Luther auf dem Reichstag in Worms: Der Durchbruch zum Pluralismus im Christentum!

Ein Hinweis von Christian Modehn am 14.4.2021

1.
Warum ist das Ereignis „Luther auf dem Reichstag in Worms“ am 17. und 18. April 1521 von allgemeinem Interesse? Weil mit diesem Ereignis der religiöse Pluralismus in der Christenheit nicht nur begann, sondern von kirchlicher wie von staatlicher Seite, trotz aller Wirrnisse danach, im letzten nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Und dieser religiöse Pluralismus ist trotz aller Auseinandersetzungen in den folgenden Jahrhunderten tatsächlich eine Wohltat für Europa! Die Vorstellung „Eine einzige Kirche/Religion in einem Staat“ widerspricht jeglicher Vorstellung von Demokratie als einem Staatswesen der Pluralität und Toleranz. Die Idee der Menschenrechte bildete sich also in der Konsequenz der Ereignisse von 1521 als universale Dimension.
Dies anzuerkennen ist die erste und wichtige Erkenntnis, die sich aus der Erinnerung an „Luther auf dem Reichstag von Worms 1521“ ergibt: Weder der (katholische) Kaiser noch die mit ihm verbundene katholische Kirche haben die Allmacht zu bestimmen, was als christlich gelten kann. Ein radikaler Bruch ist geschehen, die Eröffnung eines pluralen Christentums. Was für eine große Tat!

2.
Dieser religiöse Pluralismus, eingeleitet „letztendlich“ durch Luthers Beharren auf dem Wormser Reichstag, hat also innerhalb des Christentums die Stellung der Religionen/Konfessionen im Staat bzw. der Demokratie relativiert. Der religiöse Pluralismus hat dann im 18. Jahrhundert als Folge von Luthers Tat zu der Erkenntnis geführt: Es gibt Menschenrechte und diese stehen ÜBER den verschiedenen konfessionellen Meinungen. Die konfessionellen Lehren sind also für das Wohlergehen und den Frieden der Menschen sekundär. Sie sind eben nur Wahrheiten, die dem einzelnen als einzelnen oder der konfessionellen Gemeinde ein Gefühl von Wahrheit und Geborgenheit geben. Aber konfessionelle Wahrheiten der Religionen, aller Religionen, sind in diesem Sinne immer nur „subjektiv gültige“ Wahrheiten. Von objektiver allgemeiner Gültigkeit kann eine immer begrenzte religiöse Wahrheit niemals sein.

3.
Menschenrechte sind also das, was über allen Religionen steht und von den Staaten/Demokratien gepflegt und geschützt werden muss und glaubhaft politisch gestaltet werden sollte. Das ist leider nicht immer der Fall. Aber eine einzelne Religion kann als einzelne auch nicht für den Frieden in der Welt sorgen. Das kann nur die allgemeine, kritisch reflektierte Vernunft der einen Menschheit, die erkennt: Ohne die gelebten und stets weiter zu entwickelnden Menschenrechten hat die Menschheit keine Chance auf ein menschenwürdiges Überleben.

4.
Hinweise zu den Ereignissen damals:
Martin Luther reist Anfang April 1521 von Wittenberg zum Reichstag nach Worms (Ankunft 16. April) bereits als „Ketzer“ (verurteilt durch den päpstlichen Kirchenbann).
Diese katholische Einschätzung hätte eigentlich schon den Tod, die Hinrichtung, Luthers bedeutet.
Aber es gab Fürsten, die anders dachten, also bereits wirksam Pluralität bezeugten und verlangten: Luther muss vor dem Reichstag seinen Glauben, seine theologischen Einsichten, erläutern. Dafür ist vor allem Luthers Landesherr Kurfürst Friedrich der Weise erfolgreich eingetreten.
Kaiser Karl V. sieht seine Allmacht in Frage gestellt. Er kann den sich durchsetzenden Pluralismus religiöser Auffassungen nicht akzeptieren. Deswegen lässt er also den „Ketzer“ Luther nach Worms zum Reichstag reisen, um ihn für Rom und den Kaiser wieder zu gewinnen. Das Weitere ist bekannt: Luther wiederholt am 17. bzw. am 18. April 1521 vor dem Kaiser seine theologische Grundeinsicht, unter anderem sagt er: „Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“
Luther betont also, dass er sich von seiner Überzeugung nur abbringen ließe, wenn die Zeugnisse der Bibel gegen ihn sprächen oder „klare und helle Gründe“ genannt würden. Das kann die katholische Seite aber nicht bieten.
Damit ist dann de facto der Bruch zwischen römischer Kirche vollzogen. Die Einheit des westlichen Christentums ist vorbei. Es beginnt die Zeit des christlichen Pluralismus, selbst wenn Karl V. und auch Luther, ihren Äußerungen zufolge, die Einheit der Kirche doch noch anstrebten. Aber bei diesen nun offenkundigen Differenzen auch in Worms konnte Versöhnung nicht mehr eintreten.
Luther kann – wegen eines „Schutzbriefes“ – aus Worms abreisen, er wird durch das Eingreifen Friedrich des Weisen in der Wartburg bei Eisenach versteckt. Dort übersetzt Luther das Neue Testament ins Deutsche.

5.
Viele Herrscher (Könige) in den folgenden Jahrzehnten versuchten noch, mit aller Gewalt nur eine einzige, ihnen gefällige Religion in ihrem Reich zuzulassen, wie in Spanien und Frankreich (dort bis zur Revolution 1789), aber auch in protestantischen Staaten, wie in Schweden gab es die „Staatskirche“. In Preußen ließ erst Friedrich II. (der „Große“) eine gewisse religiöse Pluralität zu. In den Niederlanden hingegen war spätestens seit 1630 konfessionelle Pluralität eine Tatsache, auch innerhalb des Calvinismus wurde dann Vielfalt geduldet (mit den Remonstranten), auch Katholiken hatten im mehrheitlich calvinistischen Holland keine Verfolgung zu befürchten. Remonstranten wie Katholiken konnten ihre eigenen Kirchen bauen, zwar versteckt („Schuilkerken“), aber immerhin, es gab die Freiheit des Glaubens in einem toleranten Pluralismus. Der drückte sich auch aus in der Freiheit niederländischer Verlage, hoch umstrittene, „ketzerische“ Bücher aus dem Ausland zu publizieren und Religionsflüchtlinge etwa aus Frankreich aufzunehmen. Auch wegen der Toleranz als eines Zustandes des innenpolitischen Friedens konnten sich die Niederlande zu einem erfolgreichen Zentrum des Welt – Handels entwickeln.

6.
Der Reichstag zu Worms im April 1521 als dem Start eines pluralen Christentums in Europa kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, selbst wenn im „Dreizigjährigen Krieg“ und später noch die Zustimmung zur christlichen Pluralität bekämpft wurde. Es waren absolute Herrscher, die in ihrem einen reich aus machtpolitischen Gründen nur eine Konfession ertragen konnten und Andersdenkende verfolgten. Das galt etwa in Spanien bis kurz vor Ende des katholischen Franco – Regimes, das gilt bis heute in vielen muslimischen Ländern.

7.
Aber die Pluralität IM Christentum hat sich durchgesetzt. Und kein vernünftiger Mensch will mehr die eine und einzige zentralistische Kirche wie im Mittelalter wiedererstehen sehen, selbst wenn solche Vorstellungen in manchen einflussreichen katholischen Kreisen noch heute herumgeistern, unter dem Stichwort „Die katholische Kirche als römische Kirche ist die alleinseligmachende Kirche“.
Christliche Pluralität ist nicht nur ein bleibendes Faktum, sie ist ein Segen. Und die einzige Frage jetzt in der Erinnerung an den Wormser Reichstag ist: Wie kann die Pluralität vor einem Zerfallen in eine widersprüchliche und sich bekämpfende Vielfalt bewahrt bzw. aus einem Zustand der Konkurrenz und der Missgunst herausgeführt werden. Man denke etwa an das konfessionelle Gegeneinander in lateinamerikanischen Ländern, wo fundamentalistische evangelikale oft rabiat Katholiken abwerben.
Die dringende Aufgabe ist: Wie kann es eine Versöhnung der Verschiedenen geben, die sich als bleibend Verschiedene verpflichten, einander zu schätzen, auf Konkurrenz-Verhalten zu verzichten und sich von Feindseligkeiten zu befreien. Dass damit nicht alle, die sich „christliche Kirche“ nennen, vom Ökumenischen Rat der Kirchen als Kirchen anerkannt werden können, ist auch klar. Es gibt ein bleibend normatives Kriterium für Organisationen, die sich christliche Kirchen nennen. Kirchen, die sich in ihrer eigenen Lehre gegen die universal geltenden Menschenrechte aussprechen, sind keine christlichen Kirchen. Die Menschenrechte sind insofern das wichtige Kriterium der Unterscheidung auch für die Kirchen!

8.
Versöhnte Verschiedenheit – darauf wird sich auch die römische Kirche definitiv einlassen müssen, will sie nicht auf Dauer als fundamentalistische, Wahrheitsbesessene Gemeinschaft dastehen und an Respekt verlieren. Vielleicht kommt sie jetzt, angesichts ihrer Identitätskrise nicht nur wegen des sexuellen Missbrauchs durch Priester, dazu, diese theologischen Vernunft zu realisieren. Es gilt wohl anzuerkennen: Das Beten um die Einheit der Christen seit ca. 100 Jahren ist jedenfalls, für Menschen wahrnehmbar, völlig erfolglos. Und auch für die die theologischen Debatten über die feinsten Feinheiten der konfessionellen Unterschiede hat kaum jemand noch Verständnis, Zeit und Interesse. Alles ist in dem Zusammenhang gesagt! Das hat der große katholische Theologe Karl Rahner schon 1983 zusammen mit Heinrich Fries geschrieben in seiner leider vergessenen, verdrängten Studie „Einigung der Kirchen – reale Möglichkeit“ (Herder – Verlag). Alles ist gesagt: Schafft jetzt praktisch die Kircheneinheit der versöhnten Pluralität!

9.
Es gilt also jetzt damit zu beginnen, Kirchen – Einheit als versöhnte Verschiedenheit zu leben. Also auch Anerkennung der Ämter, Zulassung aller Interessierten zu jeder Form des Abendmahls oder der Kommunion. Das zu praktizieren, ist, theologisch gesprochen, eine Wirkung des Heiligen Geistes Sollte die römische Kirche in ihrer dogmatischen Erstarrung verharren, so ist abzusehen, dass sie zumindest in Europa zu einer Sekte der Fundamentalisten und Freunde des uralten Klerikalismus wird.

10.
Luther wurde also exkommuniziert: Diese päpstliche Strafe „erlischt“ mit dem Tod des Ketzers, aber in den Köpfen vieler Katholiken ist Luther immer noch der Ketzer. Unvorstellbar, dass sich eine römisch -katholische Kirche „Martin – Luther – Kirche“ nennen könnte. Katholische Kirchen werden eher nach der Unbefleckten Empfängnis, dem heiligen Papst Pius X. oder der „Heiligen Familie“ benannt…
Einige katholische und protestantische Theologen setzen sich mit dem Mut des Sisyphus,, wie der „Altenberger Ökumenische Gesprächskreis“, dafür ein: Der Papst sollte offiziell verkünden: „Luther ist kein Ketzer!“ (Am 3.1.1521 wurde Luther von Papst Leo X. exkommuniziert). Als „Gegenleistung“ wird den Lutheranern empfohlen zu bekennen: „Der Papst ist für kein Antichrist“. Ob es dazu kommt, ist fraglich.

11.
Zum Schluss die Erinnerung an eine zentrale Einsicht des Philosophen G. W.F. Hegel (1770 – 1831).Er hat als einer der ersten in der Moderne im Pluralismus der Kirchen kein Übel, sondern eine bleibende „Errungenschaft“ gesehen, trotz aller Auseinandersetzungen und Kriege, die eine Konsequenz der Reformation waren. Für diese „Schattenseiten“ sind freilich nicht allein die Reformatoren verantwortlich zu machen.
Hegel meint also: Dadurch, dass sich zwei oder drei verschiedene Kirchen, etwa in Preußen, befinden, also Lutheraner, Calvinisten, Katholiken, ist es Aufgabe des Staates, und prinzipiell als Rechtsstaat dazu verpflichtet, für Frieden in der Gesellschaft zu sorgen. Der Staat muss also aus seinem eigenen Selbstverständnis als Rechtsstaat die Prinzipien der Toleranz und des Miteinanders entwickeln. Der Staat ist für Hegel nicht bloß etwas Funktionales, „Äußerliches“ wie er sagt, der Staat ist vielmehr philosophisch gesehen Ausdruck des Lebens des absoluten Geistes. Er ist als Rechtsstaat nämlich die Wirklichkeit des Geistes! In dieser anspruchsvollen Bedeutung des Rechtsstaates kann der Staat die für alle Menschen gültigen Menschenrechten formulieren und sollte diese auch praktizieren. Hegel spricht in dem Zusammenhang vom Rechtsstaat als der „sittlichen Wirklichkeit des Geistes“, so etwa in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1820), dort § 270. Hegel schreibt am Ende dieses Paragraphen: „Es ist daher weit gefehlt, dass für den Staat die kirchliche Trennung (also die Pluralität der Kirchen, CM) ein Unglück wäre oder gewesen wäre; es ist so, dass der Staat nur durch sie, die kirchliche Pluralität, hat werden können, was seine Bestimmung ist: Die selbstbewusste Vernünftigkeit und Sittlichkeit.“ Mit anderen Worten: Die verschiedenen Kirchen mit ihren unterschiedlichen Lehren sind als solche untergeordnet gegenüber dem Rechts – Staat. Die Pluralität der Kirchen hat förmlich die Notwendigkeit eines Rechtsstaates mit erzeugt.
Dieser Staat ist verpflichtet, die universalen, für alle, auch für alle unterschiedlichen Konfessionen, gültigen Menschenrechten auszusprechen, einzufordern und zu realisieren. An ihm, den Rechtsstaat und den von ihm vertretenen Menschenrechten, müssen sich die verschiedenen Religionen orientieren, wenn sie in Gesellschaft und Staat aktiv – gestaltend werden wollen.

12.
Diesen Zusammenhang entwickelt sehr eindringlich der bekannte Hegel – Spezialist Walter Jaeschke in seinem Aufsatz „Staat und Religion“ in: Hegels Philosophie“ (Felix Meiner Verlag, 2020, Seite 263 -280). Walter Jaeschke weist ausdrücklich darauf hin, dass Hegel die Überzeugung der Romantiker entschieden ablehnt, es käme primär auf eine Einheit der christlichen Religion und des Staates an, diesen Zustand lehnt Hegel als „mittelalterlich“ ab. Die Religion als Religion ist gänzlich ungeeignet, „die Verfassung des Staates und die in ihm wirkliche Erkenntnisform vorzugeben“, schreibt Jaeschke (S. 269). Und er fährt fort: „Und deshalb spricht Hegel der Religion nicht das Recht zu, in Fragen der Staatsgestaltung mitzusprechen…“ Das Problem der Überordnung des Rechtsstaates gegenüber den Religionen wird dann von Jaeschke ausführlich weiterentwickelt.

13.
Was bleibt also von „Luther auf dem Reichstag in Worms“? Es bleibt die Einsicht: Gott sei Dank, möchte man sagen, hat sich Luther NICHT der katholischen und kaiserlichen Macht und ihren Lehren gebeugt! Er hat in Worms – vielleicht noch ohne sein explizites Wissen – den Weg in den christlichen Pluralismus eröffnet. Diese wird niemals mehr verschwinden, er bedarf aber der kritisch reflektierten (!) Versöhnung der im christlichen Glauben Verschiedenen.

14.
Was also ist die “Fern-Wirkung” von Luthers Beständigkeit auf dem Reichstag in Worms? Das Christentum konnte sich langsam, aber deutlich als Pluralität entwickeln. Kein Christ wurde, ebenfalls als “Fern-Wirkung”, seit dem 19. Jahrhundert wegen seines “abweichenden christlichen Glaubens” von einer zentralen Staatsmacht oder einer katholischen – römischen Kirche verfolgt. Prinzipiell gibt es keine Staatskirche mehr und es darf keine solche geben.
So sind die Kirchen nun auch befreit und in der Lage, bei heftigem Verletzen der Menschenrechte durch den demokratischen Staat und jeden anderen Staat dagegen öffentlich zu protestieren, unterstützt von den humanen Impulsen des Evangeliums.

Wichtig ist auch: Der demokratische Staat schützt und unterstützt die freie theologische Forschung. Etwa: Liberale Theologie und kritische Bibelforschung konnte sich entwickeln. Und Befreiungstheologen konnten sich ab 1971 in Lateinamerika wenigstens bemerkbar machen, wenn auch viele BefreiungstheologInnen aufgrund des Bündnisses von Vatikan und US-Regierung verfolgt wurden und ihr Leben ließen – im Einsatz für die Armen und für die vom Imperialismus Entrechteten. Die tötende Gewalt (man denke an den Heiligen Erzbischof Oscar Romero, El Salvador) ging noch einmal aus vom ideologischen Bündnis der Einheit von Vatikan (Papst Johannes Paul II. bzw. Ratzinger) UND Reagan und Co (CIA).

15.
Aber die absolute Überordnung der Menschenrechte über alles Konfessionelle, Religiöse, Kirchliche, kann nicht mehr zerstört werden. Diese Überordnung bleibt, auch wenn einzelne christliche, muslimische, jüdische, buddhistische, hinduistische usw. Führergestalten noch dagegen polemisieren…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-salon.de

Kirche in der Stadt – Ein spannungsvolles und „spannendes“ Verhältnis.

Ein Interview mit Pfarrer Michael Göpfert, München.
Die Fragen stellte Christian Modehn, Berlin

1.
Vor 40 Jahren, 1981, haben wir eine Aufsatz – und Essay – Sammlung mit dem Titel „Kirche in der Stadt“ im Kohlhammer Verlag herausgegeben. 24 Mitarbeiter aus verschiedenen europäischen Städten waren daran beteiligt. Nun sind 40 Jahre an sich noch kein denkwürdiges Jubiläum. Aber kritischer Rückblick und kritischer Vorblick sind bei dem Thema wichtig. Denn nirgendwo sonst wie in den Großstädten zeigt sich der religiöse Umbruch so deutlich: Etwa der Abschied weiter Kreise von den Kirchen und damit die neue religiöse Pluralität. Inzwischen sind etliche weitere Studien zum Thema „Kirche und Stadt“ erschienen. Blicken wir zunächst zurück: Warum war dir damals das Thema wichtig?

Ich glaube, die Idee zu dem Buch kam von dir, Christian, als Journalist warst du in vielen europäischen Städten unterwegs. Die Idee faszinierte mich, ich liebe Städte, vor allem Großstädte, schon immer. Vor Jahren hatte ich mir antiquarisch die 10 Hefte des Berliner „Großstadtapostels“ der „Zwanziger Jahre“ Carl Sonnenschein gekauft: „Notizen-Weltstadtbetrachtungen.“ In einem rasanten impressionistischen Stil und mit Tempo erzählt er von seinen Eindrücken und Erfahrungen, er taucht in die Stadt ein, weil er die Menschen in Berlin mag, beschreibt aber auch das Licht und die vielen Schattenseiten der Metropole. Und gestaltete förmlich im Alleingang eine neue Präsenz der (katholischen) Kirche in Berlin: Hilfsangebote, eine bedeutende öffentliche Bibliothek, er gestaltete ein Wohnungsbauprogramm, organisierte Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, er machte aus der Kirchenzeitung eine lesenswerte Zeitung, vernetzte sozial Engagierte und so weiter. So, dachte ich, könnte Großstadtkirche sein, als verbunden in mit der Kultur der Stadt und verbunden mit den Menschen, nicht nur den so genannten „Kirchgängern“.
Seit ich dann ab 1974 in München war, fiel mir auf, wie sehr das Thema Kirche und Stadt gleichsam in der Luft lag und von Theologen, Soziologen und Architekten diskutiert wurde. Kirchen sind immer eingebunden in bestimmte Orte, also in Wohn -, Lebens – , Arbeitskulturen. Kirchen sind wie Theologien niemals „ortlos“: Eine Citykirche „funktioniert“ anders als eine Dorfkirche, also: Entdecke den Genius loci! Glaube hat neben dem Zeitindex auch einen Ortsindex und daraus folgt eine Freilassung der Differenzen, eine Vielfalt und Buntheit von Kirchen, gerade in den Städten.

2.
Wie waren deine Erfahrungen in den ersten Jahren nach der Publikation des Buches: Zeigte sich Interesse am Thema? Von wem ging das Interesse aus? Waren es dann Debatten, die auch praktische Wirkungen zeigten?

Meine Erfahrungen nach Erscheinen des Buches waren überraschend, weil die Resonanz so gut war. Es gab Einladungen zu Tagungen, Vorträgen, Zeitungsaufsätzen. Am interessantesten für mich war die Einladung im Herbst 1981 zu einem Treffen von evangelischen Stadtdekanen und Stadtsuperintendenten in Berlin, eine Konsultation über Kirche und Großstadt. Ich schrieb darüber einen Zeitungsaufsatz und die Folge war, dass ich von da an bei fast allen Treffen dabei war und die Berichte darüber schrieb… bis 2013. Eine weitere Folge war, dass ich bei diesen Konsultationen den Hamburger evangelischen Theologen Wolfgang Grünberg kennenlernte, der dort an der Universität die Arbeitsstelle Kirche und Stadt aufgebaut hatte. Daraus entstand 1991 die Buchreihe „Kirche in der Stadt“, die ich in den Anfängen mitplante, vor allem auch mit dem Stadtsuperintendenten von Hannover Hans Werner Dannowski. Im Lauf der Zeit entstand eine Art Netzwerk der Stadtkirchen, gebildet zwischen der Konsultation, den Treffen der Citypfarrer/innen und denen der Kirchencafés.

3.
Als Leitlinien für eine Kirche, die in der Großstadt nicht als Fremdkörper erlebt werden soll, formulierten wir damals z.B. „Kreativität“, „Dialog“, „Basisorientierung“. Gibt es heute überhaupt noch ein Bewusstsein dafür, dass Kirche in der Stadt diesen Leitlinien folgen sollte?

Der Glanz der Begriffe Kreativität, Dialog, Basisorientierung ist etwas verblasst, aber faktisch leben die Stadtkirchen von dem damit signalisierten Potential. Wenn ich etwa an den Ideenreichtum von St. Maximilian in München denke oder an die frühere Kunststation St. Peter in Köln, die von dem Charisma des Jesuiten Friedhelm Mennekes lebte, wird mir deutlich, wie entscheidend die Geistesgegenwart, der Mut und die Ideen zunächst auch einzelner vor Ort sind.

4.
Ich habe den Eindruck: Die Kirchen in Deutschland und in ganz Europa setzen seit einigen Jahren schon entschieden auf das Programm „Reduzierung“ kirchlicher Präsenz in den Großstädten: Viele Kirchen – Gemeinden („Pfarreien“) werden zu großen, fast unüberschaubaren Verbänden zusammengeschlossen. Es fehlt an theologisch gut ausgebildeten Mitarbeitern, Pfarrern, Priestern. Ist „Kirche in der Stadt“ also auf dem Rückzug? Diakonie ist dabei abgespalten von den Gemeinden und als autonome Großorganisation etabliert?

Sicher wird es in den nächsten Jahren für beide Kirchen weniger finanzielle und personelle Ressourcen geben. Aber wenn Menschen von einer Aufgabe begeistert sind, arbeiten sie auch ohne Geld und wer sagt denn, dass so viele Aufgaben von bezahlten Hauptamtlichen gemacht werden müssen. Die Basis hat noch gar nicht zeigen können, was sie alles kann. Es wird wohl viel weniger große Kirchen geben, aber warum nicht viel mehr kleine Kirchenläden und Ladenkirchen in den städtischen Quartieren, in denen die Einheit von Liturgie, Diakonie vor Ort und religiöser Weiterbildung gelebt wird? Nicht Reduzierung von Präsenz von Kirche in der Stadt, sondern Verdichtung, aber eben nicht eine, die von Oben vorgeschrieben, geplant und organisiert wird. Zentralisierung ist Machtbündelung, Dezentralisierung heißt Abgeben von Macht und Vertrauen in die Basis vor Ort.

5.
Ich beobachte das in der Presse ständig: Kirche als positiv besetzter Ort der Begegnung ist eigentlich für weiteste Kreise kein Thema mehr. Im Mittelpunkt stehen die unsäglichen Skandale des Missbrauchs durch Priester oder die Zunahme fundamentalistischer Religiosität. Wo sind die theologischen Orte, die kritisches Reflektieren förmlich als „Dauerzustand“ praktizieren?

Die lange Missbrauchsdebatte ist notwendig, aber sie überlagert auch vieles. Die Sehnsucht nach Orten der Begegnung ist wohl für Menschen überlebenswichtig, sie kann nicht sterben und sie wird nach Corona vielleicht noch deutlicher werden. In vielen Städten sind die kirchlichen Stadtakademien gute Adressen für Austausch und Begegnung über Gruppenidentitäten hinweg, aber das reicht natürlich nicht. Warum nicht mehr lernen z.B. von der Tradition literarischer oder philosophischer Salons, von Treffen in Kneipen und in den Wohnzimmern. Jeder, der will, kann auf seine Weise durchaus die Initiative ergreifen und vielleicht zum Kristallisationspunkt von Begegnung werden.

6.
Wer in Spanien, Italien oder Frankreich die dortigen, meist geöffneten Kirchen besucht, fühlt sich angesichts der vieler hindurch eilenden Touristen wie in einem Museum. Werden Kirchengebäude zu Museen und Gottesdienste zu esoterischen Veranstaltungen nur für einige Eingeweihte?

Natürlich kann ich eine Kathedrale wie ein Museum benutzen, aber auch als Gottesdienstort. Ich kann mich in die Krypta verkriechen, um mit mir allein zu sein, ich kann mit dem Kinderwagen im Sommer den Schatten suchen…Die Nürnberger Lorenzkirche zum Beispiel hatte im Mittelalter nie nur religiöse Funktionen, sondern z. B. auch politische. Der Rat der Stadt oder die Stände und Zünfte trafen sich da. Die heutigen „Vesperkirchen“ verwandeln sich im Winter zu Suppenküchen und Wärmestuben für Obdachlose. Synagogen waren früher Räume des Gebets, aber auch Lernorte, Übernachtungsorte, sie boten Möglichkeiten für Mahlzeiten, und das alles unter einem Dach!
Ein für mich nach wie vor faszinierendes Beispiel für spirituelle Gemeinschaften und spirituelle Orte in der Stadt sind für mich die vielen hundert Bethäuser der Juden vor allem in Mittel-und Osteuropa. Sie wurden von 1940 bis 1945 im Wahn der Nazis und ihres verbrecherischen Antisemitismus fast vollständig ausgelöscht und vernichtet. Joseph Roth schreibt einmal über seine Heimatstadt Brody, die Stadt habe zwei Kirchen, eine Synagoge, aber 40 Bethäuser. Es gab Netzwerke der Gemeinschaft und Solidarität, Orte des Lernens der religiösen Überlieferung, der Weitergabe des kulturellen Gedächtnisses, der Einübung in die Weisheit der Bibel.
In einer schrumpfenden Volkskirche werden wir in Zukunft wahrscheinlich immer weniger Kirchen, aber immer mehr „Lese – Lern – und Versammlungsräume“ brauchen, die von diesem Geist geprägt sind, Stützpunkte der Einübung in den Geist des Christentums inspiriert aus dem Geist des Judentums. Gerade dann, wenn die Kirchen ärmer werden, könnten sie umso reicher werden durch die Vielfalt kleiner Läden und Treffpunkte, sozusagen um die Ecke in den Quartieren und Nachbarschaften. So könnte die Kultur der biblischen Traditionen entdeckt und aktuell neu gedeutet werden. Ich stelle mir solche Orte vor, wie sie Roman Vishniac kurz vor der Vernichtung noch fotografiert hat: Bücherwände, Holztische, Suppenküche, Gesichter des Lernens und der Versenkung… Grüße vom Schtetl in unsere Städte, die uns wie eine Flaschenpost erreichen.

7.
Unser Buch von 1981 hatte einen gewissen Mangel: Erfahrungen, Reflexionen, aus Asien, Afrika und Lateinamerika wurden nicht berücksichtigt. Nun sind inzwischen viele Menschen aus diesen Ländern in Europa gelandet und gestrandet, als Flüchtlinge etwa: Ist das Miteinander mit den „anderen“, etwa den Muslimen, eine zentrale neue Aufgabe für Menschen, denen „Kirche in der Stadt“ noch am Herzen liegt?

Kirche in der Stadt muss sich vor allem bewähren in der Begegnung mit dem Fremden und den Fremden, das ist ein Prüfstein nicht nur für das Christentum, sondern für alle Religionen. Gastfreundschaft mit den Fremden ist ein Schatz der religiösen und kulturellen Überlieferung und deshalb muss der Kampf gegen Abschottung, Ausgrenzung, Diskriminierung, Rassismus, Nationalismus auch von den Kirchen geführt werden. Die vielen Flüchtlingsinitiativen vor allem seit den 90er Jahren sind ein ermutigendes Vorbild. Klöster, gerade auch Nonnenklöster, gewähren Kirchenasyl, diese Klöster sind Lichtblicke in der kirchlichen Landschaft. Der persönliche Kontakt mit Fremden, mit anderen Religionen und Kulturen bedroht nicht unsere Identität, sondern fördert sie, erweitert sie, korrigiert sie, kann sie befreien von Verkrustungen, Verhärtungen, von Fanatismus und Dogmatismus. An dem Punkt sieht man auch, dass die Delegation diakonischen Handelns und Helfens an die großen Wohlfahrtsverbände, Diakonie und Caritas, gravierende Schattenseite hat: Die Fremden, Flüchtlinge, Obdachlosen, Menschen mit Handicap, werden den Augen der Gemeinde, also ihrem Erleben vor Ort, entzogen. Ich schaue unter den Bedingungen also dem Fremden und Flüchtling und Armen buchstäblich nicht mehr in die Augen. Das darf nicht sein!
Die Migrationsbewegungen werden noch anwachsen, der Fremde wird für viele ängstliche, nationalistisch Denkende als bedrohlich propagiert werden. Hier steht den Kirchen, den Religionen, der demokratischen Zivilgesellschaft eine harte Bewährungsprobe noch bevor. In den Kirchen in der Stadt stranden doch oft die „Anderen“, die Fremden zuerst, wird die Kirche noch eine Vorreiterrolle wahrnehmen wollen?

8.

Wenn wir von Kirche in der Groß – Stadt sprechen, darf man nicht vergessen, was eine zentrale Verpflichtung der Kirche ist: Von Gott zu sprechen und im Handeln deutlich zu machen. Wie sollte Kirche heute in den Metropolen Westeuropas, die zunehmend als säkularisiert gelten, von Gott sprechen und im Handeln deutlich machen?

Natürlich darf man nicht vergessen, daß es bei allem Reden über Kirche nicht um Kirche als Selbstzweck geht, sondern daß es in der Religion um Gott geht. Bei allen Struktur-und Reformdebatten wird das manchmal vergessen. Auch beim Reden über Kirche und Stadt geht es eigentlich um Gott. In der Apostelgeschichte heißt es einmal: Ich, Gott, habe ein großes Volk in der Stadt. Das ist eigentlich eine Provokation, das Volk ist nicht das Kirchenvolk, sondern es ist das Gottesvolk. In der Bibel geht es eigentlich immer um die Geschichte Gottes mit dem jüdischen Volk und mit allen Völkern und Menschen. Die biblische Literatur, das sind immer wieder neue und andere Versuche, über Gott zu sprechen, von ihm zu erzählen, in ganz unterschiedlichen Formen, in Erzählungen und Romanen, in Gedichten und Liedern, in Briefen und Predigten. Diese Sprechversuche über Gott sind radikal unterschiedlich, widersprechen sich, korrigieren sich. Man vergleiche nur einmal das hochpoetische Buch „Hohes Lied“ mit dem Josephsroman im ersten Buch Mose, oder das Hiobbuch mit seinen Anklagen gegen Gott mit dem skeptischen Buch Kohelet. Die Kirchen in der Stadt sollten endlich ihre eigenen biblischen Klassiker wiederentdecken, lesen, vorlesen, auslegen, neu inszenieren in allen möglichen Formaten, in Kooperationen mit Musik, bildender Kunst, Theater. Ich glaube, die Bibel fasziniert immer noch viel mehr Menschen als bloß das „Kirchenvolk“. Also, bei ihrem Sprechen über Gott sollten die Kirchen in die Schule der Bibel gehen und lernen, daß es sich um Sprechversuche handelt und nicht um dogmatische Statements, und sie sollten die biblischen Sprechversuche durchbuchstabieren.

Copyright: Pfarrer Michael Göpfert, München und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der Tee-Weg: Eine humanistische Spiritualität?

Ein Essay von Christian Modehn, veröffentlicht am 7.4.2009. Der Beitrag wurde zuerst in der Zeitschrift PUBLIK FORUM publiziert, wegen vielfacher Nachfragen wurde er erneut publiziert.

“Der Tee-Weg gründet auf der Verehrung des Einfachen und Schönen inmitten des schmutzigen Alltags. Er umschließt Reinheit, Harmonie und das Geheimnis des Mitleidens. Die Tee-Zeremonie ist eine Verehrung des Unvollkommenen, sie ist ein zarter Versuch, etwas Mögliches zu vollenden in diesem Unmöglichen, das wir Leben nennen”. Kakuzo Okakura, einer der hervorragenden Tee-Meister Japans, beschreibt einen “Weg”, der nach japanischer Auffassung zu Ausgeglichenheit, Weiterlesen ⇘

Ostern: Die Auferstehung Jesu von Nazareth vernünftig verstehen!

Ein Essay von Christian Modehn. (2021)

Aus dem Inhalt:

Nr.2: Die eine entscheidende Hypothese

Nr.9: Die schöpferische Tat der Hinterbliebenen

Nr.11: Jesu Grab war nicht leer

Nr.14: Karfreitag: Das Ende eines Propheten

Nr.18: Die Gemeinde “setzt” die Auferstehung Jesu

Nr. 20: Politische Auferstehungsgedichte von Kurt Marti

Nr. 24: Joseph Ratzingers banale Deutung der Auferstehung

1.
Über die Auferstehung Jesu von Nazareth haben die Kirchen eine bunte Welt von Bildern, Symbolen, Metaphern, Mythen und Erzählungen erzeugt sowie, damit eng verbunden, über das „ewige Leben“ der Menschen … im „Himmel“. Bei allem Respekt, auch für die Leistungen der Künstler und Schriftsteller zum Thema in all den Jahrhunderten: Es wurden viel zu viele Glaubensinhalte, auch viel zu viele Dogmen, verbreitet. Sie setzten sich förmlich als „Auferstehungs – Bilder“ durch. Aber zeigen sie das Wesentliche?
Ich denke: Sie verdecken vielmehr den klaren, den einfachen und vernünftigen Gedanken zur Bedeutung der Auferstehung Jesu von Nazareth. Warum soll denn bei diesem Thema das klare, vernünftige Denken ausgeschaltet werden?
Hier also wird zur Auferstehung Jesu von Nazareth ein einfacher Gedanke vorgestellt, der aber gerade, weil er einfach ist, ausführlicher erläutert werden muss. Er ist nachvollziehbar.
2.
Es gilt hier nur eine Hypothese als Voraussetzung: Wenn die Welt mit den Menschen im schöpferischen Handeln einer unendlichen ewigen geistigen „Energie“ (Gott genannt) ihren Grund hat, dann ist diese Welt, sind die Menschen, mit dieser „Energie“ (Gott) bleibend – geistig – verbunden. Das Ganze ist Ergebnis der Evolution. Der biblische Schöpfungsbericht ist ein Mythos und hat philosophisch und theologisch nur Bedeutung, wenn man ihn in kritisches Denken übersetzt (das meint “Entmythologisierung)”.
Wenn man einen schöpferischen, ewigen Gott annimmt, kann seine Welt nicht von ihm getrennt sein. Denn bei einer von Gott völlig getrennten Welt ist ein einziger ewiger Gott als Gott undenkbar. Die Welt und die Menschen haben also Anteil am Ewigen, aber in dieser Verbundenheit sind die Menschen frei und autonom. Dies ist ein Thema, das hier nur angedeutet werden kann.
Noch einmal:
Dieser Zusammenhang von göttlichem Geist als Gott selbst und göttlichem, damit ewigen Geist im Menschen (als dem „anderen“ Gottes), ist die Voraussetzung dafür, dass es die Auferstehung Jesu von Nazareth „gibt“ wie damit auch die Auferstehung von allen anderen Menschen. Ohne die Annahme einer schöpferischen göttlichen „Energie“ ist Auferstehung nicht denkbar. Und sie ist vernünftig – denkbar, gehört zum menschlichen Selbstbewusstseins (des Geistes). Auferstehung ist eben nicht irgendein erratischer Klotz, der im Bewusstsein einiger Menschen schwebt, befremdlich und unverstanden.
Meine Grundthese im Anschluss an das Denken G.W.F. Hegels ist: Der Glaube an Gott kann sich der Vernunft erschließen. Auch die Erfahrung des auferstanden Jesus durch seine Jünger kann und soll sich der Vernunft erschließen, also in Worten ausgesagt werden. Der Geist des Menschen ist von Gott selbst in die Lage versetzt worden, Gott zu denken: Im 1. Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth heißt von der Weisheit Gottes: „Uns aber hat diese Weisheit Gott enthüllt durch den Geist. Der Geist ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes“ (Kap. 2, 9f.).
3.
Dass es Welt und Menschen gibt als Geschaffene, ist also das eine und einzige Wunder sozusagen. Diese Einsicht kann sich dem naturwissenschaftlichen Wissen gar nicht erschließen, weil es um den Grund des Ganzen der Wirklichkeit geht.
4.
Jeder Mensch hat seine eigene Meinung über Sterben und Tod nicht nur im allgemeinen, sondern auch eine Meinung über das eigene Sterben und den eigenen Tod. Zur Gestaltung eines menschenwürdigen Sterbens gibt es gute Argumente. Beim Thema Tod (und der oft gestellten Frage „Was ist danach?“) sind wir auf Überzeugungen angewiesen. Diese Überzeugungen drängen sich beim Menschen als einem geistvollen Wesen auf. Epikurs bekannte und viel zitierte radikale Abwehr dieser Frage hat kein philosophisches Niveau. Er verdrängt nur den Tod im Leben, empfiehlt förmlich den Kopf in den Sand zu stecken. Nur wenigen wird das gefallen.
Heute sagen die einen: „Mit dem Tod, ist alles zu Ende, Basta“, „Ich falle ins Nichts“. Oder die anderen: „Eine Form des Danach wird es geben“. Jeder wird sich letztlich einer dieser Meinungen anschließen und sie im Laufe seines Lebens vielleicht auch ändern. Man ist als Mensch förmlich von eigenen Fragen gezwungen, zur Bedeutung des Todes, des eigenen Todes, Stellung zu. nehmen! Auch die Abwehr, Ignoranz, gegenüber dieser sich aufdrängenden Frage ist de facto eine Antwort.
5.
Die traditionellen christlichen Lehren über den Tod und das mögliche „Danach“ sind gebunden an die neutestamentlichen Erzählungen von der Auferstehung des Menschen Jesus von Nazareth. Aber die kirchlichen Predigten waren über all die Jahrhunderte meist fixiert auf die Wiederholung, also die Nacherzählung der äußeren Ereignisse. Und viele Predigten, viele spirituelle Aufsätze der Theologen tun das noch heute.
6.
In diesem Essay wird gezeigt: Die zweifellos auch poetisch schönen, anrührenden Erzählungen von der Auferstehung Jesu von Nazareth sind als Ausdruck der Erfahrungen der Hinterbliebenen zu verstehen!
Das heißt: Es ist die Gemeinde der FreundInnen Jesu, die nach einer tiefen Depression über den Verlust des Geliebten zu der Überzeugung kommt: Der am Kreuz gestorbene Jesus von Nazareth wurde in eine bleibende, ewige geistige Präsenz gesetzt. Die Freunde, Freundinnen Jesu haben also diese Überzeugung – kraft des Geistes – förmlich „geschaffen“: Unser „Meister“ und „Lehrer“ und innig geliebte Freund lebt geistig über seinen Tod hinaus! Er ist nach seinem Tod unter uns, aber ganz anders als zuvor: Als bleibende geistige Präsenz.
7.
Diese Erweckung Jesu aus dem Tod geschieht kraft des Geistes, des universalen göttlichen, der in der Welt, in den Menschen, in der Gemeinde wirkt. Deswegen kann die Gemeinde der Hinterbliebenen auch die Überzeugung aussprechen: Diese Erweckung Jesu zu einer bleibenden, ewigen geistigen Präsenz gilt nicht nur für Jesus, sie gilt nicht nur der Gemeinde, sie gilt allen anderen Menschen, weil alle im Geist Gottes leben können.
8.
Die Gemeinde also setzt nicht nur den Glauben an den auferstandenen Jesus. Sie nimmt ihn auch als Auferstandenen wahr. Denn, noch einmal, Jesus hat teil am ewigen Geist Gottes, genauso wie die Gemeinde teil hat am ewigen Geist Gottes. Wegen dieser Korrespondenz kann es dann heißen: Jesus ist vom Tod auferstanden, so wie die anderen Menschen auch vom Tod auferstehen. Das Neue Testament nennt Jesus den „Ersten der Entschlafenen“, der durch seine Auferstehung allen zeigt: Es „gibt“ die Auferstehung – als Eintritt des menschlichen Geistes ins Ewige.
9.
Wer also die Auferstehung Jesu von Nazareth verstehen will, muss auf die Hinterbliebenen schauen, auf Jesu Angehörige, Freundinnen und Freunde. Sie haben sich nach seinem Tod wieder gefasst, aus der Verzweiflung befreit und aufgerafft, neuen Lebenssinn, auch ohne einen leibhaftig anwesenden Jesus, zu entdecken. Sie fragen inmitten der langen Trauer: „Inwiefern bedeutet Jesus von Nazareth über seinen Tod hinaus, uns und anderen Menschen etwas für unser eigenes Leben und Sterben“?
Die Antworten der Freunde Jesu, der Gemeinde, sind dokumentiert: Die erste uns vorliegende Antwort hat der Apostel Paulus in seinem „1. Brief an die Thessalonicher“ gegeben. Verfasst wurde dieser Brief im Jahr 51, also etwa 17 Jahre nach Jesu Tod am Kreuz. Im Kapitel 1, Vers 10, schreibt Paulus ganz lapidar und sehr knapp von „Jesus, den Gott von den Toten auferweckt hat und der uns dem kommenden Gericht entreißt“. Lassen wir hier eine ausführliche Erläuterung der alten Vorstellung von einem Gericht beiseite, die angedeutet wird in diesen Worten: Die Auferstehung Jesu befreie von der Angst vor dem definitiven Ende, vor dem Gericht Gottes über das Leben der Menschen… Wichtiger ist: Die Überzeugung von der Auferstehung Jesu von Nazareth war schon ca. 17 Jahre nach seinem Tod selbstverständlich für die Gemeinde, sie wurde vor allem mündlich verbreitet.
Darauf bezieht sich Paulus. Und gleichzeitig betont er schon: Das Auferstehen betrifft nicht nur Jesus allein, es betrifft alle Menschen. Im Kapitel 4, Vers 14 heißt es: „Wenn Jesus gestorben und auferstanden ist, dann wird Gott durch Jesus auch die Verstorbenen zusammen mit ihm zur Herrlichkeit führen“. Ein paar Jahre später werden Paulus und die 4 Evangelisten ausführlicher ihre Überzeugungen von der Auferstehung beschreiben.
10.
Die Erzählungen von der Auferstehung Jesu sind bekanntlich keine Reportagen, keine objektiven Berichte über einen historischen Vorgang, den Zeitzeugen beobachteten. Die Auferstehung Jesu ist eine Überzeugung, also als ein innerer, geistiger, seelischer Prozess, der sich langsam bildet. Für das Entstehen einer inneren Überzeugung gibt es kein fixes Datum. In den Texten spiegelt sich diese innere Überzeugung. Und die heißt: Unser lieber Freund Jesus von Nazareth ist unter uns nach seinem Tod am Kreuz geistig präsent. Und weil der Geist eine lebendige Wirklichkeit ist, kann man sagen: Jesus „lebt“.
11.
Die historisch – kritische, die wissenschaftliche Erforschung der Bibel bietet ein dem Menschen würdiges, also ein vernünftiges Verstehen auch der Texte, die von Jesu Tod und Auferstehung sprechen. Diese Forschung wird intensiv mindestens schon seit 100 Jahren an den Universitäten gelehrt. Aber viele Kirchenführer haben diesen Gebrauch der Vernunft im Umgang mit der Bibel verteufelt. So haben sich viele Leute geistig eingemauert in eine fundamentalistische Lektüre und sich allzu bescheiden auf ein bloßes Nachsprechen der Auferstehungstexte im NT begrenzt. Im Nacherzählen der Mythen von Jesu wunderbarer Auferstehung aus dem Grab, von den Engeln, den leibhaftigen Erscheinungen des Auferstandenen usw. ist ein gar nicht mehr zu bremsender, unkontrollierter Wunder – Glaube entstanden. Er hält schlechterdings alles für möglich: Etwa auch „das leere Grab“. Es wird dann als das größte aller Wunder gepriesen. Dabei ist das leere Grab völlig bedeutungslos für den Glauben an den Auferstanden und für den Glauben an die allgemeine Auferstehung: Der katholische Theologe Hans Kessler betont: „Wenn vom leeren Grab gesprochen wird, so ist dies nur eine Veranschaulichung der Auferstehung Jesu. Das leere Grab ist ein Bild, ein Symbol, das die Erzählung farbiger machen soll. Der Osterglaube wird nicht vom leeren Grab begründet. Der Gedanke des leeren Grabes ist kein notwendiger Bestandteil des christlichen Auferstehungsglaubens. Eine im Grab aufgestellte Video-Kamera hätte den Auferstehungsvorgang nicht aufgenommen. Wer als religiöser Mensch auf einem leeren Grab besteht, leugnet, dass Jesus von Nazareth auch ganz Mensch war, also körperlich sterben musste“.
Zur Erinnerung: In den Gebeten am Grab auf den Friedhöfen wird unter Christen immer schon betont: Auch wenn dieser Mensch nun als Leichnam im Sarg oder in der Urne ruht, so ist er dennoch auferstanden.
12..
Was bedeutet nun Auferstehung Jesu in einer vernünftigen, argumentierenden Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und auch Theologie: Die Auferstehung Jesu von Nazareth ist in gewisser Hinsicht eine Tat, eine Handlung der Gemeinde, seiner Freunde. Sie rufen kraft ihres Geistes, der am göttlichen Geist Anteil hat, den verstorbenen Jesus für uns ins Leben. Unbeholfen und kulturell – zeitbedingt können die Freunde Jesu diese Erfahrungen nur als äußere wiederum „wunderbare“ Ereignisse aussprechen und in ihren Evangelien darstellen: Da läuft der Auferstandene in den Mythen der Evangelisten wieder in der Welt herum, er tritt plötzlich in die Wohnungen der Gemeinde ein, verschwindet aber wieder schnell, lässt aber sogar seine Wunden berühren. Dies alles sind poetische Bilder, aber eben nur Bilder, um die geistige Präsenz des Auferstandenen darzustellen.
13.
Diese starke, lebendig, präsent machende Energie der Freunde Jesu zu betonen, hat nichts mit einer Form von menschlicher Hybris zu tun. Denn das Setzen der Auferstehung durch die Gemeinde ist nur ermöglicht durch den göttlichen Geist, der in der Gemeinde lebt, aufgrund der göttlichen Schöpfung dieser Welt, wie ich oben sagte.
14..
Karfreitag, den Todestag Jesu von Nazareth, kann man nur von Jesu Lebensgeschichte her verstehen. Jesus ist keine mythische Gestalt ohne reales, weltliches, gesellschaftliches Leben. Er ist – trotz der eher geringen historischen, faktischen Überlieferungen – keine Konstruktion frommer Phantasien.
Karfreitag ist das brutale, von anderen, von den religiösen wie politischen Machthabern verfügte Ende dieses Propheten, der sich ganz der Menschlichkeit, der Menschenwürde, verpflichtet wusste. Der die Menschlichkeit als den besten Ausdruck des Vereintseins mit dem Unendlichen, mit Gott, ansah. Und der dies auch laut sagte gegenüber frommen Leuten, die auf die Einhaltung uralter religiöser Gesetze absolut allen Wert legten.
Diese wenigen Worte können nur summarisch die Lebensmitte Jesu, sein „Projekt“, andeuten. Dabei wird von mir nicht geleugnet, dass einzelne Sätze der Evangelisten, die sich als Zitate Jesu ausgeben, durchaus irritieren und weitere Fragen aufwerfen. Hier aber kommt es jetzt nur auf die große Linie an im Leben des Jesus von Nazareth. Als gläubiger Jude hatte Jesus radikal neue, man möchte sagen rebellische Auffassungen von dem, was er Gott und den richtigen Glauben als ethische Lebenspraxis nannte.
Seine Verurteilung und sein Tod am Kreuz sind kein blindes Schicksal, sondern Konsequenz seines in vielerlei Hinsicht rebellischen Lebens.
Jesus wird vom römischen Besatzungsregime verhaftet. Dann wird er von seinen Landsleuten, also etlichen führenden Theologen, verklagt. Und nach römischem Recht von Pontius Pilatus verurteilt. Jesus stirbt am Kreuz. Elend. Furchtbar. Auf den manchmal schon üblich gewordenen Hinweis auf viel schlimmere Erlebnisse beim Sterben und Hinrichtungen will ich mich hier nicht einlassen. Jesu Tod war in damaligen Zeiten sehr grausam. Was nützen Vergleiche?
15.
Wir wissen heute dank der historisch – kritischen Bibel-Wissenschaft: Jesus von Nazareth will mit seinem ungerechten Tod, mit seinem Leiden, seiner Qual, nicht irgendwelche Schuld der Menschen, gar der ganzen Menschheit seit der so genannten „Erbsünde“ bei Gott wieder gut machen. Er will überhaupt nicht, wie ein Bild sagt, mit seinem Blut die Schuld der Welt oder die Erbsünde auslöschen. Er will sich also nicht aufopfern für ein imaginäres, der Phantasie entsprungenes Projekt eines Gottes, den Jesus doch bekanntlich voller Vertrauen Vater, lieber Vater, nannte. Das Bild von Jesus als dem Lamm, das sich opfert, führt in die Irre, auch wenn es sich leider bis heute populär durchgesetzt hat. Es gibt irrige und dumme Lehren, die von den offiziellen Kirchen bis heute nicht korrigiert werden, wider besseren Wissens durch die absolute Mehrheit der Theologen. Und wie viele Karfreitagslieder besingen noch immer dieses „Lämmlein“, das sich opfert. Ist die Kirche im 21. Jahrhundert unfähig, so arm im Geiste oder nicht willens, wenigstens unsinnige, irrige Kirchenlieder beiseite zu legen? Sie verderben das religiöse Bewusstsein.
Diese verstörende „Sühne-Opfertheologie“ hat sich seit dem Mittelalter durchgesetzt. Gott ist grausam, so brutal, dass er seinen Sohn dahinschlachtet. Was für ein Wahn! Er hat mit Karfreitag nichts zu tun.
Die Wahrheit für den Menschen Jesus von Nazareth ist doch: Er weiß bei seinem Prozess, bei seiner Hinrichtung, er weiß am Kreuz hängend nur: „Mein Leben bricht ab, es wird beendet“. Und mit letzter Kraft schreit er in den für ihn leeren Himmel: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Jesus spürte also, wie der Philosoph und Theologe Gonsalv Mainberger treffend sagte, dass nun alles „umsonst“ ist, vergeblich, vorbei. Nur ein letztes Vertrauen in einen Sinngrund bleibt ihm, er nennt ihn nach wie vor Gott, nennt ihn Vater.
Aber Jesus will seine Lehre, seine Menschenfreundlichkeit, nicht verraten, er will sich nicht aus der Affäre ziehen. Er weiß: Was ich tat und was ich lehrte, war und ist richtig, ist human, ist wahr auch im religiösen Sinne. Nicht auf religiösen Kultus kommt es ihm an, sondern auf ein Zeugnis der Menschlichkeit. Und genau daran erinnern sich später seine Hinterbliebenen, seine Freunde und Freundinnen, seine Jünger.
16.
Die offizielle dogmatische Kirchen-Lehre hat sich förmlich versteift auf die Behauptungen einer „Auferstehung des Fleisches“. Mit dieser immer noch – auch in der Kunst – verbreiteten Vorstellung ist gemeint: Das „Fleisch“ ist ein Bild für die individuelle leibhaftige Person, sozusagen für ihre einmalige Identität. Und dieser präzisen Person wird eine Auferstehung verheißen. Mit allen Konsequenzen, die sich die Frömmigkeit dann ausmalte: Der Mensch muss leibhaftig vor Gottes Richterstuhl treten, muss erleben, wie der Gerichtsspruch lautet: Man denke an die schrecklichen Endgerichts – und Höllenbilder… Aber das sind Bilder, mehr nicht. Von dem Bild der leibhaftigen individuellen Auferstehung muss sich eine vernünftige Theologie verabschieden. Denn da weiß die alte Theologie einfach viel zu viel, dass es peinlich wird: Wie viele Milliarden Leibhaftiger werden sich dann im Himmel oder der Hölle tummeln? Den privaten Glauben vieler frommer Leute wird man als „Volksglauben“ respektieren, wenn Katholiken etwa auf Todesanzeigen schreiben: „Unser liebes Gemeindemitglied X.Y. ist gestorben. Wir freuen uns auf ein frohes Wiedersehen mit ihm im Himmel“. Das ist für mich Ausdruck einer hilflosen Spekulation, man könnte auch sagen eines diffusen Wunderglaubens.
17.
Es ist schon genug und anspruchsvoll genug, von der Auferstehung als einer bleibenden (!) geistigen Präsenz zu sprechen. Dabei kann sich – nach dem Tod – das individuell Geistige mit dem allgemeinen Geist, dem ewigen Geist, also Gott, vereinen. Aber auch das ist auch schon wieder eine sehr weit reichende Überlegung, weiter sollte man eigentlich bei einer intellektuellen Redlichkeit nicht gehen.
18.
Die frühen, die ersten Gemeinden, die Jesus förmlich als den Auferstandenen „setzten“, wussten: Seine Auferstehung ist nicht auf ihn allein begrenzt. Vielmehr macht Jesus bewusst, dass alle Menschen „Kinder“ des „göttlichen Vaters“ sind, also im Geist mit dem Göttlichen verbunden sind. Insofern ist etwa schon für den Apostel Paulus klar, dass die Auferstehung eine universale Bedeutung hat, allen Menschen gilt. An der Gestalt Jesu wird diese universale Auferstehung „nur“ für andere deutlich. In seinem Ersten Brief an die Korinther (Kapitel 15, Ver 12ff, bes. 16) schreibt Paulus: „Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, dann ist auch Christus nicht auferweckt worden. Und noch einmal: Wenn Tote nicht auferweckt werden, ist auch Christus nicht auferweckt worden“. Giuseppe Barbaglio, Theologe an der Universität Mailand, setzt diesen Gedanken fort: „Jesus Christus ist als der Auferstandene unser älterer Bruder. Was ihm widerfuhr, wird uns widerfahren. Seine Auferstehung ist das Anheben unseres neuen Lebens … und unserer Auferstehung“.
19.
Wie gesagt: Tatsächlich ist jeder Mensch mit dem Geist, verstanden als Geist Gottes ausgestattet und damit sozusagen von vornherein mit dem „Ewigen“ verbunden. Insofern können Menschen, deren überragende Menschlichkeit allgemein geschätzt wird, wie Gandhi oder Martin Luther King oder Bischof Oscar Romero oder Bischof Helder Camara, einen ausgezeichneten Platz haben, wenn es um die Erkenntnis der Auferstehung geht. Sie können durchaus auch erlösend wirken, wenn sich Menschen von ihnen inspirieren lassen zu einem humanen Leben. Jeder wird da weitere eigene Beispiele nennen können. Auferstehung und Auferstandene gibt es immer, weltweit. Aber es gibt auch Menschen, die ihre Seele, auch ihren göttlichen Geist in sich selbst offenbar abtöteten … und zu Lebzeiten wie in einer „Hölle“ lebten. Und anderen das Leben zur Hölle machten. Weiteres wird sich zur „Hölle“ religionsphilosophisch und kritisch-theologisch nicht sagen lassen.
20.
Diese Überlegungen sind alles andere als eine spielerische Spekulation, sie sind keine Form der „l art pour l art“. Sie haben auch politische Bedeutung. Um dies wahrzunehmen, sind auch (zeitgenössische) Dichter hilfreich. Ich denke etwa an Kurt Martis viel zitiertes Auferstehungsgedicht:
„Ihr fragt
wie ist die auferstehung der toten?
ich weiß es nicht….“
„Ich weiß
nur
wonach ihr nicht fragt:
die auferstehung derer die leben
ich weiß
nur
wozu Er uns ruft:
zur auferstehung heute und jetzt“. (Kurt Marti, Leichenreden, 1976, S. 25)

In einem anderen Gedicht sagt Kurt Marti:
„Das könnte manchen herren so passen
wenn mit dem tode alles beglichen
die herrschaft der herren
die knechtschaft der knechte
bestätigt wäre für immer
das könnte manchen herren so passen
wenn sie in ewigkeit
herren blieben im teuren privatgrab
und ihre knechte
knechte in billigen reihengräbern
aber es kommt eine auferstehung
die anders ganz anders wird als wir dachten
es kommt ein auferstehung die ist
der aufstand gottes gegen die herren“
21.
Die Auferstehung fördert also eine Lebensphilosophie und damit eine bestimmte Lebenspraxis. Die Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel scheibt: „Wenn wir aufmerksam werden auf die verwandelnden Kräfte, die schon hier unser Leben verändern, die uns anders sehen, fühlen, hören, schmecken lassen, dann können wir auch erwarten: Solche Kräfte werden nicht mit unserem biologischen Leben zu Ende sind. Wir können dem Schöpfersein Gottes zutrauen, dass es Energien gibt, die über unseren eigenen Lebenshorizont hinausreichen“.
22.
Aufgrund der Schöpfung Gottes sind die Menschen von göttlichem Geist erfüllt, sie setzen als Gemeinde also die Auferstehung Jesu von Nazareth. Dadurch wird auch ein neues, anspruchsvolles „Bild“ vom Menschen geschaffen: Dass es Ewiges im Menschen gibt, Göttliches. Meister Eckart, der viel zitierte Philosoph des 14. Jahrhunderts, spricht bildhaft vom „göttlichen Funken in der Seele“ eines jeden Menschen. Wie viele Philosophen haben diesen Satz zurecht wiederholt, interpretiert.
Auf Hegels Philosophie haben ich anderer Stelle hingewiesen.
23.
„Der göttliche, der ewige Funken lebt im Menschen über den Tod hinaus“: Mehr brauchen wir zum Verständnis des Osterfestes eigentlich gar nicht zu wissen. Dies ist eine Erkenntnis, die tröstet, aber nicht vertröstet.
24.
Joseph Ratzinger, also der spätere Benedikt XVI., widerspricht als einer von vielen „Offiziellen“ in seiner viel gelesenen „Einführung in das Christentum“ (1968) einem vernünftigen Verstehen der Auferstehung Jesu Christi: Die Jünger hätten nicht einen von ihnen selbst kommenden, eigenen Gedanken entwickelt, meint Ratzinger, dass Jesus lebe und seine Sache weitergehe. Es ist kein Gedanke, der „aus dem Herzen der Jünger aufstieg“ (S. 256). Nein, so weiß Ratzinger, der Auferstandene trat höchstpersönlich an die Jünger „von außen“ heran. Und er hat sie als von außen kommend „übermächtigt“ und er hat sie dadurch gewiss werden lassen: Der Herr (Jesus) ist wahrhaft auferstanden. Und das heißt für Ratzinger, wie üblich mysteriös – aber orthodox, wörtlich: „Der im Grabe lag, ist nicht mehr dort, sondern er – wirklich er selber – lebt…. Er steht den Jünger handgreiflich (sic!) gegenüber“, so Ratzinger S. 256 f. Auf diese Weise glaubt Ratzinger den Glauben an die Auferstehung zu erklären, im Grunde wiederholt er nur die Worte des Neuen Testaments. Wiederholungen des Textes sind bekanntlich keine Theologie. Aber so wurde und wird Theologie leider immer noch betrieben, von den entsprechenden ahnungslosen Predigten einmal angesehen.
Ratzinger sieht also nicht, dass Gott bereits in der Welt, auch in Jesus von Nazareth als das/der Ewige lebt. Dies allein ist die entscheidende „Ursache“ für die Möglichkeit einer Auferstehung überhaupt. Gott muss also gar nicht von außen noch mal extra in der leibhaftigen Gestalt des Auferstandenen an die Jünger herantreten, um sie von außen als der „handgreiflich Lebendige“ zu belehren. Jesus „hat“ das Ewige in sich, deswegen kann er „auferstehen“.
Es ist also die Scheu, die Angst, die Mutlosigkeit, die rechtgläubig erscheinende Theologen hindern, neue Gedanken und neue Vorschläge zu machen. In dieser sturen Haltung vertreiben sie nur nachdenkliche Menschen aus der Kirche. Die Krise der Kirchen heute ist nicht zuerst eine Krise der Institution. Die Krise der Kirche wird erzeugt durch den Unwillen, alte dogmatische Lehren beiseite zu lassen, und das Wesen der christlichen Religion in neuer Sprache auszusagen.
25.
Es müsste weiter gezeigt werden, wie diese vernünftige Auferstehungstheologie auch spirituell vertieft werden kann. Von den dogmatisch geprägten Gemeinden ist da kaum Hilfe zu erwarten, diese werden ihre Osterlieder, die wenn nicht aus dem 17. Jahrhundert, so doch mehrheitlich aus dem begrenzten theologischen Denken des 19. Jahrhunderts stammen, weiterhin singen: „Das Grab ist leer, der Held erwacht“ oder „Freu dich du Himmelskönig, freu dich Maria“ und so weiter. Das kann man ja machen, wenn man die Lieder wie Chorsätze aus mythischen Opern vergangener Zeiten deutet. Aber es ist etwas anderes, sich über die Gesänge der „Zauberflöte“ zu erfreuen als sich in mythische Osterlieder zu vertiefen. „Verzauberte Stimmungen“ oder Emotionen können kurzfristig (ver)trösten, auf Dauer gibt uns vor allem die Vernunft sicheren Boden, also eine tragende Sinnerfahrung. Die Erkenntnis der Auferstehung Jesu und aller Menschen Auferstehung kann ein solcher sicherer Boden sein, der sich der Vernunft erschließt und …“im Letzten“ auch tröstet.

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Es gelten, wie immer auf dieser Website, die Regeln des copyright.

LITERATURHINWEISE:

Stefan Alkier, Die Realität der Auferstehung. Tübingen 2009.

Concilium, Internationale Zeitschrift für Theologie, Themenheft Auferstehung, Dezember 2006.

Hans Kessler, Sucht den Lebenden nicht bei den Toten. Die Auferstehung Jesu Christi, 2011, Topos Taschenbücher. 2011, 526 Seiten.

Hildegund Keul, Auferstehung als Lebenskunst. Was das Christentum auszeichnet. Herder Verlag 2014.

Elisabeth Moltmann-Wendel, Mit allen Sinnen glauben. Stimmen der Zeit, 2005.

Karl Rahner Lesebuch. Herder 2014. 475 Seiten.

Dorothee Sölle, Es muss doch mehr als alles geben.1992, DTV.

Christoph Türcke, Kassensturz. Zur Lage der Theologie, darin der Beitrag Tod, Fischer Taschenbuch 1992.

Moderner Katholizismus wird verboten: Das progressive katholische Zentrum St. Merry in Paris muss schließen.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 28.2.2021.
Für alle, die Französisch lesen können, füge ich unten, am Ende meines Beitrags, einen Kommentar der Wochenzeitung Témoignage Chrétien, Paris, vom 4.3.2021 an.

Inzwischen (13.3.2021) hat die Gemeinde, die vom Erzbischof von Paris verboten wurde, eine eigene website gestaltet, sehr interessant…und schön gestaltet:
www.saintmerry-hors-les-murs.com

1.
Eigentlich ist es kein Ereignis von internationaler Bedeutung, wenn eine katholische Kirchengemeinde aufgibt und ihre Aktivitäten einstellt. Hier aber ist es ein Ereignis! Denn es geht nicht um irgendeine, sondern um eine weltweit bekannte, sagen wir „berühmte“ katholische Gemeinde in Paris: Sie hat den eher klassischen Namen „Pastorales Zentrum“. Und dieses hatte in der schönen, spätgotischen Kirche St. Merry (Organist war einst Camille Saint Saens) sein Zuhause. Die Kirche befindet sich in direkter Nachbarschaft zum Kultur-Zentrum Beaubourg/Pompidou. Was für eine Chance für einen offenen Dialog Kirche und Kultur…Darum ist der offizielle Titel auch „Centre Pastoral Halles-Beaubourg“.
2.
Und diese Gemeinde hätte gern weiter gelebt in aller bekannten Vitalität, aber sie wurde vom Pariser Erzbischof Michel Aupetit aufgelöst. Am 28.2. 2021 fand wie üblich um 11.15 Uhr der letzte Gottesdienst statt. Gegen die Entscheidungen von Herrschern, die sich Oberhirten kann „das Volk Gottes“ katholischer Art nichts machen.
3.
Ein ungewöhnlicher Vorgang, eine Gemeinde zu verbieten. Denn eigentlich sollten doch Bischöfe froh sein, wenn überhaupt noch Leben in katholischen Gemeinden ist. Und im „Pastoralen Zentrum St. Merry“ war Leben, viel Leben: Denn diese katholische Gemeinde hatte von Kardinal Marty einst, 1974, ganz offiziell das Privileg erhalten: Priester und Laien sind dort gemeinsam verantwortlich für alles, was in der Gemeinde geschieht. Laien, sonst immer nur als beratende Teilnehmer in kirchlichen Gremien vorhanden, konnten also hier mitentscheiden, über die Form der Gottesdienstgestaltungen, der sozialen und kulturellen Aktivitäten. Selbstverständlich waren auch Homosexuelle und Lesben als verantwortliche Mitarbeiter willkommen, was keineswegs üblich war in katholischen Gemeinden. Kunstausstellungen fanden in der Kirche St. Merry statt, Flüchtlinge fanden Unterkunft, Obdachlosen wurden Mahlzeiten angeboten, die „Restaurants du coeur“ wurden hier inszeniert; „Straßenzeitungen“ der Obdachlosen begründet, Konzerte (gratis!) am Samstagabend veranstaltet, an jedem Nachmittag wurde eine geräumige Seitenkapelle zu einer Art Café umgestaltet, offen für alle. Viele Christen aus der weiten Umgebung sahen St. Merry als ihre spirituelle Heimat an.
4.
Und das wird nun beendet.So will es der Erzbischof. Die französische Presse (Liberation, Le Monde, La Croix, Réforme, Témoignage Chrétien usw.) hat über dieses Durchgreifen berichtet. Aber die Gründe dafür werden nicht so recht klar und deutlich: Es soll in letzter Zeit viel Streit gegeben haben zwischen den Priestern, die vom Erzbischof für das „Pastorale Zentrum“ ernannt wurden. Einige engagierte Laien, so ist der Presse zu entnehmen, hätten sich manchmal sehr heftig den Weisungen und Vorschlägen der Priester widersetzt. Der Erzbischof begründet die Schließung dieses hoch ambitionierten katholischen Zentrums mit, so wörtlich, boshaftem Verhalten der Laien, mit deren „Mangel an Liebe“, sogar vom „Willen zur Zerstörung“ spricht er sowie, man ahnt es, „von einem gewissen „Sektarismus“. So nennt ein Bischof heute Laien, die ihre eigene theologische Meinung haben.
5.
Einige tausend Unterschriften wurden zur Fortführung dieses katholischen Gemeindezentrums gesammelt, auch die protestantische Wochenzeitung REFORME in Paris berichtete und zitierte Pastoren, die voller Lob über diese Gemeinde sprechen. Pastor James Woody etwa, der lange Zeit in der explizit liberal-protestantischen Gemeinde „L Oratoire du Louvre“ in der Nachbarschaft arbeitete, er scheibt: „St. Merry war eine Art Avantgarde, eine Art Laboratorium auch in dem weiten Feld der Kultur und der Ideen. Wir liberal-theologische Protestanten teilen mit St. Merry dieselbe Überzeugung, nämlich dass das Christentum wichtiger ist als die Kirchen und dass man als Christ den geistigen Horizont maximal öffnen muss“.
Diese Öffnung will der Erzbischof offenbar nicht. St. Merry hat sich stets als Experiment verstanden, so wollte es auch Kardinal Marty, der Gründer. Und von partnerschaftlicher Zusammenarbeit von Laien und Priestern spricht doch auch Papst Franziskus ständig. Darauf weisen die empörten Gemeindemitglieder hin. Sie sind päpstlich, aber nicht erzbischöflich. Und die aktiven Gemeindemitglieder geben zu, dass einige wenige Laien allzu selbstbewusst auf ihrer Wahrheit wohl pochten. Aber die übergroße Mehrheit der Laien wollte doch und will doch immer noch das Experiment, „ihre Gemeinde“, fortführen.
6.
Die katholische Kirche in Paris steht nun in der Öffentlichkeit wiedermal ziemlich blamiert da: Ein autoritärer Erzbischof – das passt auch und wieder mal in die allgemeine Vorstellung von Kirche, zumal in Frankreich, die nicht nur von ständigen sexuellen Missbrauchs -„Fällen“ durch Priester erschüttert wird, sondern auch von groben Missständen in den charismatischen Gruppen und neuen geistlichen Gemeinschaften. Noch schlechter kann der Ruf der katholischen Kirche Frankreichs eigentlich im Augenblick gar nicht werden.
7.
Aber die Intelligenten unter den Katholiken wissen genau: Wenn streng konservative Gruppen, wie die Pro Life Kreise oder die Gegner der so genannten „Homo-Ehe“ oder ie Charismatiker mit ihrem missionarischen Singsang oder die mit Rom sympathisierenden Traditionalisten um erzbischöfliche Unterstützung bitten: Dann erhalten diese, auch finanzstarken, Kreise jegliche offizielle bischöfliche Hilfe.
Aber solch ein letztlich doch nur als Ausnahme existierendes, insofern marginales modernes katholische Gemeindezentrum „Halles Beaubourg“ darf nicht weiter bestehen. Das empfinden die wenigen noch verbliebenen linken und progressiven Katholiken als Skandal und auch jene, die sich vom Katholizismus längst verabschiedet haben und vielleicht bei den liberal-theologischen Protestanten Inspirationen erhalten. Jedenfalls hat ein prominenter Jesuit in Paris, Pater Francois Euvé, in der Tageszeitung „La Croix“ angedeutet: dass doch an anderer Stelle „St. Merry“ weitergehen sollte. Ob dies in der Jesuitenkirche St. Ignace im 6. Arrondissement möglich sein könnte, sagt er allerdings nicht. Eine allgemeine Vertröstung also.

PS.1.:
Ich habe diese Ereignisse um St. Merry, Paris, für eine deutsche Öffentlichkeit dokumentiert, Ereignisse, die zum weiten Umfeld der Kritik der Religionen gehören, einem Hauptthema unserer website.
Hinzukommt: Ich habe kurz nach Gründung dieses modernen Gemeindezentrums schon am 8.8.1976 in der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“ (Herder Verlag) auf St. Merry aufmerksam gemacht und ich bin in dem Buch „Kirche in der Stadt“ (Kohlhammer Verlag 1981) in meinem Beitrag über Paris auf St. Merry noch einmal zu sprechen gekommen. Der Titel dieses Buchbeitrags war: „Freiräume für die Menschen“ (S. 42 – 57) Mein Aufsatz endet mit den Worten: “Kirche in der Metropole hat nur Zukunft, wenn sie in sich selbst Vielfalt nicht nur toleriert, sondern fördert“…
Das Buch „Kirche in der Stadt“ hatte ich mit dem evangelischen Theologen Michael Göpfert (München) herausgegeben. Es hat, zumal durch den Einsatz von Pfarrer Göpfert, dazu beigetragen: Das damals noch neue und eher ungewöhnliche Thema „Kirche und Stadt“ in den Mittelpunkt gewisser theologischer Debatten stellen zu können.

PS. 2.:
Mit dem Ende des progressiven Gemeindezentrums St. Merry in Paris beschleunigt sich auch das Ende des linken, des progressiven Katholizismus in Frankreich. Darüber haben die Soziologen Denis Pelletier und Jean-Louis Schlegel die großartige Studie veröffentlicht „Á la gauche du Christ. Les chrétiens de gauche en France de 1945 à nos jours“. (Zur Linken Christi… Die linken Christen in Frankreich…) Edition du Seuil Paris, 2012, 614 Seiten. Das Buch hat in Deutschland keinerlei Beachtung gefunden.
Genauso wenig Beachtung in Deutschland fand ein anderes wichtiges Buch in dem Zusammenhang: „Catholicisme, la fin d un monde. (Katholizismus, das Ende einer Welt), Paris 2003, von der berühmten Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger. 335 Seiten. Bayard-Editions.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Wochenzeitschrift TEMOIGNAGE CHRETIEN schreibt am 4.3.2021:

Saint-Merry, c’est fini !

Von Christine Pedotti

La fermeture définitive du Centre pastoral Saint-Merry à Paris, confirmée par les autorités catholiques parisiennes, n’est une bonne nouvelle pour personne. C’est un terrible constat d’échec pour tous les catholiques. Au centre de l’expérience parisienne, il y avait un rêve de « cogestion » entre les prêtres et les baptisés laïcs, hommes et femmes. Et c’est là que s’exprime l’échec.
Le diocèse fait état de « méchants » qui auraient bloqué toute possibilité de dialogue et qui auraient chassé successivement les derniers curés envoyés par l’autorité. De fait, le curé a démissionné en cours d’année, tandis que son prédécesseur, Daniel Duigou, écrivain, prêtre, psychanalyste, qu’on peut difficilement soupçonner d’être un suppôt de la réaction, s’exprime sur son expérience en disant : « Je ne voulais plus être complice d’un lynchage permanent, une véritable maltraitance morale. » Et il ajoute : « Le même processus s’est reproduit avec mon successeur comme il s’était produit avec mon prédécesseur, qui est parti, selon moi, “en morceaux” ! »

Dysfonctionnement donc, indubitablement. Mais est-il le fait de « méchants » ou le fait d’une situation structurellement invivable, tant pour la communauté que pour la hiérarchie catholique ? J’écrivais ici que « le cléricalisme est la loi d’airain du catholicisme ». La « cogestion » prêtres/laïcs, même profondément souhaitée par les deux parties, est impossible dans la structure actuelle du catholicisme, qui concentre entre les mains du clergé toutes les responsabilités : celle d’enseigner, celle de sanctifier et celle de gouverner.

C’est pourquoi un lieu comme celui de Saint-Merry est confié « canoniquement » à un curé/prêtre et non à un laïc, alors que, pourtant, de ce côté, les compétences ne manquent pas. Des expériences comme celle qui s’achève ici dans la désolation sont de facto vouées à l’échec, et peu importe qui sont les « gentils » et qui les « méchants » si le catholicisme ne se réforme pas profondément, ne réforme pas sa structure hiérarchique… ne réforme pas le ministère ordonné. Qui sont les prêtres/les évêques ? Qui les choisit et les forme ? Quelle est leur mission ? Sont-ils des hommes, des femmes, à plein temps, pour toute la vie ?

La communion est brisée, dit le diocèse de Paris, qui ferme le ban. Mais que signifie une « communion » qui toujours donnerait l’autorité aux uns et demanderait l’obéissance aux autres, et jamais l’inverse ?
Lire l’édito sur notre site →

Die Spiritualität von Rosa Luxemburg

Von Christian Modehn am 14.1.2019, erneut bearbeitet am 27.2.2021

Zur Erinnerung: Rosa Luxemburg wurde am 5.3.1871 in Zamosc, Polen, geboren. Am 15.1 1919 wurde sie in Berlin von Rechtsextremen umgebracht. 1899 war Rosa Luxemburg in die SPD eingetreten; 1917 in die USPD, zur Jahreswende 1918/19 gehörte sie zu den GründerInnen der KPD. Rosa Luxemburg war gegen den Begriff “kommunistisch” im Namen dieser Partei.

1.

Die Frage „Welche Spiritualität war lebendig in Rosa Luxemburgs Praxis und Denken?“ wird meines Erachtens bisher nicht explizit und ausführlich diskutiert. Auch jetzt nicht, anläßlich ihres 150. Geburtstatges 2021. Über ihre Verbundenheit mit einer jüdischen Lebensform und jüdischen Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie müsste ausführlicher gesprochen werden.
Als wichtige Ergänzung zum folgenden Beitrag siehe auch meinen Hinweis “Rosa Luxemburg – die Philosophin” mit Zitaten, die auch die spirituelle Grundhaltung Rosa Luxemburgs andeuten. LINK.

2.

In dem kritisch informierenden Heft „Luxemburg“ 3/2018 der Rosa-Luxemburg Stiftung werden in verschiedenen Beiträgen einige wenige Hinweise gegeben, die Ansätze bieten könnten für ein „spirituelles Profil“ von Rosa Luxemburg.
Allgemeiner Ausgangspunkt ist die Tatsache, die noch längst nicht alle heute zur Kenntnis genommen haben: Rosa Luxemburg war keine „bolschewistische Abenteuerin“. Sie wollte keinen blutigen Bürgerkrieg in Deutschland, wie die Rechten und auch Leute der SPD, Noske usw., damals lautstark behaupteten und … direkt/indirekt ihre Ermordung zuließen bzw. förderten. Rosa Luxemburg wollte keine Diktatur des Proletariats, etwa nach dem Beispiel Lenins. Sie wollte um der Menschheit willen eine bessere, gerechte Welt-Gesellschaft, den sie Sozialismus nannte. Dieses globale Projekt ist so etwas wie eine Revolution.

3.

Alex Demirovic nennt in seinem Beitrag „Eine neue Zivilisation“ einige Begriffe, die bei der Darstellung des spirituellen Profils von Rosa Luxemburgs hilfreich sein können: Sie ist immer bereit, den Zauber des Lebens (S.21) zu spüren und in ihrer poetischen Sprache auch zu benennen. Und da gelingen ihr wunderbare Sätze!
Sie will die „äußerste Achtsamkeit für das (und den) einzelne(n)“ auch politisch leben, sie will also nicht hinnehmen, dass die einzelnen Menschen für das „große Ganze“ geopfert werden. „Gefühlskälte“ (S. 20) kommt für sie gar nicht in Frage. Sie liebt die Natur, alle Geschöpfe, die Tiere. In der Natur erlebt sie Erhabenderes als auf Parteikongressen. „Sie bewegt sich im Spannungsfeld des Widerspruchs von Ganzem und einzelnen“ (S. 21). Aber sie wehrt den Zugriff der Macht auf den einzelnen Menschen entschieden ab.

4.

Im Leben und politischen Alltag ist Geduld (S. 22) für sie entscheidend. Sie will den „Sinn für die großen Linien“ bewahren.
Wichtig ist ihr Vertrauen in die demokratisch aktiven „Massen“.
Sie schätzt absolut die Freiheit des Menschen. Freiheit ist für sie kein exklusives Privileg einer herrschenden (ökonomisch alles bestimmenden) Klasse in der Gesellschaft, sondern Freiheit gehört wie eine „Wesensbestimmung“ allen Menschen. Freiheit ist immer auch die Freiheit des anders Denkenden“:  Das sagt sie auch und vor allem zur so genannten Partei – Elite in der Sowjetunion, also gegen Lenin. Es sind die „Macho-Männer“, die mit Gewehren herumstolzieren“, so beschreibt Drucilla Cornell die Haltung dieser Clique, die sich „Avantgarde“ nennt (S. 30). LINK.  Das berühmte Zitat stammt aus dem Buch “Zur russischen Revolution”, verfast 1918. LINK.

5.

„Freiheit als Freiheit des anders Denkenden“ war ja auch in der Geschichte der christlichen Kirchen alles andere als selbstverständlich. Wie Kirchen und Theologen auf Rosa Luxemburg reagierten, zu Lebzeiten, zur Ermordung und in den folgenden Jahren des sich aufbauenden Faschismus wäre ein Thema auch für Kirchenhistoriker…

6.

Es gibt eine zentrale („spirituelle“) Leidenschaft Rosa Luxemburgs: Die Politologin Drucilla Cornell spricht von ihrer Sanftheit, (S. 32.) Man könnte wohl auch sagen „Zärtlichkeit“. Theologen werden sich erinnern, dass der Prophet Jesus von Nazareth ebenfalls immer wieder „sanft“ genannt wurde.
Es ist also bei Rosa Luxemburg, noch einmal, die Liebe zu allen Kreaturen, zu Pflanzen, zu Tieren, zum Kosmos, auch und gerade in den Zeiten ihrer Gefängnis-Aufenthalte: Da war das intensive Erleben des Einssein mit der Natur (der “Schöpfung”?) förmlich lebensrettend für sie. Man lese ihre Briefe aus dem Gefängnis, etwa den Brief an Sophie Liebknecht, aus dem Breslauer Gefängnis im Dezember 1917 (S. 56 ff). Wäre es nicht spannend, einmal diese Gefängnis-Briefe mit den Gefängnisbriefen von Dietrich Bonhoeffer synchron und vergleichend zu lesen?

7.

Drucilla Cornell nennt auch das entscheidende spirituelle Stichwort Luxemburgs: Es geht um die Transformation, „radikale Transformation jedes Einzelnen (S. 29) als Voraussetzung einer „sozialistischen Revolution“, also einer neuen, in Luxemburgs Verständnis besseren, weil gerechten Gesellschaft. Transformation ist ein seelisches, auch therapeutisches Geschehen!
Die Autorin, Professorin u.a. für Gender Studies und Politikwissenschaften, zitiert eine weitere zentrale Kategorie der Spiritualität: Luxemburg schreibt in ihren Überlegungen zur weltweiten Unterdrückung: „Eine Welt weiblichen Jammers wartet auf Erlösung…“ (S. 28). Erlösung wurde von einer dogmatisch eng denkenden Kirche als fast immer als jenseitiges oder nur seelisches Geschehen gedeutet. Dabei ist Erlösung als konkrete, auch materielle Erfahrung einer gerechteren Welt notwendiger Bestandteil eines sich selbst kritisch verstehenden Christentums.

8.

Es wäre hier wichtig, die ausdrücklichen und auch unbewusst lebendigen Verbindungen Rosa Luxemburgs zum Judentum ausführlich zu entwickeln. Michael Löwy, Professor für Philosophie in Paris, gibt einen entscheidenden Hinweis: Er spricht von Luxemburgs Warnungen vor der Allmacht des Imperialismus, Nationalismus und Militarismus. „Diese Warnungen waren nicht im Sinne einer wunderbaren Vorhersage der Zukunft (zu verstehen), sondern im Sinne der biblischen Propheten Amos und Jesaja, die die Menschen vor bevorstehenden Katastrophen warnen, die es gemeinsam zu verhindern gilt“ (S. 38). Welche biblischen Propheten kannte die Jüdin Rosa Luxemburg tatsächlich? Ist der blinde Hass der Rechten und Rechtsextremen damals wie heute auf Rosa Luxemburg (und andere Sozialisten) auch und entscheidend antisemitisch bedingt? Das wird fraglos so sein, sollte aber ausführlicher noch dargestellt werden.

9.

Zusammenfassend: Wenn man sich die Philosophie und Lebensform Rosa Luxemburgs vergegenwärtigt, wird ihre spirituelle Grundhaltung, als Gestalt einer humanistisch-sozialistischen – biblischen, prophetischen Spiritualität, deutlich! Es ist eigentlich an der Zeit, dass sich spirituelle Menschen, auch Christen und Theologen, sehr viel stärker mit Rosa Luxemburgs Werk befassen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin, veröffentlicht am 14.1.2019.

 

Das genannte Heft „Luxemburg 3/2018“, kann kostenlos bestellt werden: Franz Mehring Platz 1, 10243 Berlin.

Nebenbei: Ein weiteres Thema für religionskritische Untersuchungen wäre die äußerst geringe Lernbereitschaft christlicher und theologischer Kreise, etwa im Blick auf ein differenziertes Bild von Rosa Luxemburg.

Einen Versuch, die theologische Bedeutung Rosa Luxemburgs herauszustellen, bietet der evangelische Pfarrer und SPD Mitglied Eberhard Pausch, Frankfurt/M. in seinem Beitrag für das “Hessische Pfarrblatt”, veröffentlicht im JUNI 2019: LINK

Es muss für weitere Studien berücksichtigt werden, dass gerade Kirchenleute, Päpste, Bischöfe usw. der allgemeinen Ideologie folg(t)en: „Der“ Sozialismus und „der“ Kommunismus seien viel schlimmer, viel “teuflischer” als der Faschismus. Schließlich konnte die römische Kirche mit dem faschistischen Regime in Italien und den NAZIS in Deutschland noch Konkordate abschließen, also die Existenz der Kirche „sichern“; was dabei mit “den anderen”, den Juden, den Kommunisten, den Homosexuellen, den Sintis/Roma, geschah, war dabei kein vorrangiges Interesse für die Kirchenführer.
Der blinde Antisozialismus und Antikommunismus war eine bestimmende Ideologie vor allem in den USA; ihr folgten die Päpste, wie auch Johannes Paul II.: Zusammen mit Präsident Reagan im gemeinsamen Kampf gegen „revolutionäre Priester“ und Befreiungstheologen in Lateinamerika.
So unterstützte die katholische Kirchenführung die sich katholisch nennenden Diktatoren in Argentinien oder Chile (Pinochet), vorher schon in Spanien: Diktator Franco oder Trujillo, Dominikanische Republik, und so weiter…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Republik wehrt sich gegen radikale Muslime und ihre Gemeinden: Präsident Macron will eine andere „Laicité“ in Frankreich.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 15.2.2021. Mit einem Hinweis (Nr.12), dass auch christliche Kirchen heute das demokratische Zusammenleben gefährden…

Am 16.2.2021 haben die Abgeordneten der Assemblée Nationale das “Projekt des Gesetzes gegen den Separatismus” mit einer Mehrheit angenommen: 347 Stimmen dafür; 151 Stimmen dagegen; 65 Enthaltungen. Am 30. 3. 2021 wird es nochmals dem Senat zur Überprüfung übergeben. (Quelle: Europe 1, am 16.2.2021)

1.
Die Ängste der Franzosen sind verständlich, die Ängste vor weiteren Terroranschlägen von Leuten, die sich muslimisch nennen. Der Wille der Franzosen ist verständlich, wenn sie unbedingt ihre republikanischen und demokratischen Werte verteidigen und schützen. Wer die Menschenrechte verteidigt, ist bekanntlich nicht in einem eurozentrischen Denken befangen. Er/sie verteidigt schlicht und einfach die Menschenrechte, die universal für alle Menschen gelten. Da spielt die europäische Herkunft für die universale Geltung überhaupt keine Rolle.
2.
Dies muss beachtet werden, wenn auch berechtigterweise sofort der Einwand kommt: Die französischen Politiker (wie eigentlich die meisten Politiker in den wenigen verbliebenen Demokratien der Welt) glänzen ja seit Jahrzehnten nicht gerade als praktische Verteidiger der Menschenrechte, man denke an die Außenpolitik (etwa: Umgang mit Afrika) oder an die Flüchtlingspolitik. Man denke auch an die vielfach sehr unwürdigen Lebensverhältnisse in den Banlieus, wo vorwiegend die Ausgegrenzten, die Armen leben, Franzosen, auch Franzosen mit arabischer oder „schwarz-afrikanischer“ Herkunft.Die meisten von ihnen sind Muslime.
3.
Und jetzt sind wir beim aktuellen Thema:
Am 16. Februar 2021 sollen – nach langen, leidenschaftlichen Debatten im Parlament – sehr umfangreiche neue Gesetze beschlossen werden. Und sie sollen ganz besonders den muslimischen Mitbürgern gelten, auch wenn sie alle Religionsgemeinschaften in ein neues Verhältnis zum Staat setzen können. Die Regierung sieht viele dieser muslimischen Mitbürger als “Islamisten” in einem verwerflichen Verhalten befangen, das nennt die Regierung „Separatismus“. Also den Willen und die soziale wie politische Praxis, jenseits der geltenden Gesetze der Republik eigene, separatistische Wege zu gehen, also etwa die Gebote des Korans im politischen Leben für entscheidender zu halten als die Gesetze der Republik.
Separatismus wird so zum Begriff für die „Abspaltung“ von Muslimes von den Prinzipien der Französischen Republik. Und dieser Separatismus soll ein Ende haben, durch eine umfassende Fülle neuer Gesetze.
4.
Das Projekt begann mit dem eher noch harmlosen Titel: „Die Prinzipien der Republik stärken“. Es ist eine Art Lieblingsidee von Präsident Macron, schon vorgestellt in Vorträgen vor einem Jahr (Februar 2020) in Mulhouse und Les Mureaux. Und schon angedeutet in Macrons Buch „Revolution“ von 2016, LINK
5.
Die neuen Gesetze zur Überwindung des islamischen Separatismus sind grundlegend: Nur einige Beispiele: Es geht um umfassende Kontrolle jeglicher Aktivitäten muslimischer Gemeinden; fremde Staaten dürfen nicht (mehr) Grundstücke kaufen oder die Finanzierung von Moscheen betreiben. Bei grobem Fehlverhalten gegen diese Gesetze der Republik sind auch Schließungen der Gemeinden vorgesehen; ebenso ist geplant, die Internetaktivitäten der Muslime und ihrer Gemeinden zu beobachten, privater Unterricht „zu Hause“ wird verbote; Sportvereine, etwa von muslimischen Gemeinden veranstaltet, sollen vom Staat beobachtet werden.
Aber es werden auch Details beschlossen: Untersagt wird die ärztliche Feststellung der Jungfräulichkeit von jungen Musliminnen… (Die Beschneidung von Knaben bei Muslimen und Juden, die viele kompetente Menschen für eine fundamentalistische Deutung religiöser Gebote halten und für eine Verletzung der Menschenrechte halten, wird nicht verboten!)
6.
Viel Zustimmung finden die Gesetze gegen den Separatismus unter den immer sehr leidenschaftlichen Verteidigern einer möglichst religionsfernen Republik. Dies sind etwa die Freimaurer in ihrer bedeutenden Loge „Grand Orient de France“. Auch Rabbiner finden die Gesetze angebracht, aus bekannten Gründen: Weil sich muslimisch nennender Terrorismus auch in Frankreich gegen Juden und jüdische Einrichtungen wendet.
7.
Die Verantwortlichen der Religionsgemeinschaften konnten sich im Senat (dem „Oberhaus“) zu dem Gesetzesvorhaben äußern: Eher zustimmend zeigte sich der Oberrabbiner Haim Korsia. Sehr kritisch hingegen der Präsident des „Dachverbandes der Muslime in Frankreich (CFCM)“, Mohammed Moussaoui: Er befürchtet, dass nun „der Islam insgesamt unter Verdacht gestellt“ wird. Dabei betonte er gleich am Anfang: „Der Kampf gegen den Extremismus, der sich islamistisch nennt, ist auch unser Kampf“. Aber er erinnerte daran, dass die wahren Separatisten in Kreisen der Rechtsextremen zu suchen seien. Der Präsident der „Fédération Protestante de France“ (FPF), Pastor Francois Clavairoly, betonte auch: „Der Text erzeugt a priori einen Verdacht auf das Religiöse, das als eine potentielle Bedrohung wahrgenommen wird. Das zeigt sich besonders darin, dass der Präfekt (einer Region) die Öffnung eines religiösen Gebäudes autorisieren muss und dass diese Zustimmung alle 5 Jahre erneuert werden muss. Dies sind Verfügungen, die eine Regression für die Republik bedeuten…“
Der Präsident der französischen Bischofskonferenz , Bischof Éric de Moulins-Beaufort, betonte, dass das Gesetz zur laicité, das 1905 als Gesetz der Freiheit gemeint war, sich nun in ein Gesetz der Kontrolle, der Polizei und der Repression entwickelt“.
8.
50 Artikel auf etwa 80 Seiten umfasst das Gesetz, das eine “Stärkung der Republik” vorsieht.
Diese umfassenden Verbote des Staates, vor allem auf Muslime bezogen, sind ein entscheidender neuer Ansatz im Umgang mit der Laicité, also der alten gesetzlichen Trennung von Kirchen und Staat aus dem Jahr 1905: Damals sollte den Kirchen ein freier Raum zur Entfaltung gerade ohne jegliche Unterstützung des Staates gewährt werden. Jetzt geht es darum, im Namen dieser Laicité die muslimischen Religion zu kontrollieren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts behaupteten noch radikale Republikaner: Katholiken hören mehr auf den Papst als auf die Gesetze der französischen Republik, was so falsch ja nicht war. Auch deswegen gab es die Trennung von Kirchen und Staat. Heute sollen Muslime von jeglicher (arabischer, türkischer, iranischer) „Fernsteuerung“ befreit werden, was dringend erforderlich ist, und sie sollen sich als französische Muslime ausschließlich den Gesetzen der Republik völlig anpassen. Und diese strengen „staatlichen Maßnahmen“ sollen dann den Frieden in Staat und Gesellschaft bringen: Ob das wohl gelingt, wenn die Betroffenen den Gesamteindruck habent, unter einem Generalverdacht zu stehen?
Ist denn nicht die Integration von Muslimen in die Republik auch und vor allem ein soziales, ein pädagogisches Projekt? Sollte nicht endlich die „égalité“ auch für die Armen, die Ausländer und Flüchtlinge (sehr oft Muslime) gelten? Von der „fraternité“ aller (!) Franzosen ganz zu schweigen. Aber nein, da versteift sich die Regierung auf neue Gesetze und entfacht eine ideologisch-religiöse Debatte, wo doch eine neue Sozial und Wohnungspolitik mindestens genauso dringend wäre.
9.
Interessant ist auch: Der französische Staat, der sich in seinen Gesetzen zur Laicité 1905 eigentlich verpflichtet hatte, also sich überhaupt nicht in die „inneren Angelegenheiten“ der Religionen einzumischen, mischt sich nun mit aller Bravour in das Leben der islamischen Gemeinden ein. Schon der staatlich forcierte Wille seit vielen Jahren, einen Dachverband aller muslimischen Gruppen zu schaffen, ließ ja auch die übliche Zurückhaltung der Regierung gegenüber Religionsgemeinschaften vermissen. Der Staat will mit einem muslimischen Dachverband eben die Muslime besser und leichter an den Verhandlungstisch bringen und … kontrollieren…
10.
Manche meinen zurecht, dass diese neuen Gesetze die rechtsextremen Wähler der Partei von Madame Le Pen beruhigen sollen, in der Hoffnung, dass die Rechtsextremen bei der nächsten Präsidentschaftswahl (2022) Macron wählen, weil er ja selbst eine nicht gerade muslimfreundliche Politik betreibt. Dass Macrons Gesetze für Madame Le Pen noch viel zu liberal sind, betont die Führerin der Rechtsextremen schon jetzt.
Die neuen Gesetze können also auch ein Stück Wahlkampf sein für Macrons Partei LREM (La République en Marche): Manche meinen: Mit ihm „marschiert“ die Republik in eine von neuen Gesetzen unterstützte Islamophobie. Ob dadurch der innere Friede und der Verzicht auf terroristische Gewalt gelingt, ist sehr die Frage.
11.
Eine Frage wird wieder in den öffentlichen Raum gestellt: Inwiefern sind im allgemeinen und tendenziell alle Religionen gefährlich für eine Gesellschaft und einen Staat, der die Menschenrechte an die oberste Stelle rückt. Die Abwehr der Menschenrechte ist als oberstes Gestaltungsprinzip auch in den inneren Strukturen im Katholizismus präsent: “Priesteramt ist nichts für Frauen”, “es darf keine „Homo-Ehe“ geben”…
12.
Auch christliche Kirchen, die sich mit ihren eigenen Moral-Gesetzen aufbauschen, können eine Gefahr sein für das humane Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft. Das lässt sich aktuell am eigensinnigen Verhalten vieler evangelikaler Gruppen in den Pandemie-Zeiten belegen: Diese frommen Leute meinten, auch in Frankreich, aufgrund ihres Glaubens gegen das Virus immun zu sein und sehr fröhlich in großen Gruppen Alleluja etc.in ihren Gottesdiensten singen zu dürfen. Und die sehr frommen Anhänger von Mister Trump, rechtsextreme Evangelikale, auch Katholiken, haben am 6.1. 2021 im Capitol von Washington bewiesen, zu welchen Untaten sie als fromme Gläubige tatsächlich bereit sind. Man denke auch daran, dass sich allen Ernstes viele us-amerikanische Bischöfe von Präsident Biden, dem praktizierenden Katholiken (!), distanzieren: Nur weil dieser die Abtreibung, gesetzlich geregelt, passend für eine pluralistische und nicht kirchen-hörige Demokratie findet. Diese evangelikalen und katholisch konservativen Kreise haben einen neuen Gott, er heißt “Pro life”. Diesem Gott wird alles geopfert, auch die Unterstützung für einen demokratischen Präsidenten…”Dies ist eine Schande für die us-amerikanische Bichofskonferenz”, sagen Beobachter.

Sind also auch christliche Konfessionen – bei allem Respekt für die Diakonie, die Caritas etc. – gefährlich für den demokratischen Staat und die demokratische, pluralistische Gesellschaft? Ja, durchaus, mit allen nötigen Nuancen. Darum sollten nachdenkliche Menschen, etwa Philosophen, dankbar sein, dass in Frankreich diese Debatten geführt werden.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de