Pfingsten: Wie der Geist, der heilige, zu politischer Kritik führt. Eine philosophische Predigt.

Wie der heilige Geist heute zu politischer Kritik ermuntert

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht zu Pfingsten 2016! Zugleich die Skizze einer philosophischen Predigt.

1.

Muss man daran erinnern, dass Pfingsten das Fest des Geistes ist? Muss man daran erinnern, dass der Geist (nennen wir ihn philosophisch auch kritische Vernunft) als etwas Heiliges zu gelten hat, als eine Kraft, die absolut und unbedingt hoch zu schätzen, zu pflegen und zu entwickeln ist? Die Kraft, die den Menschen als Menschen auszeichnet bzw. auszeichnen sollte?

2.

Wenn die Menschen sich am Pfingstfest auf den Geist besinnen, auf ihren Geist und den, den sie mit allen Menschen  gemeinsam haben und teilen, dann liegt darin immer auch eine politische Dynamik. Christen, denen der Geist ja traditionell heilig, sogar göttlich ist, bleiben unter ihrem theologischen und religionsphilosophischen Niveau, wenn sie Pfingsten nur “inner-religiös”, nur als seelische Bereicherung ihrer hoffentlich schönen Seele begreifen.

3.

Der Geist der Kritik verweist heute selbst auf Themen, an denen wir uns geistvoll abarbeiten sollten, er zeigt die drängenden Aufgaben nämlich in den aktuellen Kontrast-Erfahrungen: Das heißt: In den Erlebnissen und Erkenntnissen so vieler, die ihr Wissen aussprechen oder noch schamhaft für sich behalten: Unsere Welt im ganzen, auch unsere Gesellschaft hier, wird nicht nur eine grundlegend andere; sie sollte auch als eine gerechtere, bessere, gestaltet werden. Den Kontrast zum Bestehenden gilt es im kritischen Denken zunächst auszuhalten und dann zu überwinden. Wir stehen an einer Wende. Sie ist in ihrer globalen Dimension nur mit dem Fall der Mauer 1989 vergleichbar. Diese Wende wird als Abschied von einer alten, selbstverständlichen Ordnung bzw. wohl eher Unordnung erfahren, in der wir hier in Europa und Nordamerika meinten, mit unseren Konzepten, auch ökonomischen Konzepten, die Welt beherrschen zu können. Kontrasterfahrungen also heißen: Nein sagen zur bestehenden ungerechten Gestalt dieser Welt; dieses Nein ist keine theoretische Konstruktion, es wird immer schon von uns erlebt, oft ausgesprochen, selten aber in den berühmten kleinen oder größeren Schritten von Reform und Revolte praktisch gestaltet. Dieses Nein ist eine Leistung unseres Geistes, der uns als Grenzen überwindende Dynamik immer schon über das jeweils Bestehende hinausführt. Diese im Neinsagen  in Umrissen sichtbare neue Welt ist eine Leistung des Geistes. Und sie sollte in Gruppen und Gemeinden besprochen werden.

4.

Darum ist in christlicher Tradition Geisterfahrung und Ernstnehmen des Geistes immer an Gruppen und Gemeinden gebunden. In der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Hegels ist der Geist, der heilige, ohne Gemeinde gar nicht denkbar. Der Verlust von Gemeinde-Erfahrungen als menschlicher, geistvoller Gemeinschaften, natürlich in Freiheit, ist eine Art Katastrophe für eine lebendige und soziale Geist-Erfahrung. Wenn Kirchenleitungen aufgrund rigider Gesetze diese Gemeinden heute in Deutschland und anderswo reduzieren (etwa wegen des Fehlens von zölibatären Priestern im römischen Katholizismus), dann verhindern diese Kirchenleitungen selbst geistvolle Erfahrungen, sie verhindern den Aufbau einer gerechteren Welt. Und die Grundidee von Pfingsten ist: Gottes Geist ist in allen Menschen, deswegen sind alle Menschen von unendlichem Wert: Dafür muss politisch gekämpft werden! Etwa: Dass der finanzielle Abstand zwischen Reichen und Armen nicht immer größer wird. Auch in Deutschland.

5.

Jetzt wird wohl alles grundlegend anders: Die Armen im Süden dulden nicht noch länger das Elend. Die menschenwürdigen Verhältnisse sind   dadurch bewirkt, dass die westliche Ökonomie und Politik ständig so genannte Politiker, meist Diktatoren in Afrika und Lateinamerika und im Mittleren Osten, hätschelt und pflegt. Und den dort lebenden Menschen keine Demokratie “gegönnt” wird. Die armen Bootsflüchtlinge aus Afrika können – überlebend angekommen – ökonomisch im Westen ausgeplündert werden, man braucht sie hier, in Kneipen und anderswo als Putzhilfen, auch wenn man nach außen so tut, als wolle man sie eher abweisen. Wenn jetzt Flüchtlinge nach Europa kommen, und es werden viele kommen, wenn man nicht mit europäischen Waffen auf diese Flüchtlinge schießt, was Frau von Storch (AFD) unsäglicherweise für denkbar hält, dann wird diese unsere Welt eine andere: “Das Elend der Welt”, kommt zu uns und wird hier bleiben. Und damit kommt zu uns “die Welt des Elends”, die Europa seit der Kolonialzeit in modernen ausbeuterischen Verhältnissen geschaffen hat, vor unsere Haustür. Aber der längst politisch etablierte Egoismus der Reichen (auch durch sich christlich nennende Parteien) wehrt mit aller Kraft die Armen ab, im eigenen Land, wie die Flüchtlinge aus der Ferne.

6.

Und damit die kritische Frage: Was haben wir aus dieser Welt gemacht, in der 1 Prozent der Bevölkerung etwa 60 Prozent aller so genannter „Vermögens-Werte“ besitzen? Wie viel Ungerechtigkeit haben wir über all die Jahrzehnte zugelassen, bloß weil sie uns „im Westen“ nützte und den heiligen Profit brachte? Wie sehr haben wir uns aus der Affäre gezogen, indem wir von Barmherzigkeit und milder Güte sprachen, die ja nicht mehr sind als: nette Opfergroschen für die Elenden. Opfergroschen verändern nicht ungerechte Strukturen. Aber das wurde und wird uns hier eingeredet. Darum ist, nebenbei gesagt, die Propaganda-Rede von Papst Franziskus zugunsten der Barmherzigkeit recht nett, strukturell aber wirkungslos…Soll der barmherzige Papst doch die Milliarden, die in den Vatikan-Banken ruhen und die Milliarden aus dem römischen Immobilienbesitz einmal den Armen zugute kommen lassen, ehe er von Barmherzigkeit so nett schwadroniert.

7.

Was sagt der kritische Geist in dieser Situation: Nimm diese neue Lage der Präsenz der Flüchtlinge an. Und heiße sie willkommen, das verlangt die Menschlichkeit. Diese Situation ist endlich einmal anzuerkennen, und: Sie ist friedlich und endlich einmal human zu gestalten, wenn es denn noch geht.

Was sagt der kritische Geist zu Pfingsten 2016 noch? Es gibt keine (linke oder sozialdemokratische) Partei, die dieser Situation gewachsen ist, keine Partei, die diesen grundstürzenden Wandel tatsächlich den Bürgern erklären kann oder auch erklären will. Die Politiker, sofern sie etwas verstehen, haben Angst, „dem Volk“ die Wahrheit zu sagen,nämlich: Wir müssen eine andere Gesellschaft hier aufbauen oder wir gehen im Wachstumswahn unter.

Die meisten Einwohner im alten Westen wollen, im verkalkten und bekanntlich tödlichen nationalstaatlichen Denken immer mehr befangen, weiter machen, wie bisher;  sie wollen die nationalen Grenzen verriegeln und Schlimmeres tun. Und die Mehrheit der dumm gehaltenen Bürger spendet Beifall. Angesichts der globalen Veränderung herrscht Angst oder „Weitermachen wie bisher“. Werden wir Populisten und äußerst Rechtslastige noch mit Argumenten von ihrem Irrtum befreit werden können? Leben wir überhaupt noch in einer Gesprächskultur, die für mentale Korrekturen Raum lässt?

Was hilft vielleicht? Natürlich der kritische und der selbstkritische Geist, der auch zum Austausch unter den Menschen führt, die diese globale Analyse teilen und nach neuer Orientierung suchen.

8.

Christliche Gemeinden und philosophische Clubs, Salons, sollten zu „Schools of life“ werden: Dieser wunderbare Titel ist zwar schon vergeben. Aber die Sache kann doch auch grenzenübergreifend gelebt werden: In diesen „schools of life“ wird eben zuerst vom Leben gesprochen, auch dem politischen, auch dem sozialen, da werden gemeinsam Auswege gesucht, da wird Neues erprobt. Das heißt etwa bezogen auf die Kirchen: Die ewige Form des immer gleichen Gottesdienstes, mit der ewig gleichen Form des Ritus, der uralten Formeln und Floskeln, diese Einfallslosigkeit im Umgang mit dem göttlichen Geist, zeigt ihre Wirkung: Fast niemanden interessiert das. Aber die Kirchen machen unbeirrt und wie erstarrt weiter wie bisher… Gibt es noch Hoffnung für die dogmatisch fixierten Kirchen in Europa? Können sie lebendig werden, und in der Mitte ihrer Veranstaltungen, d.h. im Gottesdienst, politisch werden, d.h. lebendig auf die Gegenwart antworten? Können Sie Gottesdienst als Menschendienst verstehen und leben? Ich glaube manchmal: eher nicht, es ist zu spät. Da bleibt nur die religiöse Poesie, die da ureinst in dem schönen poetisch-religiösen Text “Veni creator spiritus” formulierte: “Komm heiliger Geist…” Ob Philosophen auch die religiöse Poesie als Form ihrer Refelxionen wiederentdecken? Das wäre auch ein (selbstverständlich überkonfessionell-vernüftiges) Ereignis des Geistes.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

 

Theologie der Befreiung: Neue Erkenntnisse zur Option für die Armen, zur Rolle des Hilfswerkes ADVENIAT usw. .

Neues zur lateinamerikanischen Theologie der Befreiung

Hinweise von Christian Modehn am 9.5.2016 anlässlich eines Buches von Kardinal Aloisio Lorscheider, Brasilien.

Theologen und Bischöfe, vor allem aus der katholischen Kirche, neigen bekanntermaßen dazu, ehrlich und ungeschützt erst dann bestimmte Wahrheiten auszusprechen, wenn sie pensioniert sind und im Ruhestand leben, zurückgezogen von allen offiziellen Ämtern. Also außerhalb der Schusslinie der römischen Glaubenskongregation leben…

Kardinal Aloisio Lorscheider aus dem Franziskaner-Orden hatte höchste amtliche Funktionen inne: Er nahm am 2. Vatikanischen Konzil teil, war Generalsekretär und Vorsitzender der bedeutenden brasilianischen Bischofskonferenz (bis 1978) und Vorsitzender der gesamt-lateinamerikanischen Bischofskonferenz CELAM von 1976 bis 1979; er führte 1979 den Vorsitz der Generalversammlung in Puebla, Mexiko, und nahm auch an der späteren CELAM- Konferenz in Santo Domingo teil. Er war Theologiedozent in Rom, seit 1973 Erzbischof von Fortaleza, danach in Aparecida. 2004 wurde sein altersbedingter Rücktritt vom Papst angenommen. Er ist sozusagen ein Top-Kenner der kirchlichen Verhältnisse in Lateinamerika. Er ist schon und gerade als Bischof immer ein Freund der Befreiungstheologie gewesen, er lobte und unterstützte die Basisgemeinden. Einen solchen aufrechten, immer selbstkritischen, bescheiden lebenden lateinamerikanischen Bischof findet man nicht so oft…

Kurz vor seinem Tod im Jahr 2007 (geboren wurde Aloisio Lorscheider 1924 in Südbrasilien) gab der pensionierte Erzbischof noch 2006 ein längeres Interview für eine Gruppe von Christen in Fortaleza. Dieses wichtige theologische Zeugnis ist jetzt, 9 Jahre nach der brasilianischen Veröffentlichung, auch auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Lasst euer Licht leuchten“. Der Untertitel ist schon treffender bzw. provozierender und weniger lyrisch: „Rückblicke in die Zukunft der Kirche“. Erschienen in der edition ITP-Kompasse, Münster. Das Buch hat 184 Seiten, es wurde von Conrad Berning übersetzt. Es enthält auch wichtige kurze Stellungnahmen kompetenter Befreiungstheologen und Freunde des Kardinals.

Das Interview selbst ist in meiner Sicht sehr inspirierend, weiterführend, weil da von einem Insider in aller Deutlichkeit druchaus neue Fakten zur Theologie der Befreiung genannt werden, die sicher das weitere Interpretieren dieser nach wie vor lebendigen Theologie (obwohl von Rom oft genug kaputt geredet) bestimmen sollte.

Ich nenne in aller Kürze nur einige Tatsachen, die Kardinal Lorscheider in dem Buch mitteilt:

Zu seinem Umgang mit Basisgemeinden in Fortaleza, Nordostbrasilien: „Ich höre dort einfach nur hin. So gestaltet sich heute der Weg der Kirche. Dieses Miteinander ist uns abhanden gekommen“ (S. 28).

„Bischöfe und Priester müssten sich in der historisch-kritischen Methode der Bibelinterpretation weiterbilden. Dies geschieht in der Tat jedoch nicht“. (S. 42).

Rom will keine Diskussion zum Zölibat:
„Als ich als einer der Präsidenten des CELAM nach Puebla zur Generalversammlung der Bischöfe fuhr, erhielten wir die Order, nicht über den Zölibat zu diskutieren und über die Frage, ob die Theologie mehr spekulativen oder mehr einen praktischen Charakter besäße. Trotzdem sprach Bischof Hypólito aus Nova Iguacu das Problem des Zölibates in Puebla an“ (S. 46).

„Tatsache ist, dass wir 20 Jahrhunderte lang keine Frauen im Priesteramt hatten. Aber auch wenn es das in zwanzig Jahrhunderten nicht gab, ist es kein Grund, dass es heute nicht anders werden könnte“ (S. 49).

Zur Wahl des polnischen Kardinals Wojtyla zum Papst 1978: „Die Deutschen (Kardinäle) hatten dabei großen Einfluss. Auch wegen der damaligen Sorge um den Marxismus. Innerhalb Europas galt Karol Wojtyla als eine der Koryphäen im Kampf gegen den Marxismus….Es gab im Konklave eine gewisse fundamentalistische Tendenz. Man wollte Sicherheiten… Der Vorgänger, Papst Paul VI., wurde von einigen als ambivalent gesehen, weil er nicht genau wisse, was er wolle“ (S. 57). Überhaupt müsste man weiter untersuchen, wie die panische Angst des Klerus vor “dem” Sozialismus seit Pius XII. allbestimmend wurde, bis hin zur Rücksichtnahme gegenüber dem Faschismus (als dem angeblich gerungeren Übel). Diese panische Angst vor dem (angeblich atheistischen) Sozialismus bestimmte den Umgang mit Befreiungstheologen, diese Haltung war sicher auch von den Mächtigen in den USA erwünscht, siehe die Beziehungen Reagan-Papst Johannes Paul II. Leider wird das Thema in dem Buch nicht vertieft.

Der Beitrag des belgischen, in Brasilien lebenden Theologen José Comblin unterbricht das Interview mit Lorscheider. Comblin schreibt, dass Kardinal Lorscheider als Celam Chef den reaktionären kolumbianischen Generalsekretär des CELAM Bischof Lopez Trujillo „ertragen“ musste. „Lorscheider allein weiß, wie viele Demütigungen er von Trujillo hinnehmen musste und zu ertragen hatte“ (S. 59). Auch das gehört dazu: Lorscheider spricht in dem Buch davon, dass er seit langer Zeit schon schwer herzkrank ist: „Ich habe vier Bypässe und einen Herzschrittmacher“ (S. 31). Darf man vermuten, dass u.a. der Umgang mit reaktionären Kirchenfürsten wie Lopez Trujillo krank machen kann?

Ich meine: Lopez Trujillo, dem Opus Dei sehr nahe stehend und in etliche nie geklärte Finanzgeschäfte mit dem CIA und den Drogenbossen verwickelt, wurde durch römische Protektion dann sogar Chef des CELAM (1979-1983) und später Chef der obersten päpstlichen Familienbehörde im Vatikan. Dort verbreitete er viel Merkwürdig-Dummes, etwa, dass Kondome Löcher enthielten, deswegen kämen Kondome als Schutz gegen AIDS überhaupt nicht in Frage. Solch ein Mann war Chef des päpstlichen „Familienministeriums…“   Sein schädlicher Einfluss kann kaum überschätzt werden, dazu sollten endlich religionswissenschaftlich-politologische Studien über Herrn Lopez Trujillo verfasst werden, Theologen sind für diese Studien zu befangen und eben kirchen-abhängig….

Zurück zum Interview mit Kardinal Lorscheider: „Wir Bischöfe müssen auch Ankläger ungerechter Strukturen sein, nicht nur Verkünder der frohen Botschaft“ (S. 66).

Besonders wichtig sind die Hinweise Lorscheiders zur viel besprochenen Option für die Armen, die sozusagen ein Motto ist in weiten Kreisen der lateinamerikanischen Kirche: Die Frage wird gestellt: „Sie meinen also, diese Option sei weniger pastoral und evangeliengemäß als vielmehr strategisch-politisch motiviert?“ Die Antwort von Kardinal Lorscheider: „Ja, das glaube ich. Diese Option war mehr strategisch-politisch innerhalb des damaligen politischen Kontextes“ (S. 68). Zuvor weist Lorscheider auf die in kirchlichen Kreisen starke Angst vor dem Kommunismus und dem Marxismus hin. Mit der kirchlichen Option für die Armen wollte die Kirche also Marxismus und Kommunismus schwächen. Dass in den Evangelien die Armen selig gepriesen werden, war den Bischöfen also aus strategischen Gründen erst mal nicht so wichtig.

Interessant sind die Hinweise von Kardinal Lorscheider zum katholischen Hilfswerk ADVENIAT (auf Seite 69).

Es wurde ja immer von Adveniat heftig und polemisch bestritten, dass unter dem damaligen ADVENIAT Chef, Bischof bzw. dann Kardinal Franz Hengsbach aus Essen, (zudem dem Opus Dei nahe stehend, Ehrendoktor der Opus die Uni Navarrra in Pamplona, er erhielt auch einen Preis von Diktator Banzer in Bolivien usw.) eine entschiedene und finanzstarke Institution GEGEN die Befreiungstheologie gearbeitet hat. Also aus Spendengeldern der braven deutschen Katholiken finanziert. P.S.: Ich selbst habe als Journalist, Mitarbeiter im WDR Fernsehen,  die Wut von ADVENIAT Leuten zu spüren bekommen, als ich in einem Bericht dies nachwies (durch ein Interview mit dem damaligen Weihbischof und Opus Dei Mann Karl Josef Romer, Rio de Janeiro). Solche berufsschädigenden Attacken von Adveniat wurden selbstverständlich nie zurückgenommen, niemand hat sich für diese blödsinnige Kritik, durch KNA obendrein treu verbreitet, bei mir entschuldigt…

Nun also sagt einer, der es wissen muss, nämlich Kardinal Lorscheider: „Wir wussten, dass von Deutschland aus, vor allem von ADVENIAT, Druck gegen die Befreiungstheologie aufgebaut wurde. Das ging sogar so weit, dass der Erzbischof und spätere Kardinal Hengsbach aus Essen, dem Sitz Adveniats, eine ganze Studienreihe mit diversen Büchern und Publikationen gegen die Befreiungstheologie organisierte. Einige Bischöfe Lateinamerikas standen auf seiner Seite. Es gab dann in Deutschland eine REGELRECHTE VERSCHWÖRUNGSWELLE, ausgehend von der Gruppe um Hengsbach. Sie verfügten über viel Geld…“ Eines der anti-befreiungstheologischen Büchern von Hengsbach trägt den Titel: “Utopie der Befreiung”, Mitherausgeber ist der oben genannte Bischof Lopez Trujillo…

Die 4. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischof 1992 in Santo Domingo nennt Erzbischof Lorscheider – als Teilnehmer dort – „einen Reinfall“, “weil Rom begann, massiv zu dominieren“ (S. 69). „Reinfall“ auch noch einmal auf Seite 71. „Ich habe mich dort (in Santo Domingo) geschämt, ich sehe noch einen Theologen in unserer Gruppe, der wusste gar nichts. So waren auch die anderen, alle waren sehr schwach“ (71).

Was will Rom, d.h. der Vatikan eigentlich in der gesamten Kirche und der Welt erreichen? „Das Hauptinteresse Roms ist immer, die Kirche zu verteidigen“ (S. 70)

Welche Gruppen und Klassen spricht die Kirche heute noch an? „Es gibt viele in der Kirche, die fühlen sich am wohlsten in der High Society. Unsere Kirchgänger sind nicht die Armen“ (s. 72).

Kardinal Ratzinger hat in seinem zähen Kampf gegen die Befreiungstheologie immer den Begriff Heil (umfassend) gegen die Befreiung (nur politisch, wie er meint) ausgespielt. Dagegen betont Kardinal Lorscheider: „Aber wir wollen eine Befreiung, die zugleich Heil bedeutet, d.h. den Blick auf den Körper und die Seele richten. Wir wollen, dass es dem Menschen materiell gut geht und spirituell auch….Gnade zusammen mit menschlicher Leistung“ (S. 76).

Zur Theologie heute insgesamt: „Zur Zeit befinden wir uns theologisch in einem Stillstand. Unsere Theologen sind nicht müde, aber ziemlich verzweifelt und verängstigt“ (S. 78).

Mit einer philosophischen Weisheit sollen diese Hinweise beendet werden. Lorscheider sagt im Blick auf die Kirche und den Vatikan: „Das Sich-Hinterfragen ist eine der Voraussetzungen, um sich entwickeln zu können“ (S. 99).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

“Der Mensch ist ein Grenzgänger”. Hinweise zu einem religionsphilosophischen Salon

Der Mensch ist ein Grenzgänger: Philosophische Hinweise aus aktuellem politischem Anlass

Diese 19 Thesen wurden im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin am 29.4. 2016 vorgetragen und diskutiert.

Von Christian Modehn.

1. Unser philosophischer Ansatz angesichts der aktuellen Verwirrungen hinsichtlich der Grenzen heute: Wir gehen von einer philosophischen Analyse des Daseins aus, um von dort aus begründet die Wirklichkeit der Grenzen zu verstehen. Jede Person ist immer eine bestimmte, d.h. eine begrenzte. Sie muss sich um sich selbst kümmern, will sie selbst ihr eigenes leben „führen“. Das heißt auch, dass wir uns um unserer selbst willen auch abgrenzen sollen. Wir können uns nicht selbst total ent-grenzen, indem wir uns etwa für unsere Arbeit auflösen, Wir müssen unsere persönliche Eigenart und Einmaligkeit pflegen und schätzen.

2. Jeder einzelne Mensch ist also – vermittelt durch sein Bewusstsein und Selbstbewusstsein – immer ein einzelner, begrenzter. In dieser Einmaligkeit hat er, wie es in der Erklärung der Menschenrechte heißt, eine absolute Würde und einen absoluten Wert. Aber diese Begrenztheit, Bestimmtheit des einzelnen, wächst, wandelt sich im Laufe des Lebens. Diese Wandlung, Reifung, ist nur durch Überschreitung seiner bisherigen Begrenztheiten möglich. Wir sind immer mehr als nur einzelne; wir sind keine Inseln, so sehr wir uns auch „abkapseln“, „ein-igeln“: Wir teilen immer gemeinsame Sprachen, leben im Mitsein mit anderen in der einen Welt: Also Kommunikation, Lernen, Verwerfen bisheriger Überzeugungen ist die ständige Grenzüberschreitung geistvollen Lebens. Wir sind immer schon, sofern wir leben, Grenzgänger im Sinne von „Grenzen Überwinder“. Und stehen so von vornherein vor der Aufgabe der Pflege des eigenen, nun einmal begrenzten Wesens und der GLEICHZEITIGEN Offenheit für die ständige Grenzenüberwindung. Die Reflexion auf unser Bewusstsein zeigt: Wir sind immer schon ins Grenzenlose des Bewusstseins verwiesen. D.h.: Der Mensch ist in seinem Geist immer schon „offene Grenze“, „offene Begrenztheit“. Wir sind mit der Grenzen sprengenden Weite des Bewusstseins konfrontiert, wenn wir wahrnehmen, dass wir VOR aller Reflexion auf uns selbst, also noch vor dem Wissen und dem Selbstbewusstsein, bereits und immer schon auf eine weite „Ebene“ des Bewusstseins als einer ständig fließenden Gefühlswahrnehmung verwiesen sind. Diese immer anwesende weite Ebene des Bewusstseins noch vor aller Reflexivität ist für uns immer vorgegeben, nicht machbar, „ungreifbar“ und nicht zu umgreifen. „Ich weiß mit unerschütterlicher Gewissheit, dass ich bin, und dies kraft meiner Selbstvertrautheit. Aber weder weiß ich mit ebensolcher Gewissheit, woraus und woher ich bin, noch weiß ich, wozu und woraufhin ich bin“. So Saskia Wendel in ihrem Buch „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie“, Reclam, S. 36, darin folgt sie den Einsichten des große Philosophen Dieter Henrich. Das heißt, im wachen Selbstwahrnehmen und der elementaren Selbstvertrautheit bin ich über mein kleines Ego, auch über mein im Augenblick aufblitzendes Selbstbewusstsein bezogen auf eine offene Dimension, die größer ist als ich und mein Ego. Ich bin sozusagen verwiesen in einen ganz anderen, einen gründenden Grund. Mit den Worten von Dieter Henrich: „Ich bin in meiner eigenen Beschränktheit also Begrenztheit verwiesen auf mein Bewusstsein, aus etwas begründet zu sein, dem eine ganz andere Verfassung (anders als meine Begrenzheit CM) zuzuschreiben ist“. Ludwig Wittgenstein wird in seinem späteren Werk zeigen, dass die Tendenz der Naturwissenschaften, uns in ihre enge wissenschaftliche und „beweisbare“ Welt einzuschließen, falsch ist, sie führt geradewegs in ein „Gefängnis“. “Der tiefe Denker bringt uns zu der Erkenntnis, dass es etwas gibt, was nicht gesagt werden kann“, so Wittgensteins Freund Drury über Wittgenstein. Das wahre Wesen kann nicht (definierend) gesagt werden, aber es zeigt sich. Das heißt: Im geistigen Erkennen werden immer schon Grenzen gezogen, um sie zu überwinden. (zu Wittgenstein, siehe Friedo Rocken, Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, S. 34 ff.)

3.Entscheidend ist: Das menschliche, geistvolle Leben ist ständige Suche nach der Balance im Umgang mit Grenzen.

Erst in der Auseinandersetzung mit meiner Grenze (über die ich immer schon hinaus – lebe und hinaus – schaue) wächst ein immer wieder neues lebendiges, strukturiertes Ich. Auch das Sich Abgrenzen geschieht nur um der Lebendigkeit des eigenen Daseins willen. Im Dasein geschehen ständig Grenzverschiebungen des eigenen Selbstverständnisses.

4. Geistige (und politische) Erstarrung tritt ein, wenn ein Mensch sich definitiv in bestimmte Grenzen, die er etwa in der Jugend festgelegt hat, für die ganze Lebenszeit einschließt. Da werden die anderen zu Fremden und Feinden. Darüber später mehr im Zusammenhang des Nationalismus.

5. Sich selber bestimmen und sich abgrenzen ist ein ständiger Prozess des gleichzeitigen Sich-Öffnens und damit alte Grenzen Überwindens. Das verlangt Unterscheiden lernen. Und diese Unterscheidung wird geleistet, indem ich nur bestimmte neue Wirklichkeiten in mein strukturiertes Bewusstsein einlasse, andere eben nicht. (Ich kann mich z.B. begrenzen, indem ich Pop-Musik absolut nicht hören will). Ich muss mich auch mit Grenzen sprengenden, oft unerwarteten Ereignissen auseinandersetzen, darf sie nicht abwehren und aus-grenzen, etwa wenn sie mein bisheriges Dasein in seinen alten Grenzen erschüttern: Etwa das Leiden von Angehörigen, eigene Krankheiten, Rentnersein, Alleinsein usw.

6. Dabei muss vor einem zeitlosen Verständnis von Definition, also Festlegungen des Selbst, Begrenzungen des Selbst, gewarnt werden: Auch in den Naturwissenschaften sind Definitionen immer vorläufige Grenzziehungen; um so mehr im geistigen, philosophischen Zusammenhang: Da hat eine und dieselbe „Sache“ immer mehrere gleichberechtigte „Definitionen“, auch im Laufe der eigenen Lebenszeit: Der Mensch als animal rationale, Da-Sein, Subjekt, Person, „Ebenbild Gottes“ sind alle zeitlich bedingte und deswegen begrenzte „Definitionen“, an die man sich selbstverständlich nicht dogmatisch binden darf. Die jeweiligen Inhalte ändern sich, je nach dem, wie ich meine geistigen Grenzen weite und öffne, auch bezogen auf die Inhalte von Staat, Heimat, Nation, Fremde usw.

7. In der Auseinandersetzung mit der Kunst, der Literatur, der Religion geschieht Erweiterung der je eigener Grenzen. Wer die Schönheit islamischer Kunst wahr – nimmt, ihre Symbole, Farben, ihre Abstraktheit, wird auch sein begrenztes Verstehen „des“ Islam überwinden. Das heisst: Wir überschreiten unsere Grenzen, wenn wir als einzelne Menschen mit unserem nun einmal begrenzten Weltbild ein Kunstwerk eines einzelnen Malers betrachten, der vielleicht vor 500 Jahren lebte, aber ein universal ansprechende Werk geschaffen hat, man denke etwa an Mona Lisa, vielleicht auch Nofretete: Beim Betrachten dieser Kunst geschehen Grenzüberwindungen unseres begrenzten Menschenbildes. Kunst ist immer lokal bezogen und auch global.

8.Wichtig zur Religion: Der einzelne kann heute nicht mehr nur einer und das heißt immer einer begrenzten Religion/Spiritualität „angehören“. Er sollte die eigene jeweils vertraute Religion/Weltanschauung, auch Atheismus, entgrenzen im Dialog. Entgrenzte Religion/Weltanschauung wird „multireligiös“. Wir sind immer schon, oft unbewusst, multi-religiös, indem etwa fromme Christen doch an die Astrologie glauben oder zu Maria beten usw. Heute kommt es auf eine anspruchsvollere multireligiöse Entgrenzung an, etwa durch Übernahme buddhistischer Meditationspraxis.

9.Dialog geschieht ständig, Dialog ist Überwindung meiner bisherigen Grenzen und dies ist mehr als Konfrontation und Dahersagen unterschiedlicher Meinungen, was leider meistens in „Dialog – Konferenzen“ geschieht. Dialog ist vielmehr Öffnung und Lernen und reflektierte, kritische Übernahme (!) des bisher Fremden. Das nennt man „Grenzen überwindendes Wachstum“.

10.Wer nur das begrenzte Ich (im Sinne von unwandelbar, immer dasselbe erleben, sich klammern an seinen Besitz, „Stammtisch-Ideologie“ usw.) fördert, möchte eine Gemeinschaft von vielen Ichs, aber kein vielfältig geprägtes Wir. Die populistischen (oft rechtsextremen) „Kameradschaften“ sind nur EGO – Ansammlungen zur Verteidigung des routinierten Immer Selben, d.h. des Erstorbenen. Sie suchen aber auch ideologische Grenzen überschreitend Bündnispartner, etwa AFD und FPÖ, Le Pen und Putin usw. Hintergrund ist die Angst vor Verlusten, auch materiellen Verlusten. Diese Angst drückt sich aus als Hass und unsägliche verbrecherische Aggression gegenüber Fremden und Flüchtlingen, etwa in der Gewalt gegen die Unterkünfte usw.

11. Bestimmung im Leben bleibt hingegen immer die Lebendigkeit, als immer zu suchende, nie total zu erreichende Balance zwischen der immer notwendigen Abgrenzung (gegen den Selbstverlust) und dem Austausch als Grenzüberschreitung. Vorbild dafür die NGOs, die bezeichnenderweise die Titel haben „Ärzte OHNE GRENZEN“, „Reporter OHNE GRENZEN“, „Ingenieure OHNE GRENZEN“ usw. „Philosophen OHNE GRENZEN“ sind jene, die die universal und immer gültigen Menschenrechte verteidigen.

12. Durch die Ankunft von Flüchtlingen wird das Thema Grenzen plötzlich politisch neu äußerst brisant. Dieses Ereignis der Fluchtbewegungen ist wohl DAS bestimmende Ereignis der nächsten Jahrzehnte. Die Fluchtbewegungen sind auch Resultat verfehlter, geistig begrenzter Politik des Westens, siehe George W. Bushs Irak-Krieg; siehe das kurzsichtige Verhalten Obamas, nicht schon sehr früh Assad schon auszuschalten usw…

13.Es ist seit Anfang 2016 längst Tatsache, dass sich heute Europa, die EU, einmauert, also neu ein – grenzt. Dabei droht die EU zu zerfallen. (Mauernbau ist in jeder Weise tödlich auch für die Mauerbauer selbst, siehe DDR – Führung). Auch die einzelnen europäischen Länder mauern sich ein, siehe etwa jetzt Österreich, dort wird z.B. sogar am Brenner-Pass ein „Grenzmanagment –Leitsystem“ (mit Zaun) errichtet. „Grenzmanagment –Leitsystem“: Dieser Begriff der bürokratischen Gewalt sagt alles über die nationalistische Mentalität. EU Staaten haben im Alleingang nationale Grenzen als wichtiger durchgesetzt als die Verbundenheit mit der EU. Die stramm rechtslastigen Parteien fördern in ihrer populistischen Propaganda stark den Nationalstaatsgedanken. So sagte Alexander Gauland in einem Interview mit DIE ZEIT vom 14.4. 2016 Seite 7 auf die Frage: Wo ist ihr Limes, also ihre Grenze, heute: „Der Limes ist an jeder nationalen Staatsgrenze. Dass Österreich in der Lage war, die Balkanroute zu schließen, war eine große Tat“. Dann auf die Frage: Nun sitzen aber die Flüchtlinge in Griechenland fest, wo ist denn da der Vorteil? Da heißt die Antwort Gaulands: „Dass die Flüchtlinge nicht in Deutschland sind und nicht in Österreich sind, ist der Vorteil“. Damit ist indirekt gesagt: Also kann es doch durchaus zu Auseinandersetzungen kommen zwischen Griechenland und Deutschland, wenn dieses alte/neue nationalistische Denken sich weiter durchsetzt.

Das Wort Ober-Grenze markiert in aller Deutlichkeit die bewusste Eingrenzung und Abgrenzung eines Nationalstaates, das Sich-Verklammern angstvoller Art in die eigenen Begrenztheiten, das Wort Obergrenze markiert, ideologiekritisch betrachtet, eine gewisse Hoffnungslosigkeit eines europäischen Nationalstaates. Das Wort Obergrenze wird sicher zum Unwort des Jahres 2016 erklärt werden. Zu diesem Begriff gibt es bei Google bereits 2,3 Millionen Einträge, gezählt am 26.4.2016.

14. Es wird wieder die Vorstellung vom „Nationalstaat“ in ganz Europa und weltweit herrschend. Die Geschichte zeigt: Jeder Nationalstaat muss per definitionem kriegerisch und gewalttätig sein. Wir erleben einen Rückfall ins 19. Jahrhundert. „Der Nationalismus wurde zum treibenden Faktor bei einer Neuordnung der politischen Grenzen, die nicht selten mit Krieg und Vertreibung verbunden war… Der Nationalismus legte auf eine einheitliche Sprache wert, es wurde eine mentale Nationalisierung der Bürger gepflegt bei der Durchsetzung nationaler Zugehörigkeiten“, so Herfried Münkler u.a. in „Politische Theorie und Ideengeschichte“, Beck Verlag, 2016, S. 75,

15. Die europäische Politik heute folgt ängstlich den Ängstlichen und uninformierten Populisten, die nur in ihren vertrauten und vermauerten mentalen Grenzen verweilen wollen. Damit wird die zu Beginn genannte Balance zwischen Selbstbewahrung UND Öffnung einseitig und gefährlich in die Richtung der Selbstbewahrung verlagert. Es gibt keine Balance mehr im Umgang mit Grenzen.

16. Die vielen noch kommenden Flüchtlinge (in Libyen warten noch ca. 1 Million Menschen auf die Flucht) zeigen mit aller Deutlichkeit: Die Menschen in Afrika z.B. sind heute nicht länger bereit, ihre extreme Armut in ihren Ländern zu ertragen. Das mögliche Ertrinken im Mittelmeer erscheint ihnen als ein geringeres Übel, als in den Ländern Afrika vor Hunger dazudämmern… Die Balance muss wieder gefunden werden. Die Tatsache, dass Europa auf Dauer mit Flüchtlingen leben wird, ist anzuerkennen. Das bedeutet nicht, dass nun total offene Grenzen geschaffen werden soll, das würde zu einem Selbstverlust Europas führen, aber es kommt auf eine Öffnung gegenüber den Flüchtlingen an, die den Menschenrechten entspricht und nicht dem nationalen Egoismus der Bewahrung des alten Besitzstandes.

17. Aus der Verklammerung des EGO-Europa, der sich Abschließenden und erneut Begrenzenden, gilt es sich wieder zu befreien, indem man sich an die Grundstruktur des Daseins erinnert: Ohne Öffnung als ständige eigene Grenzüberschreitung gibt es kein geistvolles, menschenwürdiges Leben für den einzelnen Menschen, die Gesellschaft, den Staat. Die Flüchtlinge sind nun einmal da! Und weitere werden kommen. Wir sollten die Chance ergreifen, mit ihnen zu leben, sie zu integrieren und auch eigene Selbstverständlichkeiten (unseren Wohlstand, warum und wodurch haben wir ihn eigentlich (?) in Frage zu stellen… Wenn sich rechtsextreme Populisten auf das (tatsächlich angebliche) christliche Abendland berufen, sollte man sie an die philosophische Einsicht (und religiöse Einsicht) von Selbstliebe und der gleichzeitigen Nächstenliebe erinnern.

18. Zwei Aufgaben sind besonders dringend: Qualitative Verbesserungen der politisch-sozialen Verhältnisse etwa in Afrika, mit der Erkenntnis der Mitschuld Europas an diesen Verhältnissen. Kritik an den verbrecherischen Politikern in Afrika selbst. Veränderung einer kolonialen Wirtschaftspolitik Europas, die immer noch die Wirtschaften dieser afrikanischen Länder schwächt und die Menschen ins Elnd führt. Die Flüchtlinge kommen nach Europa, auch wegen der heutigen kolonialen Wirtschaftspolitik Europa. Zynisch gesagt: Europa ist selber schuld, dass diese Menschen ihre Länder verlassen müssen.

Es geht also um die weitere Aufnahme der Bedrohten und Verfolgten in Europa. Im Sinne der Weitung des eigenen Bewusstseins, auch der Anerkennung, dass wir Einwandererland sind, dass wir viele Menschen „brauchen“, wenn sie denn die universal gültigen Menschenrechte verstehen lernen und anerkennen.

19. Das Thema „Wir sind Grenzgänger“ gehört in die Mitte einer Philosophie der Lebens-Kunst, des Leben-Könnens. Deutlich ist meiner Meinung nach: Weder die angstvolle Verkapselung (Borniertheit) noch die totale Freigabe jeglicher Grenze (Auflösung des Selbst, des Eigenen) entsprechen der Balance zwischen Selbstsein und Offensein. Diese Balance muss immer neu gesucht und miteinander besprochen werden. Wenn man in der Sprache der Theorie der philosophischen Ethik will: Es kommt auf einen Ausgleich an zwischen der Gesinungsethik und der Verantwortungsethik. Wobei bei der Verantwortungsethik eine gewisse Vorsicht geboten ist: Hinter einer nach außen dargestellter Verantwortungsethik kann sich ideologische nationale Borniertheit verbergen.

Copyright: Christian Modehn

 

Meinungsfreiheit – die Basis aller anderen Freiheiten. Zum “Internationalen Tag der Pressefreiheit”

Meinungsfreiheit – die Basis aller anderen Freiheiten.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Die Freiheit der Presse ist weltweit immer mehr bedroht, darauf macht die NGO “Reporter ohne Grenzen” auch zum 3. Mai 2016 wieder aufmerksam, dem Welttag der Pressefreiheit. Mit der Einschränkung und dem Verbot der Pressefreiheit wird die Meinungsfreiheit insgesamt schrittweise abgeschafft;  Meinungsfreiheit aber ist die Basis ALLER Freiheiten. Wir leben also in einer Situation, in der weltweit mit der Abschaffung der Meinungsfreiheit auch die Menschenrechte insgesamt in Frage gestellt, bedroht und abgeschafft werden. Die “Errungenschaften” der philosophischen Aufklärung werden nur noch in einigen Staaten respektiert. Eine schlimme Erkenntnis zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Der “Welttag der Pressefreiheit” ist also ein Tag des kritischen politischen Nachdenkens … und der Aktion, d.h. in dem Fall: der helfenden Unterstützung für Journalisten, die um der Menschenrechte willen in zahllosen Ländern bedroht sind und ermordet werden. Man beachte und beobachte auf Dauer, in welcher Weise heute populistische und rechtslastige Gruppen und Parteien (AFD, FPÖ, Le Pen Partei, Putin und CO. usw.)  in Europa mit dem Respekt vor der Pressefreiheit und den Journalisten umgehen. Man beachte, wie etwa in Brasilien durch die Übermacht einer bestimmten Presse (“O GLOBO”, TV und Print, erreicht mit seiner Propaganda über die Hälfte der Bevölkerung) der Staatspräsidentin so zugesetzt wird, dass sie aus ihrem Amt vertrieben werden soll – aus parteipolitischen Gründen. Die Lage ist insgesamt dramatisch. Ein Auszug aus einem Interview mit Christian MIHR von Reporter ohne Grenzen: „Pressefreiheit: Die Lage ist viel schlimmer“    © Reporter ohne Grenzen

Frage: Die neue Rangliste der Pressefreiheit 2016 zeichnet ein düsteres Bild. In allen Weltregionen sind im Jahr 2015 die Freiräume zurückgegangen. Ist das nur eine Verstetigung eines bereits bestehenden Trends?

Antwort: Unsere jährliche Rangliste der Pressefreiheit vergleicht in erster Linie den Zustand der Pressefreiheit in den verschiedenen Staaten miteinander. Insofern zeigt er vor allem, ob sich die Lage in den einzelnen Ländern im Verhältnis zu Ländern mit einer ähnlichen Ausgangslage verbessert oder verschlechtert hat. Da spielen ja sehr viele Entwicklungen in den derzeit 180 bewerteten Staaten hinein: zum Beispiel Änderungen in der Gesetzgebung, in der Rechtspraxis, in den Rahmenbedingungen für Medienunternehmen und natürlich Fragen der Sicherheit für Journalisten. Seit 2013 errechnen wir aus den Daten der Rangliste allerdings auch einen Indikator für den weltweiten Stand der Pressefreiheit. Und der zeigt tatsächlich eine eindeutige Verschlechterung – allein seit dem vergangenen Jahr um 3,7 Prozent und seit 2013 um insgesamt 13,6 Prozent. Am deutlichsten ist der Rückgang beim Teilindikator für die Produktionsmittel von Medien. Einige Regierungen schrecken nicht vor Blockaden des Internets oder der Zerstörung von Redaktionsräumen, Sendetechnik oder Druckpressen zurück, um unliebsame Berichterstattung zu unterbinden. Auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen haben sich weltweit gesehen verschlechtert. Dies spiegeln die vielen Gesetze wider, die Präsidentenbeleidigung, Blasphemie oder Unterstützung des Terrorismus unter Strafe stellen und damit in einigen Ländern zu zunehmender Selbstzensur beitragen.

Frage: Ein Grund für die Verschlechterung sind die zunehmend autokratischen Tendenzen in einigen Ländern und die vielen Bürgerkriege. Besteht da immer ein direkter Zusammenhang: Also alle autoritären Regime handeln repressiv und in allen Bürgerkriegen werden Reporterinnen und Reporter ermordet?

Antwort: Einerseits kann man das wohl tatsächlich so sagen. Unser altes Motto lautet ja „Keine Freiheit ohne Pressefreiheit“, und das lässt sich immer wieder sehr anschaulich beobachten. Wo Regierungen einen autoritären Weg einschlagen wie derzeit etwa in Ägypten, Russland oder der Türkei, da werden unabhängige Journalisten als Störenfriede oder Verräter behandelt. Präsidenten wie Abdelfattah al-Sisi, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan reagieren sehr empfindlich darauf, wenn kritische Kommentatorinnen oder hartnäckige Rechercheure an ihrer Fassade als stets erfolgreiche, allseits beliebte Staatsmänner kratzen. Im Fall der Türkei erfahren die ständig neuen Auswüchse dieser repressiven Grundhaltung derzeit ja viel Aufmerksamkeit, aber in Ägypten zum Beispiel ist die Lage noch viel schlimmer. Und in Kriegen stellt sich die Frage der Repressionen natürlich noch viel schärfer – zumal dann, wenn sich die Kriegsparteien wie in Libyen oder Syrien nicht um das Völkerrecht scheren und Journalisten im Zweifelsfall als lästig oder als Faustpfand für internationale Aufmerksamkeit betrachten…

Frage: Deutschland hat sich von Rang 12 auf Rang 16 verschlechtert. Wie ist das zu erklären?

Antwort: Deutschlands aktuelle Verschlechterung ist ganz klar auf die erschreckend gestiegene Zahl von gewaltsamen Übergriffen auf Journalisten, aber auch von Anfeindungen und Drohungen zurückzuführen – vor allem bei den Pegida-Demonstrationen und ihren Ablegern, aber auch bei rechtsextremistischen Aufmärschen und gelegentlich bei Gegenkundgebungen. Dass in manchen Städten regelmäßig Hunderte, manchmal Tausende Menschen „Lügenpresse“ skandieren, fassen manche Menschen offenkundig als unmittelbare Aufforderung zum Handeln auf. Sorge bereiten uns aber auch Entwicklungen wie die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung und die immer neuen Erkenntnisse über geheimdienstliche Überwachung, die die Vertraulichkeit journalistischer Recherchen ganz grundsätzlich in Frage stellen. Deshalb haben wir im vergangenen Jahr gegen den Bundesnachrichtendienst geklagt und sind nun sehr gespannt auf die Reaktion der Justiz…

Wir empfehlen dringend, dauernd die Publikationen von Reporter ohne Grenzen zu lesen und zu diskutieren.

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Wir haben im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin von unserem Interesse für die Religionen und Kirchen dauernd das Problem: In den Kirchen z.B. wird die Pressefreiheit und Meinungsfreiheit nicht umfassend respektiert. Fast alle Publikationen, die von den Kirchen selbst herausgegeben sind, zeigen sich eher als Propaganda-Informationen, nicht aber als unabhängige, einzig der Freilegung von Wahrheiten verpflichtete Veröffentlichungen. Mit anderen Worten: Pressefreiheit gibt es in den Kirchen weitgehend auch im Jahr 2016 nicht. Und darüber wird öffentlich kaum gesprochen.

Interessant ist sicher noch die philosophische Überlegung zur primären Bedeutung der Meinungsfreiheit für alle weiteren Freiheiten. Diese Stellungnahme haben wir im Jahr 2015 veröffentlicht:

Salman Rushdie hat in seiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse am Dienstag, den 13. Oktober 2015, in aller Deutlichkeit erklärt: “Ohne die Meinungsfreiheit muss jede andere Freiheit scheitern”. Die Freiheit des Wortes, selbstverständlich des angstfreien, des öffentlichen Wortes, sei überhaupt kein kulturelles Konstrukt, also von einigen Kulturen gutgeheißen, von anderen eben nicht. Diese relativistische, angeblich klug und angeblich höflich auf kulturelle Differenzen bedachte Haltung, ist falsch! “Wir Menschen sind sprechende Tiere. Wir erzählen, und das macht uns aus. Darum sollte Redefreiheit wahrgenommen werden wie die Luft, die wir atmen: als selbstverständlich”. Meinungsfreiheit ist ein absolut geltendes Menschenrecht. Die Angst, sich frei zu äußern, auch unbequem zu den Menschenrechten zu äußern, ist weit verbreitet. Noch schlimmer ist die Angst in den westlichen Ländern, sozusagen in vorauseilendem Gehorsam gegenüber autoritären (arabischen) Staaten, Kritik an diesen Regimen in den eigenen westlichen Ländern besser zu unterlassen.

Meinungsfreiheit als Basis aller Freiheiten, auch der Religionsfreiheit, ist eine evidente philosophische Erkenntnis.  Wird die Meinungsfreiheit als Basis demokratischen Lebens respektiert, dann heißt das nicht, dass die Aussagen aller Feinde der Meinungsfreiheit und damit der Menschenrechte unwidersprochen (und ohne strafrechtliche Verfolgung) hingenommen werden dürfen. Das gilt etwa im Zusammenhang der rechtslastigen Feind der umfassenden Meinungsfreiheit. Maßstab der Kritik bleibt die universale Gültigkeit der Menschenrechte.Und diese Kritik muss öffentlich geäußert werden.

Wir haben in drei Beiträgen im Februar und im April 2015 ausführlicher diese philosophische Evidenz auf dieser website erläutert: Meinungsfreiheit ist die Basis aller anderen Freiheiten.

copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin

Panama Papers und Legionäre Christi

Die Panama Papiere und die Legionäre Christi

Ein Hinweis von Christian Modehn

Religionskritik ist eine philosophische Aufgabe, gemäß den guten Traditionen der Aufklärung. Bisher ist es den Forschungen des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin nicht gelungen zu klären, (Stand 6.4.2016), in welcher Weise auch kirchliche und andere religiöse Institutionen von den Briefkastenfirmen in Panama profitieren. Das ist eigentlich ein Thema für einen investigativen Journalismus, der sich mit Religionen selbstverständlich kritisch und im Abstand befasst…Gibt es diesen umfassend kritischen, kirchenunabhängigen Journalismus en in Deutschland? Carsten Frerk vom Humanistischen Verband Deutschlands hat das viel Wichtiges Erhellendes publiziert.

Man muss sich nur mal die Mühe machen und die Bücher des mexikanischen investigativen Journalisten Raul Olmos lesen (2015 publiziert: „El Imperio financiero de los Legionarios de Cristo“, Grijalbo), um festzustellen: Eigentlich ist das Thema Steueroasen bzw. Panama-Papiere auch ein Thema, das den einflussreichen und äußerst finanzstarken, gleichzeitig theologisch äußerst konservativen katholischen Orden der Legionäre Christi betrifft. Details zu diesem Orden und zu Pater Marcial Maciel, ihrem, gelinde gesagt, „unmoralischen“ (so nannte ihn Papst Benedikt XVI.) Gründer und Freund von Papst Johannes Paul II., kann man in meinen Beiträgen seit 2009 auf dieser website nachlesen.

Im Dezember 2015 wurde ein neuer Beitrag über das Buch von Raul Olmos publiziert, auch zur Tatsache, dass diesem Orden, extra,  von Papst Franziskus der päpstliche Ablass gewährt wurde. Klicken Sie hier.

Jetzt nur so viel, noch einmal, zu den Recherchen von Raúl Olmos, es sind Ergebnisse fünfjähriger Arbeit. Zweifelsfrei, und von den Legionären Christi selbst unwidersprochen hingenommen, ist das Recherche-Ergebnis: Dieser Orden (mit nur ca. 1000 Mitgliedern) verfügt über ein Vermögen von mehreren Milliarden Dollar. „Die Legionäre Christi könnten bei ihrem Finanz-Vermögen den ganzen Hauhalt des Vatikans finanzieren… Der Orden der Legionäre Christi verfügt über mindestens 500 Organisationen und Unternehmen, die viel Vermögen erzeugen“, so Raul Olmos in „Aristegui CNN“ am 27.1.2016. Olmos noch einmal wörtlich: „Diese Unternehmen haben nichts mit einer pastoralen Aufgabe zu tun haben, Unternehmen wie etwa in Panama, die schon von Marcial Maciel gegründet wurden. Es handelt sich dabei auch um Unternehmen imaginärer Art („empresas fantasma“, sagt Olmos), es gibt Unternehmen auf einer Insel, und dies wegen der Steuerflucht oder um Geld zu waschen“ („es para evasion fiscal o lacado de dinero“, so Olmos wörtlich).

In einem weiteren Beitrag, publiziert in Eldiario, Madrid, vom 6.1.2016, wird Raul Olmos genauso deutlich: „Im übrigen arbeitet der Orden mit Steuerparadiesen zusammen, etwa mit Jersey oder Panama bis in die Schweiz. Der Orden der Legionäre Christi hat seine Milliarden investiert in die United Technologies Corporation und Ametec Inc.; in die Alkoholproduktion, wie Diageo und Constellation Brands und Heineken sowie in die Produktion von Antibabypillen, wie Johnson & Johnson sowie Pfizer, um nur einige Beispiele zu nennen.
Die Frage, die immer noch nicht umfassend beantwortet wurde: Warum wurde der Orden de Legionäre Christi nach den Enthüllungen zahlreichen sexuellen Missbrauchs, nicht nur durch den Ordensgründer, sondern durch etliche andere Legionäre Christi, nicht aufgelöst, wie man es im 17. Jahrhundert schon einmal mit dem Orden der Piaristen, der Priester der frommen Schulen für einige Jahre getan hatte, weil auch dieser Orden des heiligen José de Calasanz von pädophilen Vergehen geprägt war.

Bei den Legionären kommt hinzu: Sie haben aufrund der Geldgier Pater Maciels Millionen durch Erbschaften und Schenkungen erhalten. Wer würde diese Milliarden dann erhalten, wenn der Orden aufgelöst worden wäre? Die verbliebenen Mitglieder? Oder vielleicht der Vatikan? Aber der Vatikan und mit ihm der Papst haben doch selbst ein Milliarden schweres Vermögen, allein schon durch den Immobilienbesitz in der „heiligen Stadt“ Rom… Nebenbei: Trotzdem sollen die Katholiken aber bitte brav für den Vatikan weiter spenden, den so genannten „Peterspfennig“ entrichten. Und auch die Legionäre Christi erlauben es sich noch, um Spenden zu bitten, etwa durch Einlagen in Kirchenzeitungen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Camilo Torres lebt: Seine Bedeutung 50 Jahre nach seinem Tod.

Camilo Torres lebt: 50 Jahre nach seinem Tod

Ein Interview mit Juan Camilo Biermann López. Er ist Wissenschaftler am „Centro de Pensamiento Camilo Torres Restrepo de la Universidad Nacional de Columbia“.

Ein Vorwort von Christian Modehn am 29.3. 2016: Angesichts der schwierigen und immer wieder scheiternden Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerilla dort ist es wichtig, an einen Priester, Theologen und Soziologen zu erinnern, der in Kolumbien 1966 als Mitglied einer damals noch ganz anderen „Befreiungsbewegung“ von Regierungstruppen erschossen wurde. Camilo Torres Restrepo gilt heute bei denen, die sich um eine objektive Sicht bemühen, als wichtiger Soziologe und als Befreiungstheologe, der mit der Allmacht eines konservativen Systems in Kirche und Staat zu kämpfen hatte. Camilo Torres war ein Intellektueller, der dem Evangelium gemäß die Armen über alles liebte und sich deswegen den Zorn einer reaktionären Kirchenführung zuzog. Dass er sich einst auch in Berlin aufhielt, darauf haben wir – danke der Hinweise von Juan Camilo Biermann Lopez – schon hingewiesen. Wir sind dankbar für das Exklusiv-Interview mit dem jungen kolumbianischen Historiker Juan Camilo Biermann Lopez.

Die Fragen stellte Christian Modehn, Berlin.

Anlässlich des 50. Todestages von Camilo Torres gibt es jetzt ein breites Interesse unter den KolumbianerInnen an seiner Person und seinem Denken? Gibt es möglicherweise eine neue, nicht-polemische Einschätzung seiner Person?

Jede Dekade der Erinnerung an den Tod von Camilo Torres Restrepo (im folgenden wird der Name der Einfachheit halber oft mit den Buchstaben CTR abgekürzt) führt zu einer Zunahme des Interesses an seinem Leben und Werk. (In der Fußnote wird eine Übersicht geboten, mit der man gut einschätzen kann, wie viele Zeitschriften-Beiträge außerhalb und innerhalb Kolumbiens über CTR geschrieben wurden. In dieser Übersicht kann auch man erkennen, dass sich in den Gedenk-Jahren 1976, 1986, 1996 und 2006 die Zahl der Publikationen über ihn ständig vermehrt hat. Diese Daten entnehme ich einem Buch, das kürzlich unter dem Titel „ Bibliografía general sobre Camilo Torres Restrepo“, veröffentlicht wurde, verfasst von Professor Alberto Parra Higuera von der Universität Hamburg). Aber in dieser Geschichte der Erinnerungen ist das Gedenken an den Tod von CTR vor 50 Jahren durchaus größer als zuvor. Der erste, eher oberflächliche Grund für das große Interesse an CTR ist, dass es jetzt nun einmal um die Erinnerung an den Tod vor genau 50 (!) Jahren geht. Jetzt sind die Menschen, die ihn kannten und seiner Generation angehörten, schon gestorben oder eben sehr alt. Diese Tatsache erleichtert es, dass man jetzt Themen behandeln kann, die vorher noch Groll erweckten oder von einigen Bereichen der kolumbianischen Gesellschaft als Störung empfunden wurden. Ein noch wichtigerer Grund für die Erinnerung an CTR jetzt ist die Tatsache, dass die kolumbianische Regierung und die Guerilla der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Columbia) einen Ausweg suchen, indem man über den bewaffneten Konflikt verhandelt. Obwohl die FARC und der ELN (Ejército de Liberación Nacional; zum ELN gehörte CTR am Ende seines Lebens, der Übers.) zwei verschiedene Guerilla-Organisationen sind. So haben diese Friedensdialoge die Frage nach einem möglichen Dialog zwischen der Regierung und dem ELN aufgeworfen. So kommt der Gestalt von CTR von neuem eine Bedeutung zu, da er ja die intellektuell bedeutendste Figur des ELN war. Und sein politisches Projekt, das reflektiert wurde in „Plataforma del Frente Unido del Pueblo“ kann die Basis sein, um die Verhandlung zu beginnen. Einen dritten Grund für das starke Interesse an CTR ist darin zu sehen, dass seine sterblichen Überreste noch immer verschwunden sind. Das aber ist ein Verbrechen der Menschlichkeit und es gibt einen Gerichtsprozess, der international gültig ist. Und der hat die kolumbianische Regierung verpflichtet, nach den sterblichen Überresten von CTR zu suchen, um diese dann den Verwandten zu übergeben. Jedoch haben die Kommunikationsmedien ein wenig diese Tatsche verdreht, sie haben behauptet, dass der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos die Überreste von CTR suchen lässt wie in einer Art freundschaftlichen Geste gegenüber dem ELN.

Jede neue Erinnerung bringt neue Interpretationen und Forschungen über Leben und Werk von CTR mit sich. Es ist sehr schwierig, dass in eine Land, das mehr als 50 Jahre den Krieg erlebt, nun mit Leichtigkeit erkannt wird: Camilo Torres Restropo war mehr als ein Guerillero. Es gibt viele Sektoren, auf der Linken wie auf der Rechten, die das Bild von Camilo Torres als einem Guerilla-Priester aufrechterhalten wollen, obwohl klar ist: Priester sein und Guerillerosein bedeuten heute etwas anderes als vor 50 Jahren, als CTR sich der ELN anschloss. Vonseiten verschiedener Universitäten und religiöser und akademischer Kollektive haben wir versucht, neue Erkenntnisse anzubieten, damit CTR nicht nur als Guerilla-Priester gesehen wird. Vielmehr soll man auch anerkennen, dass er Beiträge geliefert hat etwa zu Themen der Stadt-Soziologie. Wichtig ist seine christliche Solidarität mit den Ärmsten der Armen, seine akademische Arbeit mit dem Ziel, die Gesellschaft zu verändern usw. Trotzdem, das wiederhole ich, haben es diese Erkenntnisse schwer, anerkannt zu werden. Denn die Gesellschaft ist sehr polarisiert. Und wenn man dann anerkennt, dass Camilo Torres mehr ein sozialer und politischer Führer war denn ein Guerillero: Dann kann man seinen Tod nicht mehr als einen Sieg des kolumbianischen Militärs über „die Guerillas“ betrachten. Dann kann man Camilo Torres Tod eher interpretieren als ein Beispiel mehr für die Tatsache, dass sich der kolumbianische Staat der bewaffneten Gewalt zuwandte als einer Antwort auf die Gruppen, die politische Veränderungen herbeiführen wollten zugunsten der marginalisierten Gruppen.

Haben die Führer der Katholischen Kirche in Kolumbien die theologische und hohe menschliche Qualität von Camilo Torres inzwischen anerkannt?

Bevor ich diese Frage direkt beantworte, ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass CTR sein Priesteramt aufgab, weil die hohe Hierarchie zu der Zeit (damals geleitet von Kardinal Luis Concha Cordoba) ihn verpflichtete, zwischen der priesterlichen Tätigkeit und der politischen Aktivität zu wählen. Es ist schon komisch: Eine Figur wie Monsignore Angel Builes Gomez hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versichert: „Liberale zu töten ist keine Sünde“, er hat vonseiten der Kirche konservative gewalttätige Gruppen unterstützt. Und jetzt ist dieser Prälat ein Kandidat für die Kanonisierung, also die Heiligsprechung im Vatikan. Hingegen gilt CTR nach wie vor als eine Art „outsider“ der katholischen Kirche in Kolumbien. Mehr Informationen über Builes und seine Heiligsprechung bietet: http://www.las2orillas.co/el-obispo-mas-violento-de-colombia-puede-terminar-de-santo/ )

Das zeigt, dass die katholische Kirche in Kolumbien verbunden war mit den Gruppen, die an der politischen Macht waren und die nicht interessiert waren, auf ihre Privilegien zu verzichten.

Trotzdem und über diese Tatsachen hinaus, gibt es doch einige Gestalten in der kolumbianischen Kirche von heute, die versuchen, das Vermächtnis von CTR zu befreien, neu zu lesen, und neu zu sehen, indem man ihn als einen engagierten Christen präsentiert, engagiert für die ganz armen Menschen. Das beste Beispiel dafür ist Bischof Jesus Dario Monsalve aus der Stadt Cali. Er hat nicht nur von der Regierung verlangt, dass sie sich um die sterblichen Überreste von CTR kümmert und diese ausliefert, er hat auch zahlreiche Termine gestaltet um dessen Andenken zu ehren. Das hat dazu geführt, dass Bischof Monsalve Drohungen erhalten hat und dass er von der Rechten als ein Freund der Guerilla qualifiziert wurde, was in Kolumbien schon etwas sehr Schwerwiegendes bedeutet.

Dann beantworte ich also die Frage: Es fehlt noch ziemlich viel an Einsicht, dass die hohe Hierarchie in Kolumbien die Leistungen und die hohen menschlichen Qualitäten von Camilo Torres anerkennt. Sie tut das deswegen nicht, weil dies bedeuten würde: Dass die Kirche eben auch Fehler und Fehleinschätzungen begangen hat und dass sie nicht verstanden hat, was CTR damals als Thema aufwarf, das noch immer gültg ist, nämlich die Solidarität der Kirche mit den Ärmsten der Armen. Hingegen ist das Bild von CTR anerkannt von den Basisgemeinden, das sind Gruppen von Christen, die ihn verehren und in ihm einen „Martyrer“ sehen.

Ist der Gedanke der Hingabe für das leidende Volk DAS Lebensmotiv von Camilo Torres? Ist sein Eintreten für die ELN ein Akt der Verzweiflung gewesen?

Ich glaube das Lebensmotiv bzw. die zentrale Idee seines Lebens war die „amor eficaz“, also die wirksame Liebe. Und die ist sehr viel umfassender als nur die Sorge um die Menschen, die leiden. Diese wirksame Liebe ist die Basis seiner Haltung als Christ, als Akademiker, als Priester, als politischer Führer und … endlich auch als Mensch! Das ist sehr wichtig, da nur dieses Verständnis es erlaubt, in CTR nicht einen Marxisten zu sehen. Sondern er hat begriffen, dass der Marxismus helfen kann, die christliche Liebe eben als eine wirksame Liebe zu gestalten, und zwar dank einer wissenschaftlichen Methode, die das Verständnis und die Umformung der Gesellschaft garantiert zugunsten der breiten Mehrheit.

Wenn man von der wirksamen Liebe ausgeht, dann bietet CTR drei große Aufrufe bzw. Appelle.

Es ist der Aufruf zur Einheit der Volksklasse (clase popular), also der armen Bevölkerung. Es ist der Aufruf zur Solidarität mit dieser Klasse. Und der Aufruf, diese Klasse zu organisieren. Wenn CTR von dieser clase popular sprach, bezog er sich auf die Armen auf dem Land und in den Städten. Es handelt sich um einen sehr weiten Begriff, er ist ein bisschen zwiespältig, denn CTR benutzte zu seiner Zeit diesen Begriff, um von der großen Mehrheit der Leute damals verstanden zu werden. Und dann wollte er damit auch den Unterschied zwischen der Volksklasse und der herrschenden Klasse etablieren, diese herrschende Klasse wurde auch die Oligarchie genannt.

Diese drei Aspekte und Aufrufe fassen sehr gut zusammen, was seine politische Arbeit in den letzten 2 oder 3 Jahren seines Lebens betrifft. Im übrigen suchte er mit diesen drei Appellen alle Parteien, die nicht so mächtig waren und alle Menschen innerhalb der herrschenden Macht-Parteien (also der liberalen und der konservativen Partei) zu vereinen. Er wollte diese Menschen vereinigen ringsum eine „Frente Unido del Pueblo“, eine vereinte Front des Volkes. Aus verschiedenen Gründen fand diese Koalition von Parteien keinen großen Erfolg, vor allem deswegen, weil die Idee verteidigt wurde, nicht an den Wahlen teilzunehmen (man nennt das Absentismus). Und das in einem Moment, als die Präsidentschaftswahlen näher rückten und es Parteien gab (wie die Kommunisten oder die Christlichen Demokarten), die sehr interessiert waren, an diesen Wahlen teilzunehmen.

Ich glaube nicht, dass Camilo Torres Entscheidung dem ELN beizutreten aus Verzweiflung geschah. Ich glaube, es war eine Entscheidung, die er unter großem Druck getan hat, da es ja bekannt ist, dass er im Jahr 1965 zahlreiche Todes-Drohungen erhalten hat. Es ist wichtig, um besser seine Entscheidung zu verstehen, im ELN mitzumachen: Zu dieser Zeit damals war die sozialistische Revolution als nahe bevorstehend erwartet worden. Der Triumph der Revolution in Cuba überzeugte viele, dass sie glaubten: Der bewaffnete Weg sei tauglich, um an die Macht zu kommen, besonders in Ländern wie Kolumbien, wo die Oligarchie überhaupt nicht bereit war, irgendetwas von der eigenen Macht anderen Gruppen der Gesellschaft zu überlassen.

Woran man sich immer erinnern muss ist: Die Idee der Guerilla in den 1960 Jahren ist sehr verschieden von der aktuellen Guerilla!! In der Dekade der 1960 Jahre hatte die Guerilla überhaupt keine Verbindung mit dem Drogenhandel. Zudem, auch wenn der sowjetische sozialistische Block existierte, gab es keine ideologische Rechtfertigung, um die bewaffnete Revolution zu verteidigen. Aber alle diese Zusammenhänge haben sich geändert. Das Problem heute ist: Viele Forscher und vor allem viele Massenmedien präsentieren die Guerilla der 1960 Jahre so, als wäre sie identisch mit der Guerilla von heute. So wird die Gestalt von Camilo Torres falsch verstanden und stigmatisiert!

Ist der ELN, der sich Camilo Torres angeschlossen hatte, überhaupt vergleichbar mit heutigen “Guerilla-Bewegungen” in Kolumbien?

Es sind wenige Dinge, die noch heute mit dem ELN zur Zeit von CTR gemeinsam sind. Ich glaube, ein Element, das sich durchgehalten hat, ist die Verachtung für den Geistige (la intelectual). Die Guerilla des ELN ist eine solche, die vor allem von Campesinos geformt ist, die ohne große ideologische Bildung sind. Sie entscheiden sich, beim ELN mitzumachen, nicht nur, um „die Revolution zu machen“, sondern um etwas zum Leben zu haben. Ich beziehe mich nicht darauf, dass der ELN ein irreguläres Söldner Heer ist. Ich beziehe mich auf eine ideologische Schwäche, sie hält sich im ELN. Wenn der ELN noch Personen anzieht, dann wegen der Möglichkeit, sich vor den Misständen der Regierung zu verteidigen und um die Territorien zu kontrollieren, zu denen das Militär der Regierung nicht viel Zugang hat.

Kann die Beschäftigung mit der „ganzen“ Person von Camilo Torres ein Beitrag sein, dass Kolumbien zum inneren Frieden und zur Gerechtigkeit findet?

Es wäre geradezu ideal , wenn die Gestalt des Camilo Torres mehr Berücksichtigung fände in der aktuellen politischen Debatte in Kolumbien. Trotzdem: Es ist schwierig. Denn die großen Massenmedien und die katholische Kirche Kolumbiens stellen ihn nicht so dar, dass er mehr ist als einn „Guerilla-Pfarrer“. Man darf auch nicht vergessen, dass CTR in einer reichen kolumbianischen Familie geboren wurde und dass er in seinem Leben nicht nur ein großes Interesse und eine Sorge für die Armen hatte, sondern dass er auch die die Oligarchie attackiert hat. Deswegen wird er von vielen wie ein Verräter betrachtet.

Ich glaube, dass Camilo Torres eine Persönlichkeit ist aus der Generation der 1960 Jahre. Diese Generation suchte die Veränderung Kolumbiens. Es gibt mehrere andere auch, die wie CTR dachten. In diesem Sinne glaube ich, dass man damit beginnen muss, sich nicht nur auf Camilo Torres zu konzentrieren. Man sollte ihn hingegen als Mitglied einer Generation sehen (einer Generation, die für viele als gescheitere Generation gilt)… Diese Generation suchte die Veränderung, die Gerechtigkeit, die Gleichheit. Und noch heute sind seine Ideen gültig, weil er zeigte: Der Konflikt in Kolumbien wird von strukturellen Ursachen bestimmt, und diese Ursachen verpflichten uns auch …zu strukturellen Veränderungen.

Copyright: Juan Camilo Biermann López und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Siehe auch das Dokument: Publicaciones sobre CTR 1957-2015.doc

 

Unduldsam gegenüber Ungleichheiten. Ein Salon über Privateigentum und Gemeinwohl

Unduldsam gegenüber Ungleichheiten: Von der Beziehung „Privateigentum – Gemeinwohl“

Ein Salonabend am 26. 2. 2016

Einige Hinweise für ein Gespräch von Christian Modehn. Über den Zusammenhang von individualistischem Klammern an den Besitz und der Spiritualität lesen sie einen Hinweis am Ende dieses Beitrags.

1. Zur aktuellen Situation

Das Thema steht in aktuellem Zusammenhang: Nach Oxfam- Recherchen (2015) besitzen die 62 reichsten Menschen der Erde genauso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, also 3,6 Milliarden Menschen.

Es ist klar, dass diese Menschen zusammen mit den ca. 17 Millionen Millionären weltweit heute Ökonomie und Politik bestimmen. Einem Milliardär (Herrn Trump) in den USA gelingt es aus dem Stand, auch mit dem Einsatz eigener Millionen Dollar, sich als Präsidentschaftskandidat zu präsentieren. “Dieses Land, die USA, darf nicht einer Handvoll Milliardären gehören”, sagt Bernie Sanders von Demokraten. Die Reichen werden auch dort immer reicher, “es findet eine schleichende Aushöhlung der amerikanischen Mittelklasse statt, sie verarmt”: “1971 gehörten zur Mittelklasse 61 % der amerikanischen Bevölkerung,  2015 nur noch 50 %. So “Der Tagesspiegel”, 28. 2. 2016, Seite 22.

Eine umfassende Reichtums-Forschung, etwa in der Soziologie, gibt es bis heute auch in Deutschland nicht; anders als die umfassenden Studien zur Armut und zum weltweiten Elend. Woran liegt das wohl?

Das übliche Sprichwort gilt eben nicht: „Geld regiert die Welt“. Es muss heißen: „Es regieren die wenigen Menschen, die das Geld haben, über die Mehrheit.“.
Zu Deutschland: Die Kernaussage des so genannten Armuts- und Reichtumsberichts des Bundesarbeitsministeriums heißt: Die privaten Vermögen in Deutschland werden immer größer. In den letzten Jahren sind sie um 1,4 Billionen Euro gestiegen. Die obersten zehn Prozent der Bevölkerung verfügen über mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens. Die Differenz zwischen Armen und Reichen wird auch in Deutschland immer größer.

2.Zum Begriff Gemeinwohl

In der Philosophie, seit Platon, wird darüber gestritten, wie ein gerechtes Verhältnis zwischen dem einzelnen, dem besitzenden Menschen als Bürger eines Staates, und dem Staat als dem Zusammenleben der verschiedenen Menschen zu bestimmen ist. Als höchster Zweck des Staates wurde das Gemeinwohl definiert. Das allen gemeinsame Wohl wurde dann der Philosophie des Thomas von Aquin folgend zum Mittelpunkt der katholischen Soziallehre. Das geht soweit, dass der offizielle katholische Katechismus (aus dem Vatikan 1993) in § 1903 betont: „Die staatliche Autorität wird nur dann rechtmäßig ausgeübt, wenn sie das Gemeinwohl der betreffenden Gemeinschaft anstrebt…Wenn ungerechte Gesetze gegenüber dem Gemeinwohl erlassen werden, „können solche Anordnungen das Gewissen nicht verpflichten“. Thomas von Aquin nennt solche ungerechten Gesetze „eine Gewalttat“.

Ein anderes Beispiel: Jean Jacques Rousseau sprach von der volonté générale, dem Gemeinwillen. Darunter verstand er einen gemeinsamen kollektiven Willensausdruck aller Bürger, der verschieden ist von der Verfolgung individueller Ziele des einzelnen. Es dachte an eine Einheit des gebündelten humanen Interesses aller Bürger. Dieser Gemeinwille könnte den gerechten Staat schaffen (Gemeinwohl). Das war ein Projekt, das die Französische Revolution inspirierte.

Heute wird unter dem Begriff Gemeinwohl auch die Zielvorstellung einer Politik verstanden, in der nicht die Durchsetzung individueller Machtinteressen im Vordergrund steht.. Im Artikel 14 des Grundgesetzes wird recht allgemein formuliert: (Absatz 2)“ Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“. Und dann wird sogar an mögliche Enteignungen gedacht: Da heißt es in Absatz 3: „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt…“

Das Gemeinwohl wird sich heute immer im Diskurs der gesellschaftlichen Gruppen, bei Gleichberechtigung aller Gruppen, ermitteln lassen, wobei es durchaus auch a priori, sozusagen vom „Wesen“ des Menschen her gedacht, Kennzeichen des Gemeinwohls gibt, die sich etwa in den Menschenrechten ausdrücken.

3.Warum ist das Thema von philosophischer Bedeutung heute?

Es handelt sich um eine Frage der philosophischen Anthropologie (wer ist der Mensch, ist er wesentlich ein besitzender?), um eine Frage der Ethik (Wie viel sollte der einzelne sein Eigen nennen in einer Welt, die das Gemeinwohl respektiert ?) und auch ein religionsphilosophisches Thema (Wird Privat-Eigentum mit göttlichen, absoluten Qualitäten ausgestattet?)

Einige Hinwiese zum Zusammenhang von Ethik und Privatbesitz-Gemeinwohl:

Das Thema gewinnt Deutlichkeit, wenn man fragt, welche Gültigkeit die Gleichheit aller Menschen heute hat. Es geht um die Geltung von humanen Maßstäben, es geht um die Wiedergewinnung von Gesetzen, die gerecht sind und um die Moralität, die einen jeden vernünftigen Menschen leiten sollte, sofern er sich als Mensch unter Menschen versteht. Es geht also um die Wiedergewinnung der Selbstachtung, auch unserer eigenen, und um das Gespür für menschliches Miteinander und Verantwortung.

Die schwere Frage: Was ist Gleichheit? Es geht hier nicht um die Gleichheit der formalen Logik, sondern um die qualitative Gleichheit im sozialen Zusammenhang, um eine Gleichheit, die immer in einer bestimmten Hinsicht besteht:
Alle Menschen sind gleich, in der nicht zu bezweifelnden Hinsicht, dass alle Menschen, aber wirklich alle, eine absolut zu schützende Würde haben.

Das ist eine relativ neue Erkenntnis, man denke an die Selbstverständlichkeit, mit der früher Sklaverei für normal gehalten wurde.

Aber die menschliche Würde als das alle Menschen Verbindende ist kulturell immer inhaltlich geprägt, deswegen auch verschieden gestaltet. Aber es ist immer von der gemeinsamen Würde der Menschen die Rede. Ein Mensch ist kein Tier. Sondern der Mensch ist Vernunftwesen mit je konkreter Ausprägung. Das heißt: Alle Personen sind als Gleiche zu behandeln; aber nicht alle Personen sind genau gleich zu behandeln, wenn wir etwa von einem demokratischen Zusammenleben ausgehen: In einem Fall von Katastrophe, etwa Erdbeben, gilt die erste Fürsorge den Verletzten, nicht denen, die in gut erhaltenen Häusern leben können. Hungernde müssen zuerst versorgt werden, erst dann kommt die Sorge für die, die in der Katastrophe wohlhabend und gut ernährt geblieben sind. Zuerst sollten die Menschen in Not unterstützt werden, eine Einsicht, die im praktischen Verhalten spontan gelebt wird.

Welcher Umgang mit den Milliardären ist in einem Staat grundsätzlich richtig, also mit Milliardären, die vom Sozialstaat nichts erwarten, von ihm nichts brauchen, außer polizeilichen Schutz und gut erhaltene Straßen.

Die Antwort auf diese Frage von der Seite der Reichen ist klar: Wir spenden, geben Almosen, gründen Stiftungen, aber verteilen als die großen (oft religiösen) Gönner unsere Gelder nach eigenem Gusto. Deswegen geben wir als Multimillionäre unsere Spenden lieber zugunsten der Renovierung alter repräsentativer Gebäude, sagen wir Barock-Schlösser. Dabei sparen wir noch mal Steuern. Nicht alle Stiftungen der Superreichen sind a priori sozial und Gemeinwohl fördernd, eine banale Erkenntnis. Und die Sozialgesetze in den USA sind bis jetzt so angelegt, dass förmlich vom Staat selbst mit den Spenden der Millionäre gerechnet wird für die so genannte Sozialpolitik siehe etwa die Suppenküchen der Hungernden in den USA, gesponsert von Millionären. Ganz nett, aber Sozialpolitik eines Staates könnte anders aussehen!

Und zweitens wünschen sich dann die Reichen und Superreichen am dringendsten: Möglichst wenig Steuern, vor allem möglichst wenig Erbschaftssteuer. Und, man weiß es längst, dieser Wunsch wird den (Super) Reichen von den demokratisch gewählten Regierungen gern gewährt. Wenn man als Millionär nicht Steuerflucht begeht oder den Firmensitz nach Panama verlagert, bleibt ja immer noch der Weg nach Russland frei: Nur ein Beispiel: Typisch ist, dass der sicher nicht ganz arme Schauspieler, Koch und Weinbergsbesitzer Gérard Depardieu sich 2013 einen russischen Pass von Putin geben ließ, damit er, nun russischer Bürger, die hohen Steuern in Frankreich umgehen kann. In Russland gilt der für Millionäre geradezu traumhafte Steuersatz von 13 Prozent.

Der Präsidentschaftskandidat der Republikaner 2018, M. Trump, der Multimillionär, will den Spitzensteuersatz für alle auf nur 25 % setzen.

4.Die (Super) Reichen betreiben Separatismus

Die Superreichen wollen sich möglich ihrer eigenen Verantwortung für ihren Staat und fürs Gemeinwohl entziehen, indem sie Steuern verteufeln. Typisch ist die Äußerung des Philosophen Peter Sloterdijk in seinem Manifest vom 10. Juni 2009: „Der Staat ist für mich nur ein (Steuern) nehmendes Ungeheuer und die Institution der Einkommenssteuer nichts anderes als ein funktionales Äquivalent zur sozialistischen Enteignung, im Wohlfahrtsstaat leben die Unproduktiven aufkosten der Produktiven“. Herr Sloterdijk fühlt sich als Elite, der es, als den wertvollen Menschen, besser zu gehen hat: Das zeigt auch sein Interview in der Kulturzeitschrift CICERO im Februar 2016. Dort nennt er die Flüchtlinge als die viel zu vielen Leute, „mit denen man fast nichts gemeinsam hat“ (S. 22). Und er seufzt mit dem Schriftsteller Stefan George über die Fremden: “Schon eure Zahl ist ein Frevel“. Auf den engen Zusammenhang von Finanz-„Elite“ (Elite in Anführungszeichen!) und der sich fast „rassisch“ abgrenzenden Herren-Menschen-Rasse“ ist evident: Da wird die Ideologie verbreitet: Reiche haben Talent und Fleiß, so die uralte These der Vermögenden, Arme eben nicht, sie sind faul und selbst schuld an ihrem Elend. Das ist gängige Ideologie der Superreichen seit Jahrhunderten…

Wir beobachten also heute bei den Super-Reichen, aber nicht nur dort, eine völlige Verachtung dessen, was man Gemeinwohl, oder den Sozialstaat usw. nennt. Was sagt ein höchst erfolgreicher Schriftsteller über seine Bindung und Verantwortung für sein eigenes Land, es sagt Michel Houellebecq 2010: „Ich bin kein Bürger, und habe keine Lust, einer zu werden. Man hat keine Pflichten gegenüber seinem Land, so etwas gibt es nicht. Wir sind weder Bürger noch Untertanen, sondern Individuen. Frankreich ist ein Hotel, mehr nicht“ (in Rosavallon, Die Gesellschaft der Gleichen, S.329).

Der französische Philosoph und Historiker Pierre Rosanvallon (Paris) nennt in seinem grundlegenden Buch „Die Gesellschaft der Gleichen“ Hamburger Edition 2013, diese Ignoranz allgemeiner Werte einen „umfassenden sozialen Separatismus“ (S.331). Und das ist für ihn mehr als nur ein neuer aggressiver Individualismus. Wer sich separiert aus seiner Gesellschaft, aus seinem Staat um des Privateigentums willen ausziehen will, der möchte eigentlich in einem anderen Land leben, auf einem imaginären Planeten der Reichen, aber bitte ohne Steuern. Zur Not begnügen sich die Ultra-Reichen eben mit „gated communities“, mit abgeriegelten Bezirken innerhalb einer Stadt. Also mit Luxus Oasen, die nur wenigen Erwählten Zutritt gewähren.

In jedem Fall wollen diese Privateigentums-Fanatiker und also Separatisten sich aus der Verantwortung für ihr eigenes Land (man denke auch an die Steueroasen usw.) förmlich wegstehlen. Sie halten sich, wie einst und heute der Adel, für die Privilegierten. Die Besonderen. Die wichtigeren, wertvolleren Menschen. Das ist, nebenbei, eine Form des Rassismus.

Der reiche Bürger eines Landes versteht sich nur noch als Besitzbürger, nicht mehr als politischer Bürger, der auch für die Allgemeinheit, für die anderen, Verantwortung übernimmt.

5.Kritik der gelebten Unmoral

Wir erleben also den totalen Verlust an Verantwortung für andere, das Fehlen von Empathie. Dahinter steht die Haltung: Uns soll es bestens gehen, nach uns die Sintflut. Und diese Kreise werden durch die Parlamente der westlichen Demokratien bestens bedient. Warum? Weil offenbar in diesen Parlamenten die Freunde dieser Privatbesitz-Fanatiker herrschen. Das meiste an demokratischer Kulisse ist schöner Schein. Einer der führenden kritischen Manager, Tobias Busch, schreibt am 24.2.2016 in der webite „Migazin“: „Selten in den letzten Jahrzehnten sind politische Entscheidungen so unverblümt egoistisch und unsolidarisch getroffen worden wie in diesen Tagen und Wochen. In Europa wird nicht einmal mehr die Fassade der Scheinheiligkeit gewahrt, wenn es um das Flüchtlingsthema geht. Dass jeder konsequent seine Interessen verfolgt und brutale Selbstoptimierung betreibt, ist in der Politik wohl völlig normal. Aber die Gnadenlosigkeit im Auftritt ist neu…“

Der Philosoph Norbert Copray, Herausgeber der Zeitschrift PUBLIK FORUM, schreibt in seinem Buch (2015): „An Widersprüchen wachsen“, S. 19: “Das System, wie Geld gehandhabt und wofür es eingesetzt wird, haben sich diejenigen geschaffen, die damit die Welt regieren. Mehr denn je. Und diejenigen, die das System meisterlich beherrschen, beherrschen auch die Welt zu ihrem eigenen Vorteil. Alle anderen sind ihnen egal. Das bekommen die Menschen in Afrika usw. schon viel länger zu spüren als die Menschen in der westlichen Industrie- und Finanzwelt“ (S. 19).

Wir erleben heute das Sich – Absolutsetzen des Privateigentums global. Das extreme Vermehren des Privateigentums – wie ein selbstverständlicher Selbstzweck betrieben wie aus Sucht und Gewohnheit bei den Reichen – führt zu einer Vernachlässigung dessen, was man früher Gemeinwohl nannte oder auch Verantwortung für eine staatliche Ordnung oder die Verantwortung für das, was auf dieser Welt allen Menschen gemeinsam ist, nämlich das Recht, menschenwürdig zu leben. Das ist etwa angesichts des Hungers von vielen Millionen Menschen dringendste Aufgabe, die auch finanziert werden kann, das Geld ist ja prinzipiell da. Ich empfehle das Buch des argentinischen Forschers und Journalisten Martin Caparrós „Der Hunger“, Suhrkamp Verlag, 2015.

Wichtig ist die Erkenntnis, die sich wenigstens herumsprechen sollte, auch wenn sich wohl kaum ein Millionär davon betroffen fühlt: Es gibt so etwas wie eine soziale Schuld. Das heißt: Jeder einzelne lebt von der akkumulierten Arbeit anderer. Wer zur Welt kommt, kommt in eine Welt, die ihm bereits vieles schenkt, vieles bietet, von der er lebt, ohne auch vorher etwas gearbeitet zu haben. Wir profitieren von einander, die einen etwas oder gar nicht; einige wenige hingegen sehr.

Wer große Vermögen ansammelt, bezieht sich auf die Arbeitsleistungen anderer, die schlecht bezahlt wurden. Wer viel verdient, genießt nicht das, was er sich allein erarbeitet hat.

Léon Bourgeois, ein Jurist und Gründerväter des Völkerbundes mit Friedensnobelpreis ausgezeichnet, 1851 bis 1925, sagt: „Der Mensch begeht einen Betrug, einen Diebstahl, wenn er für sich behält, was er nur durch die Arbeit und Mühe früherer Generationen hat erwerben können“ (S. 227).

Es gilt heute ein klares philosophisches Verständnis für eine Ethik des Eigentums wiederzugewinnen: Der Kategorische Imperativ Kants ist heute auch in dieser Frage ein bleibender universeller Maßstab, um die Moralität, also die Qualität der Menschwürde, in allen subjektiven Lebenshaltungen (Maximen) zu beurteilen. Gilt der Grundsatz einiger Leute, Millionäre usw., dass sie selbst unter allen Bedingungen immer reicher werden wollen, so kann diese Maxime vor einer menschlichen Moral, also der Menschenwürde, nicht bestehen. Wer an dieser Maxime festhält, verabschiedet sich, philosophisch gesehen, aus der gemeinsamen Menschenwelt (die gated communities sind dafür architektonischer Ausdruck). Fazit: Wir leben heute weithin in einem unmoralischen, d.h. im Sinne Kants, unvernünftigen und menschenunwürdigen Zustand.

Die grundlegende Frage wird nicht mehr gestellt, geschweige denn beantwortet: Warum ist es gut, gut zu sein? Also etwa dem Kategorischen Imperativ zu entsprechen oder konkreter: den Menschenrechten zu entsprechen als Form der Moralität. Die Antwort ist einfach: Es ist gut, gut zu sein, um die moralische Selbstachtung zu finden und zu bewahren. Nur wer noch Interesse hat, die grundlegende Selbstachtung zu bewahren, wird die Spaltung von Privateigentum und Gemeinwohl unerträglich finden.

Der Philosoph Helmut Rittstieg schreibt in der „Enzyklopädie Philosophie“, Hamburg 2010, Band I, S. 454:
„Es gibt keine pauschale Rechtfertigung für die eigentumsrechtlichen Strukturen der gegenwärtigen Marktgesellschaften. Eben sowenig ist der jeweilige konkrete Bestand an erworbenen Eigentumsrechten sakrosankt. Es gibt wohl erworbene und schlecht erworbene Eigentumsrechte, und auch die wohl erworbenen Eigentumsrechte müssen dem politischen Zugriff offen stehen, wenn sie der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung schädlich sind, wie der Übergang der Feudalgesellschaft zur bürgerlichen

6.Die Passivität der Geschädigten und der „ungleich“ Gemachten

Der Philosoph Pierre Rosanvallon kommt zum dem Gesamteindruck: „Es sieht ganz so aus, als gäbe es heute eine Art stillschweigender Toleranz gegenüber diesen Ungleichheiten (der Privateigentümer)“ (S 14). Es gibt etwa in Frankreich Umfragen mit widersprüchlichen Aussagen: 90 % meinen, die Kluft der Einkommen müsste verringert werden; gleichzeitig sagen sie zu 57 %, dass Einkommensungleichheiten unvermeidlich seien, um wirtschaftliche Dynamik zu gewährleisten“ (S. 14).

Es gibt da und dort den Willen zur Veränderung, man denke an die Versuche der Podemos-Partei, an ATTAC usw. Aber die Mentalitäten sind durch die Allmacht des Geldes so verdorben, dass die Zuversicht, Veränderungen zum Gerechten hin zu bewirken, doch fast geschwunden sind. Insofern leben wir in einer menschlich sehr traurigen Situation. Der Einsatz für die COMMONS ist sicher ein Lichtblick…

Wahrscheinlich kann das Eintreten für eine gerechte Steuerpolitik noch hilfreich sein für eine gerechte Gesellschaft:

Hier nur ein kleiner historischer Hinweis zur Einkommenssteuer: Von Bismarck wurde sie 1891 eingeführt. Die Steuerprogression erstreckte sich damals in Deutschland von 0,5 % bis 4%.

Schon 1924 war der Spitzensteuersatz in Frankreich 60%! Und er wurde selbstverständlich akzeptiert! Es wurde einst die Steuerpolitik verwendet als Instrument zur Überwindung von Ungleichheiten. Der Labour Abgeordnete Snowden (GB) sagte: „Die wenigen können nicht reich sein, ohne die große Masse ärmer zu machen“. (S. 202). Darum forderte er eine andere Steuerpolitik.

Vielen Regierungen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts zweifelsfrei klar, dass sie Reformen einleiten müssen, auch in der Verteilung des Reichtums, um Revolutionen zu verhindern (S. 206). Dieser Gedanke fehlt heute völlig in der Öffentlichkeit. Viele ahnen ihn wohl, aber keine demokratische Regierung handelt danach. Revolutionen, so wusste man damals, sollten durch zeitgemäße Reformen verhindert werden (S. 208).

Das heißt: Die Begrenzung des Privateigentums muss durch bessere Gesetze durchgesetzt werden. Sicher auch mit Begrenzungen des Kapitaleigentums. Aber es ist wohl schon zu spät, denn die Reichen haben nicht nur die Ökonomie in der Hand, sondern auch die Politiker. Wir reden von Obergrenzen für Flüchtlinge, besser wäre es, von Obergrenzen von Millionärs- und Milliardärseigentümern zu sprechen und diese Obergrenzen rechtlich durchzusetzen und darüber zu diskutieren.

Meine zusammenfassende These heißt: Noch nie wurde so viel von Ungleichheit geredet, und so wenig von den Geschädigten getan, diese Ungleichheit zu korrigieren. Die Ungleichheit wird heute wie ein Gott verehrt, sagt Pierre Rosavallon. „Alles wissen und alles sagen, ohne dass sich das Geringste verändert”, das ist die Formel heutiger Zeitgenossenschaft.

Ein wichtiger Hinweis ist dem Buch „Esprit de la Révolution“ entnommen, darin schreibt im Jahr 1815 der gemäßigte Politiker Pierre Louis Roederer: “Der erste Beweggrund der Revolution von 1789 war die Unduldsamkeit gegenüber den Ungleichheiten“. (S. 12 in Rosavallon) .

Eine Ergänzung am 1.3.2016 über Besitz und Spiritualität (Frömmigkeit):

Das Denken in Besitz-Kategorien hat sich auch im religiösen Verhalten durchgesetzt. Die bürgerliche Frömmigkeit vor allem folgte, etwa im katholischen Raum, den weit verbreiteten theologischen Propaganda-Sprüchen: „Rette deine Seele“, so immer noch zu lesen auf Kreuzen, die an so genannte „Volksmissionen“, also Predigtreihen intensiver Art, erinnern. Natürlich soll man als religiöser Mensch sich um seine eigene Seele, also um den „Kern“ der eigenen Würde als Person, „kümmern“. Aber niemals in der Fixiertheit auf das eigene und nur eigene Wohl und die eigene Rettung, noch dazu auf Kosten anderer. Wahrscheinlich ist die Kontemplationslehre auch im Mittelalter schon stark ego-fixiert, auf das Sichern de eigenen Heils. Nebenbei: Dass später (ab 1970) die Befreiungstheologie verteufelt wurde von konservativen Kreisen hat sicher damit zu tun: Die Befreiungstheologie deutete, biblisch sehr treffend, Erlösung als gemeinsame soziale Befreiung.

Der Philosoph (und „Mystiker“), der Dominikaner Meister Eckart (1260-1328) wollte in seinen Schriften und Predigten aus dieser Ich-Fixierung herausführen. Für ihn zählt allein die offene Existenz, die sich befreit von der Besitzstruktur, sogar von dem Verklammertsein an einen Gott, den man meint zu „haben“: Also “Gott um Gottes willen lassen”, ist das Motto Eckarts.

Meister Eckart steht in starken Kontrast zu dem viel gelesenen und sicher auch schneller zu verstehenden Erbauungsbuch „Die Nachfoge Chrsti“ des Thomas von Kempen. “Er befürchtet vom sozialen Bereich die Behinderung persönlicher Vervollkommung. Weltflucht ist für Thomas von Kempen oft Menschenflucht“, schreibt der Eckart-Spezialist Dietmar Mieth, in „Christus – das Soziale im Menschen“, Mainz 1972, S. 51, Mieth bezieht sich dabei auf das 20. Kapitel der „Nachfolge Christi“.

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