Eine kleine Philosophie der Sehnsucht.

Thesen und Hinweise von Christian Modehn. Vorgestellt im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 15.12. 2017.

Es handelt sich um einige Elemente für eine kleine Phänomenologie der Sehnsucht:

Zuerst möchte ich den Gebrüdern Grimm widersprechen. Sie definierten Sehnsucht, im Rückgang auf mittelhochdeutschen Gebrauch, als „sensuht“, das heißt dann bei Ihnen: Als „Krankheit des schmerzlichen Verlangens“[, so in ihrem „Deutschen Wörterbuch“.

Für mich ist Sehnsucht nicht immer, eher selten, eine Krankheit. Sondern der Grundvollzug geistiger, seelischer und vernünftig-kritischer Lebendigkeit.

Sehnsucht ist ein ständiges Verlangen nach einem „Mehr im Leben“, als Überwindung alles Banalen und Flachen, des jeweiligen persönlichen wie gesellschaftlichen Status Quo. Diese Überwindung gelingt nicht immer. Aber diese Sehnsuchts – Bewegung und Suche ist unverzichtbar. Darin steckt auch Hoffnung, die freilich nie eine Garantie des Gelingens ist.

Unser geistiges Leben ist von einer ständigen Unzufriedenheit bestimmt: Alles, was wir erreichen, ist nicht das Endziel. Alles, was wir meinen verstanden zu haben, enthüllt weitere Probleme. Kein Mensch ist zu durchschauen. Jeder bleibt (Gott sei Dank) geheimnisvoll, um jeden und jede muss man sich weiter bemühen…Das Gelingen ist so selten. Aber es soll gelingen, obwohl man weiß, dass es nicht jetzt „ganz“ gelingen wird. Das ist Sehnsucht.

Einmal im Jahr gibt es ein Fest, etwas rundum Schönes und gute Stimmung Förderndes: Weihnachten. Aber wie oft erlebt man oft auch eine Enttäuschung, und das große Fest ist wieder vorbei. Ist es nur der Kommerz, der uns dazu treibt, irgendwie uns doch weiterhin auf Weihnachten (oder einen Geburtstag etc.) zu beziehen und da obligatorisch zu feiern? Warum feiern nicht unser Leben an einem jeden beliebigen Tag im Regen oder bei Sonnenschein?

Es ist normal angesichts der unerfüllten Sehnsucht zu wissen: Wir Menschen sind gebrochene, zerrissene Wesen. Wir finden kaum zur Einheit. Ganzheit ist ein Traum. Sehnsucht nach dem Schlaraffenland ist idiotisch. Also: Immer stellt sich das Gefühl ein: „Etwas fehlt“. Das ist gut so, es ist dies die Offenbarung unseres Wesens. Die Suche geht weiter, das Hoffen als tätiges Suchen geht weiter. Beim nächsten Mal wird vieles besser, hoffen wir. Letzter Hintergrund ist die Suche nach dem Friedensreich. Bloch nennt das „Heimat“. Ein „Land“, wo noch niemand war, nach dem wir aber verlangen, wenn wir nicht ganz abgestumpft sind. Diese Spannung ist bester Ausdruck des Menschen.

Ernst Bloch sagt in dem Ergänzungsband zur Gesamtausgabe, S. 367, aus einem Gespräch mit Adorno, moderiert von dem bekannten Horst Krüger: „Jede Kritik an Unvollkommenheit, an Unvollendetem, Unerträglichen, nicht zu Duldenden, setzt zweifellos schon die Vorstellung von einer möglichen Vollkommenheit und die SEHNSUCHT nach einer möglichen Vollkommenheit voraus. Es gäbe sonst gar keine Unvollkommenheit, wenn in dem Prozess nicht etwas wäre, das nicht sein sollte – wenn in dem Prozess die Vollkommenheit nicht umginge (also anwesend wäre, CM), und zwar als kritisches Moment. Aber diese Hoffnung ist das Gegenteil von Sicherheit und naivem Optimismus…“

Die Romantik als eine vielschichtige geistige Bewegung von ca. 1790 bis ca. 1840 hat die Sehnsucht energisch als Zentrum geistigen Lebens thematisiert, vor allem als Sehnsucht nach dem Unendlichen, dieses Unendliche muss nicht immer Gott oder das Göttliche sein, dieses ist eher das Nicht-Endliche oder „Über-Endliche“. Diese Sehnsucht findet für die Romantiker Ausdruck im Gefühl, das sie oft stark abgrenzen von der (bei ihnen) eher verachteten Vernunft und Aufklärung.

Da setzt die Romantik bzw. Sehnsuchts-Kritik an, etwa bei HEGEL, in seiner Kritik an Novalis etwa, in Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, III, Werkausgabe, S. 418. Diese Sehnsucht bei ihm habe keine „Substanz, sie verglimmt in sich und hält sich auf diesem Standpunkt fest“. Hegel spricht von der Extravaganz der Subjektivität, die „häufig zum Verrücktsein führt“ (ebd.) Diese Kritik Hegels ist sicher aus den polemischen Zusammenhängen damals zu erklären.

Die Sehnsucht nach Gott ist offenbar bei allen Menschen vorhanden, wird selbstverständlich je verschieden artikuliert. Aber wenn sich im Erleben des einzelnen diese Sehnsucht nicht erfüllt, kommt dies zur Ablehnung des Göttlichen. In jedem Fall: Auch der Atheismus hat seine Basis in der Sehnsucht nach dem Unendlichen oder auch Nicht-Endlichen.

Weil Sehnsucht als geistiges und auch körperliches Unterwegssein gilt, als unaufhörliches Fragen nach dem Gründenden und Tragenden, wird das erreichte Ziel eigentlich eher wie Stillstand wahrgenommen. Stillstand will die Sehnsucht nicht. Kann sie meditieren?

In jedem Fall: Sehnsucht ist der Widerstand gegen das Erlahmen. Leben wir aber schon in einer Welt, die das Erlahmen bereits fördert und die Sehnsucht gar nicht mehr aufkommen lässt? Andererseits: Ist das Planen und Vollziehen des Bösen auch eine Form von „umgelenkter Sehnsucht“?

Wird Gott als Ziel erreicht, „hat“ man „ihn“ in Formeln und Dogmen, ist eher der Abgott. Die Suche nach dem göttlichen Gott ist wichtiger, als Verlangen, Gott zu haben, zu besitzen etc…Dies ist heute noch in vielen Religionen Realität. Religionen fördern nicht das Fragen, nicht das Suchen, nicht die ständige Sehnsucht. Sie wollen Gehorsam und Stillstand. Darum ist aller Fundamentalismus und Dogmatismus ein Irrtum und eine Schaden für die Seele, weil die geistige Lebendigkeit gestört wird. Stille stehen kann nur sinnvoll sein als Unterbrechung einer Sehnsuchts/Frage-Bewegung.

Im Verlangen der Sehnsucht nach Gott, dem “tragenden Sinn” etc., ist das Gesuchte unthematisch schon (fragmentarisch) anwesend. Sehnsucht nach Gott lebt vom Vorverständnis des Göttlichen, das in uns ist. Der katholische Theologe und Philosoph Karl Rahner spricht von der Offenheit des Geistes für Gott. Also förmlich vom Vorverständnis „des“ Menschen von Gott. Es gibt dieses Ahnen, diese Vermutung: “Das muss doch etwas sein, das mehr ist als der banale Alltag. Weil wir dieses Darüber hinaus über den Alltag in uns haben, sind wir Wesen des Transzendierens“….

Thomas von Aquin, 14. Jahrhundert, sprach vom desiderium naturale, der natürlichen, also der allgemein menschlichen Sehnsucht nach Gott. Ist dies ein fremder Gedanke heute? Er will sagen: Der Mensch ist ständige Sehnsucht nach Sinn. So als, würden sich alle unterschiedlichen Sehnsüchte in einer großen zentrale Sehnsucht bündeln.

Der Begriff Vorverständnis ist die zentrale Kategorie in der Hermeneutik, in der Lehre vom verstehen, wie sie etwa Hans Georg Gadamer („Wahrheit und Methode“) entwickelt hat. Wir können uns nur fragend auf die vielen Phänomene der Welt einlassen, wenn wir immer schon eine Ahnung, ein noch unthematisches Verstehen der gesuchten Sache haben. Alles was wir kennen und lieben und wissen, das hat sich schon in einem Vorverständnis in uns vorgefunden. Die Frage: Gibt es noch das Neue, das „total Überraschende“? Sofern wir dieses „umwerfend Plötzliche“ verstehen und aussagen, ist es doch nicht total neu. Total Neues gibt es nicht, es gibt nur die Korrektur des Vorverständnisses….

Der kanadische Philosoph Carles Taylor, Montréal, sagt: „Man verkürzt heute das Nachdenken über den Menschen um den metaphysischen Hunger (ich sage: Sehnsucht). Dieser Hunger, diese Sehnsucht, nach etwas Größerem, Höherem, kurz nach Transzendenz kann die Ausrichtung eines Lebens gänzlich verändern. Es gibt das tiefe Unbehagen zu artikulieren gegen eine Welt, die sich selbst abschließt. Die tiefste Aufgabe der Philosophie ist, gegen die Verflachung der Welt vorzugehen“. (Interview in: Herder Korrespondenz, 20014, Seite 397.

Es ist interessant, dass Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, von den Leuten, die in den Orden aufgenommen werden wollte, vor allem verlangte: Ob sie eine Sehnsucht nach der Sehnsucht haben, sich auf Jesus Christus zu beziehen. Abgesehen davon: Sehr schön wird von der Sehnsucht nach der Sehnsucht gesprochen.

Im Stundenbuch von Rilke, Bd I, 1975, S. 294 lässt Rilke Gott zum Menschen sagen:

Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinaus gesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gib mir Gewand. (geschrieben am 4.10.1899 in Berlin-Schmargendorf !)

Ein Kommentar: Der Mensch soll Gott ein Gewand geben, das heißt der Mensch soll Gott sichtbar machen in der Welt. Aber Gott will, dass wir bis an den Rand unserer Sehnsucht gehen.

Heinrich Böll denkt an die Gebrochenheit des Menschen in der Welt und die Sehnsucht, dass der einzelne wahr – genommen wird und sagt: : „Die Tatsache, dass wir eigentlich alle wissen, auch wenn wir es nicht zugeben, dass wir hier auf der Erde nicht zuhause sind, nicht ganz zuhause sind. Dass wir also noch woanders hingehören und von woanders herkommen. Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, der sich nicht, jedenfalls zeitweise, tageweise oder auch nur augenblicksweise, klar darüber wird, dass er nicht ganz auf diese Erde gehört. Und das hat nicht nur soziale und gesellschaftliche Gründe. Es sind auch die Schwierigkeiten, sich mitzuteilen, sich darzustellen…. Der Wunsch, die Sehnsucht, erkannt zu werden, (also grundsätzlich bejaht zu werden CM) führt in eine andere Welt“ …(Karl – Josef Kuschel, Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen“ (Piper, 1986, S. 65 f).

Zu Erich FROMM:

Der Mensch sucht danach, Machtlosigkeit, Verlorenheit, Isoliertsein zu überwinden. Er will sich zu Hause fühlen. Dies ist das Bedürfnis nach Bezogenheit und nach Transzendenz. Dies sind existentielle, psychische Bedürfnisse. Sie können sich als Sehnsucht äußern. Der Mensch hat physiologische Bedürfnisse und existentielle Bedürfnisse. Es gibt menschliche und unmenschliche Bedürfnisse.

Das Problem ist: Gibt es außer dem angeborenen Wunsch nach Freiheit auch eine instinktive Sehnsucht nach Unterwerfung? Und wenn es diese nicht gibt, wie ist dann die Anziehungskraft zu erklären, welche die Unterwerfung unter einen Führer heute auf so viele ausübt? Unterwirft man sich nur einer offenen Autorität, oder gibt es auch eine Unterwerfung unter internalisierte Autoritäten, wie die Pflicht oder das Gewissen, unter innere Zwänge oder anonyme Autoritäten wie die öffentliche Meinung?

Die politische Sehnsucht: Niemals darf die politische Dimension der Sehnsucht vergessen werden. Sie ist wohl die Basis aller Reflexionen zur Sehnsucht. Auch die Frühromantik hatte explizit progressive politische Ziele! Die Sehnsucht nach der besseren und gerechteren Gesellschaft (siehe Bloch) lebt immer auch von religiösen Motiven. Ohne die Sehnsucht nach einem besseren Leben würden die Verarmten in den Ländern Afrikas und Lateinamerikas kaum überleben. Religionen, Kirchen, können diese revolutionäre Sehnsucht beruhigen und stilllegen! Stichwort: “Opium des Volkes“.

Die 300.000 Menschen etwa in den riesigen Slums von Nairobi, Kenia, die dort vom Land hin geflüchtet waren, haben die Sehnsucht nach der Heimat, ihrer Heimat, der Natur, bewahrt. Sie sehnen sich nach einem Leben außerhalb der Müllberge und der Krankheiten. Aber wahrscheinlich verhungern sie vorher schon im Dreck.

Diese total inhumanen Zustände weltweit, mit dem Schrei der Sehnsucht nach Menschenwürde und Menschenrechten, darf niemand vergessen, der sich hier im reichen Europa der schönen Sehnsucht in gemütlichen Weihnachtsstuben und dem Sing Sang von „Stille Nacht“ hingibt, und eben auch singt: „Alles schläft“… Aufwachen kann nur, wer Weihnachten aus dem eher regressiven und theologisch dumm machenden Sing Sang der Weihnachtssongs befreit und Weihnachten als Fest der Menschenrechte feiert. „Gott wird Mensch“, heißt es klassisch theologisch zu Weihnachten. Das heißt: Jeder Mensch ist von göttlichem, absoluten Wert! Daran müssen wir … politisch arbeiten. Die innere Kraft dazu, um es mal pathetisch zu sagen, finden Menschen, die sich an den vernünftigen Kern der Weihnachtserzählung halten, im Glauben, im Glauben daran, dass eine gerechte Welt möglich ist. Und dies kann man je mal denkend feiern, etwa am 25. 12. , ohne Regression, ohne das vom Konsumrausch verdorbene Trallala der banalen “Weihnachten”.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Einfach glauben.Eine Ra­dio­sen­dung am 19.Februar 2017

Einfach glauben: Wenn Menschen wieder Wesentliches spüren wollen.

Eine Ra­dio­sen­dung in der Reihe “Glaubenssachen” auf NDR Kultur um 8.40 Uhr am Sonntag, den 19. Februar 2017.
Von Christian Modehn. Die Sendung kann man noch hören, klicken Sie hier.

In ihrer 2.000-jährigen Geschichte haben die Kirchen ein umfassendes Gebäude aus Lehren und Geboten, Gesetzen und Bekenntnissen entwickelt. Der christliche Glaube wurde hoch komplex und deswegen für den einzelnen kompliziert. Dabei hatte Jesus von Nazareth nur das “eine Notwendige” fürs Lebensglück vorgeschlagen: die Liebe zu Gott sowie die Selbst- und Nächstenliebe. Heute fordern immer mehr Theologen und Philosophen: Entdecken wir den einfachen Glauben wieder. Welches Profil hat er? Einfach im Sinne von leicht wäre dieser “einfache Glaube” sicher nicht. Befreiend aber allemal.

Babylon-Mythos und Wirklichkeit. Zu dem neuen Buch von Frank Kürschner-Pelkmann

„BABYLON – Mythos und Wirklichkeit“

Herr Kürschner-Pelkmann, Sie haben gerade jetzt wieder ein Buch veröffentlicht, das der kritischen Information, der Aufklärung, dient. Diesmal wollen Sie die LeserInnen mit den wahren Verhältnissen in der so vielfach gescholtenen Groß-Stadt BABYLON konfrontieren und Vorurteile in Frage stellen. Darum hat Ihr Buch BABYLON den treffenden Untertitel: „Mythos und Wirklichkeit“. Beginnen wir beim Mythos: Was ist denn der wichtigste, der extrem falsche, möchte ich sagen, Mythos unter den vielen Mythen, bezogen auf Babylon?

Viele Menschen glauben immer noch, dass die biblischen Geschichten vom sündigen Babylon und seiner Zerstörung einen historischen Hintergrund haben. Das ist problematisch, denn ein solches Verständnis dieser biblischen Geschichten verbaut den Zugang zu dem, worum es in der biblischen Botschaft geht.

Die Geschichten über Babylon können als Glaubensgeschichten verstanden werden, die gläubige Menschen vor Jahrtausenden aufgeschrieben haben, um ihren israelitischen Mitmenschen das Wunderbare der Existenz des einen Gottes nahe zu bringen. Im babylonischen Exil mussten sie mit den traumatisierenden Erfahrungen der Verschleppung und des Exils fertig werden. Wen kann es da wundern, dass sie auf göttliche Rache und die Vernichtung der Feinde hofften und dies auch aufschrieben? Aber wir sollten heute unsere Hoffnungen nicht auf einen brutalen und rachsüchtigen Gott setzen, sondern können diese biblischen Texte historisch einordnen und in ihrer Zeitgebundenheit verstehen.

Der “Turmbau zu Babel” ist ein weit verbreiteter Mythos, möchte man meinen. Was ist Ihrer Meinung die Wahrheit über den Mythos Turmbau zu Babel?

Wir müssen uns dafür die Situation der aus Jerusalem verschleppten Israeliten bewusst machen. Als sich ihr Zug der Stadt Babylon näherte, erblickten sie gewaltige Stadtmauern und einen riesigen Turm, der alles überragte. Dann kamen sie in eine fremde Stadt, in der ein verwirrend buntes Leben herrschte und viele Sprachen zu hören waren. Das musste die Neuankömmlinge zutiefst verunsichern. Bald waren sie selbst Teil dieser multikulturellen Gesellschaft, und viele von ihnen fürchteten, ihre Identität als Volk und als religiöse Gemeinschaft zu verlieren. Die Geschichte vom unvollendeten Turmbau sollte der realen Macht der Babylonier die Glaubensüberzeugung entgegenstellen, dass diese Großmacht nicht von Dauer sein würde und ihre Machtsymbole nicht in den Himmel reichten.

Das Gegenüber bzw. Gegeneinander von Jerusalem und Babylon, also von der gottesfürchtigen und der heidnischen, gewalttätigen Stadt, hat ja auch in der christlichen Theologie und Predigt eine lange anhaltende Beliebtheit. Wie erklären Sie sich die gedankenlose Gegenüberstellung?

Es ist in Predigten immer effektvoll, Gut und Böse einander schroff gegenüberzustellen. Und die Rolle des Bösen übernimmt dabei allzu häufig das „sündige“ Babel mit dem „Bösewicht“ König Nebukadnezar. Nicht nur Archäologie und Altorientalistik haben längst nachgewiesen, dass dies ein Zerrbild der Stadt am Euphrat und seines bedeutenden Herrschers ist, sondern auch die theologische Wissenschaft hat dieses Bild korrigiert. Aber leider ist die Versuchung weiterhin groß, in Predigten bei Schwarz-Weiß-Gegenüberstellungen stehen zu bleiben.

Sie zeigen in Ihrem Buch ausführlich, dass Babylon zwar keine Musterstadt war, welche Stadt ist das schon, sondern eine lebendige multikulturelle, durchaus kreative Kultur-Stadt, was verdanken wir heute denn noch Babylon?

Auch andere Völker beobachteten Naturphänomene wie den Lauf der Gestirne. Aber die Babylonier haben dank ihrer Jahrhunderte langen systematischen Beobachtungen und deren Notierung auf Keilschrifttafeln erkannt, wie die Sterne sich auf berechenbaren Bahnen bewegen. Sie waren auf dieser Grundlage zum Beispiel in der Lage, eine Sonnenfinsternis lange vorher anzukündigen. Die heutige Astronomie und Astrologie haben ganz eindeutig babylonische Wurzeln.

Die griechische Wissenschaft hat sehr stark von den Erkenntnissen babylonischer Gelehrter profitiert. So beruht zum Beispiel der Satz des Pythagoras auf mathematischen Berechnungen, die schon Schulkinder in Babylon gebüffelt haben. Übrigens geht auch unsere Aufteilung der Stunde in 60 Minuten mit je 60 Sekunden auf babylonischen Festlegungen zurück. In der babylonischen Rechenkunst hatte die Zahl 60 eine zentrale Stellung.

Offenbar ist die Unkenntnis über das wahre, frühere Babylon immens. Sie berichten in Ihrem Buch, dass westliche Soldaten jetzt achtlos mit den Resten des alten Babylon umgehen. Was ist da passiert?

Als amerikanische Truppen im Irakkrieg das Land eroberten, richteten sie ausgerechnet in den Ruinen von Babylon eines ihrer Hauptquartiere ein. Rücksichtslos fuhren sie mit gepanzerten Fahrzeugen kreuz und quer zwischen den antiken Ruinen herum. Auch legten sie auf archäologisch noch gar nicht untersuchtem Gelände Schützengräben an. UNESCO-Experten waren entsetzt, als sie die Spuren dieses Zerstörungswerkes zu Gesicht bekamen. Das amerikanische Vorgehen war Ausdruck einer völligen Missachtung fremder Kulturen und Religionen.

Und die Keilschrifttafeln, können die noch gerettet werden?

Viele Keilschrifttafeln befinden sich heute in europäischen oder irakischen Museen. Aber es gibt einen florierenden illegalen Markt für solche Tontafeln, und Raubgräber nutzen die Bürgerkriegssituation, um ihre Funde an ausländische Sammler zu verkaufen. Auch der „Islamische Staat“ mischt hier mit. Dadurch gehen der Wissenschaft viele Informationen verloren, die es ermöglichen würden, das Leben in Babylon noch besser zu verstehen.

Wer die Reste des alten Babylon heute zerstört, etwa die IS, der will das Bild, wenn nicht das Vorbild, einer uralten (!) multikulturellen Stadt zerstören?

Babylon selbst ist noch nicht durch den Bürgerkrieg zerstört worden, wohl aber Ruinen in anderen irakischen und syrischen Ausgrabungsstätten. Für den IS spielt dabei eine wichtige Rolle, dass Kulturen wie die in Babylon dadurch geprägt waren, dass Menschen aus unterschiedlichsten Völkern und Religionsgemeinschaften friedlich zusammenlebten. Vielfalt war geradezu das „Erfolgsgeheimnis“ Babylons. Genau eine solche Vielfalt wollen Gruppierungen wie der IS bekämpfen und vernichten.

Sollten sich religiöse Menschen, auch Christen, heute zu Babylon bekennen und sagen: Die uralte Kulturstadt wollen wir ehren und respektieren?

Viele Christinnen und Christen haben inzwischen gelernt, anderen Weltreligionen mit Respekt zu begegnen. Das ist schon deshalb wichtig, weil wir mit Menschen dieser Glaubensgemeinschaften heute Tür an Tür leben. Aber es ist auch für die Menschen im Irak von Bedeutung, wenn wichtige historische Persönlichkeiten wie Nebukadnezar immer wieder diffamiert oder die babylonische Kultur und Religion herabgewürdigt werden. Babylonien und Assyrien sind von immens großer Bedeutung für ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein und eine gemeinsame Identität des zerrissenen und zerstörten Landes. Für uns alle gilt: Von Babylon lernen heißt, Vielfalt zu schätzen und als Reichtum zu begreifen.

Der “Religionsphilosophische Salon Berlin” empfiehlt sehr für private Lektüre und Studium, aber auch für die Gruppenarbeit das neue, spannend zu lesende, vielseitige und aktuelle Buch von Frank Kürschner-Pelkmann:

„Babylon. Mythos und Wirklichkeit“. Steinmann Verlag, Rosengarten bei Hamburg. 2015, 239 Seiten, 24,80 Euro.

ISBN: 978-3-927043-65-7

 

Der Islam gehört nicht zu Deutschland ??? Wenn das logische Denken versagt

Wenn das logische Denken bei einem CDU Poliitker versagt

Von Christian Modehn, veröffentlicht am 26.1.2015.

In leicht veränderten Form liegt der Beitrag auch auf der website der Zeitschrift PUBLIK FORUM vor, die wir erneut empfehlen! Zur Lektüre dieses Kommentars und anderer aktueller Beiträge klicken Sie bitte hier.

Später hat der CSU “Spitzen”-Politiker Horst Seehofer ebenfalls behauptet: Der Islam gehört nicht zu Deutschland. Sehr früh also wurden von CDU/CSU Politikern eine Abneigung gegen “den” Islam  propagiert. Die Früchte dieser pauschalen Verachtung “des” Islam sieht man heute an dn Wahlerfolgen der AFD… (notierz von Christian Modehn am 29.9.2025).

 

„Der Katholizismus gehört nicht zu Deutschland. Allerdings sind Katholiken willkommen und können ihre Religion ausüben“. „Auch der Atheismus gehört nicht zu Deutschland. Allerdings können Atheisten hier ihre Überzeugung ausüben“. Den logischen Unsinn dieser beiden Sätze erkennt jeder noch halbwegs denkende Mensch sofort. Den Katholizismus gibt es nur, weil und wenn es Katholiken gibt. Den Atheismus nur, weil und wenn es Atheisten gibt. „Der Katholizismus“ wie „der Atheismus“ sind allgemeine, rein gedankliche Begriffs-Konstrukte, die als solche und identisch-greifbar gar nicht vorkommen. Es gibt immer nur Menschen, die ihre jeweilige Überzeugung leben und öffentlich zeigen.

Selbst wenn in einer phänomenologischen Betrachtung Religionen analysiert werden, etwa in der Untersuchung ihrer grundlegenden Texte, sind es immer Menschen in unterschiedlichen Situationen und unterschiedlichen Zeiten (und Kenntnissen), die dann ein angebliches “Wesen” ihrer phänomenologisch betrachteten Religion beschreiben. Eine konkrete Religion gibt es also nicht “an sich”, sondern immer nur in Verbundenheit mit Menschen, die diese Religion untersuchen und/oder dieser Religion als Gläubige folgen. Islam ohne Muslime gibt es also genauso wenig wie Muslime ohne Islam! Man kann nicht Muslime schätzen und “den” Islam (naiv als eine Einheit verstanden) verachten.

Nun outet sich der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich am Sonntag, den 25. Januar 2015 in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ als treuer Gefolgsmann der nur selten dem logischen Denken verpflichteten Pegida – Bewegung: Der Ministerpräsident sagt: „Muslime sind in Deutschland willkommen und können ihre Religion ausüben. Das bedeutet aber nicht, dass der Islam zu Sachsen gehört“. Falls sich Sachsen nicht wieder als eigenständiges Königreich mit einem König Stanislaw dem Starken etablieren will, gehört Sachsen nach wie vor zum Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland. Dann kann der jedem logischen Denken ferne Satz des Herrn Tillich tatsächlich nur übersetzt werden: „Das bedeutet, dass der Islam nicht zu Gesamt-Deutschland gehört“.

Aber was heißt das eigentlich? Was will Tillich unternehmen, dass „der Islam“ nicht (länger) zu Deutschland gehört? De facto ist der Islam in Deutschland und (zahlenmäßig ganz schwach) in Sachsen vorhanden, in Moscheen, Bildungsinstituten und kleinen oder größeren Gebetsstuben, in Koranausgaben und Treffpunkten, wie Teestuben und Buchhandlungen. Vor allem ist der Islam präsent in den Muslimen. Sollen diese Institutionen also verschwinden, „weil sie nicht zu Deutschland/Sachsen gehören“? Das ist unmöglich, weil ein großer Teil der Muslime diese Institutionen gebaut haben und gebrauchen. Muslime in Deutschland haben zudem in großer Anzahl auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Darf man Deutschen ihre eigenen Institutionen nehmen? Bis jetzt ist das unmöglich.

Der Pegida-Satz des Herrn Tillich übersieht zudem, dass es „den Islam“ auch in Deutschland als einen festen einheitlichen Block nicht gibt. Es gibt Theorien und Theologien eines liberalen Islams, eines mystischen Islams, eines konservativen Islams, und, auch das, quantitativ eher schwach vertreten, eines fundamentalistischen Islams. Und es gibt die vielen Türken hier, denen die Bindung an „den Islam“ ziemlich gleichgültig ist, so wie es Hundertausende von Katholiken und Protestanten gibt, denen ihre Kirchenbindung nur am Heiligabend wichtig ist.

Aber diese sehr verschiedenen Ausprägungen des Islams gibt es nur, weil es Menschen gibt, die sie formulieren und zu Papier bringen. Logisch gesehen heißt das: Wer großspurig „den“ Islam hier nicht will, der will auch nicht diejenigen hier, die sich auf vielfache Weise an den Islam binden. Wer sagt, der Islam gehört nicht zu Deutschland/Sachsen, der will, ohne es schon direkt zu sagen, dafür sorgen, dass die Muslime hier verschwinden. Denn, siehe oben, „den Islam“ gibt es nur, weil es Islam-Gläubige gibt. Und er will eine noch rigidere und unmenschliche Asylpolitik, weil etliche Hilfe-Suchende aus islamischen Ländern stammen. Er will das angeblich brave (Pegida) Volk aufhetzen, wenn sich irgendwo „der Islam“ zeigt, etwa im Bau von Moscheen. Hingegen ist wohl Tillich dafür, dass Handelsbeziehungen zu den islamischen Staaten blühen, denn die bringen ja Arbeitsplätze auch in Sachsen.

Was Ministerpräsident Stanislaw Tillich betreibt, ist also eine versteckte Form des Rassismus: Muslime raus, könnte er im Klartext reden, doch dazu fehlt ihm wohl noch der Mut. In diesen Tagen denken wir an die Befreiung des KZ Auschwitz vor 70 Jahren: Dabei denken wir daran, dass schon einmal in Deutschland propagiert wurde: Das Judentum passt nicht zu Deutschland, zum Abendland usw. Daraus wurde dann unverhohlen seit 1933 die tötende Botschaft: Die Juden als Juden passen nicht zu Deutschland. Dann wurden sie vertrieben und vergast.

Wie lange ist ein Ministerpräsident tragbar, der sich jedem logischen und damit humanen Denken verschließt? Der unlogische Propagandasprüche verbreitet? Sind ihm die Pegida Leute parteipolitisch wichtiger als Logik und Menschlichkeit? Wenn es Charlie Hebdo Zeichner in Deutschland gebe, würden sie wohl zeichnen: Eine Demonstration in Dresden, auf der alle die Schilder tragen mit der Botschaft: „Der Vorname Stanislaw passt nicht zu Sachen“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Als Background:

Quelle: http://www.welt.de/politik/deutschland/article136740584/Der-Islam-gehoert-nicht-zu-Sachsen.html

Welt am Sonntag: Die größte Sorge der Pegida-Bewegung ist die vermeintliche Islamisierung der Gesellschaft. Frau Merkel sagt nun in diesen Tagen ganz offensiv: Der Islam gehört zu Deutschland. Gehört der Islam auch zu Sachsen?

Tillich: Ich teile diese Auffassung nicht. Muslime sind in Deutschland willkommen und können ihre Religion ausüben. Das bedeutet aber nicht, dass der Islam zu Sachsen gehört.

 

 

Heidegger – wie antisemitisch ist sein Werk?

Heidegger – wie antisemitisch ist sein Werk?

Fortsetzung folgt

Von Christian Modehn

Mit Heidegger kommt kein Philosophierender wohl jemals an ein Ende, dafür ist sein Denken weithin z.B. zu „esoterisch“, d.h. verschlüsselt, dunkel, nebelig, d.h. bewusst der allen gemeinsamen Vernunft entzogen, wie auch der Spezialist Peter Trawny deutlich nachweist, zur Lektüre unseres Beitrags dazu klicken Sie bitte hier.

Auch die Klärung, seiner Verstrickung in Naziunwesen und Antisemitismus kommt zumal durch die Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“ so schnell an kein Ende.

Der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ hat sich mirt dem „Fall Heidegger“ beschäftigt, weil wir selbst durchaus etliche „Aspekte“ des Denkens Heideggers wichtig fanden und sicher noch auch finden. Die Gottesfrage „bei“ Heidegger hat uns immer beschäftigt.

Mehr noch bewegt jetzt die Frage, die ebenfalls nicht auf die Schnelle beantwortet werden kann: Ist das ganze Denken Heideggers, also spätestens seit Anfang der Dreißiger Jahre, vom Naziunwesen „verdorben“? Wer will bei der Fülle des Werkes darauf eine scchnelle Antwort geben? Sind alle diese riesigen Bücherberge, die über Heidegger geschrieben wurden, etwa zweitrangig, wenn nicht überflüssig geworden angesichts der Verblendetheit dieses Denkers? Karl Popper, eigentlich ein klarer Denker, war ja wohl explizit dieser Meinung. Und die ewig zitierte Hannah Arendt? War sie aus Liebe letztlich blind in diesem „Fall“

Vielleicht könnte man sich im kritischen Klären anfangs auf den Begriff der Schickung und der vom Meister empfohlenen gehorsamen.d.h hörenden Haltung dieser Seins-Schickung gegenüber konzentrieren, um das vielfach besprochene und immer deutlicher hervortretende anti-, zumindest a-ethisch Denken des Schwarzwälders zu dokumentieren. Wenn Heidegger nur auf die (mysteriöse) Seinsschickung hörte, sich vielleicht sogar „verhörte“, was er explizit nicht ausschließt, dann ist er eigentlich als diese einzelne Person Martin Heidegger für die eigenen politische Verirrungen und Antisemitismus nicht verantwortlich. D.h. er ist dann eigentlich nicht mehr ethisch „zurechnungsfähig“.

Am 16. Dezember 2014 haben wir auf dieser website auf die Grenzen, d.h. die von Heidegger selbst gesetzten Begrenzungen der Heidegger Forschung hingewiesen und dabei an die Tatsache erinnert, dass die „Gesamtausgabe“ von Heideggers Werken alles andere ist als eine kritische Gesamtausgabe.

Zur Lektüre dieses Beitrags klicken Sie bitte hier.

Nun geht die Diskussion weiter: Nach der Lektüre der Schwarzen Hefte ist der Vorsitzende der Martin-Heidegger-Gesellschaft, Prof. Günter Figal, Freiburg i.Br., von diesem Posten zurückgetreten. Bei einer Lektüre der website dieser Gesellschaft am 22. 1. 2015 um 17.30 Uhr wird immer noch Günter Figal als Vorsitzender erwähnt, obwohl Günter Figal schon am 15. 1. 2015 auf SWR2 seinen Rücktritt besprochen hat. Nebenbei: Zum Kuratorium dieser Gesellschaft gehört als Vorsitzender Martin Heideggers Sohn Herrmann. Zur Heidegger Gesellschaft klicken Sie bitte hier.

Das Heft „Information Philosophie berichtet von der Ra­dio­sen­dung am 15.1. 2015: „ Figal wörtlich: “Die Verstrickung Heideggers in den Nationalsozialismus ist viel größer, als wir bisher wissen konnten, und das heißt, man muss unter diesem Gesichtspunkt die 30er-Jahre-Phase überhaupt erst mal gründlich erforschen. Und das kann man, sobald hinreichend Material dafür da ist“. Zu „Information Philosophie“ klicken Sie bitte hier.

Nun, das „Material“ ist ja eigentlich seit einiger Zeit, also auch schon VOR der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte, hinreichend da. Erstaunlich ist, dass offenbar die Last antisemitischen Denkens jetzt selbst für Günter Figal so unerträglich wurde, dass er jetzt eine Art Schlussstrich gezogen hat, immer offen lassend, was denn vielleicht noch „bleibt“ von Heideggers Denken.

Empfehlen möchten wir dringend das Sonderheft des „Philosophie Magazines“, das im Januar 2015 erschienen ist zum Thema „Die Philosophen und der Nationalsozialismus“, 2015, 98 Seiten, 9,90 Euro. Wir zitieren aus einem empfehlenswerten Beitrag von Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau zu diesem Sonderheft: „Dem Fall Heidegger ist darin ein eigener Schwerpunkt gewidmet. In einem aufschlussreichen Interview berichtet Jacques Taminiaux, der Heidegger ins Französische übersetzte, von seiner Teilnahme an privaten Seminaren des meistgelesenen deutschen Philosophen im 20. Jahrhundert, von dem „Gebaren eines Propheten“ und der Arroganz Heideggers. Heidegger habe sich gewünscht, so Taminiaux, der philosophische Berater Hitlers zu werden, um die Nazi-Bewegung zu zähmen und über sich selbst hinauszuheben – das zeuge von seiner tiefen Verwurzlung im NS-Denken und „wahnhafter Selbstüberschätzung“. Und zu der von uns in einem früheren Beitrag erwähnten Heidegger Forscherin Sidonie Kellerer schreibt Dirk Pilz zusammenfassend: „In einem prägnanten Aufsatz zeigt die Philosophin Sidonie Kellerer zudem, dass er sich auch nach Kriegsende nicht von der NS-Ideologie entfernt hat“.

Sidonie Kellerer hat freigelegt, unter welchen makabren Bedingungen die Gesamtausgabe Heideggers veröffentlicht wird, wie etwa das Deutsche Literaturarchiv in Marbach Handschriften des „Meisters“ nur mit Genehmigung der Erben, also Hermann Heideggers, zur Einsicht freigeben darf usw. Sieht so Forschung in Deutschland aus?

Dabei ist uns aufgefallen, dass die Zeitschrift „Information Philosophie“ schon 1999 (!, offenbar von vielen unbemerkt) auf den Seiten 84 bis 87 ein Interview mit Friedrich-Wilhelm von Herrmann gedruckt hat über die Gesamtausgabe mit dem typischen heideggerisch schwammigen Titel „Wege nicht Werke“. Darin betont der Intimus Martin Heideggers, also der herausgebende Philosoph Friedrich-Wilhelm von Herrmann, dabei den Meister zitierend: „Das denkerische Werk im Zeitalter des Übergangs kann nur und muss ein Gang sein in der Zweideutigkeit dieses Wortes: Ein Gehen und ein Weg zumal, somit ein Weg, der selbst geht“.

Frage am Rande: „Welcher Weg geht selbst??“ Weiß jemand eine nachvollziehbare Antwirt? Man lese dazu in der Gesamtausgabe im Band „Beiträge…“ S. 83.

Jedenfalls ist das Interview mit von Herrmann in „Information Philosophie“ von 1999 heute noch lesenswert. Heidegger selbst hat demzufolge Anweisungen gegeben, wie man sein Opus bearbeiten soll. Und daran halten sich selbstverständlich die treuen Forscher. Dabei wurden von den Herausgebern viele Fehler begangen, die der Heidegger Übersetzer Theodore Kisiel öffentlich beklagte. Jedenfalls sagte von Herrmann, sozusagen der oberste aller oberen Heidegger Deuter: „Heidegger wünschte eine Werkausgabe letzter Hand, NICHT ABER EINE HISTORISCH KRITISCHE AUSGABE“. Das schafft Klarheit. Darf so Wissenschaft betreiben, geht Treue zum Meister über den Anspruch der Wissenschaft hinaus? Wie lange haben wir Heidegger Leser das eigentlich implizit hingenommen und erst recht die vielen Heidegger Spezialisten? Warum gab es keinen Aufschrei schon damals, als von Herrmann dieses gutmütige Bekenntnis von sich gab?

Nebenbei: Auf das TV Interview von Herrmann durch den Putin Freund Alexandre Dugin (den manche seriöse Beobachter nicht gerade für einen Demokraten halten, um es milde auszudrücken) für das Russische Fernsehen gab, haben wir schon früher hingewiesen, als ein Beispiel für die Vernetzung rechtsradikalen Denkens mit Heideggerscher Philosophie. Siehe: http://www.4pt.su/de/content/prof-alexandre-dugin-mit-prof-friedrich-wilhelm-von-herrmann. Noch mal gelesen am 22. 1. 2015.

Die lang andauernde Nähe Heideggers (treffender wäre wohl Freundschaft) zu eher sehr rechtslastigen Denkern wurde schon von dem Philosophen Emmanuel Levinas dokumentiert. Dabei handelt es sich um die seit 1946 lange anhaltende Freundschaft mit dem Franzosen Jean Beaufret (1907 – 1982), dem er sogar seinen Humanisms Brief in gewisser Weise widmete. In seiner Levinas Studie schreibt Salomon Malka (Beck Verlag, 2003) auf Seite 170, dass auch Derrida wusste, dass „Beaufret ein Antisemit war“.

Malka schreibt: „Nach Beaufrtes Tod stellte sich heraus, dass er Robert Faurisson unterstürzt hatte, jenen Historiker in Lyon, der die Schule der Auschwitzleugner anführt. Bedenkt man, dass er Heideggers Rauchfassträger war, ihn einführte und räumte, wo er nur konnte, dass er (Beaufret) Gespräche mit Heidegger führte und diese veröffentlichte, so erhält dieser späte Revisionismus symptomatische Bedeutung. … Die Antwort darauf liegt möglicherweise in der hymnischen Verehrung des Griechen – und Heidentums der Antike, die Beaufret Jugend geprägt und ihn zum bedingungslosen Anhänger Heideggers hat werden lassen“…. Von daher auch Beaufrets Sympathien für die Neue Rechte in Frankreich. „In Beaufrets vielleicht wichtigstem Werk „Dialog mit Martin Heidegger“ findet sich keinerlei Erwähnung der jüdischen Thematik“, so Malka in dem genannten Buchg (s. 170f.).

Fortsetzung folgt…

Copyright: Christian Modehn

 

 

 

 

 

Fromme Millionäre, radikale Priester: Ein Hinweis auf die Vielfalt der Religionen in Brasilien

Fromme Millionäre, radikale Priester

Ein Hinweis auf die Vielfalt der Religionen in Brasilien

Von Christian Modehn

Anlässlich der Fußball WM in Brasilien interessiert sich der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ naturgemäß für Philosophien und Religionen (und für das Spielen als Spielen) in Brasilien; zur Philosophie in Brasilien heute mit einem aktuellen Hinweis auf die Befreiungsphilosophie in Brasilien und zur Philosophie des Spielens haben wir schon Hinweise und Anregungen publiziert.

Wir wundern uns, dass unseres Wissens kein Buch aktuell erschienen ist (in deutscher Sprache) zu dem überaus spannenden Thema Religionen in Brasilien. Wir haben früher auf dieser website auf die Camdomble Religion mit ihrem beachtlichen Kulturzentrum in Berlin hingewiesen (klicken Sie hier) und auf den durchaus weltbekannten Erzbischof Dom Helder Camara, Recife, (klicken Sie hier), der als der große Bischof der Armen, als Aktivist für Menschenrechte und Demokratie und selbstverständlich für eine offene römische Kirche von Papst Johannes Paul II. und Kardinal Ratzinger letztlich kaltgestellt wurde; sein befreiungstheologisches – pastorales Werk in Recife wurde de facto auf Befehl der Herren in Rom vernichtet. Jetzt klagen die Bischöfe über den Vertrauensschwund, den der römisch-katholische Glaube auch in Brasilien durchmacht… Aber das nur am Rande.

Es gibt also keine aktuellen kritischen Studien über die Religionen in Brasilien. Druckerzeugnisse über Brasilien von „kirchlichen Hilfswerken“ sind naturgemäß eher Werbebroschüren…

Wer sich für Protestgruppen in Brasilien gegen das ganze Ausmaß von Verschwendung und Korruption der FIFA interessiert, gegen die sinnlose Bauwut und die Repression der Polizei usw… sollte sich mit der Protestbewegung “Comite Popular da Copa” befassen. “Das Comite repräsentiert soziale Bewegungen, Favelabewohner, Studenten, Professoren usw.”, berichtet Pedro Costa, Rio,  in einem Interview mit Philipp Lichterbeck in “Der Tagesspiegel” vom 10. Juni 2014, Seite 2. “Es geht uns um Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat. Alle drei wurden im Namen der WM in Brasilien schwer verletzt, unser Dossier dazu umfasst 170 Seiten”. Wer Portugieisch lesen kann, sollte diese website dieser Basisbewegung studieren:

http://www.portalpopulardacopa.org.br/

Erste kritische Hinweise zum Thema Kirchen in Brasilien bietet das sehr lesenswerte Buch „Brasilien. Ein Länderporträt“ von Jens Glüsing, das im Ch. Links Verlag 2013 erschienen ist. Wir empfehlen das Buch insgesamt.

Es bietet interessante Reportagen zum Thema, etwa in dem Kapitel „Brennende Wälder und streitbare Priester“ vor allem über den schon  weltweit bekannten katholischen Bischof Erwin Kräutler in der Stadt Altamira am Rio Xingu. Kräutler und einige Pfarrer und Nonnen sind entschiedene Verteidiger nicht nur der Rechte der indigenen Völker; sie klagen Brasiliens und die mit ihnen verbandelten europäischen und us-amerikanischen Kapitalisten an und die mit ihnen kooperierenden Regierungen Brasiliens, den Regenwald zu verschachern und damit auch ökologische Katstrophen großen Ausmaßes zu befördern.  „Holzhändler und Rinderzüchter machen sich die Abwesenheit des Staates hier zunutze. Sie teilen die Waldgebiete in Parzellen auf, fälschen Eintragungen ins Grundbuch und vertreiben die Kleinbauern dort mit Waffengewalt… Von der Regierung ist keine Hilfe zu erwarten…“ (. 112 f).  Hilfe kommt für die Armen (und für den Regenwald) von dem mutigen Priestern und Nonnen, eben auch von Bischof Kräutler, der wegen seines Engagements mehrfach Attentaten der Verbrecherbanden ausgesetzt war;  jetzt kann er sich nur noch mit Body-Guards auf die Straße wagen. Bischof Kräutler ist einer der letzten entschiedenen Bischöfe für die Befreiungstheologie. Man hat nicht den Eindruck, dass vom Papst Franziskus bis zu allen Bischöfen Brasiliens laut und vernehmlich gesagt wird: „Bischof Kräutler, wir unterstützen dich mit ganzem Herzen und mit allen politischen Konsequenzen; dein Kampf ist unser Kampf“.

Inzwischen ist der junge brasilianische Klerus weitgehend und mehr an klerikalen Aufgaben in gut betuchten Stellungen interessiert als am politischen Dienst an den Armen: „Heute achten die kirchlichen Ausbilder vor allem darauf, dass die Nachwuchspriester schön das Halleluja singen“, klagt Padre Amaro de Souza, ein Mitstreiter der ermordeten Nonne Dorothy Stang, auch sie hat die Rechte der Armen dort verteidigt. (s.S. 119). Aber lesen sie selbst in dem empfehlenswerten Buch…Die Nonne Dorothy Stang, 78 Jahre alt, wurde von Auftragskillern der Rinderzüchter umgelegt, sie hatte die vertriebenen Kleinbauern verteidigt. “Der Mörder lauerte ihr im Urwald auf, sie las ihm noch ein Gleichnis aus der Bibel vor, bevor er sie in den Hinterkopf schoss. Bischof Kräutler predigte auf ihrer Beerdigung” (so Jens Glüsing, Seite 117).

Ein anderes Kapitel verdient genau so viel Aufmerksamkeit. Es ist überschrieben „Von Göttern, Entertainern und Wunderheilern. Brasiliens Supermarkt der Religionen“, auf den Seiten 145 bis 160.  Darin breitet Jens Glüsing das Spektrum der so genannten Pfingstkirchen aus, berichtet von jenen Pastoren, die glauben, vom heiligen Geist berufen zu sein, glanzvolle Kirchen zu bauen und den Gläubigen das Geld aus der Tasche zu ziehen. In einer gründlichen Recherche zeigt Glüsing, wie die Pfingstgemeinden schnell Millionen Mitglieder gewinnen, weil der Katholizismus einfach zu klerikal ist und keinen „direkten Zugang zu Gott“ bietet, „während im Katholizismus der Glaube über den Pfarrer vermittelt wird“ (S. 149).  Glüsing zeigt den Konkurrenzkampf dieser verschiedenen Pfingstkirchen auf, er nennt etwa Pastor Silas Malafaia, der ein „Imperium von 120 Gotteshäusern leitet, in einem Vorort von Rio baut er gerade eine neue Halle für 10.000 Leute“ (S. 150). „Sein Kirchenimperium leitet Malafaia von einem riesigen Neubaukomplex im Westen Rios. Es geht zu wie in einem multinationalen  Unternehmen, die Zufahrt wird von einem privaten Sicherheitsdienst kontrolliert usw…“ ( s. 151). Veranstaltet wird auch der „Marsch für Jesus“ mit einer halben Million Teilnehmern in Sao Paulo, propagiert wird dort die Heilung von der Homosexualität. Im Kongress setzen sich die frommen geldgierigen Pfingstler – Politiker gegen jegliche Abtreibung ein, sie wollen liberale Gesetze kippen… Das Fazit von Jens Glüsing: “Kirchen sind ein lukratives Geschäft“ (S. 152). Hingegen: „Zahlreiche Gangsterbosse und Auftragskiller sind zu Predigern geworden. Pfingstkirchen und Kokainmafia leben in Rios Favelas oft in Symbiose“, schreibt Jens Glüsing (S. 153).

Das Buch “Brasilien. Ein Länderporträt” (Ch. Links Verlag Berlin) weckt das Interesse, mehr Informationen über Religionen in Brasilien zu erhalten, etwa über den dort sehr starken Spiritismus, über die stetig wachsende Zahl (junger) Menschen dort, die sich Atheisten nennen, die Basisgemeinden, den Islam dort oder den Buddhismus usw. Interessant ist, dass offenbar theologische – liberale Kirchen dort äußerst schwach vertreten sind. Sie könnten aber zeigen, dass zur Religiosität bzw. Spiritualität immer auch das kritische, auch das religionskritische Bewusstsein gehört.

Copyright: Christian Modehn Berlin, RPS.

Die Hoffnung von Weihnachten. Ein Interview mit dem Publizisten Frank Kürschner–Pelkmann, Hamburg

Die Hoffnung von Weihnachten
Brücken bauen zwischen “naivem” Kinderglauben und existenziellen religiösen Fragen
Ein Interview mit dem Publizisten Frank Kürschner – Pelkmann, Hamburg
Die Fragen stellte Christian Modehn

Herr Kürschner-Pelkmann, Sie haben eines der umfangreichsten und gründlichsten Bücher über Weihnachten publiziert. Wie sind Sie denn auf dieses Projekt gekommen? Gibt es bei Ihnen auch biographisch eine Art Begeisterung für Weihnachten?

Meine Beschäftigung mit Weihnachten entstand nicht nur aus Begeisterung, aber doch einem großen Bedürfnis, meine sehr widersprüchlichen Weihnachtserfahrungen zu reflektieren. Gern erinnere ich mich an die Weihnachtsgottesdienste in einer festlich mit Kerzen erleuchteten Schlosskirche und an die friedliche Stimmung des Weihnachtsfestes in meiner Kindheit in den 1950er Jahren. Aber spätestens nach der Konfirmation kamen die Zweifel, ob die Weihnachtsgeschichte nur ein – wenn auch sehr schönes – Märchen ist. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich dann versucht, die schönen Geschichten der Bibel und die Vernunft in einem persönlichen Glauben zu verbinden. Dabei habe ich gemerkt, welche zentrale Rolle hierfür die Weihnachtsgeschichte hat.

In meiner Beschäftigung mit diesem Thema habe ich vor allem gelernt, dass ich die tiefere Wahrheit der biblischen Überlieferung nur dann erkennen kann, wenn ich sie als Glaubensgeschichten und nicht als die Darstellung historischer Ereignisse verstehe. Abstrakt wissen das die meisten Pastorinnen und Pastoren, aber häufig predigen sie – und das gerade am Heiligen Abend – so, als hätte sich eine Geschichte in Bethlehem genau so zugetragen, wie sie aufgeschrieben wurde. Aber gerade wenn ich mich nicht daran klammere, dass das Jesuskind im Jahre 0 in einem Stall in Bethlehem geboren wurde und bald darauf Hirten und Könige vorbeikamen, sondern versuche zu verstehen, was uns die Evangelisten mit diesen Geschichten über Jesus und seine Botschaft sagen wollten, wird für mich die Weihnachtsbotschaft zu einer Botschaft der Freude, des Friedens und der Gerechtigkeit. Inzwischen kann ich mich wieder uneingeschränkt auf dieses Fest freuen.

Haben Sie eine intensive Erinnerung an ein bestimmtes Weihnachtsfest? Sie sind ja als Journalist auch in der Welt viel unterwegs gewesen.

Da fällt mir spontan ein Weihnachtsfest auf der Insel Madeira ein. Meine Frau und ich machten einen Wanderurlaub, und unsere Gruppe wohnte in einem kleinen Hotel, in dem außer uns nur noch wenige Gäste übernachteten. Am Weihnachtsabend genossen wir alle im Restaurant ein köstliches Festessen. Es war noch nicht beendet, da stimmte eine Gesangslehrerin in unserer Gruppe gefühlvoll ein Weihnachtslied an, und unsere ganze Gruppe stimmte ein. Ein deutsches Ehepaar, das offenbar vor Weihnachten hatte flüchten wollen, sprang mit allen Anzeichen des Entsetzens auf und lief aus dem Restaurant.

Weihnachten zu entkommen ist eben gar nicht so einfach. Und eigentlich ist es das gerade auf Madeira nicht, wo zur Weihnachtszeit überall Krippen und Weihnachtsschmuck zu sehen sind. Die bunten Krippen werden von Touristen oft als Folklore “abgebucht”, aber wenn man genauer hinschaut, merkt man, dass er zeigt, wie der Glaube im Alltag der Menschen zu Hause ist. Dass die Krippendarstellungen durch Landschaften, Gebäude und Kleidung Madeiras abbilden, macht deutlich, dass die 2.000 Jahre alte Geschichte von der Geburt des Kindes von den Einheimischen immer neu als Ereignis mitten in ihrem eigenen Leben erfahren wird. Und ebenso ist es in vielen Ländern der Welt. Es freut mich immer wieder, wenn solche lokalen Weihnachtstraditionen gegen die weltweiten Eroberungszüge des Weihnachtsmanns verteidigt werden, denn dieser Mann mit rotem Mantel und Rauschebart ist zum Symbol der globalen Expansion eines total kommerzialisierten Weihnachten verkommen.

Können Sie, können wir eher kritisch nachdenkliche Menschen in Westeuropa, heute überhaupt hier noch Weihnachten als religiöses Fest feiern? Hat der Kommerz, der Rummel, nicht alles längst verdeckt?

Es gibt eine Welt jenseits der totalen Kommerzialisierung – und es gibt auch ein Weihnachtsfest jenseits des Kommerzes. Vielleicht können sich kleinere Kinder und ältere Erwachsene noch am stärksten der Vermarktung des Festes entziehen. Viele Kinder lassen sich noch unbefangen anrühren von der Geschichte von dem neugeborenen Kind, das in einer kalten Nacht in einer Krippe liegt, umsorgt von seinen Eltern und bald schon verfolgt von einem bösen König. Und viele ältere Menschen wenden sich von einem totalen Verkaufsrummel ab, schon weil er ihnen zu laut ist. Schade ist, dass in vielen Weihnachtsgottesdiensten keine Brücken gebaut werden zwischen “naivem” Kinderglauben und den existenziellen religiösen Fragen vieler Erwachsener und gerade älterer Menschen. Recht verstanden – und das heißt, nicht wortwörtlich verstanden – kann die biblische Weihnachtsgeschichte uns einen neuen Zugang zum Glauben eröffnen, zu dem woher, wofür und wohin des menschlichen Lebens.

Sehr viele Menschen nehmen gerade und oft sogar ausschließlich zu Weihnachten an Gottesdiensten teil. Äußert sich da vielleicht eine tiefe Sehnsucht nach einem Abtauchen ins Kindliche, ins Naive, ins Heile und Friedliche? Das wäre ja auch prinzipiell ein respektables Verhalten?

Ich bin gegen eine Zertrümmerung der sehnsuchts- und hoffnungsvollen Weihnachtsstimmung. Da habe ich viel von dem brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff gelernt. Zum christlichen Glauben gehört für ihn die tief empfundene Hoffnung auf eine andere friedlichere und heilere Welt. Wo “alternativlos” zu einem zentralen Begriff im politischen Diskurs geworden ist, hat diese Hoffnung etwas geradezu Subversives. Das hat zum Beispiel auch die Schriftstellerin Astrid Lindgren in ihren Geschichten beeindruckend dargestellt. Die Weihnachtsfeste in Bullerbü sind keine verkitschte Idylle, sondern gerade auf dem Hintergrund des oft problembeladenen Lebens der Schriftstellerin die Verteidigung der Hoffnung auf ein ganz anderes Zusammenleben der Menschen. Astrid Lindgren hat die soziale Realität in ihren Geschichten und auch in ihrem vielfältigen Engagement in der schwedischen Gesellschaft nicht ausgeklammert, aber sie hat eben auch die Hoffnung auf eine andere Welt wach gehalten, eine wirklich weihnachtliche Hoffnung.

Weihnachten wird auch von nichtreligiösen Menschen gefeiert, sogar in Japan feiern Menschen Weihnachten, dabei wissen sie oft gar nicht, was das Fest bedeutet. Was wäre dringende Aufgabe der Kirchen, neu und einfach und klar den Menschen zu erklären: Mit diesem Jesus von Nazareth ist etwas Besonderes geschehen, ein Grund zur Freude. Was wäre in Ihrer Sicht dieses Besondere, dieser Grund zur Freude?

Es stimmt, dass die Kirchen die besondere Bedeutung von Weihnachten neu erklären sollten. Aber die Probleme beginnen schon damit, dass viele Theologen und besonders Theologieprofessoren ein ambivalentes Verhältnis zum Weihnachtsfest haben. Dabei geht es nicht nur um die Kommerzialisierung, sondern auch darum, dass Weihnachten ein fröhliches Fest ist. Das macht Weihnachten für “ernsthafte” Theologen zu einem Fest zweiter Ordnung. Das Kreuz und damit Ostern stehen im Zentrum, nicht die Krippe. Als die frühere Hamburger Bischöfin Maria Jepsen anregte, die Krippe stärker in den Mittelpunkt des christlichen Glaubens zu stellen, erntete sie wütende und böswillige Reaktionen in konservativen Theologenkreisen. Ich hoffe auf eine Kirche, die die Freude des Neuanfangs und die Verheißung von Frieden und Wohlergehen für alle stärker in den Mittelpunkt ihrer Verkündigung und ihrer Darstellungen des Weihnachtsfestes stellt. Bei Lukas verkünden die Engel den Hirten eine große Freude. Es ist die Freude darüber, dass mit Jesus mitten in einer Zeit der Gewalt und Ausbeutung ein Mensch auf die Welt gekommen ist, der den Menschen neue Hoffnung und Orientierung für ein geschwisterliches und gottgefälliges Leben gibt. Und diese umfassende Freude, hoffe ich, wird das Weihnachtsfest wieder stärker prägen. Dann wird es auch zu einem einladenden Fest für nichtreligiöse Menschen.

Copyright: Frank Kürschner-Pelkmann

Der Abdruck des Interviews ist erlaubt, wenn die Quellenangabe erfolgt: Religionsphilosophischer Salon Berlin mit den Hinweisen auf das Buch.

Frank Kürschner-Pelkmann: Von Herodes bis Hoppenstedt. Auf den Spuren der Weihnachtsgeschichte. Verlag Tredition, 2012, 696 Seiten; 36,80 Euro.