Karl Rahner: zum 30. Todestag: Glaubenslehren sind Ausdruck religiöser Erfahrungen

Karl Rahner, zum 30. Todestag: Die Glaubenslehren sind Ausdruck religiöser Erfahrungen

Von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin, am 24.März 2014.

Hier wird eine neue Interpretation des zentralen Denkens Karl Rahners vorgeschlagen: Zentrale Aspekte seiner Theologe sind von einem Geist bestimmt, den man durchaus “liberal-theologisch” nennen kann. Diese Einschätzung hat bisher wohl niemand in der Form gewagt. Grundlage für diese Interpretation der “Grundstimmung” und wesentlicher Aussagen Rahners ist seine zentrale, immer wieder zitierte These “Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein”. Und Mystik ist eben nur denkbar als eine INDIVIDUELLE Interpretation des Glaubens. Ein historischer Beleg: “Ab dem 16. und 17. Jahrhundert wird Mystik die Erfahrung eines radikal individuellen Umgangs mit dem Unversellen, dem Transzendenten, mit Gott”. (Koenraad Geldof, in: “Michel de Certeau”, hg. von Marian Füssel, Konstanz 2007, Seite 140.

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Am 30. März 1984 ist der große Theologe Karl Rahner SJ im Alter von 80 Jahren verstorben. Im zeitlichen Abstand fragen sich heute einige, die Rahners Denken nach wie vor bemerkenswert, sogar wichtig und bleibend-aktuell finden, was denn das „besonders Anregende“, das „besonders heutiges Nachdenken Provozierende“ ist? Diese Frage ist natürlich angesichts der Fülle der Themen, zu denen Karl Rahner in seinem umfangreichen Werk Stellung nahm, schwierig zu beantworten. Seine Kritik an der bürokratischen, der „Geist auslöschenden Kirche“  ist unvergessen, sein Zorn über die Dummheit der Etablierten ist bekannt;  seine Vorschläge für eine „Ökumene jetzt“ (mit den Protestanten) ebenso. Diese Themen  und Vorschläge werden heute verdrängt, schon damals fanden sie nicht die berechtigte begeisterte Aufnahme in einem von Angst geprägten katholischen Milieu, etwa das Buch “Strukturwandel der Kirche als Chance und Aufgabe”, 1973.  Viele LeserInnen legen Rahners Werke als zu schwierig beiseite, sie vergessen allerdings dabei,  dass noch viel mehr die klassische katholische Schul – Theologie, selbst der offizielle römische Katechismus und das katholische Kirchenrecht, etwa die Ehegesetzgebung, alles andere als einfach und schnell nachvollziehbar,  gar „verständlich“  sind.

In unserer Sicht gilt es, eine bestimmte großartige Anregung Karl Rahners aufzugreifen, die ihren Ursprung in seiner transzendental gewendeten anthropologischen Theologie hat. Damit ist das (letztlich von Kant inspirierte) Denken gemeint,  bei jeder geistigen Wirklichkeit, also auch dem Glauben des einzelnen, nach den Bedingungen der Möglichkeit für ein Verstehen dieser Wirklichkeit zu fragen und diese Bedingung zu nennen. Wichtig und für weitere Diskussionen inspirierend ist also, kurz gesagt und nachvollziehbar formuliert, die Rahnersche Erkenntnis: Zwischen der in Sätzen formulierten, sozusagen vorgegebenen Glaubenslehre und dem religiösen Bewusstsein des glaubenden Menschen gibt es keine Fremdheit, auch nicht nur eine vage gedankliche Verbindung, sondern eine innere Nähe und sachliche Identität. D.h.: Was sich im religiösen Bewusstsein des einzelnen Christen erfahrungsmäßig zeigt, ist letztlich nichts anderes, als was in der zentralen Glaubenslehre, satzhafter Art sozusagen, ausgedrückt und formuliert wird.

Mit diesem Prinzip will Rahner andeuten: Es gibt grundsätzlich keine Fremdheit zwischen der grundlegenden Glaubenslehre und dem subjektiven religiösen Bewusstsein. Damit wird eine Antwort gegeben auf die neuzeitliche Problematik, wonach der christliche Glaube etwas völlig Fremdes und damit das Subjekt Entfremdendes ist. Die dialektische Theologie (etwa Karl Barth mit seinem Spruch „Gott ist ganz anders“) hat ja diese Entfremdungsthese ihrerseits zustimmend aufgegriffen und nur noch für weitere Befremdlichkeit gesorgt, meinen wir. Ob die für die Neuzeit typische Suche nach Überwindung der Fremdheit des „anderen“ im allgemeinen ihrerseits Norm sein kann, wäre aber eine eigene Diskussion für sich. Jedenfalls hat Rahner nie die göttliche Wirklichkeit als beliebiges Produkt menschlichen Geistes verstanden, auch wenn sich Gott zuerst und vor allem eben IM menschlichen Geist zeigt!

Karl Rahner wusste: Diese innere Verbindung von Mensch und Gott im Sinne tiefer Identität zwischen subjektiver religiöser Erfahrung und objekthafter Lehre kann schnell der Häresie verdächtigt werden, etwa im Rahmen der Abweisung des Modernismus durch die Päpste zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Vertreter dieser Theologie, die dann wegen des Modernismus angezeigt wurden, hatten ja das Ziel, sozusagen eine liberale katholische Theologie zu schaffen, in der das religiöse Bewusstsein des einzelnen Katholiken (endlich einmal) aufgewertet in den Mittelpunkt gestellt werden sollte.

In dem Aufsatz „Die Forderung nach einer =Kurzformel= des christlichen Glaubens“ (von 1965, veröffentlicht in Band VIII der „Schriften zur Theologie“ Seite 153 ff.) beschreibt Rahner diese (oben genannte) innere Verbindung von Subjektivem und Objekthaftem, Satzhaften. Demzufolge ist der (objektive, also satzhafte) Glaube „keine von außen an den Menschen herangetragene Ideologie“ , sondern der Glaube (also die Glaubenslehre) ist „die erfahrene und erlittene Wirklichkeit seines (d.h. des Menschen) Leben selbst“.  An der Stelle, auf Seite 153 in Band VIII., weist Rahner dann sozusagen prophylaktisch im Blick auf das strafende Lehramt in Rom  auf die für ihn zentrale Gnadenlehre hin: In Fußnote 1 heißt es also: „Wenn man bedenkt, dass die Gnade Christi der äußeren Predigt des Evangeliums IMMER SCHON zuvorgekommen ist (nämlich als Anwesenheit der Gande im Menschen selbst, CM), kann diese Forderung (nämlich nach einer Kurzformel) nicht des Modernismus verdächtigt werden“. Mit anderen Worten gilt es an die zentrale Lehre von der göttlichen Gnade zu erinnern: Die Gnade Gottes ist als Gabe in jedem Menschen anwesend, diese Gnade ist aber schon die Offenbarung Gottes selbst. In jedem Menschen ist die Offenbarung also anwesend. Das hat weitreichende Bedeutung, auch im Blick auf den Dialog der Religionen usw. Gott/Gnade ist in allen geistbestimmten Vollzügen des Menschen lebendig zugegen. Sie findet in der satzhaften Beschreibung der Offenbarung, etwa in der Bibel, ihren sprachlichen Ausdruck. So weit ich weiß, hat Rahner nicht gesagt als konsequente Fortsetzung dieses Denkens: Die Bibel etwa ist Ausdruck des subjektiven Glaubens religiöser Menschen. Das hätte ja nahe gelegen und wird in einer protestantischen liberalen Theologie ja auch so betont!

Noch einmal: Karl Rahner will ein inneres Entsprechungsverhältnis, eine Identität, zwischen religiösem individuellen Glauben und satzhafter Lehre aufzeigen.

Das gilt etwa auch für die Christologie. In dem Buch „Ich glaube an Jesus Christus“, Theologische Meditationen, Benziger Verlag, 1968, Seite 29) heißt es: „Wir wollen von einem Punkt ausgehen, an dem der Glaube an Jesus Christus nicht als eine bloß von außen kommende, wenn auch noch so erhabene Zutat zur unabwälzbaren Existenz des Menschen erscheint. Sondern wir wollen den Glauben an Jesus Christus in der innersten Mitte der Existenz (!)  auffinden, wo er (Jesus) schon (!) wohnt, bevor wir, hörend auf die Botschaft der Kirche, diesen Glauben dann worthaft reflektieren“.  (Die Ausrufungszeichen sind von mir, CM).

Für Rahner gibt es also immer schon eine Anwesenheit des göttlichen Geistes in jedem Menschen. In alltäglichen Lebensvollzügen wird darum auch die Wirklichkeit Gottes erfahren, und gerade nicht in exklusiv sakralen Ereignissen,  etwa charismatischen Verzückungen. Gott ist da, wenn der Sinn des Lebens bejaht werden kann, Gott ist da, wenn Liebe möglich wird, wenn Solidarität gelingt. Gott zeigt sich im Alltag. Und diese Alltags – Erfahrungen finden einen Ausdruck in der Glaubenslehre.

Und genau an dieser Stelle beginnen weitere Frage, die Rahner selbst nicht beantwortet hat: Sind denn schlechterdings alle Glaubenslehren aus der inneren, der subjektiven Erfahrung heraus rekonstruierbar? Also findet sich das religiöse Subjekt in allen katholischen Glaubenslehren selbst wieder? Für die Gestalt Jesu Christi mag diese Verbindung von Subjektiv und Objekthaft gelingen, für die Gottesfrage im allgemeinen auch, aber wie ist es mit der römisch – katholischen Lehre von Maria, dem Papsttum usw. Da wird es wohl unmöglich, aus der religiösen Erfahrung des Subjekts her diese Lehren als „meine“ Lehren, also als Ausdruck meiner Gefühle zu verstehen.

Wir sehen also, dass der Ansatz einer transzendentalen, anthropologischen Theologie angesichts der Überfülle vorgegebener Kirchenlehren irgendwie dann doch sehr begrenzt ist.

Aber die Leistung Rahners bleibt gültig, unter der Voraussetzung, dass die katholische Kirchenlehre sich tatsächlich auf einiges Wesentliche reduzieren könnte und Vereinfachung nicht als Verlust der vorgeblichen „Substanz“, sondern als befreienden Gewinn begreifen würde. Wer am alten „Glaubensgut“ festhält hängt weiter fest am befremdlichen und entfremdenden Charakter der vielen detaillierten Glaubenslehren,  also der Eindruck bliebe: Die katholische Lehre ist eine kaum nachvollziehbare Überfülle von Lehren.

Traurig ist es in unserem Sinn, dass diese hier beschriebene ZENTRALE Linie innerhalb der Theologie Rahners heute im katholischen Raum nicht mehr fortgesetzt wird. Es gibt eine ungeheure Angst, zum ersten Mal überhaupt eine katholische liberale Theologie zu entwickeln, die eine Korrespondenz zwischen religiösem Gefühl und der “Lehre” herstellt. Vielleicht liegt es auch daran, dass Schleiermacher innerhalb der katholischen Theologie keine Rezeption gefunden hat und meines Wissens z.B. der liberale Theologe in Berlin heute, Prof. Wilhelm Gräb, noch nie in einer katholischen Akademie oder katholischen Gemeinde gesprochen hat. Es gibt eine fundamentale Angst der römischen Katholiken vor einem liberal – theologischen Denken. Diese Angst ist meines Erachtens in Spuren selbst noch in der katholischen Abwehr von Rahners transzendental – theologischer Theologie zu spüren…

Dabei hat Rahner erste Ansätze für eine sehr moderate Form katholisch-liberaler Theologie entwickelt. Aber es gibt die herrschende und allmächtoge, nicht befragte Überzeugung, dass alles, was sich im Laufe der Jahrhunderte als katholische Lehre angesammelt hat, weitgehend doch erhalten bleiben soll. Nur gelegentlich werden nicht mehr nachvollziehbare Lehren beiseite gelegt, wie etwa der Limbus Puerorum, also die Vorhölle, die für kleine, ungetaufte Kinder einst bestimmt war.

Sicher haben Rahner Interpreten recht, wie Herbert Vorgrimler (in: „Karl Rahner verstehen“, Kevealer 2002, S 51 f.) und Karl Lehmann (In: „Karl Rahner Lesebuch“, Freiburg 2104, S. 27), wenn sie auf die tiefe Bindung Rahners an den Katholizismus hinweisen, trotz aller leidenschaftlichen Kritik am bürokratischen System Kirche.

Selbst wenn Rahner gegenüber der Kirche „eine unbedingte Loyalität“ (Vorgrimler, S. 51)  hatte: Tatsache ist, dass er den theologisch (für katholische Verhältnisse!) ungeheuerlichen Versuch machte, eine ganz innige Verbindung, wenn nicht Identität zwischen subjektivem Glauben und objektiver Lehre aufzuweisen und diese zu fordern als einen Beitrag, den Katholizismus aus der Entfremdung innerhalb der modernen Kultur herauszuführen.  Diese  Leistung Rahners sollte weiter konkretisiert und allseitig diskutiert werden.

Einige Zitate Rahners zu dem Thema:

Rahner kann das menschliche Dasein auf seine verborgenen Tiefen hin „ausloten“. Mitten im so genannten banalen Alltag ereignet sich die Erfahrung Gottes  „So etwa, wenn man plötzlich die Erfahrung personaler Liebe und Begegnung macht. Plötzlich selig erschreckt, wie man in Liebe absolut, bedingungslos angenommen wird, obgleich man für sich selber allein in seiner Endlichkeit und Brüchigkeit dieser Bedingungslosigkeit der Liebe, die einem entgegenkommt von der anderen Seite, gar keinen Grund und keine zureichende Begründung geben kann. Wie man selbst ebenso liebt, in unbegreiflicher Kühnheit die Fragwürdigkeit des anderen überspringend, wie diese Liebe in ihrer Absolutheit einem Grund vertraut, der ihr selber nicht mehr untertan ist, ihr in seiner Unbegreiflichkeit zuinnerst und von ihr unterschieden zugleich ist“.

„Ich bin der Überzeugung, dass das Christentum eben nicht nur eine von außen her kommende Lehre ist, die dem Menschen eingetrichtert wird. Sondern, dass es wirklich ein Christentum von Innen heraus, von der innersten persönlichen, menschlichen Erfahrung her, gibt und geben muss. Das Christentum ist nicht eine Lehre, die von aussen einem erzählt, dass es so etwas gibt wie Gnade, Erlösung, Freiheit, Gott, so wie einem Europäer mitgeteilt wird, dass es Australien gibt. Sondern das Christentum ist wirklich die Auslegung dessen, was in der innersten Mitte des Menschen ((an einer vielleicht verdrängten, vielleicht nicht reflektierten Erfahrung doch)) schon gegeben ist.

Noch in seinem letzten öffentlichen Vortrag, wenige Tage vor seinem Tod im März 1984, hat Rahner in Freiburg im Breisgau laut stark und dochmit melancholischem Ton gesagt: „Ich musste als Christ und als Theologe gar nicht selten mit einer gewissen Anstrengung des Geistes und des Herzens fragen, was mit einem bestimmten Satz, den das kirchliche Lehramt als Dogma vorträgt, eigentlich gemeint sei, um eine Zustimmung ehrlich und ruhig leisten zu können. Ich habe aber in meiner eigenen Lebensgeschichte keinen Fall erlebt, in dem mir dies nicht möglich gewesen wäre. Wenigstens dann nicht, wenn ich mir bei solchen Dogmen klar machte, dass sie alle nur mit einem, ihrem Richtungssinn auf das Mysterium Gottes selbst richtig verstanden werden“. Das “Mysterium Gottes” selbst aber, diese Ergänzung sei im Sinne Rahners erlaubt, zeigt sich gerade IM RELIGIÖSEN BEWUSSTSEIN des einzelnen.

 

Copyright: Christian Modehn, 24. 3. 2014.