Marx, Wagner, Nietzsche!

Über ein neues Buch von Herfried Münkler

Ein Hinweis von Christian Modehn

Herfried Münkler, Professor em. für Politikwissenschaft an der Humboldt Universität in Berlin, legt ein gleichermaßen umfangreiches wie originelles Buch vor: Die drei „Denker“, um diesen etwas pathetischen Oberbegriff für Marx, Wagner und Nietzsche zu gebrauchen, haben mit ihren Werken auf je unterschiedliche Weise den globalen Umbruch im 19. Jahrhundert und darüber hinaus mit-bestimmt. Ihr politischer, künstlerischer und kultureller Einfluss ist bis heute evident, nicht nur in Europa. Die Werke der drei Deutschen sind keineswegs „ausstudiert“. Man hätte sich wohl auch drei maßgebliche europäische, nicht-deutsche „Denker“ aus dem 19. Jahrhundert vorstellen können. Aber die Bedeutung der drei Deutschen ist unumstritten, und dies zu sagen, hat nichts mit Nationalismus zu tun..

1. Herfried Münkler bietet einen interessanten neuen Ansatz: Er präsentiert und diskutiert Marx, Wagner und Nietzsche NICHT jeweils für sich getrennt, sondern zeigt in allen Kapiteln seines 620 Text-Seiten umfassenden Buches Querverbindungen, Gemeinsamkeiten, Widersprüche. Das macht die Lektüre spannend, aber manchmal auch anstrengend, weil eben von dem einen zum anderen gesprungen wird. Münkler „bringt die Drei miteinander ins Gespräch“, selbst wenn sie, historisch gesehen, kaum Kenntnis voneinander hatten, sieht man einmal von den Beziehungen zwischen dem jungen Nietzsche und Wagner ab. Die drei können sogar, meint Münkler, Begleiter sein im 21. Jahrhundert, aber, und das ist wichtig, „wobei diese Begleitung eher eine der kritischen Infragestellung als eine der selbstsicheren Wegweisung ist“ (616).

Um das besondere Profil jedes der drei im Sinne Münkles anzudeuten: Marx „als Ökonom und Soziologe setzt auf die Revolution der sozioökonomischen Verhältnisse, Wagner auf die kulturelle Regeneration und Nietzsche auf die Schaffung eines neuen Menschen“ (ebd.)

2. Münkler berichtet, dass er sich als Politologe selbstverständlich seit langem mit Marx auseinandergesetzt hat. Neu dürfte für manche die jahrelange Beschäftigung Münklers mit Richard Wagner sein, er kommt lang und breit in dem Buch zu Wort. Nietzsche hingegen ist wohl erst anlässlich der Studien zu diesem Buch für Münkler wichtig geworden (vgl. S. 715).

3. Unter den neun Kapiteln des Buches, die sich auf gemeinsame Sachthemen der drei beziehen, möchte ich vor allem auf das 5. Kapitel „Zwischen Religionskritik und Religionsstiftung“ hinweisen (S. 209 – 289). Das 19. Jahrhundert war nach der Französischen Revolution einerseits vor allem von einer Krise des Katholizismus bestimmt mit den ersten großen Umbrüchen in Richtung Säkularisierung des religiösen Bewusstseins. Andererseits war es aber auch das Jahrhundert vieler Religionsgründungen und Abspaltungen von den großen Konfessionen im Sinne von „Sekten“-Gründungen: Um nur einige zu nennen: Man denke an die Religion des Positivismus gegründet von A. Comte oder an den Altkatholizismus, an neue religiöse Gemeinschaften in den USA, wie die Christian Science oder die Mormonen oder an sehr beliebte esoterische Bewegungen damals wie den Spiritismus. Ich finde es schade, dass Herfried Münkler in seinem Religionskapitel dieses breite und durchaus diffuse religiöse „Aufblühen“ im 19. Jahrhundert in seiner Darstellung der „drei“ nicht berücksichtigt.

4. Marx, Wagner und Nietzsche haben je verschiedene, ganz ungewöhnliche Verbindungen zum Religiösen bzw. konkret zum Christlichen/Kirchlichen. Bei Marx werden die religiösen, d.h. christlichen und jüdischen Lehren „ins Diesseits verlagert“ (211). Im 20. Jahrhundert wird dann „der Kapitalismus als Religion“ thematisiert. Vom Kommunismus als Religion, etwa mit dem Stalin-Kult, spricht Münkler nicht, weil er als Historiker meint, Karl Marx habe mit dem Staats-Kommunismus in der UDSSR nichts direkt zu tun.

Richard Wagner ist bekanntlich als Antisemit auch ein Religionsgründer, er will mit seinen Festspielen eine Art neuer Kunst-Religion etablieren. „Erst in der 1950er Jahren kam ein Prozess der Desakralisierung (von Wagners Opern) in Gang“ (214). Nietzsche benannte und verkündete in seinen Aphorismen und in seinem „Zarathustra“ das faktische geistige und spirituelle Ende des Christentums. Aber Nietzsche hat mit seiner Lehre vom Übermenschen und der Ewigen Wiederkehr des Gleichen neue religiöse Dimensionen für die „wenigen“ „freien Geister“ erschließen wollen.

In dem Religionskapitel zeigt sich Münkler besonders als Kenner der künstlerischen Welt Wagners. Auf vielen Seiten werden die Inhalte des „Ring“ dargestellt… Dabei zeigt sich „Wagners Sorge um die Zukunft der Religion in einer arelgiösen Welt“ (S. 246). „Was Wagners religiöse Vorstellungswelt durchgängig prägt, ist sein Distanz gegenüber allen Formen der Institutionalisierung des Religiösen, also gegenüber der Kirche und einer dogmatischen Theologie“ (279).

Das ist, möchte man meinen, auch ein ganz aktuelles, “heutiges“ Thema im 21. Jahrhundert, wenn Münkler Wagners Lehre referiert: „Der Theologe als Hüter des religiösen wird durch den Künstler ersetzt“. Heute gibt es neben den Künstlern und Musikern viele “Hüter” des Religiösen, nicht des explizit Christlichen, bis hin in die eher profane Welt der “heiligen” richtigen Ernährung und der “absoluten” Gesundheitspflege als Ideal der Reichen in der reichen Welt…

5. Ich möchte das Thema des Buches etwas erweitern: Was bieten die drei Religionsgründer heute an gemeinsamen Impulsen? Zu dieser Frage führt ja die Lektüre dieses Kapitels…

Die Leidenschaft und geistige Energie von Karl Marx zugunsten einer umfassenden Gerechtigkeit auch für Ausgegrenzten und Armgemachten lebt jetzt in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und den Basisgemeinden weiter. Es gibt also heute ein emanzipatorisches Christentum, das vielleicht Marx erfreuen würde. Weil die dogmatische Hierarchie in Rom spürt, dass in dieser Theologie „etwas Marx“ vorhanden ist, hat der Vatikan diese Theologie auch systematisch zu zerstören versucht, etwa im Bündnis von Papst Johannes Paul II. mit Reagan und dem CIA.

Die Vorstellung, Kunst könnte Religion sein, (siehe Wagner), findet sich fragmentarisch in den letzten Aktualisierungen einer „liberalen Theologie“, die sehr treffend und richtig jedem Menschen eine eigene religiöse Kreativität zutraut. Und religiöse Erfahrungen gerade durch und mit Kunst/Musik etc. für möglich hält und dazu die Chance bietet in den Räumen christlicher Kirchengebäude.

Und Nietzsche? Er ist überzeugend, dass „die Kirche zum Grab Gottes“ geworden ist (in der „Fröhlichen Wissenschaft“, bei Münkler S. 220). Das heißt: Die starren Lehren einer letztlich unwandelbaren und damit vor allem nicht mehr lebendigen Kirche wird für viele, die darin noch verweilen, zum Grab Gottes: Sie werden wegen und durch die Kirchen förmlich zu Atheisten… In dogmatisch erstarrten Kirchen und Sekten wird der Glaube an Gott vertrieben…(Siehe etwa die Studien „Religionsverlust durch religiöse Erziehung“, etwa Erwin Ringel und andere)

6. Das neue Buch von Herfried Münkler bietet überraschende Perspektiven, es ist gut geeignet für Menschen, die ihre Kenntnisse von Marx, Wagner und Nietzsche vertiefen wollen. Münkler zeigt, wie unterschiedlich diese drei Denker des 19. Jahrhunderts auf die globale, politische, ökonomische und kulturelle Krise reagieren.

Man hätte sich gewünscht, in welcher gebrochenen Form die Werke dieser drei je unterschiedlich dann im 20. und nun schon im 21. Jahrhundert rezipiert werden. Dass Marx als Sozialkritiker und Ökonom auch jetzt wieder viel gelesen und debattiert wird, deutet Münkler an. Aber es gibt heute wieder explizite Marxisten und Kommunisten, etwa unter Frankreichs Philosophen (Badiou usw.)…

Dass sich Nietzsches Nihilismus und sein Plädoyer fürs Herrenmenschentum im Bewusstsein und der sozialen/politischen Praxis der Reichen in den reichen Ländern durchgesetzt hat, steht außer Frage. Egismus ist die wichtigste Untugend der Gegenwart. Und Wagners Opern stehen unerschüttert auf den Spielplänen der Opernhäuser, Bayreuth bleibt doch ein säkularer Pilgerort, bei dem die Reichen und Schönen und Spitzenpolitiker sich gern zeigen. Ob sie wirklich von diesen germanischen Mythen innerlich bewegt sind, ist hoffentlich eine offene Frage. Das Hören der Bergpredigt in einem christlichen Gottesdienst kann einige Menschen vielleicht noch verändern, auch politisch zu mehr Solidarität bewegen. Ob dies mit den germanischen Mythen (auch à la Wagner) gelingt, wage ich sehr zu bezweifeln. Es gibt selbstverständlich auch hierzulande einen bisher kaum diskutierten Kultur-“Genuss“ aus purer Langeweile („Ich hörte nun zum 5. Mal Lohengrin“  etc.) oder aus politisch gebotener Repräsentationspflicht (Kanzlerin Merkel in Bayreuth etc).

Herfried Münkler,“ Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“. Rowohlt-Verlag Berlin, 2021, 718 Seiten, 34 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Mystiker, Journalist, Aufklärer, Theologe, Romantiker, aber immer: ein „Reisender“: Karl Philipp Moritz.

Über Karl Philipp Moritz, anlässlich seines Geburtstages am 15.9.1756

Hinweise von Christian Modehn.

Ein Motto:

„Moritz ist ein wahres Genie, ein wahrer Sonderling“ (Alexander von Humboldt).

1.

Muss man heute an Karl Philipp Moritz erinnern?

Einige Stichworte zu seinem kurzen Leben,  aber sehr umfangreichen vielfältigen Werk: Aus bescheidenen, aber extrem  frommen pietistischen Verhältnissen stammend, vielseitig begabt; Journalist; Theologiestudent und Prediger; als Reisender rastlos unterwegs, Autor des hoch geschätzten Romans (als Autobiografie) „Anton Reiser“; ein Pädagoge der ungewöhnlichen Art („Phantasie ist wichtiger als Wissen“); ein Freund Goethes, beliebt in den Berliner Salons; Autor und Gründer der ersten Zeitschrift mit „psychoanalytischem Interesse“ (das „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“); schließlich Professor an der Akademie der Wissenschaften…

„Ein Aufstieg, der in der deutschen Geistesgeschichte ohne weiteres Beispiel ist“ (Willi Winkler, „Karl Philipp Moritz“, Rowohlt Monographie“, S.115). Aber doch mit der Einschränkung: „Man wusste nicht recht, wo man ihn einordnen könnte“ (Horst Günther im Nachwort zu „Anton Reiser, Insel-Taschenbuch, 2013, S. 529).

Muss man Menschen „einordnen“? Natürlich NICHT! Trotzdem: Moritz war nicht Philosoph im „klassischen“ Sinn, schon gar nicht Psychoanalytiker `avant la lettre`, er war auch kein Philologe alter Sprachen trotz seiner Studien zur antiken Mythologie… Aber: „Vielleicht liegt im Scheitern an den üblichen Gattungen seine Modernität“ (Horst Günther, ebd.)

2.

Über die Stationen und Daten seines kurzen Lebens kann man sich etwa bei wikipedia oder in der schönen Rowohlt-Monographie von Willi Winkler informieren. Geboren wurde Moritz am 15. 9.1756 in Hameln; gestorben ist er im Alter von knapp 37 Jahren am 26.6.1793 in Berlin.

3.

„Alles, was Moritz je geschrieben hat, gehört zueinander. Und alles ist angelegt in seiner Kindheit und Jugend“, betont Horst Günther (ebd., S. 530). Wenn das so ist, dann müsste die Prägung durch den extrem konfusen und unterdrückerischen Pietismus zuhause wie während seiner Ausbildung im Mittelpunkt der Forschung stehen. Die These sollte sein: Moritz, ein Mann, der durch frommen, sich mystisch nennenden Wahn verdorben wurde. Solches gibt es bis heute, nicht nur im Christentum…

Karl Philipp Moritz wird zu Hause nicht geliebt, aber mit der Ideologie einer christlichen Mystik abstruser Art konfrontiert, was ihn auch zur Selbstverachtung führt… Auch wenn Moritz später die Philosophie der Aufklärung schätzt: Die innere Bindung an Mystik und Quietismus (und damit verbunden auch an Aberglauben) wurde er nicht los. „Ganz kann sich Moritz nie von der Mystik befreien, die ihn von der Wiege auf unterdrückt hat“ (Willi Winkler, a.a.O., S. 120).

4.

Erstaunlich ist, dass in den protestantischen Kreisen von Hameln (wo er geboren wurde) sowie in Hannover und Braunschweig, wo er als 12-Jähriger bei einem von Mystik verwirrten Hutmacher lebte, die Lehren der französischen katholischen Mystikerin Madame de Guyon (1648-1717) (präziser: Jeanne-Marie Bouvier de La Motte Guyon)

verbreitet waren. Diese seltsame katholisch-protestantische Ökumene seit dem 18. Jahrhundert sollte weiter untersucht werden. Die einflussreichen Pietisten damals, wie August Hermann Francke, Gerhard Tersteegen, Zinzendorf usw. waren von den Ideen und Visionen Madame de Guyons geprägt… Diese fromme Adlige wurde wegen ihrer extremen spirituellen Lehren aber sogar von der offiziellen katholischen Kirche verfolgt, von anderen Katholiken wiederum wurde sie wie eine Heilige geschätzt: Sie glaubte z.B., mit Jesus verheiratet zu sein. Das Ziel ihrer mystischen Bemühungen war die Auflösung des menschlichen Selbst in Gott hinein, es ging tatsächlich um Vernichtung des Selbst. Das vernichtete Selbst wird dann in eine Art geistige Wüste und der Dürre geführt, wo „sich auch kein Fünklein der Selbstliebe mehr mischen darf“. Wie gesagt, diese abstrusen Wahngebilde fanden Zuspruch im protestantischen Deutschland, manche ließen sich wohl von ihrer „tiefgründigen“ Sprache verführen, wie das Umfeld des jungen Karl Philipp Moritz. Er  spricht noch von ihr in seinem autobiographischen Roman „Anton Reiser“, er zeigt, wie sich der junge Reiser (Moritz) sogar noch tröstete in den eleganten verworrenen Worten der Madame… Aber insgesamt hat diese eher menschenverachtende Mystik der Madame de Guyon dem jungen Moritz das Leben verdorben. Später distanzierte er sich ironisch-witzig von dieser Person, die die Trockenheit des Geistes lobte: “Als man nach ihrem Tode ihren Kopf öffnete, fand man ihr Gehirn fast wie ausgetrocknet“ (zit. in Willi Winkler, a.a.O. S. 17). Willi Winkler versucht eine Gesamteinschätzung: „Ob Moritz die Schwärmerei, den religiösen Aberglauben, den die Aufklärung so heftig bekämpfte, selber überwunden hat, ist zumindest zweifelhaft“. (Rowohlts Monographien, S.78).

5.

Als Journalist wagt sich Moritz auf ein ganz neues Feld der Forschung: Es geht um die Erkundung der Tiefen der Seele. Moritz geht in der von ihm begründeten und herausgegebenen Zeitschrift (1783-1793) von den konkreten Lebenserfahrungen des einzelnen Menschen aus, auch von den eigenen. „In einer Fülle von Fallgeschichten berichtete diese als Viermonatsschrift konzipierte Zeitschrift über Mörder und Selbstmörder, religiöse Schwärmer und Hypochonder. Versuche mit Taubstummen und Charakteranalysen von Adoleszenten wurden neben Fällen von Kleptomanie und sexuellem Missbrauch mitgeteilt. Ein anhaltendes, fast schon systematisches Interesse richtete sich auf die Form und den Inhalt frühester Kindheitserinnerungen, und die Vielzahl eingesandter Traumerfahrungen forderte Moritz und seine beiden ihn zeitweise vertretenden Mitherausgeber Carl Friedrich Pockels (1757-1814) und Salomon Maimon (1753-1800) zu ersten Ansätzen einer »Theorie der Träume« heraus“…. „Mit der Darstellung von Zwangshandlungen, Traumphänomenen und Kindheitserinnerungen, mit Mendelssohns Erörterung eines topischen Modells der Seele und den wegweisenden sprachpsychologischen Überlegungen von Moritz zu den unpersönlichen Zeitwörtern (»es donnert«), stand es am Beginn einer Entwicklung, die bis hin zu Sigmund Freud führen sollte, der dieselben rätselhaften psychologischen Phänomene mit einer neuen systematischen Theorie erschliessen konnte.

(siehe: http://telota.bbaw.de/mze/)

6..

Moritz interessiert sich für die philosophische Aufklärung. Auch den Kindern will er die Idee der Gleichheit erklären: in seinem „A.B.C.Buch“ von 1790. Die Menschen sind nicht ungleich, betont er: »Die armen und niedrigen Menschen sind ebenso gebildet [geschaffen] wie die Reichen und Vornehmen. Ein jeder Mensch ist der Hilfe bedürftig. Wenn die armen und niedrigen Menschen schwach und krank sind, so bedürfen sie der Hilfe. Und wenn die Reichen und Vornehmen schwach und krank sind, so bedürfen sie auch der Hilfe. Kein Mensch muss den andern gering schätzen. Denn es ist die höchste Würde, ein Mensch zu sein.«  (ZEIT 7. 9. 2006, Benedikt Erens).

7.

Karl Philipp Moritz ist und bleibt der bis heute hoch geschätzte Dichter seines autobiographischen Romans Anton Reiser (1790), inzwischen wurde diese „Bekenntnisschrift“ in viele Sprachen übersetzt. Es ist die Geschichte eines Versuchs, sich selbst mit vielen Mühen aus der Unmündigkeit zu befreien. Den Pietismus des Elternhauses verlässt Reiser, aber eine geistige, spirituelle Heimat findet er nicht. In dieser Wahrhaftigkeit stellt sich Reiser/Moritz dar. Reiser erhöht sich und degradiert sich, leidet unter Ängsten und hat doch den Willen, dem Leben einen höheren Sinn abzugewinnen, auch wenn es schwerfällt. Aber der Eindruck bleibt: Der Mensch wird im Laufe seines jungen Lebens zerstückelt. Der Schriftsteller Arno Schmidt sagt: „Anton Reiser, ein Buch wie es kein anderes Volk der Erde besitzt“ (zit. in Willi Winkler,a.a.O., S. 144).

8.

Die Macht der seelischen Zerstörung durch frommen Wahn (Madame Guyon usw.) war also alles andere als total. Moritz, der so oft gelitten hat, konnte seinen Schmerz sinnvoll in seinen vielfältigen Werken überwinden. Seine Homosexualität konnte er nicht in Freiheit leben und gestalten, so sehr er auch in seinen Freund Karl Friedrich Klischnig (1788 – 1811) verliebt war…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Atheismus im Christentum: Das heißt: Atheismus inmitten des Glaubens.

Wer ist ein religiöser Mensch? Jemand, der auch Atheist ist.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Das Buch „Atheismus im Christentum“ von Ernst Bloch, 1968 veröffentlicht, sollten religiöse Menschen, Christen, Muslime, Juden wie auch Atheisten neu entdecken, auch Atheisten, die bekanntlich auch „nur“ glauben können, nämlich: Dass es Gott nicht gibt.

1.

Der Titel des Buches ist Programm. Man könnte ihn verwandeln in „Atheismus im persönlichen Glauben“. Oder: „Atheismus in meiner, in unserer Spiritualität“. Impulse werden freigesetzt für einen Glauben, der heutige Lebenserfahrungen respektiert, also auch den Inhalt des Glaubens neu gestaltet. Denn bekanntlich ist religiöser Glaube etwas Lebendiges, d.h. Wandelbares, und entgegen vielerlei rigider Praxis der Kirchen und Religionen nichts Versteinertes, nicht auf ewig Dogmatisches.

2.

Ernst Bloch will ein Gottesbild überwinden, um jetzt nur beim Christentum, den Kirchen zu bleiben, das dort bestimmend wurde: Gott wird als Himmels-Herrscher verehrt oder als „Rachegott“ gefürchtet. Dieser Gott bremst die Freiheit aktiver Lebensgestaltung, behindert den Elan, für die universale Gerechtigkeit unter den Menschen auf dieser Erde einzutreten. Bloch wehrt sich aber auch gegen eine andere Gestalt banalen Glaubens, den banalen Atheismus, etwa in „Gespräche mit Ernst Bloch“, 1975, Seite 170. Dieser Atheismus begrenzt sich schlicht darauf, die Materie für „alles“ zu halten und diese zu verehren und … Gott zu bekämpfen. „Mir geht es hingegen um revolutionären Atheismus in Religionen selber, insbesondere dem Christentum, wie man weiß“ (S. 170).

3.

Bloch zeigt, dass Menschen wesentlich von der geistigen Kraft des Transzendierens bestimmt sind. Das heißt: Sie haben die innere, die geistige Energie, über jeden vorfindlichen Zustand hinauszustreben, das erinnert deutlich an Hegel. Bloch denkt entschieden an politische und ökonomische Verhältnisse, die die Menschenwürde aller bekämpfen und ausschließen. Diese Energie für ein „Transzendierens nach vorne, in die bessere Zukunft der Menschheit und der Welt zu entwickeln, ist die wahre spirituelle Leistung der Menschen, vor allem derer, die sich Christen nennen.

4.

Damit wird die Dimension des „Atheismus in meinem, in unserem Glauben“, erreicht:

Wer den Herrscher – Gott im Himmel, den Rächer und wundertätigen Willkürgott, der mal hier, mal dort Wunder für diesen oder mal für jenen tut, wer also diesen Willkür-Gott ablehnt und vernünftig und emotional überwindet, gerät in eine Art Zwischenraum, in eine Leere. Die ist bestimmt von der Erfahrung des Verlustes des alten Gottes UND dem Nicht-Dasein einer neuen zentralen Lebensmitte, sagen wir eines „neuen Göttlichen“, das man in Erwartungshaltung vielleicht den neuen gründenden Sinn, das Heilige, nennen könnte. Aber eben nicht mehr den angelernten Gott aus Kindeszeiten.

Im leeren Zwischenraum ist die Stimmung des Abschieds bestimmend, auch der Angst, etwas Wesentliches und Altvertrautes verloren oder aufgegeben zu haben. Aber doch setzt sich die Einsicht und die Gewissheit durch: Das „alte, überkommene, angelernte, Gottesbild“ stört unsere gegenwärtige Lebenserfahrung und die vernünftige Einsicht. Denn das überwundene, alte Gottesbild ruhte also wie ein „erratischer Block“ in unserem Leben. Damit deutet sich schon an, dass die Leere, der Zwischenraum, um der geistigen Gesundheit willen verlassen werden sollte. Eine neue, humanere Vorstellung von dem Göttlichen oder dem Sinn-Gründenden deutet sich an.

5.

Man könnte bei Bloch also lernen: Wer als Christ diese Situation der Leere, des Übergangs, erfährt und begrifflich denkt, erlebt für sich selbst und in sich selbst den „Atheismus im Christentum“: Der religiöse Mensch, der Christ, ist also Gott „los“ geworden, d.h. gottlos geworden, befreit von einem Gott, der das Leben behindert und die Unreife der Menschen fördert. Bloch weist sehr treffend darauf hin, dass der Philosoph und Mystiker Meister Eckart im 14. Jahrhundert seinen dringenden Wunsch formulierte, er möge „Gottes quitt“ sein, also gott-los werden. Dies sagte er nicht aus einer unreflektierten Zustimmung zu einem vulgären Atheismus. Vielmehr wusste er: Das dingliche und greifbare und verfügbare allgemeine christliche Gottesbild verfälscht den „göttlichen Gott“. Und die Bindung an ihn macht den Menschen unfrei, kettet ihn an Phantome, die Angst erzeugen und verwirren.

6.

Bloch hat also einen Vorschlag, diese Phasen der Leere und des Atheismus als Phasen der Gesundung, der Reifung, des geistigen und politischen Wachstums zu verstehen. So können diese Momente und Zeiten des Übergangs, der Leere, des Atheismus, gelebt werden. Sie sind immer wieder neu sich einstellende Momente einer spirituellen Lebendigkeit. Man könnte also sagen: Wer als Christ nicht oft auch Atheist gewesen ist, hat nicht in einem lebendigen Leben, in einer lebendigen Spiritualität, gelebt. Und diese Lebendigkeit ist wesentlich das dauernde Transzendieren als das Überwinden jeglicher Fixierung. Und gerade dieses dauernde Transzendieren ist das eigentlich Feste und Bleibende im Leben.

7.

Darauf kommt es entschieden an: Religiöse Menschen, also noch einmal Christen, Juden, Muslime, Atheisten sollten diese ihre geistige Struktur, das Transzendieren, als ihren religiösen Mittelpunkt erkennen. Transzendieren ist im Sinne Blochs das  sehr weltliche und politische Transzendieren in eine bessere Zukunft für die Menschheit! Das Ziel des Transzendierens ist für Bloch nicht der vertikal zu denkende göttliche Herr des Himmels und der himmlischen Heere, sondern das umfassend humane Reich der Zukunft. Bloch sprich in dem Zusammenhang von „Transzendieren ohne Transzendenz“, also ohne göttlichen „Himmel“. Es wäre jedoch zu fragen, ob dieses Transzendieren in eine umfassend humane Zukunft („vorwärts“, wie Bloch sagt) nicht bereits schon das Göttliche im Menschen ist. Ich würde den Gedanken unterstützen. Bloch lehnt ihn ab, weil er mit der Voraussetzung einer mit der „Schöpfung“ gegebenen, sozusagen an gelegten geistigen Kraft des Transzendierens rechnet.

8.

Der Atheismus Blochs ist etwas sehr Spezielles. Für Bloch ist die Gestalt Jesu von Nazareth zentral, den er – wie viele andere auch – als „Menschensohn“ versteht, im Anschluss an das Neue Testament. Jesus als der „Menschensohn“ ist die herausragende Gestalt unter den Menschen mit einer radikalen humanen Botschaft. Bloch schreibt: „Jesu Wort: Was Ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan ist entscheidend: Plötzlich erscheint keine Obrigkeit mehr…hier also ist der Gott, der von oben herrscht, vollkommen weg. Und eine Rückwendung auf den Menschen ist da, und zwar zu den Armen, Erniedrigten…Man kann das schon Atheismus nennen, da der theos, der Gott (in seiner Macht) gestürzt wird“ („Gespräche mit Ernst Bloch, S. 171). Jesus wird also gerade als Zeuge einer Humanität zugunsten der Armen und Ausgegrenzten zu einer Art erlösendem, befreienden Vorbild.

9.

Wer sich von den Einsichten Blochs anregen lässt, wird auf eine philosophische und theologische Entdeckungsfahrt geschickt: Ohne Atheismus als Erfahrung inmitten des Lebens gibt es keine Spiritualität. Diese Aussage steht etwa gegen die Kirchen, die immer als Ideal predigen, nur den reinen Glauben allzeit zu leben sei Ausdruck der Heiligkeit und Vollkommenheit. Nur das Gute, nur das Fromme allein zu leben ist in der Sicht Blochs naiv: Glauben ohne in atheistische Phasen zu gelangen, ist etwas Stagnierendes. Der reflektierte Atheismus findet immer wieder zu einer neuen Glaubenshaltung. So entsteht eine geistvolle Dialektik inmitten des Lebens.

10.

Noch einmal: Auch der Atheist ist von einer Glaubenshaltung bestimmt , von der Überzeugung, dass kein Gott ist. Atheisten als Glaubende: Das wäre auch ein Aspekt, der sich aus Blochs „Atheismus im Christentum“ ergeben könnte. „Atheismus ist auch Glauben“ wäre dann der weiterführende Titel. Dieser Atheist kann sich aber von „christlichen Atheisten“ belehren lassen: „Den Gott, den ihr Atheisten ablehnt, den lehne ich als Glaubender genauso ab. Insofern sind wir, Atheisten wie Glaubende, in der Dialektik des Lebens immer in ganz neuer Weise Atheisten. Wir beide, Christen und Atheisten, sind gottlos, nämlich in unserer Ablehnung des banalen Gottesbildes.

11.

Das Nachdenken müsste natürlich Konsequenzen haben in der religiösen oder auch in atheistischen Bildung. Bleiben wir bei der religiösen, der christlichen Bildung etwa der Kinder. Kindgemäße Hinweise auf die göttliche Wirklichkeit lassen sich bestimmt nicht durch das Auswendiglernen von Sprüchen und Gebeten oder durch Kindergottesdienste mit viel kindlichem Tralala erreichen. Wichtiger wäre eine kindgemäße Einführung in das, was man die Tiefe und das Geheimnis des Lebens und der Welt nennt. Dann ist von dem unmittelbar eingreifenden wundertätigen Gott keine Rede mehr, Lehren, die so viel Verwirrung stiften bis ins hohe Lebensalter:  Da wird dann mit einem naiven kindlichen Glauben noch im reflektierten, reifen Alter behauptet: „Wenn Gott dies und das zulässt und nicht als Gott direkt eingreift, dann glaube ich nicht an ihn“.

12.

Solche religiös-kindliche Dummheit kann aber überwunden werden, wenn Kinder und Jugendliche anstelle des üblichen religiösen Tralala eben Meditationen, Achtsamkeit, sowie im Spiel das Nachgestalten bestimmter Parabeln Jesu lernen und üben. Das Verstehen der Religionen darf nie auf einer kindlichen, ich möchte sagen, infantilen Stufe stehen bleiben. Insofern ist mancher „Atheismus“ im Christentum auch oft nichts anderes als die Ablehnung des infantilen Glaubens im Christentum. Der Wiener Psychoanalytiker Erwin Ringel hat dieses Phänomen schon vor einigen Jahren auf den Begriff gebracht: „Religionsverlust durch religiöse Erziehung“, heißt sein Buch, 1985 erschienen. Oder den Titel variierend: „Atheismus durch das Sich Klammern an infantile Gottesbilder“. Dieser „Atheismus“ sollte unbedingt überwunden werden. Aber diese authentische, „sachgemäße“ religiöse Bildung kann kaum noch vermittelt werden, weil sich so viele von der Religion längst abgewandt haben. Sie meinen, es gäbe Religion, es gäbe Christentum, nur in dieser dummen, naiven, infantilen Gestalt. Die freilich die Kirchen aus Mangel an spiritueller Lebendigkeit und , dogmatischer Sturheit fortsetzen, bis zu ihrem eigenen Ende, dem Absterben des Christentums. Nietzsche hat treffend gefragt: Wird die Kirche zum Grab Gottes? (Siehe Friedrich Nietzsches, Die fröhliche Wissenschaft, 1887, III. Buch, Nr. 12).  LINK.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Jean-Luc Nancy: „Das Christentum hat sich von mir abgewandt. Aber die wahre Mystik blieb mir“

Der Philosoph Jean-Luc Nancy ist gestorben

Ein Hinweis von Christian Modehn

Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy ist am 23.8.2021 im Alter von 81 Jahren gestorben, er war viele Jahre Professor in Straßburg, er ist einer der wichtigsten Philosophen unserer Gegenwart.  Sein philosophisches und literarisches Werk ist äußerst lebendig und umfangreich, mehr als 100, zum Teil viel beachtete Bücher hat Nancy publiziert. Er war auch mehrfach in Berlin zu Vorträgen und Debatten. Etliche längere Interviews auf Deutsch sind in der sehr empfehlenswerten Zeitschrift „Lettre International“ erschienen….

Dieser Hinweis ist natürlich keine „Gesamtwürdigung“ seines Werkes.  Es ist sehr komplex und zudem für „schnelle Lektüre“ ungeeignet…Das sollte aber niemanden hindern, Nancy zu studieren. Hier werden nur einige Stellungnahmen Nancys genannt werden, die in der Pariser Tageszeitung „La Croix“ kürzlich veröffentlicht wurden. Die ausgewählten Stellungnahmen beziehen sich vor allem auf das immer deutliche religiöse bzw. auch religionsphilosophische Interesse von Jean-Luc Nancy. Und das passt gut in den Schwerpunkt unseres philosophischen Salons.

1. Zur christlichen Biographie Nancys:

Im Alter von etwa 28 Jahren trennt sich Nancy vom christlichen Glauben und der katholischen Kirche, er war in der Gemeinschaft J.E.C., „Jeunesse Etudiante Chrétienne“, in der „Christlichen studierenden Jugend“, einer Organisation der katholischen Kirche, aktiv engagiert und interessiert“. (Zur J.E.C. gehörten viele Intellektuelle und Politiker, wie Francois Mitterrand, René Rémond, Georges Montaron und andere. Die J.E.C. besteht bis heute, als progressive, linke katholische Organisation). Jean-Luc Nancy: „Die Zugehörigkeit zum Christentum war für mich absolut untrennbar mit einer politischen und sozialen Vision. Wir waren in der JEC sehr engagiert zugunsten der Demokratisierung des Unterrichts und der Ausbildung. Ich war Christ, ganz und gar. Aber ich muss sagen: Das Christentum hat sich von mir abgewandt, wie von einer ganzen Generation. Denn im Jahr 1957 kritisierten die französischen Bischöfe die progressive Haltung der J.E.C. Das war für mich wie ein Donnerschlag und so befreite ich mich von der Kirche, die mir als eine Gestalt des Konservativen und der Macht erschien. Diese Loslösung von der Kirche war möglich, weil ich die Philosophen Hegel, Heidegger und Derrida entdeckte. Diese Philosophen sagten mir nicht: Ich bringe dir das Heil. Aber sie ließen mich lebendig sein“.

Aber es bleibt für Nancy nach dem Abschied vom Christentum: „Etwa die Interpretation der Bibel. Ich sah, dass man förmlich bis ins Unendliche den Sinn eines Textes entdecken kann“.

2. Das andere Herz

Nancy hat oft davon gesprochen, dass ihm 1992 ein Herz transplantiert wurde, darüber hat er 2000 ein Buch geschrieben mit dem Titel „L Intrus“, „Der Eindringling“. Er wendet sich an den Menschen, der, ohne es zu wissen, ihm sein zweites Herz gegeben hat.

3. Gemeinschaft leben und Gemeinschaft denken

Ein Mittelpunkt der Philosophie Nancys steht sicher die Reflexion über die Gemeinschaft der Menschen, auch die Gleichheit der Menschen, sowie ihre Krankheiten, aktuell von ihm reflektiert das Corona-Virus. Dazu das Buch „Un trop humain virus“ 2020, erschienen in den Editions Bayard Paris. In dem Interview mit „La Croix“ spricht er über das Gesundsein heute.  „Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Gesundheit ein wesentliches Gut ist, aber auch ein Recht. Jeder kann es fordern. Trotzdem: Die Gesundheit ist nicht die Wahrheit der Existenz…Heute ist die Gesundheit zu einer Art Selbstzweck geworden. Wozu  sollen wir denn bei guter Gesundheit sein? Für welche Ziele leben wir? Das ist nicht mehr klar.“

4. Der kulturelle Bruch

„Seit der Verkündigung des Todes Gottes durch Nietzsche sind wir in eine Epoche der Unsicherheit eingetreten. Ich denke oft an den Satz von Jean-Christophe Bailly, einem überzeugten Atheisten, der in seinem Buch „Adieu“ geschrieben hat: Der Atheismus war nicht imstande, seine eigene Wüste zu bewässern. Ich glaube, diese Diagnose ist völlig korrekt. Die moderne Zivilisation hat nichts vorgeschlagen, um die Gestalt des Gottes zu ersetzen, die ausgelöscht wurde. Ich habe die Gewissheit, dass es eine neue spirituelle Revolution geben wird, dass die Zeit dafür gekommen ist, aber das kann vielleicht noch 300 Jahre dauern.“

5. „Wir sind Kinder Gottes“?

Nancy fragt sich, was denn letztlich die Gleichheit der Menschen heute legitimieren und beweisen könnte. „Man muss anerkennen, dass wir es nicht wissen… Im Laufe unserer Geschichte wurde das Christentum wichtig…Man sagte: Man ist ein Kind Gottes, das legitimierte die Gleichheit. Aber außerhalb der Religion, wie kann man die Gleichheit denken“?

6. “Wir tappen im Dunkeln

„Aber was die Zukunft angeht, kann ich nichts voraussagen und vorschlagen. Ich tappe im Dunkeln. Trotzdem: Wenn man sich im Dunkeln befindet, ist man niemals gänzlich in der totalen Finsternis. Im „Schwarzen“ lebend, sieht man auf andere Weise, nicht durch die Augen, sondern durch andere Sinne, das hören, das tasten…

7. Was bleibt?

„Ich habe in der Philosophie Hegels so etwas wie die Wahrheit des Christentums gefunden!  Hegel ist jemand, der in der wahren Bewegung des Geistes bleibt, eines Geistes, der die Grenzen überschreitet. Wichtig ist für mich auch der Philosoph Meister Eckart. Er sagte: „Bitten wir Gott, dass er uns in der Freiheit erhält und dass wir von Gott frei werden“.  Bei der Mystik heute muss ich eine gewisse Erschöpfung feststellen, heute sind die großen Debatten über die Mystik förmlich banalisiert. Ein sehr großer Teil der Menschheit heute verlangt nach Religion, aber die Menschen begnügen sich mit groben und dummen Sprüchen, die ihnen vorgesetzt werden. Unerträglich, was man so an Predigten der Evangelikalen hört…

8. Was ist Philosophie?

“Die Philosophie ist die Arbeit des Denkens. Philosophie gehört nicht zur Ordnung eines Wissens. Sondern eher: Dazu kommen, Worte für das zu geben , was man lebt. Die Aufgabe des Denkens ist die (Wiederer)-Öffnung, das Erwachen, das Aufgreifen der dringenden Bitte um Sinn. Philosophieren beginnt da, wo der Sinn unterbrochen ist. Aber der Sinn ist nicht eine Art Lager an Bedeutungen, kein Lager der Antworten und der Erklärungen der Welt, die irgendwo niedergelegt sind und die man teilen sollte”. Nein! Das Teilen, das ist der Sinn.  (Philosophie Magazine, Paris, August 2021).

9. Und die Freude?

Die Philosophie von Nancy ist geprägt von der Freude, der Anwesenheit der Lebensfreude. „Aber Freude ist nicht Zufriedenheit. Sie ist ein Affekt des Geistes, man weiß sich über jede Zweckbestimmung Begrenzung und jede Ganzheit hinausgetragen. Was die Freude für einen Grund hat, vermag ich nicht zu sagen…in jedem Fall: Die Freude kommt immer von einem „anderswoher“ (d`ailleurs). Von anderen, nicht von mir. Von den großen Gedanken der Philosophen, der Worte der Poeten, der warmen Zuneigung der Personen, der Schönheit der Kunst und der Körper. Natürlich, diese Erfahrung der Freude ist nicht immer da. Aber wenn sie kommt, dann berührt das, dann ist das ergreifend“.

Copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin

Kardinal Alfred Bengsch: Ein Bischof von Berlin, der „theologische Mauern“ errichete. Im Osten wie im Westen.

Hinweise von Christian Modehn, publiziert am 21.8.2021.

Zur Einführung:
Warum dieses Thema? Es gibt heute viel Dringenderes. Zweifellos.

Eine Neuigkeit: Joseph Ratzinger schätzte als Theologe und künftiger Erzbischof von München ganz besonders Kardinal Alfred Bengsch. Zwei sehr Konservative kannten sich schon seit dem Konzil… Siehe Nr. 17).

– Aber am Beispiel von Erzbischof und Kardinal Bengsch (1921-1979), Bischof in der geteilten Stadt Berlin, wird einmal mehr deutlich, wie ein einzelner, sich „Ober-Hirte“ nennender Kleriker eine ganze Kircheneinheit, ein Bistum, ins geistige Getto und zu einem von Angst bestimmten Glauben führen kann. Die Herrschaft einzelner, sich Macht anmaßender Bischöfe ist ja im aktuellen Fall von Kardinal Woelki (Köln) allgemein bekannt. Woelki hat in der klerikalen Arroganz viele „Vorgänger“ und „Mitstreiter“. Einer ist Bengsch, einer von vielen „Oberhirten“.

– Als Berliner, geboren in Ost–Berlin, in Berlin-Friedrichshagen, 1958 Flucht nach West-Berlin und dort Abitur sowie ein Semester Studium der ev. und kath. Theologie sowie der Philosophie an der F.U., (die Studien konnte ich in der BRD abschließen), kenne ich Bengsch, weil ich auch familiär mit dem „katholischen Milieu“ damals eng verbunden war. Mir ist es wichtig, ein Stück Erinnerungsarbeit zu leisten. Und vielleicht Aspekte deutlich zu machen, die anlässlich seines 100. Geburtstages in Jubelfeiern verdrängt werden.

Diese Hinweise sind also ein Beitrag der Religionskritik, eines Hauptthemas der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie.

1. Lobeshymnen oder die historische Wahrheit?
In diesen Wochen erinnern sich nicht nur „Katholiken an den Berliner Erzbischof und Kardinal Alfred Bengsch. Es handelt sich um einen katholischen Bischof, der das katholische „Leben“ in Berlin (-Ost wie auch -West) bestimmte und sich darüber hinaus mit seiner sehr konservativen Theologie in den Katholizismus der BRD einschaltete.

Alfred Bengsch ist, summarisch betrachtet, ein Prototyp des ängstlichen, verschlossenen, dialog-unfähigen und arroganten Bischofs. Diese Tatsachen werden hoffentlich Beachtung verdienen, wenn anlässlich des 100. Geburtstages von Bengsch, wie offiziell – katholisch üblich, die erwünschten Lobeshymnen auf den „Ober-Hirten“ angestimmt werden. Der Herder Verlag wirbt für ein neues Buch über Bengsch mit der Behauptung: „Alfred Kardinal Bengsch gilt bis heute als einer der prominentesten und beliebtesten Oberhirten des Erzbistums Berlin“. Prominent war er auf seine Weise; aber als sturer Dialogverweigerer, kann er da als beliebt gelten? Bei einigen theologisch eher anspruchslosen Gläubigen vielleicht, die sich an Bengschs Predigten erbauten, die ganz auf die traditionelle Masche der klassisch-konservative Innerlichkeit und des bloß spirituellen Trostes setzten.

2. Bengsch wird Bischof – eine Art „Notlösung“
Alfred Bengsch wurde am 10. Februar 1921 in Berlin-Schönberg geboren, zum „Weihbischof“ in Berlin mit Amtssitz in Ost-Berlin wurde er 1959 von Papst Johannes XXIII. ernannt. Zum maßgeblich leitenden Bischof des Bistums Berlin wurde er drei Tage nach der Errichtung der Mauer, also am 16. August 1961, ernannt. Er war also in einem für katholische Bischöfe extrem jugendlichen Alter, er war 40 Jahre alt. Diese Ernennung ist begründet vor allem in der Abberufung des in West-Berlin lebenden Bischofs Julius Döpfner, er wurde Erzbischof von München-Freising. Und Bengsch war da eine schnelle „Lösung“, manche sagen, er wurde verantwortlicher Bischof, weil der Papst „sonst niemanden hatte“.

3. Bengsch repräsentierte die so genannte Einheit des Bistums Berlin
Bischof Bengsch „residierte“ in Ost -Berlin mit dem dortigen kirchlichen Verwaltungsapparat („Ordinariat“), hatte aber die Möglichkeit als einer der wenigen DDR- Bürger regelmäßig nach West-Berlin einzureisen und den aufwendigen, parallelen Verwaltungsapparat im Ordinariat West (wie viele Priester waren damals eigentlich nur „Verwaltungsbeamte“?) sowie die Gemeinden zu besuchen. Das muss noch einmal betont werden: Bengsch war als Bischof in der DDR auch für die Katholiken im freiheitlich und demokratisch geprägten West-Berlin zuständig. Und auch das ist wichtig: Die von kirchenoffizieller Seite bis heute viel beschworene und gerühmte „Einheit des Bistums Berlin“ nach dem Mauerbau am 13.8. 1961 repräsentierte de facto und als leibhaftige Einheit Bischof Bengsch allein: Er war einer der wenigen regelmäßigen, von der DDR-Regierung akzeptierten, Ost-West-Pendler. Natürlich besuchten einige Katholiken aus dem West-Berlin privat auch den Ostteil, aber offizielle Begegnungen in den Ost-Gemeinden fanden nicht statt.
Am 13. Dezember 1979 ist Erzbischof Bengsch in Berlin verstorben.

4. „Eine markige Persönlichkeit“?
Über weitere Details seines Lebens kann man sich über wikipedia usw. informieren. Hier geht es darum, wie es sich gehört, kritische Hinweise zum theologischen und kirchenpolitischen Denken Bengschs zu skizzieren. Denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass anlässlich des 100. Geburtstages von Bengsch eher Lobeshymnen angestimmt werden als objektive Beobachtungen. Ein Text der Katholischen Akademie Berlin vom Sommer 2021 nennt Bengsch etwa eine „markige Persönlichkeit“, was immer das „markig“ bedeuten mag. Und die Akademie fährt fort: „Er hat bis heute bleibende Spuren hinterlassen“. Wohl wahr, von diesen „Spuren“ handelt dieser Hinweis, es sind – schon jetzt zusammenfassend formuliert – Spuren, die die Katholiken in West-Berlin, in einer Stadt in der „freien Welt“, ins Getto führten, in eine geistige Verkrampfung und Abgeschlossenheit, die spiegelbildlich der Mentalität der DDR-Führung durchaus entspricht. Insofern wäre es eine ausführliche Studie wert zu zeigen, wie Bischof Bengsch in seinem Verhalten des rigiden Regierens die DDR-Mentalität der Herrschenden belebte.

5. Nur Bengsch kennt das „unverkürzte Evangelium“
Eine gewisse Leitlinie der Interpretation des Denkens und Handels von Bengsch bietet sogar eine offizielle katholische Deutung: 1980 wurde im katholischen St. Benno-Verlag in Leipzig das Buch „Der Glaube lebt“ veröffentlicht, darin schreibt das katholische DDR- Autorenteam sehr ehrlich: „Kardinal Bengsch war kein progressiver Bischof“ – mit der sehr treffenden Ergänzung: „falls es so etwas gibt. Im Schubladendenken … ist er einwandfrei im Fach konservativ gelandet, und das noch nicht einmal gegen seinen Willen“ (S. 135). Dieser konservative und ängstliche Theologe Bengsch hatte sich übrigens als seinen Wahlspruch gewählt: „Helfer eurer Freude“. Gemeinte war selbstverständlich bei ihm immer die „innerliche Freude“ der dogmatisch korrekt Glaubenden. Das wahre Motto Bengschs war eher das von ihm häufig verwendete Wort: „Ich will die Lehre der Kirche UNVERKÜRZT lehren“. Wobei er von sich selbst, durchaus arrogant, meinte, das unverkürzte, also das ganze und das authentische Evangelium zu kennen: Pluralismus der Meinung schloss diese Überzeugung aus. Bengsch allein bestimmte, was „unverkürzt“ bedeutet…Davon wird noch zu sprechen sein.

6. Die Häretiker suchen und bestrafen.
Zur theologischen und kirchlichen Laufbahn Alfred Bengschs: In den neunzehnhundertfünfziger Jahren konnten Priester der DDR noch an bundesdeutschen theologischen Fakultäten promovieren, so auch Alfred Bengsch. Er erwarb 1956 an der Universität München bei dem katholischen Dogmatiker (und auch später noch explizit konservativen Theologen) Michael Schmaus seinen Dr. theol. Das Thema der Promotionsschrift ist: „Heilsgeschichte und Heilswissen bei Irenäus von Lyon. Eine Untersuchung zur Struktur und Entfaltung des theologischen Denkens im Werk „Adversus Haereses, „Gegen die Häretiker“.
Das Thema hat keine aktuelle Bedeutung, damals schon nicht, also 10 Jahre nach Kriegsende und der von Nazis betriebenen Vernichtung des europäischen Judentums! Da hätte man sich ja auch Relevanteres vorstellen können für einen jungen Theologen aus dem geteilten Deutschland. Aber nein, es musste ein Theologe und ein so genannter „Kirchenvater“ des 1. Jahrhunderts sein, Irenäus von Lyon, über den schon 1956 sicher mindestens 20 Studien vorlagen. Irenäus von Lyon lebte von 135 bis 200. Die Abgrenzung des wahren Glaubens von den Meinungen der Häretiker (bei Irenäus waren es die so genannten Gnostiker) prägte das Denken von Bengsch also von Anfang an.

7. Die grundlegende “Weichenstellung” im Denken von Bengsch
Das ist für das Verständnis entscheidend: Bischof Bengsch lehnte als Teilnehmer des 2. Vatikanischen Reform- Konzils (1962-1965) das entscheidende und grundlegende Konzilsdokument „Die Kirche in der Welt von heute“, auch „Gaudium et spes“ genannt, ab. Am 7. Dezember 1965 fand nach langen und heftigen Debatten die Schlussabstimmung statt: 2.309 Ja-Stimmen standen 75 Nein-Stimmen gegenüber. Mit Nein hatte auch Bischof Bengsch von Berlin gestimmt. Unter der verschwindenden Minderheit der Nein-Sager befanden sich die berühmtesten reaktionären Bischöfe damals, in dieser Gesellschaft bewegte sich also Bengsch offenbar guten Gewissens. Die „Neinsager“ lehnten eine dialogbereite Kirche ab, sie wollten überhaupt nicht, dass sich die Kirche als „Hort der absoluten Wahrheit“ auch lernbereit mit den modernen Denkweisen auseinandersetzen muss. Bekanntlich wurde selbst der Dialog mit Atheisten vom Reformkonzil mit absoluter Mehrheit gutgeheißen. Von dieser Wegweisung des Reformkonzils wollte Bengsch nichts wissen. Die Konsequenz war: Bengsch lehnte den Dialog mit der säkularen, atheistischen, sozialistischen Welt ab, genauso wie dies auch der spätere Traditionalist und „Piusbruder“ Erzbischof Marcel Lefèbvre tat oder der reaktionäre brasilianische Erzbischof Geraldo Sigaud svd. Er war führendes Mitglied der bis heute bestehenden internationalen reaktionären Bewegung „Für Tradition, Familie und Privateigentum“. Bischof Sigaud ist nachweislich der heftigste Feind des Propheten Erzbischof Helder Camara gewesen. Die reaktionären Kreise sammelten sich während des Konzils im „Coetus Internationalis Patrum“, also dem „Internationalen Bund der Väter“, (leibliche Väter waren sie wahrscheinlich nicht). Zu diesem Kreis gehörte auch der große Gegner von Papst Johannes XXIII. :Kardinal Alfredo Ottaviani, Chef der damaligen „Inquisitionsbehörde“. Ob Bengsch zu diesem reaktionären „Coetus“ als Mitglied gehörte, ist für mich nicht eindeutig. Der einstige Pressesprecher des Bistums Berlin, Dieter Hanky schrieb in der offiziellen Bistumszeitung „Petrusblatt“: „Bengschs Bedenken, mit denen er sich zwar nicht allein, aber in einer kleinen Gruppe (also doch dem genannten „Coetus“?, CM) befand, galten vor allem jenen Textstellen, von denen er glaubte annehmen zu dürfen, dass sie vor allem von kommunistischen und anderen atheistischen Regierungen zum Schaden der Kirche missbraucht werden könnten… Als dann das Konzilsdokument, die Konstitution Kirche in der Welt von heute, wenn auch in einigen Punkten verbessert, mit großer Mehrheit vom Konzil angenommen wurde, schrieb Erzbischof Bengsch am 22. November 1965 in tiefer Sorge einen ausführlichen Brief an Papst Paul VI., in dem er ihm die Gründe für seine Ablehnung der Konstitution darlegte. Zu seiner großen Überraschung bat ihn der Papst am 6. Dezember zu einer Privataudienz, in der er den Papst noch einmal beschwor, der Konstitution in dieser Form die Zustimmung zu versagen. Er befürchtete Folgen in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang, wo die Verteidigung der religiösen Werte der Kirche als Widerstand gegen den gesellschaftlichen Fortschritt gewertet würde. Es war umsonst“. (Petrusblatt 12. Dezember 1999). Gott sei Dank, muss man sagen, sonst hätte Bengsch die ganze Kirche noch weiter ins Getto geführt…

8. Die katholische Kirche einmauern, im Osten wie im Westen.
Das Nein zu einem Dialog mit der säkularen, atheistischen Welt hat Bengsch als Bischof von Berlin Ost wie Berlin West fortgesetzt und durchgesetzt. Zusammenfassend lässt sich sagen: So, wie sich die DDR in Berlin mit einer Mauer umgab, so umgab Bengsch auch die katholische Kirche in der DDR mit einer Mauer. Seine Mauer-Abschottungs-Ideologie setzte er auch in der Kirche in West-Berlin rigoros durch.

9. Bengsch baut katholische Mauern in der DDR
Über Bengschs durchgängiges Bemühen, die katholischen Kirche in der DDR mit einer geistigen Mauer zu umgeben, sind etliche prägnante historische Studien erschienen. Ich erwähne nur die eher summarische Darstellung von Clemens M. März in dem Buch „Unser Glaube mischt sich ein. Evangelische Kirche in der DDR“, Ev. Verlagsanstalt Berlin 1990. Der Titel des Beitrags von Clemens M. März nach dem Mauerfall, 1990 geschrieben: “Aus dem Winterschlaf erwacht: Befreit zur Katholizität“ Seite 111-120). März zeigt: Die katholische Kirche in der DDR „distanzierte sich ostentativ von jeglicher gesellschaftlichen Mitarbeit“ (S. 115). Die DDR sollte nach Bengschs Meinung soweit es nur geht ignoriert werden,“ die Kirche flüchtete sich in die Katakombe“ (S. 117). Die offenen, weiterführenden Einsichten der Diözesansynode von Meißen (1969-1971) wurden von ihm unterdrückt. „Sie wurden von Bengsch der Ketzerei verdächtigt“ (S. 116) … Da haben wir schon wieder Bengschs Suche nach Ketzern (Häretikern), eine Leidenschaft seit seiner Doktorarbeit. Der katholische Theologe in Leipzig, Dr. Wolfgang Trilling, spricht sogar von einer „Liquidierung der Synode in Meißen“ durch Bengsch, siehe Trillings wichtigen und sehr erhellenden Beitrag in der Festschrift für Johann Baptist Metz „Mystik und Politik“ (Mainz 1988), Seite 324.
Im ganzen, meint auch der Autor Clemens M. März, habe Bengsch „das selbstgewählte Getto“ gepflegt (S. 118) „indem die katholische Kirche auch dort schwieg, wo sie, analog zum mutigen Eintreten der evangelischen Kirche, für Freiheit und Menschenrechte, hätte reden müssen“ (S. 117).
Zu demselben Ergebnis in der Einschätzung von Bengschs Wirken in der DDR kommt der schon genannte katholische Theologe und Professor für Bibelwissenschaftler Wolfgang Trilling (Leipzig). Er hat seinen Beitrag in der oben genannten Festschrift für Johann Baptist Metz „Mystik und Politik“ (Mainz 1988) unter den Titel gestellt „Kirche auf Distanz“ (Seite 322-332). Man darf sagen, dass dieser theologisch-historische Beitrag über die katholische Kirche in der DDR, in Leipzig verfasst 1987, stimmungsmäßig auch von einem „heiligen Zorn“ Trillings auf das katholische System bestimmt ist: “Nicht Produktivität, Phantasie, Experiment, Kritik, Freimut mit den neuen Partnern auf den verschiedenen Ebenen (der DDR) werden von Katholiken erwartet und als christliche Verhaltensweisen empfunden, sondern Gemeinsamkeit, ja gar Geschlossenheit, Zusammenhalt der kleinen Herde…“ (S. 324)… „Die Konstitution des Konzils Kirche des Konzils in der Welt von heute wurde in der DDR faktisch nicht rezipiert…es ging keine belebende Wirkung von ihr aus“ (S. 325). Und Trilling weist darauf hin, dass sich „katholische Jugendliche vielfach evangelischen Gruppen angeschlossen hatten, in denen die Friedensthematik z.B. leidenschaftlich diskutiert wurde“ (S. 328). Summa summarum schreibt der katholische Theologe Wolfgang Trilling: „Die gegenwärtige Lage, die durch das Fehlen jedes Instrumentariums innerkirchlicher Öffentlichkeit (synodale Einrichtungen, eigene Laienverbände…) verschärft wird, ist grotesk und in der Weltkirche singulär. Dennoch: Was uns nottut, ist eine entschlossene Abkehr von dem bisherigen Weg“, so (S.331). Über Trillings Widerspruch gegen den „Bengsch-Kurs der Abschottung“ hat auch Theo Mechtenberg in der Trierer Zeitschrift „Imprimatur“ (Heft 3, 2018) geschrieben. Die katholische Kirchenzeitung in den neuen Bundesländern, Ost-Deutschland, „Tag des Herrn“, berichtete am 11.4. 1999 von einer Tagung, auf der der Erfurter Historiker Jörg Seiler über die Beziehung der katholischen Bischöfe zu den jungen Katholiken mit “Gewissenskonflkten“ berichtete, es ging also um die Frage: Was denken die katholischen Bischöfe vom Dienst als Bausoldat oder von Totalverweigerern. Besonderen Einfluss dabei hatte der Berliner Erzbischof Alfred Bengsch: „Er sah direkte Interventionen in der Frage der Wehrpflicht als Gefährdung des relativ ruhigen Staat-Kirchen-Verhältnisses an.“ Die Auseinandersetzungen um die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen überließ man der evangelischen Kirche“, so der Journalist Matthias Holluba in „Tag des Herrn“.

10. Bengsch und sein „Maulkorberlass“
Der schon genannte Autor Clemens M. März erwähnt zur „politischen Dialogverweigerung Bengsch auch den so genannten „Maulkorberlass von Bengsch“ vom 1. Juni 1977, der den Priestern wie auch den Laien der DDR verbot, politische Aktivitäten auszuüben! Bengsch betonte sogar: „Das kirchliche Amt (also Bengsch selbst, CM) als gültiges Zeichen der Einheit und die prophetische Freiheit (was meint der Bischof denn damit?, CM) verlangen, kein wie auch immer geartetes politisches Engagement einzugehen“ (S. 117). Dadurch hatte sich die katholische Kirche der DDR auch vom Friedensengagement distanziert. Die „friedliche Revolution“ von 1989 war institutionell tatsächlich nur von der Evangelischen Kirche unterstützt und gefördert. 1990 wird dann der neu ernannte Bischof Georg Sterzinsky in einem Interview mit der „WELT“ (1.2.1990) vorsichtig und ein bisschen selbstkritisch bekennen: „Wir Katholiken der DDR hätten unsere Solidarität mit jungen Oppositionsgruppen deutlicher zum Ausdruck bringen müssen“ (S. 119). Um den Titel des Beitrags von Clemens M. März etwas zu variieren: 1990, nach dem die Mauer gefallen war, war die seit Bengsch in den Winterschlaf verfallene katholische Kirche im Osten Deutschlands ein bisschen erwacht…

11.Eine Mauer soll auch West-Berliner Katholiken einschließen
Die Mauer und das eingemauerte Denken hatte Bengsch so tief verinnerlicht, dass er auch die Katholiken in West-Berlin in eine geistige, theologisch engstirnige Mauer einsperrte, was er auch mit aller Bravour in West-Berlin durchsetzte:
Keine katholische Pressefreiheit
Der Redakteur der katholischen Kirchenzeitung in West-Berlin, “Petrusblatt“, Günter Renner, hatte es 1967 gewagt, einen kritischen Leserbrief gegen eine Entscheidung der katholischen Verwaltungsbehörde, des Ordinariates in West-Berlin, zu publizieren. Etwas Normales für eine freie Presse in einer freien Stadt. Die Verwaltungs-Prälaten waren jedoch empört und setzten alles in Bewegung, um den fähigen und bei den meisten Lesern beliebten Redakteur Pfarrer Renner abzusetzen. Viele Zeitungen, auch katholische Blätter in der BRD, zeigten sich verärgert über diese Entscheidung. Selbst die mit der CDU eng verbundene Berliner Morgenpost aus dem eigentlich immer kirchlich wohlgesinnten Hause Axel Caesar Springer protestierte. Die Medien forderten Bengsch auf, Pfarrer Renner als Redakteur weiter arbeiten zu lassen, aber vergebens. Bengsch war entschieden gegen umfassende und normale Pressefreiheit innerhalb der katholischen Kirche. Wieder eine erstaunliche Parallele zur Pressefreiheit in der DDR. Dieses Denken in einem Freund-Feind-Schema ist formal gesehen die gemeinsame Mentalität von Bengsch und der DDR-Führung.
Also musste der Redakteur Pfarrer Renner seinen Posten aufgeben, „er werde mit seinem kritischen Arbeiten den einem Diözesanblatt gestellten Aufgaben nicht gerecht“, hieß es. Nachfolger von Pfarrer Renner wurde damalige, mit Bengsch eng verbundene Ordinariatsräte und konservative Theologen wie Wolfgang Knauft oder Erich Klausener. Sie machten aus dem Petrusblatt eine katholische „Prawda“ oder „Neues Deutschland“. Aus einem dialogbereiten Blatt wurde ein offizielles „Organ“. Dagegen wehrte sich kurze Zeit ein kritisches Wochenblatt, mit dem Titel „Der Christ“ (Auflage 5.000). Bengsch nannte diese Zeitschrift wörtlich, so berichtete der SPIEGEL 1968, auf seine „freundliche“ Art „ein Käseblatt“. Aus Mangel an Geld musste „Der Christ“ bald verschwinden. Kirchensteuer-Gelder erhielten nur die offiziellen Propaganda-Blätter wie das Petrusblatt. (Über die Kirchenpresse im geteilten Berlin siehe auch: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/259675/christliche-gemeinschaft-im-geteilten-berlin)
Was die publizistische Wirkung angeht: Bengsch genießt noch heute wegen seiner rigorosen Haltung als Konservativer viel Achtung, etwa in dem reaktionären Monatsblatt aus Regensburg mit dem Titel „Der Fels“, dort ein Beitrag von Bengsch im Dezember 2013.

12. Keine katholisch- theologische Wissenschaft in Berlin
Über die Mauer, die Bengsch um die katholische Kirche in West-Berlin zog, wären viele Beispiele zu nennen: So gab es etwa überhaupt kein katholisch-theologisches Institut, also keine theologische Forschung, die den Namen verdient. Das wirklich winzige „Seminar für katholische Theologie“ an der Freien Universität stand zwar in der Nähe des FU Hauptgebäudes, dem Henry Ford Bau, es stand aber geistig völlig am Rande, spielte überhaupt keine Rolle im kulturellen und religiösen Leben der Stadt. Der Leiter dieser „Klitsche“, wie wir Studenten damals das winzige Seminar für katholische Theologie nannten, war seit 1956 Prof. Marcel Reding (aus Luxemburg), ein stiller, zurückhaltend-netter gebildeter Priester, der auch etwas Bengsch-kritisch war, aber nur hinter vorgehaltener Hand. Redings Lebenswerk war die Marx-Interpretation im Lichte des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin. Dann dozierte dort noch der Moral-Theologe und Jesuit Waldemar Molinski, mit dem sich heftige Debatten ergaben etwa über den Willen einiger Studenten, eine ökumenische, also eine gemeinsame katholisch-evangelische Studentengemeinde zu gründen. Diese ökumenische Initiative wurde unterdrückt. Ökumene war überhaupt nicht Bengschs Interesse. Er benutzte evangelische Kirchengebäude auf dem Lande, in Brandenburg, wenn denn kein „katholisches Gotteshaus“ zur Verfügung für die kleine Gemeinde. Aber das war es…
Eine katholische Akademie in West-Berlin, die diesen Namen verdiente, wie etwa die 1957 gegründete Katholische Akademie in München, gab es zu Bengschs Zeiten nicht. Das so genannte“ katholische Bildungswerk“ war ein Einmann-Betrieb mit Pfr. Fassbender, die Sendungen über Kirchen in der ARD Anstalt SFB wurden von Ordinariatsräten streng beobachtet und kritisiert. Demokratische Meinungsvielfalt war ein Horror für Bengsch, dies wollte er seinen Untertanen einbläuen. Prälat Klausener in West-Berlin hatte die Bengsch-Theologie völlig verinnerlicht: „Demokratie ist in der katholischen Kirche abzulehnen, vielmehr ist dem kirchlichen Amt Vertrauen und Gehorsam geboten“, zitiert der katholische Politologe Manfred Krämer in seiner Studie „Kirche kontra Demokratie?“ (München, 1973, S. 46). Dr. Manfred Krämer war ein geradezu leidenschaftlich kluger Vorkämpfer für eine moderne katholische Kirche auch in West-Berlin, aber ist mit seinem Engagement selbstverständlich gescheitert … und leider viel zu früh verstorben…

13. Mit Stasi-Methoden in der Kirche arbeiten
Dem SPIEGEL war es in Heft 26 des Jahres 1969 ein Bericht wert: Kardinal Bengsch folgte Stasi-ähnlichen Methoden und konnte deswegen einen theologisch gebildeten Kaplan in der West-Berliner Gemeinde St. Bernhard in Dahlem vertreiben. Konkret: Ein Bengsch-freundlicher Katholik hatte heimlich – wie die Stasi – die „theologisch-modernen“ Predigten von Kaplan Hebler mitgeschnitten und die Kassetten dem Kardinal bzw. seinen Prälaten zugeschickt. Sie hörten die Mitschnitte ab und … Kardinal Bengsch entfernte Kaplan Hebler aus der Gemeinde. Der SPIEGEL hat sogar den Tonband-affinen Katholiken genannt, es war ein gewisser Alfons Ryzlewicz. Er also förderte, sicher nicht allein, mit seinem orthodoxen Eifer die Absetzung Heblers … wieder einmal wegen „Häresieverdacht“. Der SPIEGEL berichtet: Hebler wurde ins Bischöfliche Ordinariat (West) zitiert, „wo er fünf Stunden lang auf Fragen einer fünfköpfigen Kommission antworten musste. Zwar tranken die geistlichen Herren dabei Tee mit dem Beschuldigten, doch diesem war angesichts der gegen ihn erhobenen Vorwürfe der »private Ton« eher lästig. Denn er wurde u.a. beschuldigt, er habe den Gottesdienst zum Ort des Protestes gemacht und »engagierte politische Erklärungen« in die Verkündigung gebracht usw… Tatsächlich wurde Hebler dann von Bengsch nach dem Rausschmiss aus der Gemeinde ein „Studienurlaub“ gewährt… Der bekannte, an der FU von moderaten Demokraten sehr geschätzte Katholik, der Politologe Prof. Alexander Schwan, sprach von Hebler als einem der wenigen, die „zu den erschreckend wenigen Predigern in Berlin gehörten, die … einem Großstädter die Verkündigung Jesu Christi heute noch nahezubringen und bedeutsam zu machen vermögen«. Viele Dahlemer Katholiken protestierten gegen die Entscheidung Bengschs und sandten dem Kardinal einen entsprechenden Brief, aber sie erhielten keine Antwort.
Bengsch und die „68 er Bewegung“
Interessant ist auch die Ignoranz Bengschs und der Prälaten in West-Berlin im Umfeld des Mai 68. Als der Studentenführer Rudi Dutschke am 11.4. 1968 am Kurfürsten Damm 141 Opfer eines Attentates wurde, das er nur schwerstkrank überlebte, berichtete das Petrusblatt recht knapp über „Osterzwischenfälle“ (dieser Titel erinnert an die Sprachregelung des „Neuen Deutschland“ der SED). Und weil einige Demonstranten auf dem Kurfürsten Damm ein Kreuz in der Hand hatten und es hoch hinaus wie eine Mahnung in die Öffentlichkeit streckten, schrieb Prälat Erich Klausener im „Petrusblatt“: „Junge Leute nehmen das Kreuz für sich in Anspruch. In ihrem Sendungsbewusstsein fühlen sie sich als Vollstrecker der Geschichte“. Das Kreuz, so der Prälat, gehöre in die Hände der Kirche, nicht der Aufständischen! Und der Prälat kritisierte dann die Demonstranten weiter, „weil sie einen moralischen Absolutheitsanspruch haben, der nur von wenigen erhoben wird“. Als einige katholische Studenten Flugblätter über den Mai 68 in der Sankt Canisius-Kirche (Charlottenburg) verteilten, wurden sie sofort rausgeworfen. Das Petrusblatt berichtete, dass der dort aufhaltende Erzbischof Bengsch ausdrücklich die Annahme dieses Flugblattes verweigert hätte, weil er sich ja auf die Feier des Pontifikal – Amtes in dieser Kirche vorbereiten musste…(In diesem Absatz zitiere ich aus meinem Beitrag in dem Buch “Zwischen Medellin und Paris. 1968 und die Theologie“, der Titel meines Beitrags: „Der Traum ist vorbei“. Edition Exodus, Luzern/Münster, 2009, S. 11-24).

14. Die Idee vom „unverkürzten Evangelium“
Alfred Bengsch, Bischof und dann auch Kardinal, liebte es, seine eigene überragende Rolle als einzig kompetenter Interpret der Lehre Jesu Christi zu definieren: „Ich will das unverkürzte Evangelium predigen“. Dabei predigte er immer sein auf katholisches Getto verkürztes Evangelium, ohne jeden Respekt für Pluralität auch in der Kirche, Meinungsfreiheit, intellektuelles Niveau. Bekanntlich gibt es im Neuen Testament schon theologische Pluralität….Bengsch aber war von seinem „unverkürzten Evangelium“ absolut und unerschütterlich überzeugt. 1966 fanden sich Westberliner Katholiken noch in der riesigen Deutschlandhalle und füllten geduldig den Raum. Da bezog sich Bengsch auf Kritik und Vorwürfe, die sich gegen sein Kirchenregiment wandten und er fuhr dann in der ihm eigenen Leidens-Mine fort: „Ich werde das alles eher ertragen, als dass ein einziger junger Mensch in meinem Bistum mir vorwerfen sollte, er wäre in die Irre gegangen, weil ich zu feige gewesen wäre, das unverkürzte Evangelium Gottes zu predigen“.
Tatsächlich hat sich, von außen betrachtet, Bengschs unverkürztes konservativ-rigides und nur auf innere Gefühle setzendes Evangelium nicht durchsetzen können. Ab 1968 begann der große kirchliche Abbruch, auch quantitativ gesehen, des West-Berliner Katholizismus. In Bengschs Sicht sind dann also doch viele „in die Irre gegangen“, weil sie schlicht und einfach aus der Kirche austraten. Und daran ist nicht nur irgendeine diffuse säkulare Mentalität „schuld“, wie Kirchenführer oft sagen, sondern auch das rigide Kirchenregiment des Berliner „Ober-Hirten“ und seiner Getreuen. Viele West-Berliner Katholiken haben sich aus der von Bengsch errichten katholischen Getto-Mauer befreit… und sind spirituell als freie Menschen eigene Wege gegangen.

15. Ein eigenes Bistum West-Berlin mit einem freien Bischof für eine freie Metropole.
Es wurde nie ernsthaft diskutiert, ob nicht doch ein eigenes Bistum West-Berlin letztlich für die betroffenen Katholiken hilfreicher gewesen wäre, weil sich dann eine eigene Form katholischen Lebens in einer demokratischen Stadt hätte entwickeln können. Bekanntlich hat die Evangelische Kirche in Berlin zwei Bischöfe gehabt, einen im Osten, einen im Westen. Dadurch konnten die Protestanten frei und auf die unterschiedlichen Verhältnisse unterschiedlich reagieren.
Aber die Fixierung auf die Einheit des Bistums Berlin war ein Wahn, weil, wie gesagt, Bengsch allein diese Einheit als Grenzgänger repräsentierte. Bengschs Nachfolger Bischof Joachim Meisner (bis 1989) war für West-Berliner auch alles andere als ein Lichtblick. Auch er herrschte in einer rigiden Herrschaft, ohne Sinn für theologische Pluralität und Meinungsfreiheit. Auch Meisner hat viele interessierte Katholiken West-Berlins aus dieser Kirche herausgeführt. Auch Meisner dachte in den undemokratischen Kategorien der DDR-Führung. LINK.

15. Gegen die „Schlipspriester“
Ich will mit einer kleinen persönlichen Erinnerung an Bischof Bengsch diese Hinweise beenden. Als Berliner Katholik habe ich als Jugendlicher diesen Berliner Bischof mehrfach erlebt. Eine Szene in einem Gemeindehaus werde ich nicht vergessen, als der Bischof an der Krawatte eines jungen Priesters zerrte und an dem Schlips hin – und herzog und dann brüllte: „Sie Schlips-Priester“. Ich hatte mich so gefreut, dass sich katholische Priester wie andere Männer ein bisschen „normal“ kleiden. Bengsch wollte auch die eindeutige klerikale Kleiderordnung. Und einmal saß ich in einer Runde des katholischen „Primanerforums“ (Leitung der Jesuit Pater Lachmund), da kam Bengsch kurz in den Raum, eilte von einem Jugendlichen zum anderen, schüttelte die Hände, fragte eigentlich desinteressiert kurz nach dem Namen und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinde… und verschwand. „Der ist aber gar nicht freundlich“, sagte ein Freund am Tisch. Ich konnte dem nur zustimmen.

16.
Bengsch war die falsche Person an diesem exponierten Platz Ost – und West – Berlin. Sein kardinaler Fehler: Er hat zusätzlich zur DDR-SED-Mauer noch katholische Mauern in beiden Teilen der Stadt gebaut, er war in dieser theologischen Enge und Angst-Besessenheit der offiziellen DDR/SED Mentalität nicht ganz unähnlich. Und er hatte geradezu Lust, Dissidenten zu verfolgen und zu bestrafen, und ließ, wie oben gezeigt, Stasi-Methoden in der Kirche zu. 

17.

Ratzinger ein Freund von Bengsch:

Der Theologe Joseph Ratzinger war mit dem konservativen Bischof und Kardinal Alfred Bengsch (Berlin) eng befreundet.
Ein kirchengeschichtlicher Hinweis von Christian Modehn am 9.1.2023.

Erzbischof Heiner Koch, Berlin, vermittelte am 9.1.2023 in der Johannes Basilika in Berlin – Kreuzberg Erkenntnisse besonderer Art: Sie zeigen, dass Joseph Ratzinger, Konzilstheologe, mit Erzbischof Alfred Bengsch lange Zeit schon vor dem Konzil eng freundlich verbunden war und mit ihm theologisch übereinstimmte. Bengsch war bekanntlich ein konservativer Gegner des Konzilsbeschlusses „Kirche in der Welt von heute“. Ratzinger war von 1968 bis 1977 Professor in Regensburg, in der bewussten Nähe des sehr konservativen Bischofs Rudolf Graber.

Erzbischof Koch sagte also am 9.1.2023:

„Um ein Haar wäre Joseph Ratzinger, unser verstorbener Papst emeritus Benedikt XVI., ein „Berliner“ geworden. Der Grund dafür war
– was zu-nächst paradox klingt – seine Ernennung zum Erzbischof
von München und Freising im Jahr 1977. Seit fast einem
Vierteljahrhundert war Ratzinger zu diesem Zeitpunkt bereits
persönlich, theologisch und geistlich eng mit Alfred Bengsch
verbunden, dem damaligen Bischof von Berlin. Vier Tage nach seiner
Ernennung durch Papst Paul VI. richtete Ratzinger an Bengsch einen
Brief, in dem er ihn zur Weihehandlung einlud. Aber zuvor legte er ein
Geständnis ab: „Einen Augenblick“ lang habe er nämlich, so schrieb
er, darüber nachgedacht, ihn, den Berliner Kardinal, zu bitten, dass er
ihm das Weihesakrament spende. Seine Begründung ist das
Bekenntnis einer tiefen Freundschaft: Es sei, so Ratzinger, „in allen
Wandlungen der Zeit“ zwischen ihnen beiden „die innere Nähe des
Denkens und des Wollens“ geblieben, die schon von ihren ersten
Begegnungen an der Münchener Universität an bestand. Für
Ratzinger rührte diese Nähe „von der gemeinsamen Berufung und
dem sie tragenden Glauben her.“

Quelle: stefan.foerner@erzbistumberlin.de Nachricht vom 9.1.2023.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

“Eigentum ist Diebstahl“ (Proudhon, 1809 – 1865)

Über den Philosophen Pierre-Joseph Proudhon
Von Christian Modehn, im August 2021.

Ein Motto eines Kirchenlehrers, des Hl. Johannes Chrysostomos: “Den Armen nicht einen Teil der eigenen Güter zu geben bedeutet: Von den Armen zu stehlen. Es bedeutet: Sie ihres Leben zu berauben. Und: Was wir besitzen, gehört nicht uns,  sondern ihnen”.

Das Zitat findet sich auch im Schreiben (“Enzyklika”) von Papst  Franziskus “Fratelli Tutti” (aus dem Jahr 2020), mit dem Titel: “Über die Geschwiserlichkeit und die die soziale Freundschaft”. (Dort die Nr. 119, zu Johannes Chrysostomos: De Lazaro Concio, II, 6: PG 48, 992D.) Wegen seines radikalen Eintretens für die Rechte der Armen wurde Bischof Johannes Chrysostomos (344-407) von den reichen Christen gehasst und verfolgt…

Das aktuelle Thema:
Das Thema „Eigentum ist Diebstahl“ hat, wie alle wissen, eine aktuelle Bedeutung. Es geht z.B. um das Monopol einiger Pharmakonzerne, etwa der Corona-Impfstoff-Hersteller Pfizer und Moderna. Deren Jahresumsatz 2021 wird auf 50 Milliarden Dollar geschätzt. Die Konzerne haben den Preis trotz aller Gewinne für eine Dosis erhöht, Moderna von 19 Euro auf 21,60 Euro, Pfizer von 15,50 auf 19,50 Euro. Die demokratischen Regierungen der reichen Länder nehmen das gelassen hin. Die armen Länder gehen leer aus, so verbreitet sich dort das Virus – auch mit neuen Varianten, die dann auch die reichen Länder der Reichen erreichen…
Jetzt sind wir beim Thema: “Eigentum ist Diebstahl“. Die Hersteller der Impfstoffe beharren absolut auf den Patenten ihrer Impfstoffe, sie wollen deswegen unerhörten Gewinn weiterhin machen, schützen also ihr so genanntes geistiges Eigentum. Dabei ist die Impfstoff-Forschung auch von der Allgemeinheit, auch von Steuergeldern, bezahlt worden.
Aber das Eigentum, den Profit, maßen sich die Aktionäre an, es allein genießen zu dürfen. Denn in der kapitalistischen „Ordnung“ ist Eigentum, auch so genanntes geistiges Eigentum, absolut heilig. Sogar die Regierung eines ultra-kapitalistischen Landes, die USA, plädieren nun für die Freigabe dieses so genannten geistigen Eigentums „Impfstoff“. Die US-Regierung wünscht, dass die Armen in den armen Ländern doch ein bisschen mehr Impfstoff abbekommen. Anlagen für die Produktion von Impfstoffen könnten – wie schon in Deutschland, siehe Biontech in Marburg – auch in armen Ländern in kurzer Zeit gebaut werden.

Zu Pierre-Joseph Proudhon:

Interessant ist in dem Zusammenhang das Studium des äußerst umfangreichen Werkes Pierre – Joseph Proudhons (geboren 1809 in Besancon, gestorben 1865 in Paris), es ist inspirierend aus politischen, ökonomischen und religionskritischen Gründen. Neben Babeuf ist Proudhon wohl der einzige Begründer eines Sozialismus, der als Autodidakt handwerklichen und bäuerlichen Kreisen entstammt.
Wichtiger aber ist: Proudhon ist einer der ersten Denker des 19. Jahrhunderts, der die absolute Gültigkeit des Privateigentums (etwa vertreten durch John Locke im Jahrhundert) kritisiert hat und ablehnt und Alternativen zeigt, die in die Richtung der heute diskutierten COMMONS gehen.

1.
Der französische Philosoph und Ökonom Pierre-Joseph Proudhon (1809 – 1865) ist meist nur wegen seiner These „Eigentum ist Diebstahl“ bekannt. Diese von ihm inhaltlich begründete Erkenntnis wird wie ein Slogan benutzt und nicht in den Kontext des Denkens von Proudhon gestellt. So wird diese Erkenntnis wie eine Waffe gegen ihn verwendet von fanatischen (meist religiösen, meist chriostlichen) Verteidigern „des“ „heiligen“ Eigentums.
Das Zitat „Eigentum ist Diebstahl“ wurde in Proudhons Schrift „Was ist Eigentum?“ im Jahr 1840 veröffentlicht.

2.
Dass die Auseinandersetzung mit der These „Eigentum ist Diebstahl“ aktuell ist, muss nicht erklärt werden.

Auch heute ist die Vorstellung von der Unantastbarkeit, wenn nicht der „Heiligkeit“ des Privateigentums in der kapitalistischen Welt allgemeines Dogma: Weil alles der Logik des Marktes unterworfen werden darf, ist alles für Privatleute wie für international agierende „Firmen“ käuflich und damit in Privat – Eigentum verwandelbar: Gesundheit, Arbeit, Wohnen, Wasser, Wald, also auch die der Menschheit als Menschheit gegebene Natur im ganzen.

Einige tausend Menschen wurden und werden bei dieser totalen Käuflichkeit von allem zu erfolgreichen Eigentümern und zu Dollar Milliardären. Diese auf die Weltbevölkerung bezogen verschwindend kleine Minderheit (abgesehen von den hunderttausenden von Dollar Millionären) verfügt in vielen Ländern schon weit über die Hälfte des gesamten Einkommens. Das hat „Financial Times“ berichtet, die ZEIT zitiert: „So ist die Anzahl der Superreichen im Pandemiejahr von 2.000 auf 2.700 weltweit gestiegen. Eines der schillerndsten Beispiele ist der Tesla-Gründer Elon Musk, der 2020 sein persönliches Vermögen von 25 Milliarden auf 150 Milliarden Dollar gesteigert hat. Aber er ist keine Ausnahme. Es gibt mit Amancio Ortega in Spanien (Inditex-Modekonzern), Carlos Slim in Mexiko (Telekommunikation) oder Bernard Arnault in Frankreich (Luxusmode) sogar einzelne Personen, deren individuelle Vermögen mehr als fünf Prozent der Wirtschaftsleistung ihres eigenen Landes ausmachen. Und in Deutschland: So zeigen die Berechnungen der Financial Times, dass die Zahl der Milliardärinnen und Milliardäre hierzulande um 29 auf 136 Personen gestiegen ist. Deren Vermögen sind im Jahr 2020 um mehr als 100 Milliarden Euro oder drei Prozent der Wirtschaftsleistung Deutschlands angewachsen. (Die Zeit, 20.5.2021). Nebenbei: Der mexikanische Milliardär Slim ist ein enger Freund des katholischen Ordens der “Legionäre Christi”, der seinerseits über viele Millionen Dollar Eigentum verfügt…und einen nun auch päpstlich anerkannten Verbrecher als Ordensgründer hat, den Sexualverbrecher Pater Marcial Maciel.

3.
In einer Welt, die die universal geltenden Menschenrechte wenigstens noch verbal in einigen Staaten anerkennt und faktisch wohl auch manchmal noch durchsetzen möchte, muss die ungleiche Verteilung des Eigentums debattiert und, im Falle von monströs großem Eigentum,  auch aufgehoben werden. Heilig ist nicht das Milliardeneigentum einzelner, sondern einzig das voll entfaltete Leben aller Menschen. Diese Erkenntnis ist ethisch korrekt und wahr, sie wird leider eher selten ausgesprochen und debattiert, etwa in Zeiten des Wahlkampfes 2021 gar nicht. Selbst sich noch links nennende Parteien haben Angst vor politisch wirksamer „Milliardärs-Kritik“.

4.
Diese Angst hatte der Philosoph Proudhon nicht. Eigentum, begrenzt für den persönlichen Gebrauch in der Gestaltung des eigenen Alltags, ist für Proudhon selbstverständlich legitim, zur Entfaltung der einzelnen Menschen kann darauf gar nicht verzichtet werden. Eigentum an Produktionsmitteln ist etwas anderes als Besitz von Dingen des täglichen Bedarfs. Jeder Mensch braucht zum Leben Besitz, Dinge, die den Alltag und die Lebensgestaltung ermöglichen.
Aber dann fährt Proudhon fort: Maßlos ist das Eigentum einzelner Millionäre, es kann nur zustande gekommen sein als „Diebstahl“, wie Proudhon ausführt, also durch Ausbeutung vieler anderer.

Es geht darum: Aus dem Eigentum an Produktionsmitteln maßlosen Profit zu machen, aktuell: ohne für diesen Gewinn bestenfalls nur einen Finger am Computer-Bildschirm krumm zu machen, also ohne persönlich zu arbeiten… dies ist für Proudhon aus ethischen und politischen Gründen verwerflich und zu überwinden. Werte und Eigentum werden nur durch Arbeit geschaffen. Das gilt für alle Menschen: „Dieses Eigentum ist unmöglich, weil es die Verneinung der Gleichheit ist“, betont Proudhon. Der gierige „homo oeconomicus“ (also der ganz aufs Ökonomische und den Profit fixierte Mensch) ist ein „Zerrbild der Menschlichkeit, ebenso wie eine Eigentumsmarktgesellschaft, deren öffentliche Räume zerfallen“ (so der Philosoph Helmut Rittstieg, Artikel „Eigentum“, in: Enzylopädie Philosophie, Band I, S.453).

Man könnte von einem Einkommen ohne Arbeit, also einem „arbeitslosen Einkommen“, sprechen. “Der Eigentümer erntet, ohne zu säen”, betont Proudhon. Und dieser Geld-Gewinn ist nur möglich, weil andere Menschen von dem Eigentümer ausgebeutet werden.

5.
Proudhon lässt sich in seiner Kritik am Eigentum von der grundlegenden Idee der universalen Gerechtigkeit leiten, Gerechtigkeit steht im Mittelpunkt seiner Argumente ! Sogar der katholische Theologe Henri de Lubac hat sich in seiner Studie „Proudhon et le christianisme“ (Paris 1945) mit dieser zentralsten Idee Proudhons befasst: „Er war nicht weit davon entfernt, die Gerechtigkeit wie ein sakrales Erlebnis zu deuten und die Gerechtigkeit zu lieben wie eine Person“. Proudhon sagt: „Wir, die wir eine dem Menschen eingegebene, „immanente“ Moral zusprechen, wir, die wir wollen, dass Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen, wir sind überhaupt keine Atheisten. Wir setzen die Gottheit nur um“ (Carnets, II, 178). D. h.: Wir setzen also an die Stelle des kirchlichen Gottes die Gerechtigkeit.

Und schon in seiner Schrift „Was ist Eigentum“, betont er: “Gerechtigkeit als „Gott“, nichts als Gerechtigkeit, das ist das Resumé meines Vortrags“. Dabei spielt die religiöse Überzeugung eine entscheidende Rolle: Proudhon kannte die katholische Kirche und die Theologie seiner Zeit sehr genau. Aufgrund seiner Tätigkeit, schon als Schriftsetzer las er Theologen wie Boussuet, Calmet, Fenelon und andere. Die Bibel in lateinischer Sprache hat er stets bei sich gehabt. Auch das Wörterbuch von Bergier („Dictionnaire théologique de Bergier“) wurde von ihm gelesen. Aber den kirchlichen Glauben an Gott im Jenseits hat Proudhon entschieden abgelehnt, die Kirche erschien als ideologische Stütze der bourgeoisen Eigentums-Fixierung. Aber er lobt die Gestalt Jesu, ist angetan von Jesu Geist der Revolte gegen allen Dogmatismus. Darin eröffnet er eine Tradition religionskritischer Denker, die Jesus von Nazareth aus dem dogmatischen Korsett der Kirche befreien und als ein Vorbild preisen, wie auch später Nietzsche, Agamben usw.
Proudhon betont: “Religion ist für den Menschen, nicht aber der Mensch für die Religion (Kirche) geschaffen“. Sein bedeutendstes Werk heißt “De la Justice dans la Révolution et dans l’Eglise” (1858; „Die Gerechtigkeit in der Revolution und in der Kirche“). Es wurde von den reaktionären, herrschenden Kreisen als antiklerikales Buch wahrgenommen, Proudhon musste nach Belgien fliehen.

6.
Ob man Proudhon „Atheist“ nennen sollte, ist fraglich, eher würde das Stichwort „radikaler Agnostiker“ und“ Kirchen-Feind“ passen. Denn vom Phänomen des Religiösen kommt er bei aller Fraglichkeit nicht los. Er meine sogar, jede Kirche könnte ein Fragment der einen universalen Religion enthalten. Es ist nicht erstaunlich, dass Proudhon sich in einer Freimaurer Loge wohlfühlen wollte, 1847 wurde er in der Loge der „Sincérité, Parfaite Union et Constante Amitié, Orient de Besançon“ aufgenommen.

7.
Wenn Eigentum unter dem Maßstab universaler Gerechtigkeit steht, muss also das Eigentum verteilt werden. Das Eigentum an Grund und Boden muss in der Verfügung der staatlichen Gemeinden bleiben, die den Grund und Boden befristet den Pächtern übergeben.
Proudhon hat als Ziel seiner Kritik alles andere als den Kommunismus (marxistischer Prägung) vor Augen: Wenn im Kapitalismus die wenigen Starken mit ihrem Eigentum die vielen Schwachen ausbeuten, so dreht sich im Kommunismus das Ganze bloß um: „Der Kommunismus ist die Ausbeutung der wenigen Starken (Enteignungen) durch die vielen Schwachen (unter Führung einer zentralistischen Partei)“. Deswegen kam es auch 1847 nach ersten Anzeichen von Sympathie von Karl Marx für Proudhon zu einem Zerwürfnis zwischen beiden. Proudhon wird also eher der „anarchistischen“ Tradition zugerechnet. Im Russland des 19. Jahrhunderts spielte er eine inspirierende Rolle, etwa bei Tolstoi oder Dostojewski (siehe Fußnote 1) Bakunin war den Ideen Proudhons eng verbunden. Proudhon wird zurecht der „anarchistischen Bewegung“ zugerechnet, weil er die staatliche Herrschaft und Macht durch ein vertraglich festgelegtes Netzwerk gesellschaftlicher Organisationen ersetzen wollte.

8.
Proudhon setzt im Unterschied zu den Marxisten-Kommunisten auf radikale Reformen, und dabei suchte er nach alternativen Konzepten. Der die Produktionsmittel Besitzende soll dann nur über so viel verfügen dürfen, wie er selbst für sich bzw. seine Familie braucht. Viele dieser nur noch besitzenden Produzenten sollen dann im Austausch miteinander arbeiten; sie sind nicht einander Konkurrenten oder gar Feinde. Der Gedanke der wechselseitigen, gegenseitigen Hilfe („Mutuellisme“) ohne eine allmächtige Zentralregierung war für Proudhon zentral. Von der Diktatur einer Klasse, etwa der Proletarier, hielt er gar nichts. Er wollte das System, in dem sich der Eigentümer von der Arbeit fremder Arbeiter bereichert, unterbrechen und abbrechen. 1849 gründete Proudhon eine „Banque Populaire“, also eine „Volksbank“, sie sollte zinslose Kredite an Arbeiter gewähren. 1848 wurde Proudhon als Sozialist in die Nationalversammlung gewählt. Als Kritiker Napoléon Bonapartes musste Proudhon viele Jahre im Gefängnis verbringen.

9.
Proudhon hat also in der politischen Debatte und der Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus eine gewisse Rolle gespielt. Für religionsphilosophisch Interessierte lohnt sich die Auseinandersetzung mit seiner Beziehung zur katholischen Kirche seit der Kindheit, und vor allem zu seiner religiös geprägten Vorstellung von Gerechtigkeit und Gleichheit.

Zu diesen und anderen zentralen Ideen Proudhons hat die „Société P.-J.Proudhon“ in F- 72320 Courgenard hervorragende Studien als PDF-Dateien gratis zur Verfügung gestellt. (https://www.proudhon.net/)

10.
Es wäre eine weitere Arbeit zu zeigen, wie die von Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten angestoßenen Debatten über das Privateigentum auch gewisse sanfte lehramtliche Veränderungen in der katholischen Kirche bewirkt haben. Da wird gelegentlich das Gemeinwohl über das Recht auf Privateigentum gestellt, so im § 2403 des offiziellen katholischen Katechismus von 1993. Im § 2406 heißt es noch sehr allgemein und vorsichtig: „Die staatliche Gewalt hat das Recht und die Pflicht, zugunsten des Gemeinwohls die rechtmäßige Ausübung des Eigentumsrechtes zu regeln“… Wohlgemerkt: Es geht um rechtmäßige Ausübung, nicht um gerechte Ausübung des Eigentumsrechtes!

Man bedenke, dass in dem noch bis ca. 1960 üblichen Handbuch katholische Moraltheologie“ von Heribert Jone (15. Auflage 1953) unter Verweis auf das Naturrecht der „gemeinsame (!) Besitz der irdischen Glücksgüter viele Unzuträglichkeiten“ nach sich ziehen würde (S. 204). Und weiter heißt es dann: „Demnach sind die Lehren …der Sozialisten und Kommunisten falsch“. Aber immerhin: „Nur in äußerster Not darf sich jedermann etwas von den Gütern des anderen aneignen“! (ebd.). Dies gilt nur in „äußerster Not“, nicht etwa allgemein schon in schwerer Not“, wie in § 331 betont wird….Jedoch: “Güter von geringem Wert aber dürfe sich ein Armer aneignen, wenn er sich so leicht aus schwerer Not erretten könnte und auf Bitten nichts erhalten würde“. Wenn aber sehr viele Arme sich Güter aneignen, dann könnte ja vielleicht eine kleine Revolution passieren oder? Daran denkt der Autor, der Kapuzinerpater Jone, nicht…
Es gibt darüber hinaus noch reaktionäre katholische Kreise, die sich unter dem Titel der internationalen „Bewegung für Tradition, Familie, Privateigentum“ zusammenfinden. Diese Bewegung wurde von dem Brasilianer Plinio Correa de Oliveira begründet, sie hat in Deutschland ihre Zentrale in Bad Homburg (Leitung: Martin von Gersdorff). LINK in dem Beitrag „Das reaktionäre Christentum der AFD… dort das 5. Kapitel.

Von anderer Seite kann man sich dem Thema Eigentum nähern: Über die Bedeutung des Verzichtens als Tugend, LINK

Fußnote 1:
Zur Beziehung Tolstois zu Proudhon:
Schon 1857 las Tolstoi Werke Proudhons, wahrscheinlich “Was ist Eigentum”. Die Notizen Tolstois aus der damaligen Zeit beweisen einen Einfluß Proudhons auf Tolstoi.

„Anfang 1862 wich Tolstoi auf einer Reise nach Westeuropa von seiner geplanten Route ab, um in Brüssel Proudhon zu besuchen. Sie sprachen über Erziehung – womit er sich damals sehr beschäftigte -, und Tolstoi erinnerte sich später, dass Proudhon “der einzige Mensch war, der in unserer Zeit die Bedeutung des öffentlichen Erziehungswesens und der Presse verstand”. Sie unterhielten sich auch über Proudhons Buch „La guerre et la paix“ , „Der Krieg und der Frieden“, das bei Tolstois Besuch kurz vor der Vollendung stand; es besteht wenig Zweifel, dass Tolstoi wesentlich mehr als nur den Titel seines größten Romans von dieser Abhandlung übernahm, in der argumentiert wird, dass die Entstehung und die Entwicklung des Krieges eher in der Psyche der Gesellschaft zu suchen seien als in den Entscheidungen politischer und militärischer Führer“.
Quelle: https://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/leo-tolstoi/8124-george-woodcock-leo-tolstoi-ein-gewaltfreier-anarchist

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die 7. „unerhörte Frage“: Haben politische Einsichten eines Philosophen des 17. Jahrhunderts eine aktuelle Bedeutung?

Das Motto von Francis Bacon: „Aberglaube (und Verschwörungstheorien) sind verheerend für den Staat“.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Was bedeutet „unerhört“?
„Unerhört“ werden außerordentliche Themen genannt.
Als „unerhört“ gilt, wenn ein wahres Wort, ein vernünftiger Vorschlag, von anderen nicht gehört und nicht wahr-genommen wird, also un-erhört bleibt. Unerhörte Fragen müssen entfaltet , beschrieben werden, um ihre provokative Kraft zu bezeugen.

1.
„Der Aberglaube bringt Verstand, Philosophie, natürliches Gefühl, Recht und Achtung auf den guten Namen zum Schweigen“. Dadurch verhindert der Aberglaube ein menschenwürdiges Leben. „Aberglaube beherrscht dann allein und unumschränkt die menschlichen Gemüter“. Der Philosoph Francis Bacon, (1561-1626), bekannt vor allem als Philosoph der Natur und der Empirie, hat vor den Verirrungen des Aberglaubens gewarnt, den er, aus seiner Sicht damals, als viel verhängnisvoller deutete für das menschliche Zusammenleben als den Atheismus.
2.
Unter Aberglauben verstand Bacon vor allem einen wahnhaften religiösen Glauben, aber auch verrückte Ideologien, die man heute Verschwörungstheorien nennt. Im 15. seiner „Essays“ (von 1625) spricht er über „Aufstände und öffentliche Unruhen“, dabei betont er, dass „Schmähschriften und zügellose Reden“ sowie „Gerüchte“ zu den öffentlichen Unruhen führen“, also in seiner Sicht zum Chaos (in: Essays, Leipzig, 1979, S. 55). Gerüchte als Verschwörungstheorien deutet bereits der römische Dichter Vergil (70 vor Chr. -19 nach Chr.) als „Vorläufer kommender Aufstände“, betont Bacon. „Aufrührerische Tumulte und aufrührerische Gerüchte lassen sich gar nicht unterscheiden“. (S.56).
Erstaunlicherweise empfiehlt Bacon nicht eine „allzu strenge Unterdrückung“ der Gerüchte; er wehrt sich gegen allzu häufiges Agieren, die das Ziel hat, den inneren sozialen Frieden zu bewahren. Bacon meint hingegen, wenn man sich zu intensiv um die Unterdrückung der Gerüchte bemüht, „sind diese Gerüchte von erstaunlich langer Lebensdauer“ (S. 56).
In die Gegenwart übersetzt: Das allzu häufige Sprechen, zum Beispiel über die AFD, die Reichsbürger etc. stärkt wohl eher noch das „Ansehen“ dieser rechtsextremen Kreise. Die AFD ist eine Partei, für die sich nur ca. 10 Prozent der Wähler entscheiden, da ist übermäßiges Reden mit denen nicht so hilfreich, was aber auch nicht heißt, dass Fakten freigelegt werden müssen.
3.
Bacon nennt Beispiele übler Verschwörungstheorien, er erinnert etwa an den berühmten Religionsphilosophen Plutarch, (45 – 125 n. Chr.) Von ihm behaupteten Verschwörungstheoretiker damals, er verzehre seine Kinder gleich nach der Geburt. (Francis Bacon, Essays, Leipzig, 1979, S. 70). Nebenbei: Plutarch hat eine Studie über den Aberglauben veröffentlicht…
Interessant ist, dass Francis Bacon neben anderen eine Ursache für den Aberglauben (und Verschwörungstheorien) nennt: “Es sind schließlich barbarische, namentlich mit Elend und Ungemacht verbundene Zeitalter“ (Ebd., S .71).
Und man glaubt förmlich Verbindungen zur Gegenwart der verbrecherischen Verschwörungstheorien (und der entsprechenden Praktiken!) zu lesen, wenn Bacon schreibt: „Der Aberglaube (auch die Verschwörungstheorien) hat den Sturz manches Staates herbeigeführt, weil er eine neue Urkraft darstellt, die verheerend den ganzen Staatskörper überfällt. Beim Aberglauben gibt das Volk den Ton an, und in diesem Punkte folgen Weise den Toren nach, und in verkehrter Reihenfolge passen sich die Vernunftgründe hinterher der Praxis an“ (Ebd. S.70).
4.
In dem leider nicht vollendeten Essay „Über Gerüchte“ (S. 244ff.) schreibt er: „Jedenfalls ist nicht zu leugnen, dass Rebellen und aufrührerische Gerüchte und Schmähreden zueinander gehören wie Brüder und Schwestern“ (S. 244). „Das Gerücht verfügt über eine solche Macht, dass kaum eine bedeutende Handlung vor sich geht, woran es nicht einen großen Anteil hat, zumal im Kriege“ (S. 245)
5.
Bacon war zu seiner Zeit sicher ein getreuer Anhänger des Absolutismus, seine Warnungen vor Aberglauben, Verschwörungstheorien und Gerüchten müssen in dem Zusammenhang gesehen werden. Aber er „lehnt jede königliche Diktatur und Tyrannei ab. Auch der König sei dem Ganzen verpflichtet und dürfe nicht das Gleichgewicht im Staate durch willkürliche Maßnahmen stören“ (S. 261, in dem Beitrag von Walter Apelt). Für Bacon gibt es also keine fürstliche „Allgewalt“.
6.
Weil Bacon eine universale humane Ordnung vor Augen hatte, sind seine Warnungen vor der Macht des Aberglaubens, der Gerüchte und Verschwörungstheorien durchaus auch heute ernst zu nehmen.

Die „Essays“ von Francis Bacon gibt es in deutscher Sprache in unterschiedlichen Verlagen.Ich zitiere nach der vollständigen Ausgabe der „Dietrichschen Verlagsbuchhandlung“ in Leipzig, 4. Aufl., 1979, das Buch, in feiner Ausstattung, gebunden, 284 Seiten, hatte den erstaunlichen Preis von 6,15 DDR-Mark.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin