Drei Fragen zu Weihnachten 2015 an Professor Wilhelm Gräb: Gott wird Mensch – Wird der Mensch Gott?
Die Fragen stellte Christian Modehn
Eine Deutung der Weihnachtsgeschichte heißt im Anschluss an das Johannes-Evangelium: „Gott wird Mensch in Jesus von Nazareth“. Wenn in dem Menschen Jesus aber Gott selbst lebt, dann betont das Johannes-Evangelium auch: Grundsätzlich lebt Gott in jedem Menschen, zum Beispiel „in jedem, der liebt“, wie der Autor sagt. Von dieser Deutung ist heute selten die Rede. Aber wäre sie nicht eine aktuelle Konsequenz der Weihnachtsgeschichte?
Für das Verständnis von Weihnachten wie überhaupt für die religiöse Gedankenwelt des Christentums ist die Auffassung von der Menschwerdung Gottes zentral. Die Theologie spricht zu Recht von einer vollständigen Revolutionierung des Gottesgedankens zu der es im Christentum gekommen ist. Sie besteht darin, dass Gott nicht mehr für eine alles beherrschende Macht steht, sondern für die subversive Kraft, die in den Schwachen mächtig ist.
Diese Revolutionierung des Gottesgedankens stellt die Symbolik des Weihnachtsfestes plastisch vor Augen: Das göttliche Kind, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend. Dieses schwache, der Liebe bedürftige wie auch Liebe erweckende Kind ist der Gott, in dessen Anblick die Engel vom Frieden auf Erden singen.
Es ist wichtig, diese Rede von der Menschwerdung Gottes in ihrem symbolischen Sinn zu verstehen, nicht sie wörtlich zu nehmen. Dann legt sie die Rede von der Geburt Gottes auf dem Grunde der eigenen Seele nahe. Wir begegnen ihr zudem in der Ermahnung des Dichters Angelus Silesius (1624-1667): „Wär Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.“
Dieses Wort des Mystikers nimmt dem Gedanken von der Menschwerdung Gottes das Äußerliche der Vorstellung. Es befreit von dem Missverständnis, als handele es sich dabei um eine historisches Geschehen, möglicherweise sogar datierbar als die Stunde null in der christlichen Zeitrechnung. Es geht an Weihnachten nicht um die Erinnerung an ein längst vergangenes Geschehen, sondern um dessen permanente Wiederholung – in jedem einzelnen Menschen.
Was wir an Weihnachten feiern, das ist der Einstieg in diese Verwandlung, die mit einem Menschen vorgeht, wenn er seiner Angewiesenheit auf Liebe und Zuwendung bewusst wird. Im Grunde unseres Daseins sind wir Menschen doch alle Empfangende, die, denen das Leben und alles, was sie zum Leben brauchen, geschenkt wurde. Letztlich ist es ganz und gar Gnade, leben zu dürfen, geliebt zu werden – und lieben zu können.
Im Grunde sind wir alle aus Gott geboren. Dann jedenfalls, sofern wir nur hoch genug von uns und der Bestimmung unseres Daseins denken. Wer einiger Selbstachtung fähig ist, wird sich schließlich nicht als ein peripheres Zufallsprodukt rein biologischer Evolutionsprozesse verstehen wollen.
So zeigt das göttliche Kind in der Krippe auf das, was mit uns allen vorgeht, wenn wir nur erkennen, wie sehr wir auf Liebe angewiesen sind und anderen, die darauf ebenso warten wie wir, Liebe geben können.
Wenn eine „göttliche Struktur“ in jedem Menschen angelegt ist, dann wird keine totale Gott-Mensch-Identität angedacht. Denn bei einer völligen Identität von Gott und Mensch würden beide als solche aufgelöst und verschwinden. Was könnte dann aber eine gewisse Vergöttlichung des Menschen als Menschen bedeuten? Könnte der absolute, der heilige Wert des Menschen gemeint sein?
Schauen wir auf das Kind in der Krippe, diesem Zeichen für die Menschwerdung Gottes, dann ist das Göttliche, das in jedem Menschen angelegt ist, gerade keine Struktur von Macht und Herrschaft. Dann ist „das Göttliche in uns allen“ vielmehr unsere Verletzlichkeit und Verwundbarkeit, unsere abgrundtiefe Bedürftigkeit, dass wir Nahrung, Kleidung, ein Zuhause, dass wir Liebe und Zuwendung brauchen.
Dann aber auch, dass jeder Mensch auf die Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse einen Anspruch hat. Und das unabhängig von seinen nationalen, kulturellen und religiösen Zugehörigkeiten. Jeder Mensch hat allein aufgrund seines Menschseins, dem diese göttliche Struktur des Angewiesenseins eingezeichnet ist, ein Recht auf die Inanspruchnahme der elementaren Menschenrechte.
Insofern könnte man auch sagen, Weihnachten ist als der Tag der Menschwerdung Gottes zugleich der Tag der Menschenrechte. Deshalb feiern wir Weihachten, weil Gott in jedem Wesen, das Menschenantlitz trägt, zur Welt kommt, alle Menschenkinder damit aber auch einen Anspruch auf Anerkennung ihrer unantastbaren Würde haben sowie auf Einhaltung der Rechte, die daraus folgen.
Können wir diese göttliche Dimension in einem jeden Menschen weiter konkretisieren und betonen: Darin ist eine Befähigung des Menschen ausgesagt, umfassend-friedlich zu leben. Der von Gottes Geist bewegte Mensch ist fähig, Gott als dem Friedensfürsten zu entsprechen. „Friedensfürst“ ist ja einer der Titel Gottes in der Weihnachtsgeschichte. Was bedeutet dieser „Titel“ Gottes gerade heute, praktisch und auch politisch?
Die weihnachtliche Revolutionierung des Gottesgedankens legt zugleich eine Basis dafür, dass Menschen zur friedlichen Lösung von Konflikten fähig sind. Denn sie verlangt, die Vorstellung aufzugeben, es käme es in erster Linie auf die an, die die Macht haben, es sei schließlich der Einsatz von Gewalt oder gar des Militärs eine Möglichkeit, Frieden zu schaffen. Wenn die göttliche Dimension im Menschen in seiner unendlichen Bedürftigkeit und seiner Angewiesenheit auf Liebe besteht, dann eröffnet sie ihm auch den Weg, den gehend er zum Frieden beitragen kann.
Das hat Konsequenzen, ganz konkret, aktuell auch in Gestalt des Protests gegen die Syrien-Politik Deutschlands und Europas. Es bedeutet, laut zu sagen, dass ein militärisches Eingreifen in Syrien der garantiert falsche Weg ist.
Ich wundere mich, dass die höchsten Repräsentanten der beiden großen Kirchen bislang zu diesem eklatanten politischen Fehlverhalten schweigen. Hoffentlich finden sie in ihren Weihnachtspredigten zu einem energisch mahnenden Wort. Wenn sie die Weihnachtsbotschaft von der Menschwerdung Gottes auch nur ansatzweise ernst nehmen, müssen sie es tun.
Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin