Ein Hinweis auf ein bisher wenig beachtetes Thema
Von Christian Modehn am 22.2.2024.
1.
Eine explizite, öffentliche kritische Haltung inmitten einer Diktatur zu bewahren, ist zuerst Ausdruck einer politischen, Menschenrechten verpflichteten Überzeugung. Der Kampf gegen die Korruption im Putin – Reich war der Mittelpunkt seines Handelns: Alexei Nawalny wurde als der bekannteste und beliebteste Oppositionelle in Russland im Straflager „Polarwolf“ in Charp, im Polarkreis, von der Putin – Diktatur umgebracht, am 15. bzw. am 16. Februar 2024.
Diese politische Haltung Nawalnys, sein radikaler Widerstand gegen die totale Korruption, seine Verteidigung der universellen Menschenrechte: Diese Lebenshaltung ist natürlich schon eine Form von Spiritualität, also, wie der Name sagt, einer “geistigen und geistvollen Orientierung”. Aber Nawalny dachte noch darüber hinaus:
2.
Alexei Nawalny war auch bestimmt von einer spirituellen, durchaus religiösen, christlichen Überzeugung: Er hat am Widerstand gegen die Diktatur Putin unter widrigsten Umständen festgehalten, er ist freiwillig, nach seinem Klinikaufenthalt in Berlin, im Januar 2021 nach Russland zurückgekehrt: Ein Leben in Freiheit stellte er sich dort wohl nicht vor. Der Russland – Kenner Thomas Roth (WDR) gab in der Sendung „Maischberger“ am 20.2.2024 einen entscheidenden Hinweis: „Nawalny wusste, dass er ein Martyrium auf sich nimmt.“ Diese Überzeugung, dass auch der eigene, freiwillig angenommene Tod für die Menschenrechte sinnvoll und wirksam ist und so die Opposition gegen das Putin – System am Überleben halten kann, daran glaubte Nawalny bis zuletzt. „Meine Nachricht, wenn ich ermordet werde, ist sehr einfach: Gebt nicht auf. Wenn sie entschieden haben, mich umzubringen, bedeutet das, dass wir unglaublich stark sind,” so Nawalny in einem Dokumentarfilm.Quelle: LINK.
3.
Der Titel „Märtyrer“ gehört in die Geschichte der christlichen Spiritualität: Viele Christen der frühen Kirche wurden Märtyrer aus Opposition zum römischen Kaiser – Kult, sie wussten und sagten öffentlich: Unser freiwillig angenommener Tod wird „Frucht bringen“…
Es ist wichtig, wenn die Oppositionelle Irina Scherbakowa in der genannten Sendung „Maischberger“ sagte: „Die Menschen waren überzeugt, Nawalny kann nicht sterben“. Nun wurde er ermordet, aber er ist im Denken vieler Oppositioneller eben nicht tot, tot ist ein Mensch nur, wenn er vergessen wird.
Nebenbei: Theologen sind an der Stelle vielleicht dazu geneigt, an Jesus von Nazareth zu denken: Seine Freunde wussten nach seiner Hinrichtung und dem Tod am Kreuz: Dieser Jesus kann nicht sterben. Er war so umfassend menschlich, für ihn gibt es kein definitives Ende.
4.
Man soll sich hüten, Alexei Nawalny zu einem christlichen Märtyrer zu machen, förmlich die Grenzen der „Heiligsprechung“ zu überschreiten. Aber man sollte auch wahrnehmen, welche spirituellen, welche elementaren christlichen Überzeugungen sein Leben, sein Einsatz, seine Hingabe, bestimmte. Dieser spirituelle Hintergrund wird bisher eher am Rande erwähnt, was die deutschsprachige Presse betrifft. Man denke etwa daran, dass Nawalny vor dem Moskauer Berufungsgericht im Februar 2021, wie der SPIEGEL berichtet, sagte: „Ich bin ein gläubiger Mensch, auch wenn das nicht immer so gewesen sei und manche meiner Mitstreiter darüber spotten. Aber der Glaube hilft mir in meiner Tätigkeit, weil alles viel, viel einfacher wird«. Und Nawalny sagte auch, theologisch ziemlich gewagt: “Jesus Christus ist der größte Politiker…Er hat alles verändert”. LINK
Und Nawalny zitierte dort auch das Neue Testament, die Bergpredigt Jesu von Nazareth: «Selig sind, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.» Und Nawalny kommentierte: „Dieses Gebot habe ich immer als Handlungsanweisung verstanden. Es macht mir keinen Spaß hier zu sein, aber ich bedaure auch keinesfalls meine Rückkehr und das was ich gerade tue. Ich fühle sogar so etwas wie Genugtuung, weil ich in einer schwierigen Zeit getan habe, was in der Anweisung (Jesu) steht. Ich habe das Gebot nicht verraten“.
5.
Falls das mörderische Putin – System die Leiche Nawalny noch einmal freigibt, und damit auch zur Bestattung, wird man sehen: Patriarch Kyrill von Moskau oder einer seiner getreuen Putin – Popen wird eine christliche oder spirituelle Bestattung Nawalnys bestimmt nicht leiten. Alexei Nawalny war sicher kein offizielles Mitglied dieser Putin -hörigen Kirche. Aber selbstverständlich ist die praktische Akzeptanz einiger Weisheitslehren Jesu von Nazareth überhaupt nicht an eine Mitgliedschaft in einer Kirche gebunden.
Eine Ergänzung: Tatsächlich konnte eine Art russisch – orthodoxer Trauer – Gottesdienst in einer russisch – orthodoxen Kirche am Rande von Moskau am Freitag, 1.3., für Alexej Nawalny stattfinden. Diese besondere Liturgie dauerte nur einige Minuten. Aber immerhin hatten sich russisch – orthodoxe Priester bereit gefunden, diesen sehr viel beachteten Gottesdienst zu gestalten. Ein kleiner Beweis für eine schwache Opposition des Klerus gegen den Chefideologen Putins, den Patriarchen Kyrill I.? Sicher nicht: “Die Kleriker hätten keine wertschätzenden Worte gesprochen oder einen würdigen Abschied bereitet, der Nawalnys Bedeutung angemessen wäre. Am beeindruckendsten seien die Gläubigen gewesen, die auf der Straße in der Warteschlange die liturgischen Gesänge angestimmt hätten, nachdem der Kirchenchor im Gottesdienst nicht habe singen dürfen.” (Quelle: Die Theologin und Expertin für die Orthodoxie, Prog.Regina Elsner, KNA).
Der Trauergottesdienst fand in der Kirche mit dem bezeichnenden Namen statt: “Kirche zu Ehren der Gottesmutterikone Lindere meine Trauer”.
Jetzt aber berichtet die “Tagesschau” am 22.2. 2024: Etwa 800 orthodoxe Priester und Laien in Russland haben gefordert, den Leichnam Nawalnys freizugeben und sie sprechen sogar davon, ihn nach orthodoxem Brauch/Ritus zu bestatten. Dazu wird es wohl, als einem “politischen Ereignis” nicht kommen … aber dass nun eine schwache Opposition im Klerus gegen Putrin aufbricht, ist doch ein sehr ermunterndes Zeichen. LINK.
6.
Julija Nawalnają, Alexeis Frau, führt den Kampf ihres Mannes weiter. „Sie will stellvertretend jenen Funke Hoffnung repräsentieren, den Nawalny bis zuletzt verkörpert hat, wenn er sagte, alles sei besser, als untätig zu sein“ (Quelle: Elisabeth von Thadden, „Die ZEIT“, 22.2.2024, Seite 50).
Buchhinweis: Alexei Nawalny – Schweigt nicht!: Reden vor Gericht. Gebundene Ausgabe. 2021, Droemer Knaur Verlag.
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