„Der Mensch ist böse und Gott hat ihn geschaffen“. Thesen im Rückblick auf den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 26.10.2016

Von Christian Modehn

Notiert am 9. November 2016: Entscheidend bleibt die Erkenntnis von Hannah Arendt: Böses entsteht, wenn Menschen nicht mehr die Kraft und den Willen haben, selbstkitisch nachzudenken, wenn sie weithin gedankenlos handeln. Und unverzichtbar bleibt, selbst wenn es manchmal zu “spät” ist, die fundamentale Erkenntnis Kants, die auch im Politischen gilt: Wenn sich die Maximen des einzelnen und ganzer  großer Gesellschaftsgruppen vom dummen Egoismus bzw., was prinzipiell dasselbe ist, sich vom ebenso dummen Nationalismus bestimmen lassen  und nicht mehr in Übereinstimmung mit dem kategorischen Imperativ handeln, entsteht Böses.

Über „das Böse“ nachzudenken: Da bleiben mehr Fragen als Antworten. Aber Fragen führen weiter. Antworten, etwa religiöser Traditionen, fixieren auf eine bestimmte Weise zu denken. Entscheidend ist die Frage:

„Gibt es“ „das Böse“ überhaupt ? Das Böse verstanden als dingliche Gegebenheit, als Macht und Kraft, vielleicht sogar irgendwie als „Subjekt“, wie ein Teufel und böser Dämon?

Sicher „gibt es“ für kritische Erkenntnis nicht dieses greifbare und verfügbare und umfassend erkennbare Böse verdinglichter Art. Den Menschen fällt es leicht, diese Verdinglichung, „das Böse“, vorzunehmen und es dann zu beschwören in Riten usw., die den klaren Verstand gerade aber ausschalten. Insofern wird dann oft noch mehr Böses befördert. Man spricht, um der schnellen Verständigung willen, auch in philosophischen Büchern, von „dem Bösen“. Denkt aber dabei nicht an eine dinghafte oder „personale“ Gegebenheit. „Das Böse“ ist also lediglich eine begriffliche Hilfskonstruktion. „Den Teufel“ sollte man vernünftigerweise längst aus dem Denken und der furchtbaren religiösen Praxis vertrieben haben (Teufelaustreibungen gibt es bis heute im Katholizismus und eine Schande fürs Christentum: Die Verteufelungen etwa von Frauen, Hexen usw.).

Das Böse ist also nur ein Begriff, der wie eine abstrakte Idee dann verwendet wird, wenn Menschen so handeln, dass sie in ihrem Gewissen, dem „moralischen Gesetz“ (Kant), wissen: Diese meine Handlung war nicht gut, sie beschädigt mich und andere. Diese meine Handlung ist also böse.

Das Wort böse hat eigentlich nur Sinn, wenn man es auf Handlungen aus Freiheit bezieht. Darin zeigen sich dann unterschiedliche Aspekte des Tuns des Bösen.

In einer philosophischen Reflexion über das Böse, die auch das Religiöse einbeziehen will, muss an die Schöpfung der Welt und den Sündenfall erinnert werden. Im ersten Kapitel der hebräischen Bibel, Altes Testament genannt, ist davon die Rede. Die beiden dort erzählten Mythen sind sicher die am meisten besprochenen und am meisten künstlerisch gestalteten: Nur ein Beispiel: Lucas Cranach der Ältere und der Jüngere haben schätzungsweise 50 mal dieses hübsche Thema des fast nackten Paares in kürzester Zeit gemalt. Wer hat diese Gemälde bestellt, und warum gewollt gerade in der Reformationszeit?

Dieser Mythos enthält viele bedenkenswerte Elemente, die bis heute in den Köpfen sich festgesetzt haben: Das Paradies, die verführerische Schlange, sozusagen ein erstes Bild des Teufels, der Glaube an Teufel und Hexen hat letztlich in der verführerischen Schlange ein gewisses Urbild. Durch den Ungehorsam Evas und Adams haben die beiden Menschen Erkenntnis gewonnen, sie erkannten einander als sexuelle Wesen. Aber Gott hat den Ungehorsam bestraft. Ohne Ungehorsam keine Erkenntnis, könnte man denken. Im Alten Testament ist als göttliche Strafe nur die Rede von der Notwendigkeit zu arbeiten für den Mann; und für die Frau, dass sie Kinder nur unter Schmerzen zur Welt bringen kann. Dass sie aus Adams Rippe stammt, also dem Mann unterlegen und von ihm abhängig ist und untertan, das haben die alten Theologen nicht als Übel betrachtet. Das war offenbar normal. Paulus ist in seinem Römerbrief der Überzeugung, dass „der Tod durch die Sünde des einen Menschen, Adam, in die Welt gekommen ist“ (Kap. 5, 12). Die Sterblichkeit der Menschen ist also eine Strafe für die Sünde im Paradies, die dann später als Erbsünde (schon durch Paulus) gedeutet wird.

Philosophen haben sich von der unmittelbaren Lektüre des Mythos gelöst und auf einige Unstimmigkeiten in den Erzählungen aufmerksam gemacht.

Ich nenne hier nur den Philosophen Pierre Bayle, einen Protestanten aus Frankreich, der sich unter Ludwig XIV. nach Holland, nach Rotterdam, retten konnte und dort u.a. ein umfassendes und viel gelesenes Dictionnaire, eine Art Lexikon, verfasste. Darin geht es um die zentrale Frage, damals, um 1690, genauso aktuell wie heute:

Wenn man annimmt, Gott habe die Welt und die Menschen geschaffen: Dann stellt sich die Frage: Wie ist es dann möglich, dass Gott, wenn er denn Gott ist, also allmächtig und gütig, es zulassen kann, dass in seiner Schöpfung die Menschen, als seine Geschöpfe, moralisch Böses tun? In dieser Reflexion wird Gott sozusagen zum verfügbaren Gegenstand für die Reflexion. Die Sache wird komplizierter: Wer aber hat denn die Freiheit geschaffen? Ist es nicht Gott gewesen, der den Menschen als Menschen, also als freies Wesen mit Vernunft, geschaffen hat? Ist also Gott nicht nur unweise und unallmächtig, also ohnmächtig, zu nennen, sondern auch unfähig, weil er den Menschen mit der Freiheit ausgestattet hat, eben auch Böses zu tun. Ist die Freiheit selbst also etwas Böses, heißt die Frage, die dann viele umtreibt. Die Spekulation reicht noch weiter: Oder versteckt sich hinter dem offenbar böse agierenden Gott noch der eigentliche Gott, der diesen bösen Gott als Gegner sich gegenüber sieht. Aber durch diese Verdoppelung Gottes wird das Problem nur verschoben.

Die Erbsündenlehre interpretiert den genannten biblischen Mythos. Die Erbsündenlehre wurde im 4. Jahrhundert als eine bis heute allmächtige Kirchenlehre erfunden, um irgendwie theoretisch zu klären, warum denn alle Menschen irgendwie immer Böses tun. Diese universale Dimension, dass der Mensch, jeder Mensch, immer und überall, ein irgendwie auch böses Wesen hat, sollte mit dem Begriff der Erbsünde erklärt werden. Da gab es nur die Schwierigkeit, dass Sünde immer eine vom einzelnen begangene in freier Entscheidung getätigte Untat ist. Sünde des einzelnen ist also etwas Erlebbares. Die Erbsünde hingegen ist als solche nicht erlebbar. Sie ist ein gedankliches Konstrukt, pure Theorie, manche sagen Ideologie. Warum wurde von Augustinus dieses Konstrukt erfunden? Er wollte die totale Übermacht des gnadenhaften göttlichen Handelns angesichts des Bösen und der sündigen Menschen unterstreichen. Nur Gott rettet ist seine Devise.

Wegen der Erbsünde müssen schon Babys getauft werden, wenn sie als Babys sterben, kommen sie in die Hölle, darum ist die Kirche und der taufende Klerus so wichtig usw. Die Erbsünde wird übertragen im Moment der Zeugung. Sex überträgt das Böse, deswegen ist, so heißt es dann weiter, Sex sowieso irgendwie doch nicht so gut, wenn nicht böse. Wenn Kinder geboren werden und nicht getauft werden, dann kommen sie in die Hölle. Denn vor der Hölle kann einzig die Gnade Gottes bewahren.

Die Lehre von der Erbsünde hat das Bewusstsein der Christen verdorben. Es hat jede Lebensfreude genommen, jede Zuversicht, im freien Tun etwas Gutes zu schaffen. Eine düstere Wolke der Verzweiflung und Angst („Hat mich denn nun der willkürlich erlösende Gott tatsächlich erlöst? ) hat sich über das sich christlich nennende Europa gelegt. Die Überwindung der Erbsündenlehre des Augustinus ist eine der dringenden Aufgaben der heutigen Theologie, die aber noch nicht angepackt wird

Immanuel Kant versucht, die Debatte über das Böses Tun weitgehend von der Bezogenheit auf Gott zu befreien, er ist ein Gegner der orthodoxen Erbsündenlehre. Wenn Kant über „das Böse“ nachdenkt, dann nur Zusammenhag der gelebten menschlichen (Willens)-Freiheit. Ich kann mir Maximen, individuelle für mich geltende Lebensentwürfe, schaffen: Und dabei das moralische Gesetz, den Gewissensspruch, ignorieren. Wenn Maximen nicht mehr dem kategorischen Imperativ entsprechen, sind sie böse. Im Spruch des Gewissens äußert sich das moralische Gesetz, wer ihm folgt, folgt dem moralisch guten Leben. Aus der dauerhaften Praxis moralisch böser Taten entwickelt sich der „Hang“ zum Bösen, von dem Kant in einer gewissen Unentschiedenheit spricht: Ist er „angeboren“ oder/und erworben? Es gibt für Kant jedenfalls so wörtlich einen „faulen Fleck“ in unserer Gattung, den herauszubringen, also lozuwerden, notwendig ist, um den „Keim des Guten“ in uns zu entfalten (S. 48 in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Hamburg 2003).

Für Kant aber ist die Anlage zum Guten herrschender und stärker als der “Hang“ zum Bösen: Denn selbst wer als Egoist Böses tut, meint noch in dieser Tat zumindest für sich selbst etwas Gutes getan zu haben. Das heißt: Der Bezogenheit auf Gutes kann kein menschlicher Geist entkommen. Man könnte diese Bezogenheit auf Gutes „transzendental notwendig“ nennen.

Für Kant ist Religion und die Stimme eines göttlichen Wesen im Gewissen zu vernehmen. Das Gewissen ist der ort, wo das moralische Gesetz und letztlich auch Gott spricht. Kant sieht: Es gibt Vorwürfe des Gewissens gegen unser Tun. Diese Stimme des Gewissens ist nur dann von Wirkung, wenn man sie als Repräsentanten Gottes denkt: „Gott hat einen erhabenen Stuhl über uns und in uns einen Richterstuhl“, so in der „Schrift über Pädagogik“, 1803. Zit nach „Kant Reader“, Würzburg 2005, S. 335. Dieser Gott im Gewissen vernehmbar ist für Kant die Grundlage aller vernünftigen Religion. Alle anderen Formen (dogmatischer Fremdbestimmung) lehnt er als unvernünftig und für den Menschen eher schädlich ab. Über dieses Gottes-„Bild“ von Kant wäre heute aus aktuellen Gründen einer veräußerlichten, gewalttätigen Religion vermehrt zu sprechen! Kant spricht auch vom Hang zum Bösen, wenn er an die Geschichte der Kirchen erinnert, an ihre Machtbesessenheit, an das blinde Wüten der verfeindeten Konfessionen. Kurz: Die Religionen folgen selbst nicht dem Kategorischen Imperativ. (Dazu S. 177 ff. in „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“)

Ein Hinweis auch zu Hannah Arendt, sie ist stark bezogen auf Kant, mit ihm oft verbunden, auch in ihrem Buch „Über das Böse“, bei Piper erschienen.

Von Hannah Arendt stammt das Stichwort von der „Banalität des Bösen“. Damit meinte sie nicht, dass das Böse banal sei. Sie meinte, Böses tun kann bei Menschen den Charakter des Banalen haben. Etwa: Wenn denn diese Menschen blind und stumm den Weisungen anderer folgen. Der autoritäre Charakter spielt da rein. Nur das eigene Nachdenken, das Reflektieren auf das, was man tut, kann vom Böses Tun befreien. Notwendig ist: Man denkt noch mal über das eigene Denken nach. „Denken ist Reden mit sich selbst“.

Und auch zum Willen zeigt sich diese Doppelung: Ich bin zum Handeln bewegt und muss mich aber entscheiden, wenn ich etwas tue und handle. Ich muss also IM Handeln urteilen können. Im Handeln und dem Willen zu handeln zeigt sich immer ein Urteilen. Es gibt einen Schiedsrichter, sagt Arendt, der in meinem Handeln entscheidet.

DUMM ist der, der nicht urteilen kann. Der Mangel an Urteilskraft ist das Schlimmste. „Mangel an Urteilskraft ist das, was man Dummheit nennt“, sagt Kant. Das angewendet auf die Mitläufer in der Nazis. Auf die Mitläufer heute.

Im Urteilen innerhalb einer praktischen Entscheidungssituation, in der mein Wille aufgerufen ist, wird auch die Einbildungskraft lebendig. Ich stelle mir vor, was ist mit den anderen, die ich kenne oder die ich vor Augen habe, wenn ich diese Tat vollziehe.

Die Freiheit ist gut. Aber der Mensch ist niemals auf etwas „nur Gutes“ oder „nur Böses“ festzulegen. Es bleibt die Ambivalenz in jedem Menschen selbst. Jeder ist gut und böse. Wer sich nur für rundum gut hält, ist dumm und neigt deswegen zum Bösen, weil das Böse gar nicht mehr wahrnimmt und vor allem die Dimensionen der Freiheit ignoriert. Die Macht der eigenen egoistischen Maximen. „Der Tugendhafte“ wurde Robespierre genannt. Dies ist auch das ganze Problem der Heiligen und der Heiligenverehrung, die oft als rundum gute Menschen dargestellt werden. Und bei denen auch Makel und Böses offiziell oft verschwiegen und verdrängt werden.

Was bleibt angesichts „des Bösen“? Die bösen Taten müssen so weit es geht, überwunden werden. Das ist eine Aufgabe der Pädagogik und des politischen Handelns in der Demokratie. Es gibt aber auch böse Strukturen, Verfestigungen der individuell bösen Taten, die den einzelnen von vornherein belasten und prägen und vielleicht gar keine Ahnung schaffen, was Freiheit ist und was Gutes Tun überhaupt sein könnte. Diese üblen Strukturen der Unfreiheit und im ganzen Strukturen der Unmenschlichkeit müssen abgebaut werden. Das muss als Ziel immer wieder formuliert werden.

Die Freiheit der egoistischen Maxime führt zu falschen, moralisch verwerflichen Entscheidungen auch bei Politikern. Das Böse, das unsere westliche kapitalistische und immer noch imperialistische Politik(er) und Ökonomen erzeugen, wird von uns Bürgern meistens verdrängt und beschönigend-naiv„weg-interpretiert“. Gegen dieses Böse muss man handelnd eingreifen. Der Gedanke, dass wir doch alle Erbsünder sind, also irgendwie hilflose arme Typen, beschwichtigt da nur. Und ist ohnehin falsch. „Das Böse“ ist auch eine Form des Verdrängens und falschen Entschuldigens.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin