Es gibt keine Vorbilder mehr. Kardinal Karl Lehmann (Mainz) wird ein Heiligenschein genommen. 1. Teil.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 8.3.2023.  Siehe auch den Hinweis auf Papst Johannes Paul II. LINK

Der Anlass dieses philosophischen Hinweises zum Thema Vorbilder:

Nun distanzieren sie sich offiziell von ihrem zuvor hoch verehrten, vorbildlichen Mainzer Bischof (dort von 1983-2016) und Kardinal Prof.Dr. theol. und phil. Karl Lehmann: Der heutige Bischof von Mainz Peter Kohlgraf sagte am 8.3.2023:
Lehmanns fehlende Verantwortungsübernahme habe sexuellen Missbauch begünstigt. Lehmann, der “ein menschenfreundliches Gesicht gezeigt” habe, der habe in der Begegnung mit Betroffenen sexualisierter Gewalt “unglaubliche Härte und Abweisung” an den Tag gelegt. Zugleich kritisierte Kohlgraf Gemeinden, die bis heute Priester auf ein Podest gehoben haben, das sie unangreifbar macht“. (Quelle: https://www.domradio.de/artikel/mainz-waechst-die-distanz-zu-kardinal-lehmann)

1. Bischof und Kardinal Karl Lehmann – Lobeshymnen für einen “klaren Kopf”
Wer Verstand hatte, musste doch sehr schmunzeln, als am 16. Mai 2016 in der „Rheingold-Halle“ in Mainz (vom SWR übertragen) zu Ehren Kardinal Lehmanns eine pompöse Festveranstaltung stattfand. Es war wie ein Witz: Ein großer Chor auf der Bühne schmetterte ein selbst verfasstes Loblied auf seine Eminenz, es war fast zum Schunkeln: „Karl Kardinal Lehmann, wir danken dir“, und immer wieder: „Karl Kardinal Lehmann wir danken dir“. Und kaum jemand konnte sich sich vor Freude und Rührung bremsen bei dieser Fast-Heiligsprechung eines lebenden Klerikers. Das alles fand seinen festlichen Höhepunkt in dem genannten Lied, es wurde zu der populären Melodie Edward Elgars für den Song „Land of Hope and Glory“ gesungen. Die Lobeshymnen auf den Kardinal, auch von Politikern aller Couleur und einem katholischen Theologieprofessor, Thomas Söding (Bochum), waren fast ein kleiner Akt der Heiligsprechung. Söding sagte u.a.: „Erst lernen, dann lehren – das ist Ihre(Lehmanns) Devise: mit einem großen Herzen und einem klaren Kopf.“ (Quelle:https://bistummainz.de/organisation/ehemalige-mainzer-bischoefe/kardinal-lehmann/aktuell/nachrichten/nachricht/Unterwegs-auf-der-Suche-nach-Gott/)
Diese Huldigung Södings stimmt nicht mehr … spätestens seit März 2023.

Auf You tube ist der Song “Karl Kardinal Lehmann wir danken dir” (ab 1.2.00 49″ ) unter dem Titel “Geburtstagsfeier Kardinal Karl Lehmann”  noch zu “bewundern”, siehe: https://www.youtube.com/watch?v=ONdOT3RSo44   (gesehen am 8.3.2023)

Vom “Vorbild Kardinal Lehmann” sprach auch Bischof Fürst von Rottenburg-Stuttgart anläßlich des Todes von Karl Lehmann:  Als “glaubwürdiges Vorbild in Glauben und Leben” hat Bischof Gebhard Fürst den am Sonntag verstorbenen Mainzer Alt-Bischof, Kardinal Karl Lehmann, gewürdigt. Lehmann habe als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz unermüdlich unterschiedliche Positionen zusammengeführt und damit unschätzbare Beiträge zur Einheit der katholischen Kirche in Deutschland geleistet, erklärte der Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart. (11. März 2018, 10:13 Uhr. Süddeutsche Zeitung.

5 Jahre später musste die Süddeutsche Zeitung  (Seite 7, am 4/5. März 2023) diesen Titel zu Kardinal Lehmann durcken:” Abwehren, vortäuschen, rausreden”. “Die Missbrauchsstudie bescheinigt Kardinal Lehmann nun schwere Fehler.”

2. Bischof Lehmann schützte die Täter
Das Bistum Mainz ist nämlich jetzt alles andere als ein Land von „Hope and Glory“. Denn nicht nur Kardinal Lehmann, auch seine Vorgänger in Mainz, die Bischöfe Stöhr und Volk, sind nun des heftigen Versagens in der Aufklärung von sexuellem Missbrauch durch Priester im Erzbistum Mainz überführt worden, durch Rechtsanwalt Ulrich Weber in Mainz. „Laut Gutachten hätten bei Kardinal Karl Lehmann die Betroffenen von Missbrauch fast nie eine Rolle gespielt,“ heißt es in der wissenschaftlichen Studie zum sexuellen Missbrauch im Bistum Mainz, „und Kardinal Karl Lehmann wird ein Gegensatz zwischen seinem öffentlich-medialen Auftreten und seinem persönlichen Handeln attestiert. Betroffene spielten fast nie eine Rolle, vielmehr wurde darauf geachtet, das System katholische Kirche zu schützen.“ Dies berichtet übereinstimmend die Presse, unser Zitat: https://www.kirche-und-leben.de/artikel/missbrauch-im-bistum-mainz-studie-wirft-bischoefen-schweres-versagen-vor.
„Die Mitarbeiter der Missbrauchs – Studie untersuchten 25.000 Seiten an Akten – und Archivmaterial und führten 246 persönliche, schriftliche oder telefonische Gespräche. Nach einer statistischen Analyse waren für den Zeitraum von 1945 bis 2019 zunächst 657 Betroffene und 392 Beschuldigte ausgemacht worden. Dann wurde genauer geprüft, wie sich der jeweilige Tatbestand genau darstellt und wie plausibel der Fall erscheint. Letztlich blieben für die weitere Untersuchung 401 Betroffene und 181 Beschuldigte übrig“. (Zeit-Online)

3.“Karl Kardinal Lehmann wir danken” – ein insgesamt peinlicher Song
Den Sängerinnen und Sängern der fast ins Blasphemische abrutschenden Hymne „Karl Kardinal Lehmann, wir danken dir“ haben sich gewaltig geirrt, wie so viele treue KatholikInnen waren sie zu sehr Klerus-ergeben und Klerus-treu, es waren doch die Hochwürden, die Herren Pfarrer, die Herren aus dem geistlichen Stand… Sie freuten sich über jedes progressiv erscheinende Wort ihres Kardinals Lehmann, das im Vatikan allerdings nie langfristig erfolgreich war. Aber allein die Tatsache des maßvollen und letztlich devoten Widerspruchs machte den Herrn Bischof und sehr späten Kardinal beliebt. Sie feierten ihn als Vorbild, denn sie brauchten vielleicht ein klerikales Vorbild: Aber das haben sie nun nicht mehr. Sie müssen nun selber denken.

4. Vorbilder und der Kult um Vorbilder
Uns interessiert hier vor allem die große Problematik des „Vorbildes“: In Zeiten, in denen sich die Menschen, auch die Gläubigen, nicht selbst durch eigene Vernunft und Überlegung orientieren können oder wollen, klammern sie sich an Autoritäten, etwa an einen Bischof, der ja wie im Falle Karl Lehmanns tatsächlich intellektuell so klug und gebildet war. Die Fußnoten zu seinen vielen Vorträgen waren kaum zu zählen. So konnte er auch mit seiner Belesenheit (Heideger, Rahner…) bei den anderen Bischöfen glänzen, deswegen war er ja viele Jahre Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz.
Es ist schon traurig, wie Menschen sich begeistern und irreführen lassen, und sich die Zeit noch nehmen, so dumme Songs wie „Karl Kardinal Lehmann, wir danken dir“ zu ersinnen. Wenn schon etliche Menschen„Objekte“ ihrer Verehrung brauchen, dann sollten diese nie offiziellen Autoritäten, nie Stars und Berühmtheiten sein, schon gar nicht katholische Kleriker. Bestenfalls kann eine Person in einer sehr begrenzten, bestimmten Hinsicht Vorbild sein. Kinder brauchen vielleicht Vorbilder, aber alle Erziehung legt wert darauf, dass älter werdende Kinder, Jugendliche, sich von der Bindung an die Vorbilder wieder lösen. Schrecklich für mich, wenn erwachsene Männer, wie Kinder, Fussball Stars „ihrer“ vergötterten Mannschaft, etwa Hertha BSC, verehren und jedes Tor jedes ihres Star noch herbeizitieren können. Eine geistig arme Fussball-Welt, würde ich sagen.
Vorbilder können, ethisch gesehen, immer nur vernünftige humane Werte sein, Freundschaft, Solidarität, Gerechtigkeit, denen es auf je eigene Art nachzustreben gilt. Und das ist mühevoller und verlangt mehr Nachdenken als die Verehrung eines Fussball-Clubs oder eines Bischofs.

5. Ein Hinweis auf Erich Fromm

Der Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm (1900 – 1980) hat sich mit der Bindung an Vorbilder in seinen Studien zur „analytischen Sozialphilosophie“ auseinandergesetzt. Erich Fromms Erkenntnisse gelten auch für die „Vorbild-Bindungen“ frommer katholischer Laien an „ihre Pfarrer“, die sie oft noch „Hochwürden“ nennen oder Exzellenzen und Eminenzen oder, auch das noch,„heiligen Vater“: Tatsächlich werden prinzipiell alle Priester, vor allem in der romanischen Sprachwelt, mit dem problematischen Titel „Pater“, Père, Padre, in England auch Father genannt. Zölibatäre Kleriker sollen also als die „wahren Väter“ gelten, so väterlich, zuverlässig, ohne Interesse an sexuellen Übergriffen usw…Allerdings waren und sind diese „Patres“, trotz des Zölibatsgesetzes, oft, sozusagen leiblich gesehen, Väter von eigenen Kinder. Diese Tendenz kindlicher Aussagen „Mein Vater ist Pater“ nimmt allerdings ab, weil immer mehr Homosexuelle Priester sind. Dadurch sparen sich die Bischöfe die Zahlung von Alimenten an die allein gelassenen Mütter mit Kind. Schlimmer ist jetzt der in allen Ländern geradezu massenhaft aufgedeckte sexuelle Missbrauch durch diese vorbildlichen Patres, Fathers, Exzellenzen, Eminenzen usw.

Schon in seinen Studien über Autorität und Familie (1936) hat sich Erich Fromm mit der Bindung an Vorbilder kritisch auseinandergesetzt.
Hier nur diese seine Hinweise zum weiteren Studium, etwa in der „Gesamtausgabe“ der Werke Erich Fromm Band I. (Stuttgart, 1980).

„Es gehört zu den schwersten Erschütterungen im kindlichen Leben, wenn das Kind allmählich sieht, dass die Eltern in Wirklichkeit den eigenen Anforderungen (als Vorbild) nur wenig entsprechen. Aber indem das Kind später durch die Schule, durch die Presse etc. neue Autoritäten an die Stelle der Alten setzt, und zwar solche, die es nicht durchschaut, bleibt die ursprünglich erzeugte Illusion von der Moralität der Autorität bestehen. Dieser Glaube an die moralische Qualität der Macht wird wirkungsvoll durch die ständige Erziehung zum Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit und moralischen Unwürdigkeit ergänzt. Je stärker das Schuldgefühl und die Überzeugung der eigenen Nichtigkeit ist, desto heller strahlt die Tugend der Oberen! Der Religion und der strengen Sexualmoral kommt die Hauptrolle bei der Erzeugung der für das Autoritätsverhältnis so wichtigen Schuldgefühle zu“ (S. 184).

6. Klerikale Vorbilder verlieren ihren “Heiligenschein” – zum Beispiel in Frankreich
Der katholischen Kirche gehen jedenfalls jetzt die Vorbilder absolut verloren. Und damit sicher auch die Heiligen. Wie viele angeblich heilig mäßige, „ganz großartige“ Kleriker und Laien wurden in den letzten Monaten vom Thron der Vorbildlichkeit gestürzt….Beispiele aus Frankreich: Da hat der Sturz der vielen angeblichen Vorbilder in den letzten Monaten, 2022, 2023, die Kirche um ganzen selbst erschüttert. Ich nenne nur das bis vor kurzem von vielen hoch verehrte Brüderpaar Philippe, beide waren Priester im Dominikanerorden, sie wurden der „heftigen Pflege von sexueller Abhängigkeit“ gegenüber Laien und Priestern überführt. Oder man denke an den zu Lebzeiten fast heilig gesprochenen Freund der geistig Behinderten (in seinen ARCHE-Gemeinschaften), den Laien Jean Vanier, der seine Mitarbeiterinnen heftigst sexuell belästigte. Ich denke an die hoch verehrte Mystikerin Marthe Robin mit ihren angeblichen Wundmalen Christi, ich denke an den allgemein noch hoch geschätzten Gründer der neuen, jetzt international agierenden Mönchsgemeinschaft „Jerusalem“ in Paris, Père Pierre Marie Delfieux, oder man denke an den in ganz Frankreich bekannten Pater und Buchautor JeanFrancois Six, den Spezialisten für Mystikerinnen (Theresia von Lisieux!), der etliche seiner ihm treu ergebenen Anhängerinnen missbrauchte.
Sie alle, die Hochverehrten, hatten eines gemeinsam: Sie lebten angeblich zölibatär, waren also offiziell weder mit einer Frau noch einem Mann verheiratet. Und bedienten sich des klerikalen Schutzschirms.
Von dem berühmten Priester-Künstler, dem Jesuiten Marko Ivan Rupnik in Slowenien wäre zu sprechen oder dem engsten Freund der Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI., dem Kölner Kardinal Joachim Meisner. Er führte einen eigenen Aktenordner mit dem Titel „Brüder im Nebel“, darin sammelte er Papiere zu seinen Priestern, die mit sexuellem Missbrauch zu tun hatten. Den Gerichten übergab er seine „Brüder im Nebel“ nicht, es waren ja seine MITbrüder!
In Berlin wurde der Name eines Pfarrers der St. Ludwig Gemeinde aus einer Gedenkplakette an seiner Kirche ausgelöscht, weil er, der berühmte Stadtpfarrer Benno F., des sexuellen Missbrauchs überführt wurde…

7. “Bediene dich deines eigenen Verstandes, dann brauchst du keine Vorbilder, schon gar nicht klerikale Vorbilder”
Die Liste der nicht-vorbildlichen „Vorbilder“ ließe sich endlos fortsetzen, sie muss hier beendet werden. Unsere Hinweise dienten dem Zweck, ein für alle mal einzuschärfen: Nehmt bloß niemanden zum „totalen“ Vorbild, schon gar nicht zölibatäre Kleriker, ihr irrt euch gewaltig. Denkt lieber selber nach, wie ihr euer Leben menschlich mit anderen gestalten könnt. „Bediene dich deines Verstandes“, ein nahezu heiliges Wort des Philosophen Immanuel Kant.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.