Die 4. unerhörte Frage: Warum haben Menschen das deutliche Kriterium für die Qualität ihres Lebensstils (ihrer Moral) vergessen?

Von Christian Modehn: Die 4. Frage unserer Reihe „Unerhörte Fragen“: Warum haben wir den „Kategorischen Imperativ“ vergessen?

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet , beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.

Über Moral und Ethik kann man natürlich ewig diskutieren und dann sagen: Ja, ja, jeder und jede hat irgendwie recht. Also soll jeder – auch politisch und ökonomisch – so leben, wie es ihm passt. Egal, was dann weiter passiert.

Immanuel Kant hat die menschlichen, die sozialen und politischen Gefährdungen dieser simplen Haltung erkannt und ihr mit Gründen vernünftiger Einsicht, die DEN Menschen auszeichnet, widersprochen.

Kant wusste: Mit äußeren Befehlen und Gesetzen ist einer banalen moralischen Haltung allein nicht beizukommen. Einzig die innere Überzeugung, also eine Leistung der Vernunft, hilft auf Dauer weiter und führt zu einer menschenwürdigen und freien Gesellschaft, also einer, in der alle Menschen ihrer Würde entsprechend leben können. Dass Moral dabei nicht den Mief einer spießbürgerlichen Sexualmoral hat, ist sowieso klar.

2.

Man sollte sich fragen, warum die verschiedenen Formulierungen des Kategorischen Imperativs von Kant so wenig bekannt und noch viel weniger respektiert werden? Sie sind doch so einfach zu verstehen. Liegt die Unkenntnis an dem etwas schwierigen Titel? Liegt es an der allgemeinen Unbildung vor allem auch in Fragen der vernünftigen Lebensgestaltung, und dies ist ja die Philosophie? Wahrscheinlich ist das so. Indem man Philosophie als „schwierige Disziplin“ in die Ecke des Marginalen stellt, entledigt man sich auch der Grundsätze einer universalen humanen Lebensgestaltung.

Zwei Formulierungen des „Kategorischen Imperativs“ von Immanuel Kant, die sich auf die Grundsätze der individuellen Lebensgestaltung beziehen, folgen gleich.

Zunächst: Diese unbedingt (also kategorisch) geltenden Imperative beziehen sich auf die zahllosen Maximen, also die Leitlinien individueller Lebensgestaltung, die jeder und jede, irgendwie, mehr oder weniger bewusst, „hat“ und lebt.
Heute wäre eine aktuelle Maxime etwa: „Zuerst muss ich mich als Teil der reichen Länder um mein eigenes materielles Wohlergehen kümmern“.
Oder: „Die Frage der Klimapolitik überlasse ich künftigen Generationen“.
Oder: „Wir als deutsche Unternehmer (etwa Bayer) haben moralische Doppelstandards und akzeptieren, dass unsere Gifte für den Acker (mit Pestiziden) im reichen Europa nun verboten sind, um so mehr sind wir dankbar, dass wir unsere Gifte an anderen Orten, etwa im armen Lateinamerika, auf den Markt bringen können.“
Oder: „Ich als Agrar-Unternehmer (etwa in Spanien) brauche für meine Obstplantagen Menschen, die als Ungelernte und zudem noch als Flüchtlinge aus Afrika eben schlechter als andere bezahlt werden dürfen und in eher primitiven Unterkünften leben können“.
Jeder und jede kann weitere, seine eigenen Maximen formulieren. Diese Maximen hätten im Denken der Vernunft, im Sinne Kants, keinen Bestand in der Moral.

Kant macht es uns insofern einfach, als er für die denkbare Fülle von Maximen Kriterien hinsichtlich ihrer Vernunft formuliert, also Prüfsteine ihrer moralischen und allgemein menschlichen Qualität,

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Oder:
Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.
In heutige Alltagssprache übersetzt könnte man diesen Kategorischen Imperativ so verstehen: „Handle so, dass du die allgemeine menschliche Würde aller Menschen sowohl für dich selbst und für jeden anderen Menschen niemals instrumentalisierst. Du sollst dich selbst und auch keinen anderen Menschen als Mittel, als Ding, verstehen und behandeln. Sondern: Du selbst und jeder andere Mensch ist Selbstzweck, hat also unendlichen Wert an sich selbst. Kein Mensch darf für irgendetwas wie ein Instrument behandelt werden“.

Werden diese Imperative mit den jeweiligen Maximen verbunden, kann die Qualität der Maxime beurteilt werden. Aber die Erkenntnis stellt sich der Freiheit eines jeden, der Erkenntnis zu folgen.

3.

In sehr vielen religiösen Kulturen setzte sich die so genannte „Goldene Regel“ durch: Als Sprichwort ist sie sehr weit verbreitet, etwa:
„Was du nicht willst, dass man es dir tut, das füg auch keinem anderen zu“. Oder auch „moderner“ formuliert:
“Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“.

Über diese traditionsreichen „Goldene Regel“ wurde viel geschrieben, oft wurden die Grenzen dieses Weisheitsspruches dargestellt. Etwa etwas spitzfindig: „Wenn ich geschlagen werden will, dann kann ich auch andere schlagen“…

Wegweisend ist die aktuelle Formulierung des Kategorischen Imperativs durch den Philosophen Hans Jonas: Er hat einen ökologischen Imperativ vorgeschlagen: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Oder auch: „Handle so, dass die Folgen deines Tuns mit einem künftigen menschenwürdigen Dasein vereinbar sind, d.h. mit dem Anspruch der Menschheit, auf unbeschränkte Zeit zu überleben.“

Jeder kann sich weitere kategorische Imperative überlegen, auch: „Welche Maxime ist mir wichtig?

Für die Bildungspolitiker könnte man formulieren: „Handle so als Bildungspolitiker, dass die SchülerInnen ethische Grundkenntnisse wie den Kategorischen Imperativ nicht nur auswendig lernen, sondern auch für ihr Leben verstehen. Denn moralisches Leben ist ohne Reflexion der Vernunft nicht möglich“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die 3. unerhörte Fragen: Inwiefern ist der heutige Katholizismus immer noch vom Aberglauben bestimmt?

Ist der Katholizismus auch heute noch, nicht nur eine Religion des Wunderglaubens, sondern auch des Aberglaubens?

Von Christian Modehn, am 10.6.2021.

Was bedeutet „unerhört“?
1.Unerhört werden außerordentliche Themen (auch Dinge) genannt.
2.Als unerhört gilt, wenn ein Wort, ein Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht beachtet wird, also un-erhört bleibt, mit Schweigen übergangen wird. Unerhörtes wird oft von Machthabern „totgeschwiegen“. Und die Fragenden werden zu “unerhörten Leuten” erklärt…

Die 3. unerhörte Frage also:
Inwiefern ist der heutige Katholizismus immer noch vom Aberglauben bestimmt

1.

Ein Gebetssturm wegen der Pandemie wurde bereits kürzlich offiziell von Papst Franziskus entfacht. Durch Rosenkranz-Gebete sollte Gott im Himmel bestürmt werden, für eine gute Lösung der Pandemie zu sorgen. Die Ergebnisse dieses weltweiten Betens kann man sich ansehen und darf wohl sagen: Geholfen hat nachweislich die Wissenschaft der Medizin, etwa das Impfen. Die Impfgegner ließen sich durch den Gebetssturm nicht korrigieren. Sie blieben stur. Und stecken andere an. Die Frommen wurden hoffentlich bestärkt, durchzuhalten und aufs Impfen zu warten.

Schon dieser „Gebetssturm“ im Mai 2021 hatte den Charakter von Aberglauben: „Bete nur heftig und viel, und Gott persönlich wird dich und die Welt insgesamt gesundheitlich heilen“.

Nun aber geht es weiter: Vom 7. Juni bis zum 15. August 2021 wird erneut ein großer Gebets – „Marsch“ quer durch Frankreich stattfinden, um alle Familien der Nation dem heiligen Josef anzuvertrauen. Dies ist der französische Beitrag zum Josefs-Jahr, das der Papst schon 2020 ausgerufen hatte.

Also, ein Josefs-Jahr: Ja, wirklich, dem Gatten Mariens, dem Vater Jesu von Nazareth, dem Bautischler dort selbst, gilt die Verehrung. Aber was ich da schreibe ist ein offizieller Irrtum in der Person: Denn der heilige Josef ist nach katholischer Dogmatik ein ganz anderer: Er ist nicht etwa der wirkliche, der leibliche Vater Jesu, von dem aufgeklärte Theologen gelegentlich sprechen, sondern der katholisch ersonnene sexuell eher apathische alte so genannte „Nährvater“ Jesu. Denn das Kind Mariens, also Jesus, wurde ja dem Mythos folgend von Gott selbst gezeugt. Gott ist der Vater des Jesus von Nazareth!
Von dem asexuellen Nährvater Josef, meist sehr alt auf Barock – Gemälden dargestellt, überliefern die Bücher des Neuen Testaments meines Wissens höchstens zwei oder drei Sätzchen. Genaues weiß man von ihm nicht, seinen Tod kennt niemand, keiner weiß, ob er die Kreuzigung seines „Pflege-Sohnes“ erlebt hat etc. Alles ungewiss. Aber die Kirche spekuliert trotzdem ungebremst: Fürsorglich war der Mann Josef, sexuell und erotisch aber völlig desinteressiert und … darin wohl für die Kleriker ein Vorbild für katholische Familien auch heute.

Alle sollen sich nun im Juli und August 2021 ihm anvertrauen und um himmlischen Beistand bitten. Denn der heilige Josef kann im Himmel Gott selbst direkt anflehen, seine irdischen Josefs-Freunde in Frankreich besonders zu schützen. Dies ließ jedenfalls der Apostolische Nuntius in Frankreich, Monsignore Celestino Migliore verlauten, als er den Josefs-Pilgern die Segenswünsche von Papst Franziskus übermittelte: „Indem der Papst diese Pilger der Fürbitte des heiligen Josef anvertraut, gewährt der Papst von ganzen Herzen seinen väterlichen und liebevollen apostolischen Segen“.

Die Josefspilger können selbstverständlich wie alle anderen glauben, was sie wollen. Die Josefs-Pilger glauben ja auch an den Gnadenort des heiligen Josefs zu Cotignac in der Provence, im Bistum Fréjus – Toulon. In Cotignac ist nämlich am 7. Juni 1660 Josef persönlich „erschienen“, die einzige Josefs-Erscheinung neben zahllosen Marien-Erscheinungen, wie in Fatima, Lourdes etc…In Cotignac hat der heilige Bautischler aber auf einen Stein (!) verwiesen und sagte dem durstigen Hirten Gaspard Richard: „Ich bin Joseph, (mit ph geschrieben), hebe diesen großen Stein dort in dieser Gegend ohne Wasser und du wirst trinken“. Und siehe da: Es floss Wasser aus einer Quelle. „Schöpft mit Freuden aus den Quellen des Erlösers“ ist noch heute an der Stelle zu lesen, wo die Quelle „entsprang“. Während der Französischen Revolution und danach wurde diese wunderbare Josephserscheinung vergessen, der Wunderglaube wurde erst 1975 wieder belebt und als „Erscheinung“ offiziell von der Kirche anerkannt.

In dieses provenzalische Dörfchen schieben also die Josefs-Gläubigen von Paris aus die Josefs-Statue (auf einem einrädrigem Rollstuhl, einer „Joelette“, quer durchs Land. Auf Josefs Schultern sitzt segnend das Jesuskind, so dass man eher an eine Christophorus-Statue erinnert wird. Der Pilgermarsch wird mehrere Wochen dauern, die Veranstalter hoffen, viele gute Gespräche auch mit „Nicht-Glaubenden“ unterwegs.

Wie gesagt: Jeder kann glauben was er will, solange er damit nicht das friedliche Zusammenlebt stört. Das ist bei den Josefs-Pilgern wohl nicht der Fall.

2.

Aber es könnte doch ein Bischof mal auf den Gedanken kommen: Welche Form von Glauben demonstrieren wir Katholiken eigentlich öffentlich mit solchen Wallfahrten, mit solch einem Glauben, dass der asexuelle Vater Jesu im Himmel Fürsprache bei Gott hält? Was soll das? Ist im Himmel auch Jahrmarkt? Verdummt man die wenigen verbliebenen Gläubigen mit solchem Wahn und raubt ihnen die Zeit mit solchem Engagement? Kann sich der Katholizismus nicht auch populär UND vernünftig – modern zeigen? So aber wird bei den vielen kritischen Menschen heute das Wissen bestätigt, dass der katholische Glaube doch auf weite Strecken ein päpstlich zugelassener und geförderter Aber-Glaube ist.
P.S.: Über die inzwischen weltweit bekannten reaktionär-katholischen Zustände im Bistum Fréjus-Toulon, wo sich das Josefs-Heiligtum befindet, habe ich schon einige Hinweise verfasst. Auch zum dortigen extrem – reaktionären Bischof Dominique Rey, er ist ein „Versteher“ der rechtsradikalen Partei Front National; Rey gehört der charismatischen Gemeinschaft EMMANUEL an.

WARUM ist diese Frage wichtig? Weil sie zeigt, in welchem geistigen Zustand etliche Kirchenführer und Familien und besonders die Väter sich befinden und eine Phantom-Gestalt verehren, einen Vater, der kein leibiicher Vater ist, eine heilige Familie, die eigentlich deswegen keine Familie ist; zudem werden die im Neuen Testament genannten Geschwister Jesu von der Kirche ignoriert bzw. als Cousins etc. umtituliert.

Vor allem aber: Da wird eine männliche Phantomgestalt, der keusche alte Joseph, als heiliges Vorbild auch heutiger Gestaltung von (männlicher) Sexualität und Erotik propagiert. Was für ein Wahn!

Abgesehen davon, wie befremdlich es ist: Eine Kitschfigur im Sommer durch die Straßen von ganz Frankreich zu schleppen und zu ziehen: Auf welchem Niveau ist der Katholizismus eigentlich allmählich gelandet?

Es gibt für die heutige Menschheit sehr viel dringendere Themen als dieses Josephs-Spektakel und andere Marien-Spektakel….als diesen Aberglauben, der sich katholisch nennt.

Das sind die Themen, neben den berechtigten „Missbrauchs-Themen“, an denen sich der Katholizismus abarbeiten sollte, falls er für moderne Menschen noch relevant sein sollte und wollte.

Hinweise zum unerhörten Thema “Voltaire gegen den Aberglauben” LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die 2. unerhörte Fragen: Warum fördert der Katholizismus die Korruption in Lateinamerika?

Die 2. Frage unserer Reihe “Unerhörte Fragen”
Warum fördert der Katholizismus die Korruption in Lateinamerika?
Von Christian Modehn am 9.6.2021.

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet , beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

Die 2. unerhörte Frage also:
Warum gibt es keine soziologischen und religionswissenschaftlichen Studien, die das Begründungsverhältnis von katholischer Kirche und Korruption, besonders krass im „katholischen Lateinamerika“, freilegen?

Fast alle lateinamerikanischen Staaten sind bekanntlich von Korruption seit Jahrhunderten zerrüttet, mit den Konsequenzen von permanenter Gewalt und zunehmendem Elend der Massen. Diese Korruption als „Verdorbenheit“ bzw. als Fehlen des Respekts für die für die Menschenrechte hat vielfache Ursachen. Eine entscheidende Ursache ist die Religion, im Falle Lateinamerikas der Katholizismus. Über den Zusammenhang schweigen sich die Katholiken, Theologen und ihre Bischöfe aus, kein Bischof sagt: „Unsere eigene Religion in ihrer Form wie in ihrem Inhalt ist mit-schuldig an der permanenten Korruption“. Nur ein Beispiel: Eine Kirche, die die Frauen von allen führenden Kirchen-Ämtern ausschließt und den Marien-Kult (den Kult der reinen Jungfrau) extrem auch als Wunderglauben fördert, kann niemals ernsthaft als Verteidigung der Frauenrechte und Frauenwürde in Lateinamerika ernstgenommen werden. Diese Kirche fördert den Machismos, den gewalttätigen (Hetero-) Männer-Wahn
Sehr früh hat auf diesen Zusammenhang schon der Philosoph Machiavelli hingewiesen, in seinen „Discorsi“ (1513 – 1519) schreibt er: „Durch das böse Beispiel des päpstlichen Hofes sind in Italien alle Gottesfurcht und Religion verloren gegangen, dies ist die Ursache für zahllose Übelstände und endlose Unordnung“ (zit. in: Herfried Münkler und Grit Straßenberger „Politische Theorie und Ideengechichte“ , München 2016, S. 408.)
Natürlich gilt diese Erkenntnis, auch wenn man selbstverständlich nicht alle sonstigen politischen Erkenntnisse Machiavellis heute treffend findet. Und auch dieses noch: Natürlich gibt es auch in anderen christlichen Kirchen, wie den Evangelikalen in den USA oder im Islam die religiöse Korruption usw.
Hier wurde nur auf die weltweite Religion des Katholizismus speziell in Lateinamerika hingewiesen. Dort gehört Korruption traditionell zur immer weiter gegebenen Un-Kultur. Korruption in Lateinamerika wird nur eingeschränkt werden, wenn die Kirchenlehre reformiert wird und die Verelendung der Massen ein Ende hat.

Über Korruption und Katholizismus siehe auch LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die 1. unerhörte Frage: Warum lädt die Evangelische Kirche in Deutschland nicht Katholiken zur Konversion ein?

Die 1. Frage unserer Reihe “Unerhörte Fragen”

Von Christian Modehn, am 8.6.2021.

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet , beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

Die unerhörte Frage also: Warum lädt die Evangelische Kirche in Deutschland die vielen Katholiken, die jetzt aus der katholischen Kirche in Deutschland austreten, nicht ausdrücklich ein, protestantisch zu werden, also zu konvertieren?

1.
Die vielen tausend „Ausgetretenen“ wollten ja nicht nur Steuern sparen. Viele werden spirituell bleiben, vielleicht sogar explizit christlich interessiert. Braucht man dafür nicht Orte des Gesprächs, des gemeinsamen Feierns etc.?
Die Evangelische Kirche in Deutschland sollte also öffentlich und ausdrücklich ehemalige Katholiken in die protestantischen Gemeinden einladen. Dort finden unzufriedene Katholiken sehr vieles, was sie in der römischen Kirche vermissen, etwa das selbstverständliche Pfarramt für Frauen, demokratische Strukturen…
Es könnte diesen katholischen „Neu-Protestanten“ auch der Status eines „Gastes“ oder „Freundes“ der evangelischen Kirche gegeben werden.
Weil die ausgetretenen Katholiken eher zum progressiven Flügel des Katholizismus gehören, sollten sie eher fundamentalistische Gemeinden innerhalb der EKD meiden.
Progressive Protestanten, zumal Lutheraner, hätten überhaupt nichts dagegen, wenn diese katholischen „Neu-Protestanten“ ihre eigenen Traditionen auch einmal pflegen wollen, etwa eine Wallfahrt, eine Andacht, die sich auf Maria, die wirkliche Mutter Jesu von Nazareth bezieht usw. und die traditionellen „Alt-Protestanten“ könnten froh sein, dass ihre Gemeinden nun durch katholische „Neu-Protestanten“ noch lebendiger und vielfältiger werden.

2.

Wird diese unerhörte Frage also gehört werden, die sich übrigens auch für die kleine alt-katholische Kirche stellt? Ich fürchte nein.

Denn die Protestanten wie die Alt-Katholiken werden sagen: Solche offiziellen Einladungen stören den so genannten ökumenischen Frieden mit der katholischen Hierarchie. „Die Ökumene“ wird also als Grund vorgeschoben werden, ein spirituelles Angebot den „ausgetretenen Katholiken“ anzubieten. Ökumenische diplomatische Verabredungen sind also wichtiger als spirituelle Entwicklungen.

Die Protestanten, immer bescheiden und zurückhaltend, sollten aber nicht vergessen: Die offizielle katholische Kirche hält sich nicht an ökumenische Verabredungen: Sie lädt zum Beispiel offiziell Priester der Anglikanischen Kirche ein, die mit ihrer Kirche unzufrieden sind, ohne weiteres römisch -katholische Priester zu werden. Und wie viele verheiratete evangelische Pfarrer in Deutschland wurden schon offiziell katholische Priester, verheiratet natürlich. Mit anderen Worten: Die römisch – katholische Kirche ist im Ernstfall alles andere als zurückhaltend und diplomatisch vorsichtig.

Aber was geschähe, wenn die Evangelische Kirche in Deutschland Katholiken scharenweise aufnehmen würde? Die katholische Kirche würde sich plötzlich besinnen und in der eigenen Kirche tiefgreifende Reformen durchsetzen. „Schließlich sollen nicht noch mehr Katholiken protestantisch werden“, werden die Bischöfe sagen, dabei alles andere als ökumenisch-tolerant.

COPYRIGHT: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Für den Bruch mit der bestehenden Kirche.

Der katholische Theologe Hubertus Halbfas plädiert für eine “säkulare Frömmigkeit”.
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Das neue Buch des katholischen Theologen Hubertus Halbfas ist – im ganzen gesehen – ein dringender Aufruf zu einer grundstürzenden Reformation der Kirchen: „Nur ein Systembruch (mit dem dogmatischen Kirchensystem, CM) kann die Kirchen retten“ (S. 139), „sonst bleibt auch das Rest-Christentum entbehrlich“ (S. 200).
2.
Halbfas hat einen radikalen Reformvorschlag, also einen an die Wurzeln des bisher Selbstverständlichen gehenden Vorschlag: Nur eine säkulare Frömmigkeit, die kritische Glaubende wie kritische Nichtglaubende gemeinsam (!) leben und reflektieren können, ist noch relevant für die Menschen von heute. Er denkt dabei an die gebildeten Europäer, nicht aber an die Armgemachten in Afrika oder Lateinamerika, die Religion immer noch als Opium offenbar brauchen und gebrauchen.
3.
Das neue Buch von Halbfas könnte trotz dieser Begrenzung als eine Art Impuls für die aktuellen „Reformbewegungen“ („Maria 2.0“ etc.) und den so genannten „synodalen Weg“ gelesen werden. Diese immer noch ein bisschen hoffnungsvoll gesinnten noch kirchentreuen Katholiken sollten, salopp gesagt, das Buch debattieren und es ihren Bischöfen, Generalvikaren, Ordensoberen usw. schenken „Bitte lesen, Pflichtlektüre“.
4.
Hubertus Halbfas ist ein viel gelesener Autor mit etwa 16, zum Teil sehr umfangreichen Büchern (allein im Patmos Verlag) und ein deutlich schreibender und klar denkender, vor allem umfassend gebildeter Theologe. Er wird sich gesagt haben: Mit meinen 88 Jahren brauche ich jetzt auf keinen Hierarchen mehr Rücksicht zu nehmen. Dies hat er auch nie getan. Er hat die Gabe der Zuspitzung und der Radikalisierung von Erkenntnissen, eher eine Seltenheit unter katholischen Theologen Deutschlands.
5.
Warum ist das Buch „Säkulares Christentum“ so wichtig? Halbfas nennt in aller Kürze die wichtigsten theologischen und bibelwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Gestalt Jesu Christi, zu den Kirchen und ihren Dogmen. Es sind Erkenntnisse, die in der theologischen Forschung überhaupt keinem Zweifel unterliegen, die aber von den (an alte Dogmen gebundenen) Hierarchien und ihren Theologen (sollte man besser sagen: Ideologen) ignoriert werden.
6.
Einige Erkenntnisse, an die Hubertus Halbfas in seinem neuesten Buch erinnert:
– Jesus von Nazareth ist nicht der Gründer der Kirche(n).
– Paulus kannte offenbar nur sehr wenige Lehren des historischen Jesus (etwa seine Gleichnisse). Paulus hat autoritär eine Dogmatik entworfen. Zum Beispiel: Gott als Vater im Himmel opfert seinen Sohn zur Erlösung der Menschheit. Es gibt einen „Unterschied zwischen dem Evangelium Jesu und dem Evangelium des Paulus“ (S. 200). Die „paulinische Erlösungskonstruktion ist eine fehlgeleitete Entwicklung“ (S. 162). Nicht erwähnt wird von Halbfas die zweifellos vorhandene poetische Begabung des philosophisch gebildeten Apostels Paulus, etwa sein „Hohes Lied der Liebe“ (1. Korintherbrief, Kap. 13), es sagt in seiner Deutlichkeit einen verwandten Inhalt zum Gleichnis Jesu vom „Barmherzigen Samariter“.
– Jesus von Nazareth, der Prophet, wurde seit dem 4. Jahrhundert als die zweite „Person“ einer göttlichen Trinität gedacht und damit auch als wahrer Gott verstanden und verehrt. „Der Christus ist eine Kunstfigur, ihn braucht die Kirche für ihre eigenen Repräsentation, für Herrschaft und Glanz“ (S. 140).
– Der authentische Jesus von Nazareth hat „mit dem Kirchen- Jesus der meisten Gebete, Lieder und Bilder nichts gemeinsam“ (S.191).
– Jesu Lebensprogramm ist das auch weltlich erfahrbare und realisierbare „Reich Gottes“ als ein Leben der universellen Gerechtigkeit. Das Spezifische an Jesus wird in seiner „offenen Mahlgemeinschaft“ sichtbar, das gemeinsame Speisen an einem Tisch mit unterschiedlichen, zum Teil einander verfeindeten Menschen (S. 176 f.). Diese offene Tischgemeinschaft haben die Kirchen zu einem exklusiven Sakrament umgedeutet und religiös verfremdet. Hier setzt Halbfas seinen Impuls: Erlösung im Sinne Jesu ist nicht ein transzendentes Geschehen, Erlösung als politische Befreiung geschieht auf Erden. Was „post mortem“ für die Menschen kommt, werden wir dann sehen, meint Halbfas….
– Die Dogmatik der ersten Jahrhunderte folgte der Macht, die vor allem ein Augustinus ausübte, etwa, als er seine Erbsündenlehre erfand und gegen Widerstände (gegen Bischof Julian von Eclanum u.a.) durchsetzte. An diesem Wahn des furchtbaren Erbsündendogmas halten die allermeisten Kirchen bis heute fest. Und vertreiben mit diesem Dogma nachdenkliche Christen aus den Kirchen.
– Die (katholische) Hierarchie hat sich also der von ihr erfundenen Christus-Gestalt bemächtigt und schließt in ihrer Herrschaft Frauen vom Priesteramt aus; die Hierarchie verfügt über die Gesetze der Moral, des Zugangs zu den Sakramenten etc. Die Hierarchie hat sich ihre eigene, von außen nicht kontrollierbare Welt aufgebaut.
– Es gibt Menschen, natürlich auch außerhalb der Kirchen, die dem Lebensentwurf Jesu entsprechen, die also als die weiteren Jesus-Gestalten angesprochen werden könnten: Halbfas nennt als Beispiele: Gandhi oder Janusz Korczak, Franz Jägerstätter und Maximilian Kolbe (S. 188f.).
7.
Sein Buch versteht der Autor ausdrücklich, vom Titel her, als Impuls für eine „säkulare Frömmigkeit“: Fromm hat für ihn eine ungewohnte, durchaus merkwürdige Bedeutung. Ich würde den Mut haben, diesen Begriff „säkulare Frömmigkeit“ mit „humanistischer jesuanischer Frömmigkeit zu übersetzen. Halbfas versteht Frömmigkeit als “rechtschaffen, sorgfältig, tüchtig, vortrefflich“ (S.11). Zur säkularen Frömmigkeit gehört selbstverständlich auch der Respekt vor den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschungen, der Biologie, der Geschichte, der Religionsgeschichte usw. Ich persönlich finde dieses Verständnis von Frömmigkeit noch zu eng, denn zum Menschen gehört auch das Transzendieren, die Erfahrung des unendlichen Geborgenseins in einer göttlichen „Hand“. Halbfas spricht selbst später davon, wenn er etwa ein Gedicht des Romantikers Eichendorf bewegend findet. Warum also diese enge Definition von Frömmigkeit?
8.
Wichtig bleibt der Hinweis von Halbfas: Ein Glaube, der an den Realitäten der heute erkennbaren Wissenschaften „vorbei-glaubt“, ist existentiell nicht hilfreich und deswegen auch sinnlos. „Nicht Flurprozessionen, sondern der chemisch richtige Dünger sichert eine gute Ernte. Nicht Gelübde schützen vor Diphterie und Scharlach, sondern eine Forschung, die den schützenden Impfstoff erfand“ (S. 47).
9.
Diese säkulare Frömmigkeit verbindet Glaubende wie Nichtglaubende. Insofern kann sich Halbfas selbst auch als säkular verstehen. In diesem Sinne benutzt er das Wort Gott nicht mehr als Titel, der reserviert wäre allein für Glaubende: “Ein Atheist kann das mit dem Wort Gott Gedachte als geistigen Entwurf des Weltganzen nehmen…“ (S. 171).
10.
Der Glaubende im Sinne von Halbfas erlebt eine innere, bleibend-geistig-seelische Präsenz. Dabei beruft sich der Autor auch auf den mittelalterlichen Philosophen Meister Eckart. Dessen Hinweis auf den „Göttlichen Funken“ in der Seele eines jeden Menschen findet Halbfas sehr angemessen für ein „aufgeklärtes Christentum“, wie das Buch im Untertitel fordert.
Interessant und weiter sehr bedenkenswert in dem Zusammenhang auch der viel zu knappe Hinweis: “Wir können auch die Stimme unseres Gewissens … als Stimme Gottes ansehen“ (S. 57). Leider werden diese Einsichten wie auch die zu Meister Eckart nicht vertieft. Das bestätigt den eher thesenartigen Charakter des Buches und weist auf einen Mangel an philosophischer Reflexion hin (Kant, Hegel etc.)
11.
Dies empfinde ich als überflüssig, wenn nicht störend: Der Text stellt sich als Dialog dar. ABER: Die Fragen stellt der Autor selbst. Gerade bei dem Thema und dem Titel wäre eine echte Person als Fragende sehr sinnvoll gewesen.
12.
Zur weiteren Debatte regen die Hinweise zum Sinn des Betens, vor allem der Fürbitte an; dazu hat sich Halbfas schon vor Jahrzehnten geäußert. Für ihn sind Bittgebete immer irgendwie egozentrisch und Ausdruck eines magischen Denkens. „Man kann nicht dafür beten, dass Borussia Dortmund gegen Bayern München gewinnt“ (S. 49). Beten für etwas hat bei Halbfas vor allem den Sinn: „Ich muss mich fragen, was ich etwa für einen Kranken tun kann, für den ich bete“ (S. 49).
13.
Problematisch finde ich, dass Halbfas nicht sieht: Das „klassische“ Beten, auch das Bittgebet, kann die Bedeutung einer persönlichen Poesie haben, auf die sich die Betenden dann noch einmal nachdenkend beziehen. Dabei könnten sie entdecken, dass sie durch diese Gebete in ihrem Wünschen und Fragen über alles weltlich Verfügbare hinausreichen, dass sie sich in ihrem Denken von sich selbst befreien und dem anderen denkend und liebevoll gesinnt zuwenden, dessen Stärke und Schwäche sehen. Solch ein Beten für einen anderen in diesem Sinne hat nicht den Charakter eines „magischen Denkens“. Es führt zur inneren Reife und Selbstfindung und „Nächsten-Findung“.
14.
Problematisch finde ich das erste Kapitel des Buches, das stark eintritt für den Glanz der griechischen Götterwelt. Halbfas spricht da von „poetischer Gültigkeit der altgriechischen Welt“ und dem „darin aufleuchtenden Geheimnis“ (S. 19). Kann man ja mal behaupten, aber es sei daran erinnert: Die ersten Philosophen Griechenland, wie Platon, waren froh, die griechischen Göttermythen im Logos hinter sich gelassen zu haben. Die Schönheit der Götter in ihren Statuen wird dann philosophisch vermittelt! Wir wissen heute aus vielerlei Mythen, wie diese Götter unter sich verfeindet waren, wie widersprüchlich ihr Charakter, wie verworren die Erzählungen sind. Diese Götterwelt muss nun wirklich nicht herhalten für ein heutiges Gespür von Heiligem und von Frömmigkeit. Von Kleists „Amphytryon“ usw. will ich lieber gar nicht sprechen. Ebenso wenig, inwiefern sich da Türen zum Polytheismus öffnen. Den muss man ja nicht verteidigen, wenn man den fundamentalistischen Monotheismus ablehnt. Das gilt allgemein und ist nicht auf Halbfas bezogen.
15.
Wie schon gesagt: es fällt auf, dass bei Halbfas doch eine gewisse Liebe zur Romantik durchbricht. So ganz rationalistisch will er dann doch nicht sein. Er will ja nicht nur die antike (also altgriechische) Naturfrömmigkeit, sondern auch das romantische Naturgefühl in den Diskurs über Religion einführen“ (S. 74). Halbfas spricht voller Achtung und Verehrung von Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“, er sieht darin “mehr Frömmigkeit als in kirchlichen Gebetbüchern“ (77). Es gibt ja nun auch vernünftige Gebete, die sich auf einen personal gedachten Sinngrund („Gott“) von allem beziehen und nicht in einem stimmungsvoll schönen Mondnacht-Erleben verbleiben, ich denke an Bonhoeffers späte Gebete. Aber vielleicht, ironisch gefragt, können die Menschen auch zum Mond ein personales Verhältnis entwickeln, der Mond, der ihnen letzte Geborgenheit vermittelt…Wer weiß… darüber wäre zu diskutiere.
Deutlich ist jedenfalls: Auch die rationalistische Theologie kommt nicht ohne einen Rest von Verzauberung und romantischen Gefühlen aus. Das ist, philosophisch gesehen, nicht „schlimm“, wenn denn gesagt würde: Der menschliche Geist steuert den Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und romantischen Gefühlen. Von dieser koordinierenden, steuernden Funktion des Geistes ist leider keine Rede.
16.
Dass von der Evolution gesprochen wird, ist natürlich richtig und selbstverständlich. Ich hätte mir nur mehr präzisere Formulierungen gewünscht: Auf Seite 30 schreibt Halbfas: „Wir sind mit zwingender Konsequenz Geschöpfe der Evolution“ (S. 30). Wir sind Geschöpfe der Evolution, heißt das: Also hat uns die Evolution geschaffen? Aber: Wer oder was hat denn die Evolution erschaffen? Ein paar Zeilen weiter heißt es: „Auch der Geist ist ein Produkt des evolutionären Geschehens. Er ist bereits in der toten Natur mit angelegt und insgesamt dem Universum inhärent“. Woher aber kommt dieser richtig erkannte „inhärente Geist“, dieses „Produkt des evolutiven Geschehens“?
17.
Vieles andere bleibt merk-würdig im kritisch – fragenden Sinne: Die globale politische Ungerechtigkeit des Neoliberalismus wird nicht umfassend angesprochen, auch nicht das Miteinander der verschiedenen Religionen, Islam, Buddhismus, Judentum, Hinduismus usw.
18.
Wichtig sind die Hinweise etwa zur theologischen Rechtfertigung der Kriege und der kirchlichen Abweisung von Wehrdienstverweigerern (S. 111 f). Seit Kaiser Konstantin stehen die Kirchen auf der Seite der Machthaber. Davon werden sie sich „nie mehr erholen können“ (S. 113), betont Halbfas. „Der jesuanische Ursprung und sein Reich-Gottes-Konzept sind in der kirchlichen Realität verblasst“ (ebd.).
19.
Welcher Gesamteindruck bleibt nach der Lektüre dieses Buches? Selbstverständlich wird jede LeserIN eigene Konsequenzen ziehen. Viele werden wohl die Konsequenz ziehen und die Institution Kirche als (zahlendes) Mitglied verlassen. Das geschieht ja auch. Aber was dann? Fühlen sich doch viele der „Ausgetretenen“ durchaus als spirituelle, vielleicht sogar als jesuanisch interessierte Menschen. Werden sie die Kraft haben, eigene Gemeinden der kritischen religiösen Vernunft zu schaffen? Oder sich den wenigen bestehenden „freisinnigen“ Kirchen anzuschließen?
20.
In jedem Fall wird aber deutlich, dass Halbfas die humane, „humanistische“ Lebenspraxis (im Sinne eines ursprünglichen Jesus von Nazareth) über alles geschätzt und empfiehlt. Explizit religiöse Kulte, Gebräuche, Riten hingegen bleiben unter dem Verdacht, nur die Herrschaft des Klerus zu stützen und Menschen von einem authentischen Leben abzulenken.
Religiöse Kulte, wie Wallfahrten, Prozessionen, Reliquienverehrungen, in den südeuropäischen und osteuropäische Ländern üblich, werden schnell missbraucht zur Verschleierung realer Zustände. Diese Kulte und Prozessionen, fördern, wenn sie denn mehr sind als touristische Folklore, nur die Scheinheiligkeit der Herrschenden. Und trotzdem werden sie vom Klerus weiterhin dem „Volk“ aufgedrängt. In Süd-Italien hat die Mafia ihre bis vor kurzem noch offiziell – kirchlich unterstützten Wallfahrtsorte. Und die katholische Volksfrömmigkeit in vielen Staaten Lateinamerikas hat auch nicht gerade demokratische und weithin gewaltfreie Verhältnisse geschaffen. Katholische Länder sind kaum Vorbilder der Demokratie, das liegt -psychologisch betrachtet – auch daran, dass die Leute wissen: Die „heilige römische Kirche“ ist selbst nicht demokratisch organisiert, sie kennt keine Gleichberechtigung von Frauen. Wenn das bei einer „von Gott gestifteten“ Institution Kirche so ist: Warum soll denn unser Staat demokratisch sein? Warum sollen die Männer aufhören extrem machistisch zu sein und Gewalt gegen Frauen normal zu finden? Diese Zusammenhänge sollten diskutiert werden.
So wie auch der evangelikale Glaube oder der Glaube vieler Pfingstgemeinden etwa in Nigeria den Zustand politischer und ökonomischer Ungerechtigkeit eher verfestigt. Christliche Religion ist also weithin oft Opium des Volkes, was selbstverständlich auch für alle anderen Religionen gilt. Ohne Religionen als Klerus-Herrschaft religiös sein und ohne Kirchenbindung jesuanisch sein – das ist wohl die Herausforderung religiös bzw. spirituell interessierter Menschen heute und morgen.

Hubertus Halbfas, „Säkulare Frömmigkeit. Gespräche über ein aufgeklärtes Christentum“. Patmos Verlag, 2021, 208 Seiten, 18 Euro.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Priester segnen homosexuelle Paare – der Beginn einer Reformation in Deutschland?

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.5.2021

1.
Wenn in Deutschland im Umfeld des 10.5.2021 in etwa 110 katholischen Kirchen durch katholische Priester Partnerschaften von Homosexuellen feierlich und öffentlich gesegnet werden – dann ist dies in offizieller katholischer Sicht als Rebellion zu bewerten.
Wenn es ein einziger Priester getan hätte, so wäre er sofort suspendiert wurden wegen Ungehorsam. Aber werden es sich Vatikan und Bischöfe erlauben, mehr als 100 Priester zu bestrafen? Möglich ist alles. In einer Kirche ohne demokratische Verfassung und demokratische Gerichtsbarkeit muss jeder und jede Katholikin immer mit allem Schlimmen rechnen… Zumal der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Bätzing, diese Segnungsgottesdienste für homosexuell Liebende ausdrücklich und öffentlich ablehnt, bzw. aus Angst vor Rom ablehnen muss. Er nennt sie „keine hilfreichen Zeichen“. Was für eine verräterische Formel: Nicht hilfreich für wen? Für den Bischof selbst, der sich von Reaktionären anhören muss, nicht hart gegen diese Aufwiegler aus Homo-Kreisen durchzugreifen. Aber hilfreich kann doch ein Segnungsgottesdienst für die Betroffenen wohl sein, oder? Ist das nicht entscheidend? Es ist eine verräterische, eine üble Formulierung von Bischof Bätzing also. Dadurch stellt sich, wie so oft in der römischen Kirche, ein Bischof gegen seine Gemeinden, nur weil er dem Papst und den Vatikan-Beamten absolut gehorchen muss, um nicht in Ungnade und damit in finanzielle Degradierung zu gelangen. Man denke an die Absetzung des mutigen französischen Bischofs Jacques Gaillot durch den Vatikan.
2.
Diese Segnungsgottesdienste hätten die Dimension, wirklich zu der von vielen ersehnten umfassenderen Rebellion gegen den Vatikan und seine getreuen Beamten (Bischöfe) zu werden. Die hilflose Wut vieler Katholiken auf Rom, auch auf den zaudernden und immer widersprüchlichen Papst Franziskus, ist bekanntlich groß, sie „kanalisiert“ sich jetzt nur in diesen Segnungsgottesdiensten. Aber noch ist niemand da, der sich als Leitfigur in diesem „Kampf mit Rom“ abzeichnet, so wie es einst der Augustinermönch Martin Luther war. Immerhin haben die Augustiner in ihrem Kloster in Würzburg den Mut des Widerspruchs gezeigt und ein großes Plakat außen an ihrer Kirche befestigt: „Wir können doch gar nicht anders als segnen“. Das Plakat mit der richtigen Aussage wurde aber von Unbekannten abgerissen und zerstört, die Augustiner haben dies der Polizei gemeldet. Ihr richtiger Spruch erinnert entfernt an ihren Mitbruder Martin Luther, der in Worms 1521 gesagt haben soll: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Heute sagen die Augustiner: „Wir können doch gar nicht anders als segnen“. Hoffentlich bewahren sie sich ihren rebellischen Geist. Aber sie sind ja wohl mit dem sehr mutigen Studentenpfarrer Burkard Hose, Würzburg, freundschaftlich verbunden.
3.
Ein „Highlight“ der Segnungsgottesdienste wäre es natürlich, wenn sich zwei schwule Priester-Freunde als Paar nun auch segnen ließen. Man verrät ja nicht zu viel, dass dann die Zahl der Segnungen noch weiter in die Höhe schnellen würde, zumal, wenn auch klerikale Freundespaare aus dem Vatikan eingereist wären zwecks Segnung. Aber so mutig sind denn die schwulen Pfarrer und Patres dann auch wieder nicht.
4.
Ich habe seit vielen Jahren die merkwürdige, wenn nicht anstößige Liebe der katholischen Kirche zu feierlichen öffentlichen Segnungen dokumentiert, diese Website wurde sehr oft aufgerufen. Darin dokumentierte ich die selbstverständliche traditionelle Segnung von Tieren, die Segnungen von Autos und Motorrädern, die Segnungen von Waffen, von Häusern und Palästen, die Segnungen von Handys, die Segnung, auch dies noch, eines Walrosses im Zoo durch den damaligen Hamburger Bischof Stefan Heße. LINK. Natürlich gibt es seit langem im privaten Rahmen Segnungen von Kranken und Sterbenden oder auch von Müttern und Pilgern. Der reaktionäre Weihbischof von Salzburg Andreas Laun sagte übrigens: Homosexuelle segnen ist eine Segen für die Sünde. So wie man ja auch nicht KZs segnen darf”. LINK
5..
Es ist eigentlich – bei allem Respekt für diese Aktion der Segnungen – problematisch, dass diese Segnungen von homosexuellen Paaren eben auch bloß „Segnungen“ heißen, also begrifflich auf eine Ebene mit Auto-, Wohnungs- oder Walross-Segnungen gesetzt werden. Angemessen für das demokratische Bewusstsein und die Gesetzgebung in 28 demokratischen Staaten wäre allein: Die katholische Kirche feiert mit den homosexuellen Paaren die sakramentale Eheschließung. Bekanntlich ist für die katholische Lehre die Ehe ein Sakrament. Diese sakramentale Ehe wäre kirchlich die angemessene Antwort auf die gleichgeschlechtliche EHE in 28 Staaten der Erde, darunter auch Deutschland seit dem 1.10. 2017!
6.
Die sakramentale Ehe für homosexuelle Paare könnte das verstaubte Eheverständnis der Kirche insgesamt hinwegfegen, also die Vorstellung, nur Mann und Frau können eine Ehe schließen, wobei sich die Kirche auf den Mythos der Schöpfung Gottes beruft, vor allem auf den eigentlich nur banalen Satz: “Als Mann und Frau schuf Gott die Menschen“ (AT – Buch Genesis, 1,27). Das stimmt ohne weiteres: In der Menschheit gibt es – sehr traditionell gesprochen – zwei biologische Geschlechter. Nur folgt aus dieser biologischen Aussage zu biologischen Fakten nicht unbedingt eine katholische Ehelehre und sakramentale Praxis, die nur der Vereinigung eines biologischen Mannes und einer biologischen Frau vorbehalten ist.
Insofern muss ich leider sagen, kommen diese durchaus zu respektierenden Segnungsfeiern schon wieder – kulturell betrachtet – zu spät. Sakramentale Eheschließungen von homosexuellen Paaren wären die richtige und zeitgemäße Antwort. Sie kommt vielleicht in 100 Jahren. Im Falle Galileis ließen sich die Herren der Kirche ja auch 300 Jahre Zeit für eine Anerkennung von Galileis richtigen Erkenntnissen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Haiti: Der unerhörte Schrei nach Gerechtigkeit.

Über Arroganz und Gewalt der „hilfsbereiten“ Demokratien.

Ein Hinweis von Christian Modehn auf das wichtige Buch „Haitianische Renaissance“, geschrieben im April 2021.

1.
Es gibt seit mehr als einem Jahr eine absolute Fixierung auf Corona. Verständlich bei der Pandemie, aber verständlich bedeutet nicht immer auch verzeihlich. Denn die Menschen in Europa, können, falls sie den Titel Mit-Menschen ernst nehmen, niemals die Leiden vieler Millionen anderer Mit – Menschen im Süden dieser Welt ignorieren. Sie sind die Elenden und die vom Neoliberalismus Armgemachten. Wo herrscht der Neoliberalismus? Im Norden, bei uns…

2.
Haiti, das Land, in dem zum ersten Mal Sklaven der Kolonialmacht wirksam trotzten und 1804 den Titel Republik erlangten, wird immer wieder als trauriges Beispiel für die Unmöglichkeit von „Entwicklung“ erwähnt. Den herrschenden Führern dort ist das von Armut, Elend und Hunger bestimmte Leben ihrer „Mitbürger“, gelinde gesagt, egal. Und die westlichen Demokratien unterstützten und fördern diese politischen Führer, die man auch noch „Eliten“ nennt: Sie sind bestenfalls „Eliten der Korruption“. Der Westen predigt zwar „Demokratie und Menschenrechte für Haiti“, finanziert aber die korrupten Machthaber dort („demokratisch“ gewählt, oft bei einer Wahlbeteiligung von 22 Prozent … mit dem üblichen Wahlbetrug). Der jetzige Präsident Jovenel Moise klammert sich aus finanziellen Gründen absolut an die Macht, er ignoriert die Verfassung, regiert brutal, verfolgt die Opposition und so weiter. Die Unterdrückten aber stehen auf, bereiten den Aufstand vor, wird er zum demokratischen Umsturz führen? Viele hoffen es, wenige glauben es.
Jetzt, im April 2021, gibt es also Straßenschlachten. Steine und brennende Reifen blockieren die ohnehin kaum passierbaren Straßen, die Wut zumal der jungen Leute ist maßlos.

3.
In den üblichen Fernsehnachrichten „bei uns“ werden Bilder des Aufstandes in Port au Price, wenn überhaupt, maximal 40 Sekunden gezeigt. Keine Talkshow in Deutschland widmet sich dem Thema Haiti, dabei wäre dies doch mal eine provozierende „Abwechslung“, vielleicht sogar mit einer guten Einschaltquote, die doch am wichtigsten ist für alle Programm-Chefs… Aber: Haiti ist weit weg, behaupten die üblichen Ignoranten. Tatsache für die wenigen Wissenden ist: Europa und die USA sind tief in die innere politische, auch ökonomische Struktur Haitis eingedrungen, so dass diese erste Republik der Schwarzen wieder „unsere“ „europäische Kolonie“ geworden ist und uns insofern doch eigentlich sehr nahesteht.
Aber Deutschland, Europa, kapselt sich nationalistisch oder als EU ab. Es geht in der Öffentlichkeit hier fast nur um Corona, in Deutschland etwa auch noch um Laschet und Söder und Baerbock oder die Rückführung von Flüchtlingen nach Afghanistan und Syrien. Man könnte zugespitzt sagen: Die Deutschen beschäftigen sich, in den großen Medien sichtbar, fast nur noch mit sich selbst. Und um „ferne Länder“ nur dann, wenn wir mit ihnen jetzt unmittelbar ökonomisch, militärisch und außenpolitisch verbunden sind. Man könnte also von einem nationalistisch verengten Weltbild sprechen.

4.
Für Haiti heute gilt: “80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft”, sagt der haitianische Wirtschaftsprofessor Alrich Nicolas von der Universität in Port-au-Prince den Lateinamerika Nachrichten. Und zahlreiche Schriftsteller stimmen dem zu, wie Evelyne Trouillot: Sie nennt die gegenwärtige Herrschaft verfassungsfeindlich, korrupt und repressiv, so in einem Beitrag für „Le Monde,“ Paris, am 15.3.2021. Dabei ist für die Gewalt der Einschüchterung durch das jeweilige Regime „gar nicht neu“, die Autorin erinnert an die blutige Herrschaft der Diktatoren Duvalier, Vater und Sohn. Die Arbeitslosenquote liegt bei70 Prozent und das Pro-Kopf Einkommen bei 350 US -Dollar. 3 Milliarden Dollar werden jährlich von Haitianern im Ausland (USA, Canada..) ins Land transferiert. Nur so können ihre Verwandten halbwegs noch überleben…Wo die 15 Milliarden Dollar Spenden und öffentlichen Gelder der USA und Europas nach dem Erdbeben 2010 geblieben sind, ist eher nur ahnbar: Die Gelder sind entweder gar nicht erst in Haiti angekommen oder sie flossen zurück zu den Reichen. Der hoch gepriesene geplante neue Freihafen Caracol wurde nie fertig gebaut, angeblich wurden dort 4 Milliarden Dollar verschleudert bzw. sie wanderten in die Taschen korrupter Bauunternehmer…

5.
Es gibt der ganzen Misere zum Trotz eine aktive Zivilgesellschaft vor allem junger HaitianerInnen, die für den Aufbau einer neuen demokratischen Regierung in einer demokratischen Kultur eintreten. Viel Beachtung verdient die hierzulande wohl völlig unbekannte Website junger AutorInnen und JournalistInnen, die regelmäßig auf https://ayibopost.com/ publizieren, in französischer Sprache und auch in der Landessprache Kreolisch. LINK
6.
Die reiche literarische Kraft und Energie haitianischer AutorInnen bietet (in deutscher Sprache) der Verlag „Litradukt Literaturverlag“ in Trier, der seit einigen Jahren zahlreiche Romane, auch Kriminalromane, und Essays aus Haiti hier zugänglich macht, zuletzt etwa den Roman „Sanfte Debakel“ von Yanik Lahens. Eine wunderbare Initiative! Es wird Zeit, dass die Literatur Haitis (wie die der anderen Länder der Karibik und Lateinamerikas) aus dem bescheidenen Nischendasein befreit wird. Das können nur LeserInnen tun, die sich bewusst für ihre große Horizonterweiterung einsetzen und die haitianischen AutorInnen lesen. Und auch fordern, dass Literatursendungen im Fernsehen, etwa das „Literarische Quartett“ oder „Druckfrisch“, nicht nur immer einen der neuesten Roman von Juli Zeh und so weiter vorstellen, sondern auch den von Yanik Lahens, Haiti. Dies ist ein Traum in einer europäischen Kultur, die sich so gern multikulturell nennt, aber extrem eurozentristisch bleibt.

7.
Jetzt bietet eine wichtige Neuerscheinung umfassenden Einblick in die politische, ökonomische und kulturelle Wirklichkeit Haitis heute. Das Buch von Katja Maurer und Andrea Pollmeier, beide mit Haiti und den engagierten HaitianerInnen bestens vertraut, hat den provozierenden Titel „Haitianische Renaissance“. Der Titel ist wohl auch als Ausdruck der Hoffnung zu verstehen: Es waren die Sklaven, die sich einst, um 1800, von der Kolonialherrschaft befreiten, und grundlegend Neues, eine Republik, anstrebten. Vielleicht gelingt es den Unterdrückten Haitianern heute, unter anderen Bedingungen, wirkliche Befreiung von den neuen Kolonialherren zu vollbringen und eine Demokratie zu gestalten. Dies wäre dann die „Renaissance Haitis“.
Dabei steht fest, dass die heutigen europäischen und amerikanischen Kolonialherren nach außen hin vorwiegend als Helfer, als paternalistische Gönner und Spender, auftreten, die alles besser wissen als das haitianische Volk selbst. Auch um dieses Problem geht es in den verschiedenen Beiträgen des Buches. Über die außerordentliche Spendenbereitschaft anlässlich des Erdbebens 2010 mit mindestens 300.000 Toten und die großspurigen Hilfsprogramme der USA und Frankreich etwa wird kritisch berichtet. Das übliche System der Hilfe verstärkt eher den politischen Status Quo, meinen di Autorinnen, sie sprechen offen über die fatale Wirkung der UN – Präsenz in Haiti, also das Einschleppen der Cholera durch UN Soldaten ins Land und die Vergewaltigungen durch UN – Soldaten. Beide Tatsachen wurden nicht umfassend aufgeklärt bzw. bestraft.

8.
Sehr erhellend wird für viele der Beitrag von Andrea Pollmeier sein über die Schuldenfalle, in die Haiti von Anfang an als freie Republik getrieben wurde. Haiti hatte sich gerade von Frankreich befreit, da musste die Republik Reparationszahlungen dem einstigen Kolonialherren leisten, sozusagen als Preis dafür, dass nicht mehr die kolonialistische Ausbeutung fortbestand (S. 26).
Wichtig auch die Hinweise des Schriftstellers Gary Victor etwa über den Rassismus unter den Bürgern Haitis: Es geht um den Rassismus zwischen der zur Herrschaft gelangten minoritären „Mischlingen“ und der überwältigenden Mehrheit der Schwarzen als den Nachfahren der Sklaven: Sie waren es ja, die einst die Rebellion gegen die Kolonialherren und ihre Kollaborateure (also die Kreolen) begannen.

9.
Leider knapp gehalten sind die Hinweise auf die geistig-psychisch zerstörerische Rolle der evangelikalen Bewegungen, die aus den USA nach Haiti importiert wurden: „Diese Evangelikalen machen aus Menschen Zombies…Es gibt für sie nur ein Ziel: Alles, was mehr oder weniger authentisch ist, sogar die Religion, zu zerstören…“ (S. 57). Falls es eine 2. Auflage gibt, was ich mir wünsche, dann bitte mehr Informationen zum Thema, auch zur Rolle der katholischen Kirche als einer Staatskirche…

10.
Ein politisches Dokument von besonderem Wert ist der Beitrag von Ricardo Seitenfus, dem brasilianischen Sonderbeauftragten für die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS). Er arbeitete von 2009 bis 2011 in Haiti und erlebte unmittelbar, im Kreis von Diplomaten, wie die USA die Absetzung des Präsidenten René Préval zu betreiben versuchten. (137). Préval ist einer der wenigen demokratisch gesinnten und auch wohl handelnden Präsidenten Haitis gewesen. Sein Nachfolger wurde am 14. Mai 2011 Michel Martelly, bekannt u.a. als Sänger in Nachtclubs (https://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Martelly). Seine Regierung war von Korruption bestimmt.
Ricardo Seitenfus hat wichtige Bücher über Haiti publiziert, zuletzt im Jahr 2020: „L echec de l aide internationale a Haiti“, ein ganz wichtiges Buch für alle, die Haiti besser verstehen wollen (https://www.amazon.com/-/de/dp/B089TRZNL6/ref=sr_1_1?dchild=1&qid=1619785558&refinements=p_27%3ARicardo+Seitenfus&s=books&sr=1-1&asin=B089TRZNL6&revisionId=&format=4&depth=1)

11.
Die seit Anbeginn belasteten Beziehungen zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik werden in „Haitianische Renaissance“ angesprochen. Angénor Brutus, Vorsitzender einer Organisation zur Unterstützung von Haitianern, die aus der Dominikanischen Republik vertrieben wurden, berichtet von den tiefsitzenden Vorurteile der Dominikaner gegenüber Haiti…Von rassistischen Gesetzen dort. Aber es gab auch eine große Hilfsbereitschaft der dominikanischen Bevölkerung zur Linderung der Erdbebenkatastrophe in Haiti 2010.Tatsache ist: Nach 2011 begannen dominikanische Politiker die Haitianer in der Dominikanischen Republik zu diskriminieren, zu verfolgen und außer Landes zu weisen. „Der Rassismus gegen Haitianer ist eher Teil des Machtkampfes unter dominikanischen Politikern. Darin ist er aber eine wirksame Waffe“ (156):

12.
Interessant und für viele LeserInnen sicher neu ist der Hinweis auf das Engagement des „US – American Jewish World Service“ auch in Haiti. Von einem weltweit agierenden progressiven jüdischen Hilfswerk EXPLIZIT für Nicht – Juden ist hierzulande eher wenig bekannt. Um so besser, dass man davon erfährt! Immerhin kommen einige Millionen Dollar Spenden jährlich zusammen…Der haitianische Aktivist Nixon Boumba berichtet über seine politische Zusammenarbeit mit dem amerikanisch – jüdischen Hilfswerk an der Basis (186) und nennt einmal mehr grundlegende Tatsachen: „Die Menschen in Haiti gehen auf die Straße, weil es keine Option für sie ist, so wie jetzt weiterzuleben (188). „Sieben Millionen Menschen in Haiti gehen keiner regelmäßigen Tätigkeit nach… Es gibt keine Bildung…“ (189). Die übliche hilfsbereite Arbeit der NGOs habe in Haiti keine Aussicht, den erforderlichen strukturellen Wandel zu bewirken. Jeglicher Paternalismus müssen überwunden werden.

13.
Schlimmes Beispiel für internationale, aber letztlich höchst unvollkommene „Hilfe“ nach dem Erdbeben ist die neu errichtete, aus dem Boden gestampfte Stadt „Canaan“ bei Port au Prince, einer Ansiedlung für 300.000 Menschen, die in Hütten und Häuschen untergebracht sind. Jegliche Infrastruktur fehlt, das Wasser ist knapp, die Privatschulen teuer, das dortige Gesundheitszentrum praktisch ohne Arzt usw… (Siehe auch: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/ueber-leichen-gehen-haiti-zehn-jahre-nach-dem-beben-li.4583). Canaan wird die „hässliche große Narbe des Erdbebens“ genannt. Nur in den biblischen Mythen von „Canaan“ floss Milch und Honig, im realen haitianischen Canaan herrschen Not und Elend. (vgl. auch: https://www.welthungerhilfe.de/welternaehrung/rubriken/krisen-humanitaere-hilfe/haiti-zehn-jahre-nach-dem-beben/canaan

14.
Es gibt in ganz Haiti für 11 Millionen Einwohner 3.354 Ärzte (Quelle:https://lenouvelliste.com/article/196624/3-354-medecins-pour-desservir-plus-de-10-millions-dhabitants).
Kuba, das so „furchtbare“ sozialistische Land, hat ebenfalls 11 Millionen Einwohner und verfügt über 95.000 (!) ÄrztInnen; Deutschland mit 83 Millionen Einwohnern hat 402.000 ÄrztInnen.

15.
Über die Bedeutung der vielfältigen religiösen Traditionen wird in dem Buch „Haitianische Renaissance“ leider viel zu wenig berichtet. Welche Rolle spielte Voodoo als Impuls für den Sklavenaufstand? Auch über die Bedeutung des Voodoo heute hätte man gern viel mehr erfahren. Und man auch hätte gern gewusst, ob wenigstens einige der offenbar in den USA oder in Canada erfolgreichen Haitianer bereit sind, tatsächlich in ihr Land zurückzukehren, nicht um Präsidenten zu werden, sondern um den demokratischen „Aufbau“ zu unterstützen.

16.
Haiti, das Land der Elenden UND der Menschen des Widerstandes, bleibt eine ständige Herausforderung, auch für Europa. Gewöhnen wir uns an die Misere dort? Solidarisieren wir uns mit den Menschen des demokratischen Widerstandes dort? Haben wir die Energie, uns für unsere Mitmenschen, etwa in Haiti, genauso zu interessieren wie für die Themen und Leute, die uns hier ständig auf dem Bildschirm begegnen und uns einreden, sie seien wichtig. Wir brauchen die Weitung unseres Blickes, unseres Interesses, unserer Solidarität. Das muss nicht immer Haiti sein, das kann auch Honduras, Jemen, Sudan, Niger, Philippinen und so weiter sein

17.
Zum Schluss ein längeres Zitat von einer der Herausgeberinnen des Buches „Haitianische Renaissance“: Katja Maurer schreibt in „Medico International“ im Jahr 2020 (Quelle: https://www.medico.de/blog/reparatur-durch-reparationen-17821)
„Über hundert Jahre lang zahlten die Haitianer*innen an Frankreich Entschädigungen für den entgangenen Gewinn aus Sklavenarbeit. Dem französischen Ökonomen Thomas Piketty zufolge etwa 30 Milliarden Euro, exklusive der bezahlten Zinsen. Piketty forderte daher kürzlich, dass die unrechtmäßig verlangten Gelder an Haiti zurückgezahlt werden. Auch von den Hereros aus Namibia gibt es an Deutschland gerichtete Entschädigungsforderungen, die bislang brüsk abgewiesen wurden. Es ist an der Zeit, eine Kampagne für Entschädigungen und Rückgabe etwa der geraubten Kulturgüter ins Leben zu rufen. Den Erklärungen gegen Rassismus müssen Taten folgen, sollen sie nicht nur wohlfeil sein. Europa muss Verantwortung für seine koloniale Geschichte übernehmen. Das hätte tiefgreifende Folgen, nicht zuletzt für unsere imperiale Lebensweise. Aber es wäre eine Reparatur, die auch uns selbst heilt“.
Katja Maurer, Andrea Pollmeier, „Haitianische Renaissance. Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation“. Brandes und Apsel Verlag, 2020, 226 Seiten, 19,80 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.