bösen“. Damit meinte sie nicht, dass das Böse banal sei. Sie meinte, Böses tun kann bei Menschen den Charakter des Banalen haben. Etwa: Wenn denn diese Menschen blind und stumm den Weisungen anderer folgen. Der autoritäre Charakter spielt da rein. Nur das eigene Nachdenken, das Reflektieren auf das, was man tut, kann vom Böses Tun befreien. Notwendig ist: Man denkt noch mal über das eigene Denken nach. „Denken ist Reden mit sich selbst“.

Und auch zum Willen zeigt sich diese Doppelung: Ich bin zum Handeln bewegt und muss mich aber entscheiden, wenn ich etwas tue und handle. Ich muss also IM Handeln urteilen können. Im Handeln und dem Willen zu handeln zeigt sich immer ein Urteilen. Es gibt einen Schiedsrichter, sagt Arendt, der in meinem Handeln entscheidet.

DUMM ist der, der nicht urteilen kann. Der Mangel an Urteilskraft ist das Schlimmste. „Mangel an Urteilskraft ist das, was man Dummheit nennt“, sagt Kant. Das angewendet auf die Mitläufer in der Nazis. Auf die Mitläufer heute.

Im Urteilen innerhalb einer praktischen Entscheidungssituation, in der mein Wille aufgerufen ist, wird auch die Einbildungskraft lebendig. Ich stelle mir vor, was ist mit den anderen, die ich kenne oder die ich vor Augen habe, wenn ich diese Tat vollziehe.

Die Freiheit ist gut. Aber der Mensch ist niemals auf etwas „nur Gutes“ oder „nur Böses“ festzulegen. Es bleibt die Ambivalenz in jedem Menschen selbst. Jeder ist gut und böse. Wer sich nur für rundum gut hält, ist dumm und neigt deswegen zum Bösen, weil das Böse gar nicht mehr wahrnimmt und vor allem die Dimensionen der Freiheit ignoriert. Die Macht der eigenen egoistischen Maximen. „Der Tugendhafte“ wurde Robespierre genannt. Dies ist auch das ganze Problem der Heiligen und der Heiligenverehrung, die oft als rundum gute Menschen dargestellt werden. Und bei denen auch Makel und Böses offiziell oft verschwiegen und verdrängt werden.

Was bleibt angesichts „des Bösen“? Die bösen Taten müssen so weit es geht, überwunden werden. Das ist eine Aufgabe der Pädagogik und des politischen Handelns in der Demokratie. Es gibt aber auch böse Strukturen, Verfestigungen der individuell bösen Taten, die den einzelnen von vornherein belasten und prägen und vielleicht gar keine Ahnung schaffen, was Freiheit ist und was Gutes Tun überhaupt sein könnte. Diese üblen Strukturen der Unfreiheit und im ganzen Strukturen der Unmenschlichkeit müssen abgebaut werden. Das muss als Ziel immer wieder formuliert werden.

Die Freiheit der egoistischen Maxime führt zu falschen, moralisch verwerflichen Entscheidungen auch bei Politikern. Das Böse, das unsere westliche kapitalistische und immer noch imperialistische Politik(er) und Ökonomen erzeugen, wird von uns Bürgern meistens verdrängt und beschönigend-naiv„weg-interpretiert“. Gegen dieses Böse muss man handelnd eingreifen. Der Gedanke, dass wir doch alle Erbsünder sind, also irgendwie hilflose arme Typen, beschwichtigt da nur. Und ist ohnehin falsch. „Das Böse“ ist auch eine Form des Verdrängens und falschen Entschuldigens.

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