Also sprach Nietzsche: Über das „schräge Denken“ des “Propheten”.

Über ein Sonderheft des „Philosophie Magazin“ (Berlin):
Also sprach Nietzsche

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 9.7.2017

Immer wieder Nietzsche also. Die Einführungen in sein Denken sind heute kaum noch zu überschauen. Liegt es daran, dass Nietzsche sehr oft erstaunlich gut und „eingängig“ schreiben konnte, aber dabei selten doch klar verständlich war? Dass man also bei jedem Nietzsche Zitat oder Aphorismus mit größter Vorsicht umgehen muss, ob denn der „tolle Satz“ im Ganzen des Denkens von Nietzsche noch „stimmt“? Und ob die Nietzsche Überzeugung überhaupt stimmt?

Das Interesse an Nietzsche hat heute sicherlich mit der expliziten oder der verschwiegenen Verbindung seines Denkens mit der alten rechtsextremen Ideologie und der „neuen Rechten“ („La nouvelle Droite“) zu tun und auch mit der postmodernen Ideologie, die da den philosophisch kaschierten Glauben verkündet, „alles ist elativ … und Wahrheit gibt es nicht“.

Darum ist es wohl am wichtigsten, in dem neuen Sonderheft über Nietzsche aus der Reihe des „Philosophie Magazins“ die Interviews zu dem politisch aktuellen Thema zuerst zu lesen.

So sagt gleich am Anfang des Heftes Rüdiger Safranski: „Nietzsche war sehr dezidiert kein Demokrat … Mehrheiten sind für ihn immer töricht“ (S. 18). Dann folgt ein Hinweis Safranskis, dass Mehrheiten (in Demokratien) eben auch irren können, er nennt das Beispiel im Nationalsozialismus, woraus Safranskis schließt: „Es schadet durchaus nicht, auch die radikale Alternative zum demokratischen Denken kennen zu lernen“ (ebd.) Dass es von Herrschern und Medien dumm gemachte Mehrheiten in Demokratien gibt, sieht Safranski nicht. Hätte er sehen können, wenn er die Trump – Wahl studiert hätte. Diese durch idiotische Propaganda dumm gemachten Mehrheiten sind aber meines Erachtens kein Grund, prinzipiell gegen Mehrheitsentscheidungen in einer Demokratie zu sein. Aber das nur am Rande. Befremdlich auch, dass Safranski meint, es habe, so wörtlich, „intelligente nationalsozialistische Philosophen“ (S. 20), wie etwa Alfred Baeumler, gegeben. Heidegger nennt Safranski nicht. Meint Safranski solche Philosophen, die mit der formalen philosophischen Logik, dem „Einmaleins“, gut klar kamen? Dann mag es zu Zeiten der Juden – Vernichtung durch die Nationalsozialisten vielleicht logisch korrekt denkende Nazi – Philosophen gegeben haben. Aber wenn Intelligenz auch Ethik umfasst, dann kann es definitiv keinen „intelligenten nationalsozialistischen Philosophen“ gegeben haben. Sie waren verirrte Ideologen, mehr nicht. Schade, dass solche Auslassungen Safranskis einfach im Interview (geführt wie die meisten Interviews im Heft von der Philosophin Catherine Newmark) unwidersprochen stehen bleiben.

Deutlich ist die Aussage des Philosophen Bernhard H.F. Taureck: „Die Mehrheit der Italo – und Germanofaschisten stand eindeutig auf der Seite Nietzsches“ (S. 105). Es faszinierte die Nazis, „das Nein Nietzsches zur Demokratie, seine Verachtung der Frauen, sein Ja zum Krieg und sein Votum für die Überschreitung des bisher bekannten Menschentypus… (S. 105). Nietzsche war einerseits gegen das Judentum als Träger universalistischer Werte. „Aber er bejahte die jüdische Bevölkerung Deutschlands, um aus ihr und den Germanen eine höhere Menschheit zu züchten“ (S. 107). Kann man sagen, diese Haltung sei nicht antisemitisch? Sie ist es, denke ich. Interessant ist der Hinweis Taurecks, dass etwa 150.000 deutsche Soldaten im 1. Weltkrieg Nietzsches „Zarathustra“ im Gepäck bei sich hatten, als eine Art Religionsersatz.

Wie die Philosophie des Transhumanismus (d.i. kurz gesagt: sehr langes Leben – 150 Jahre – für einige reiche Herrschaften als Lebensziel) mit Nietzsche zurecht kommt, kann man in dem Interview mit dem Transhumanismus – Philosophen Stefan Lorenz Sorgner nachlesen. Sorgner ist auch Mitbegründer des „Beyound Humanism“ – Netzwerkes! Er plädiert für einen „liberalen (was ist das?, CM) Umgang“ mit Technologie in der Hoffnung, durch den Schritt zum Trans- oder vielleicht Posthumanen die Wahrscheinlichkeit des guten Lebens zu erhöhen“ (S. 115). Es ist für mich unverständlich, dass solche Auslassungen vom Interviewer Sven Ortoli nicht unterbrochen werden, nicht nachgefragt wird, so wird ein Interview zur Propaganda, die mit Philosophie nichts mehr zu tun hat.

Der Nietzsche Spezialist Andreas Urs Sommer ist da kritischer: Nietzsche habe einen Hang zum Autoritären, betont er, ein konkretes politisches Programm habe er nicht vorgelegt, insgesamt nennt Sommer Nietzsches Denken wohl sehr treffend „schräg“ (S. 30). Er bezeichnet dann die Provokationen Nietzsches „in hohem Maße verdächtig – verdächtig im positiven Sinne“. Was im positiven Sinn „verdächtig“ denn bedeuten könnte, wird nicht erklärt.

Sehr interessant für mich ist das Interview mit dem Philosophen und Theologen Christoph Türcke über die „Tiefen – Psychologie“, die Nietzsche in seinem Werk ausbreitet: Ausgangspunkt sei, so Türcke, dass Nietzsche „den menschlichen Verstand bloß eine Art Wurmfortsatz der menschlichen Triebnatur auffasst, nicht als eigenständige Kraft“( S. 82). Sind solche Wurmfortsatz – Denker wie Nietzsche noch Philosophen?

Das Nietzsche Heft ist für solche, die bisher wenig von dem Propheten wissen, doch empfehlenswert, zumal auch einige treffende Nietzsche – Zitate versammelt sind. Und auch wird die Rolle von Nietzsches Schwester Elisabeth für die Philosophie durch Kerstin Decker sehr schön dargestellt und neu interpretiert. Auch Stefan Zweig kommt zu Wort und Thomas Mann, so wird zusammen mit der Daten – Übersicht eine inspirierende, Fragen weckende Broschüre veröffentlicht. Schade nur, dass die internationale Relevanz Nietzsches etwa in Italien oder Frankreich nicht dargestellt wird. Wird er etwa in Indien wahrgenommen oder im buddhistischen Kontext? Was denken Menschen in arm gemachten Regionen über ihn, der die Kleinen und Kranken und Armen verachtete? Ohne internationale Bezüge kann heute kein Philosophie – Heft mehr auskommen, denke ich.

Leider fehlt auch der für Nietzsche entscheidende Hass aufs Christentum als eigenes Thema. Es hätte die Rede sein müssen, wie sich dieser blinde Hass des Pfarrerssohnes mit seiner ganz offenen, lyrisch bewegten Zuneigung zu Jesus verträgt.

Es fehlt leider auch die Auseinandersetzung zu der Frage, in welcher Weise denn Nietzsche nun wirklich und ernsthaft als Philosoph angesprochen werden kann. Ist er nicht eher ein literarischer Prophet, etwa in seiner philosophisch wie auch empirisch völlig unbegründeten Verkündigung „Gott ist tot“. Dieses Bonmot geistert durch die Köpfe der Menschen, alle glauben es und keiner weiß, was dieses Predigt – Wort Nietzsches eigentlich bedeutet und ob es wahr ist: Welcher Gott ist denn tot???

Am schwerwiegendsten wohl: Es hätte meines Erachtens dem Heft sehr gut getan, auch Vittorio Hösle zu Wort kommen zu lassen, der ja bekanntlich in seiner Studie „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (Beck Verlag 2013) gezeigt hat: Nietzsche war philosophisch gesehen ein „Dilettant“, es gibt keine „Konsistenz“ seiner Aussagen (S. 185), Nietzsche „verdeckt in seinem einzigartigen Stil von verführerischer Schönheit den Mangel an Argumenten und Evidenzen“ (S. 186). „Schopenhauer war der einzige Philosoph, den Nietzsche neben den Vor – Sokratikern wirklich kannte“, sagt Hösle. (S. 188). Auch Hösle weist darauf hin, dass Nietzsche tatsächlich neue „Werttafeln“ aufstellte, als „Verkünder“ (S. 201). Zurecht sagt Hösle, „dass Nietzsche sich selbst mit seiner allgemeinen Leugnung der Wahrheitsfähigkeit der Menschen schädigt“ und sich „die eigenen Beine wegsprengt und geistig am Verbluten ist“ (S. 202 f.)

Über den Übermenschen wäre zu sprechen, diese maßlose Behauptung, die sich Philosophie nennt. Der Philosoph und Nietzsche Spezialist Volker Gerhardt hat recht, wenn er den bloßen Behauptungscharakter der Nietzsche Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen dadurch beiseite schiebt, wenn er sagt, dass wir uns heute ja nicht an frühere Leben in dieser ewigen Wiederkehr erinnern können. Wichtig dann die Schlußfolgerung: „Aus meiner Sicht liegt der größere Ernst im Bewusstsein der Einzigartigkeit der jetzt gegebenen Situation“. Man kann also sagen: Nietzsche Lehre von der ewigen Wiederkehr ist Predigt, ist Ideologie.

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