Auferstehung? Zu einem neuen Buch des Theologen Hans Kessler.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Die Überzeugung von der Auferstehung Jesu von Nazareth ist umstritten, ungewöhnlich, sie sprengt Grenzen des Verstandes. Für einige ist sie berauschend, für andere lächerlich. Immer aber wird zur Auferstehung Jesu von Nazareth dann doch sprachlich Stellung genommen, also mit dem Anspruch zu argumentieren. Es gibt auch Versuche der kritischen Vernunft, für die Möglichkeit der Auferstehung zu plädieren. Diese Versuche verdienen genauso viel Aufmerksamkeit wie manchmal übereilt erscheinende Abweisungen.

1,
Der katholische Theologe Hans Kessler (Prof. em. für systematische Theologie an der Uni in Frankfurt/M.) publiziert seit vielen Jahren zu einem ziemlich wichtigen Thema, bei dem es um den Umgang mit Leben und Tod und dem „Danach“ geht, also zur Auferstehung Jesu von Nazareth bzw. zum Thema Ostern in den christlichen Kirchen. Vor allem seine umfangreiche Studie „Sucht den Lebenden nicht bei den Toten“, zuerst 1985 erschienen, dann später sehr stark erweitert, hat ihn als katholischen „Auferstehungs-Spezialisten“ in Deutschland bekannt gemacht. Kessler versucht, das umstrittene, heftig debattierte Thema Auferstehung argumentativ zu erschließen. Also nicht, wie oft in Predigten üblich, die Worte aus den Evangelien bloß zu wiederholen oder in frommem Jubel zu rezitieren. Kessler nennt Gründe, warum die Überzeugung von der Auferstehung Jesu und der Auferstehung der Menschen vernünftig plausibel sein kann. Wer mathematische Beweise in Philosophien und Religionen verlangt, ist sowieso falsch beraten… Kessler zeigt zudem, dass dieser Glaube eine Lebensdeutung, eine Art Lebensphilosophie sein kann, die selbstverständlich im Sinne der Auferstehung als „politischer Aufstand für die Gerechtigkeit“ auch politische Dimensionen hat. Darum werden auch die bekannten Gedichte von Kurt Marti und Marie Luis Kaschnitz gewürdigt.
Das neue Buch ist also zu empfehlen, als Einstieg zum Thema.
2.
Das vom Umfang her eher knappe Buch (170 Seiten eigener Text, 26 Seiten Quellenangaben!) hat den Titel: „Auferstehung?“ (mit Fragezeichen), das ist wichtig, um die Offenheit der Reflexionen gleich zu Beginn anzudeuten! Der Untertitel ist: „Der Weg Jesu, das Kreuz und der Osterglaube“. So wird von vornherein betont: Die Auferstehung Jesu kann überhaupt nur im Zusammengang seines ganzen Lebens und dann seiner Verurteilung und seines Sterbens verstanden werden. Denn um ein vernünftiges Verstehen geht es ja.
3.
Das Buch präsentiert sich systematisch, und darin zeigt sich es fast als kleines gut zugängliches „Lehrbuch“, auch für Studenten und Arbeitskreise geeignet. Es beginnt also mit Erläuterungen zu den unterschiedlichen Quellen zum Leben Jesu von Nazareth, das Buch betont Jesu „Schlüsselerfahrung und Grund-Botschaft“. Dann folgen längere Erklärungen zu den Gründen für Jesu Verurteilung und Kreuzigung. Sehr deutlich sagt Kessler, dass sich Jesus durch sein ungewöhnliches Leben und seine Botschaft „in Gegensatz zu maßgeblichen Kreisen seines Volkes“ stellte (40). Und: „Jesus geriet in Gegensatz zur geltenden Doktrin und ihren Hütern“ (ebd). Man dürfte dann konsequenterweise beschreibend und nicht bewertend sagen: „Jesus der Jude ist in gewisser Weise aus der herrschenden Theologie seines Volkes herausgewachsen“. (Das ist meine Hypothese, C.M.)
4.
Mit Nachdruck weist Kessler darauf hin: Die  Oster-Erzählungen der vier Evangelisten sind sehr reichhaltig ausgeschmückte und phantasievolle Predigten, sie sind selbstverständlich absolut KEINE historischen Berichte. Wer sie als Tatsachenberichte liest und so noch heute mit einzelnen Sätzen zitiert, irrt gewaltig! Und fördert eher die religiöse Naivität, wenn nicht Dummheit. Hingegen muss beachtet werden: Kurze Sätze, Bekenntnisse, die von der Auferweckung Jesu sprechen, gibt es schon sehr früh mündlich überliefert, dann vor allem in vielen Paulus-Briefen, etwa schon im Jahre 50 im 1. Brief an die Thessalonicher: 1. Thess 1, 10, auch 4,14 usw.
Die Auferstehung Jesu als Ereignis im Bewusstsein der Jünger Jesu hat selbstverständlich kein präzises Datum. Leider, das gibt Kessler zu, haben viele „wunderschöne“ Gemälde großer Künstler das direkte, materiell greifbare Auferstehungsgeschehen übertrieben viel zu sachlich sachlich – drastisch geschildert, wie etwa Caravaggios bekanntes Gemälde vom „Ungläubigen Thomas“ von 1601: Thomas greift förmlich, von Jesu unterstützt, in dessen Seitenwunde der Kreuzigung. Kessler hält dieses „künstlerisch großartige Gemälde“ aber theologisch für irreführend und missverständlich (95). Solche Bilder, naiv interpretiert, haben den Glauben an das geistige Auferstehungsgeschehen als Bewusstseinsgeschehen eher gestört, wenn nicht ins Infantile geschoben. Die so genannte christliche, eigentlich „katholische Kunst“ des überschwänglichen Barocks hat meiner Meinung nach den Glauben oft verfälscht, man denke auch an die vielen maßlosen Mariendarstellungen oder an den „Gott Vater“ als alten Mann mit Bart. Man versteht in dem Zusammenhang vielleicht die Abwehr reformierter Christen gegenüber „religiöser Kunst“.
5.
Das ist zentral also in den Erfahrungen der Jünger und FreundInnen Jesu: Sie erlebten nach Jesu Tod einmal mehr, aus welcher spirituellen Mitte Jesus lebte: Es ist „seine ureigene Gotteserfahrung“ (49), seine Gottunmittelbarkeit. So wird er als „der Gott ganz entsprechende Mensch“ erlebt.Diese Erinnerung ist dann prägend und bestimmend.
6.
Damit sind wir bei dem, was Auferstehung Jesu genannt wird. Die Jünger erinnern sich nach Jesu Tod (um das Jahr 30) weiter an diesen ungewöhnlichen Menschen, „der ganz Gott entsprach“. Dieser gottverbundene Mensch mit seiner Botschaft von der Herrschaft Gottes, kann nicht im Tod versinken. Denn in ihm „lebt Gott“. Die Jünger „produzieren“ also in gewisser Weise den Glauben an die Auferstehung, wie es der Bibelwissenschaftler Ulrich B. Müller in seinen Studien zeigt. Aber, und das wird leider meines Erachtens nicht deutlich gesagt: Dieses menschliche „Produzieren“ der Auferstehung ist dialektisch gesehen ZUGLEICH ein Werk des göttlichen Geistes, der ja auch in den „produzierenden“ Menschen lebt, zu dem sie frei Stellung nehmen können.
7.
Der im Bewusstsein der Gemeinde lebendige, auferstandene Jesus kann also durchaus als menschliche Leiche im Grab liegen. Wo sollte auch ein Leichnam hin? Und wenn Jesu leibhaftig wieder da wäre als der „Alte“, dann müsste er ja erneut irgendwo sterben, dann beginnt die Frage der Auferstehung von neuem… Die Frage, was aus dem Grab Jesu „eigentlich“ dann wurde, interessiert die Gemeinde derer, die an die Auferstehung glauben nicht mehr. Erst später, im 4.Jahrhundert, wurde der Kult um Jesu Grab inszeniert, im Rahmen des Wallfahrtswesens.
Hans Kessler betont darum wie in früheren Publikationen schon eigentlich die Selbstverständlichkeit: Nach damaliger auch schon jüdischer und dann christlicher Auffassung musste das Grab nicht leer sein“ (87).“Das leere Grab ist kein notwendiger Bestandteil des christlichen Auferstehungsglaubens“ (ebd.)
8.
Die Auferstehung verstehen – das ist für einige vielleicht doch noch ein zentrales Thema zu Ostern! Dies erfordert einen anspruchsvollen Prozess des Nachdenkens und Forschens, der Befreiung von der üblichen immer noch praktizierten infantilen Bibellektüre. Also die Korrektur so schön überlieferter, aber banaler Denk-Bilder. Sehr schön zeigt Kessel auch in philosophischen Reflexionen, etwa mit Verweis auf Boethius, was eigentlich der Begriff „Ewigkeit“ bzw. „ewiges Leben“ bedeutet, der ja entscheidend ist für ein christliches Verstehen der Auferstehung aller Menschen: Denn das ist ja die Bedeutung der Auferstehung Jesu: Alle Menschen sind als „Geschöpfe Gottes“ zur Auferstehung als Todesüberwindung berufen und befähigt. „Ewiges Leben könnte, vorsichtig formuliert, darin bestehen, dass endliche vergängliche Geschöpfe an Gottes unvergänglicher (ewiger) Lebendigkeit Anteil bekommen“ (159). Man beachte also immer wieder: Jesu Auferstehung zeigt die grundsätzliche Auferstehung (als „Übergang“ in Gottes Ewigkeit) ALLER Menschen. Das ist förmlich der Sinn von Jesu Auferstehung: Zeigen, dass alle Menschen auferstehen.
9.
Gerade an der Stelle hätte ich mir eine Ausbreitung dieses Gedankens gewünscht: Wenn von Gott oder dem schöpferischen göttlichen Prinzip die Rede ist: Dann muss auch davon gesprochen werden, dass dieser allseits schöpferische Gott (und als Gott der Ewige) Welt und Menschen „erschaffen“ hat (in einer evolutiven Entwicklung). Und dass dann aber dieser schöpferische Gott als göttlicher Geist IN der Welt und IN den Menschen immer schon anwesend ist. Eine von Gott dem Schöpfer getrennt bestehende Welt der Menschen ist undenkbar, wenn man an dem Gottesbegriff festhalten will.
Das bedeutet: Nur weil der ewige Gott als Geist (Seele) in jedem Menschen ist, natürlich auch im Menschen Jesus, kann es überhaupt Auferstehung geben als die Erfahrung: Der Mensch hat kraft seines Geistes am Ewigen Anteil. Und dieses Ewige ist im Leben erfahrbar, etwa in der Liebe oder dem Tun des Gerechten. Leider erwähnt Hans Kessler nicht die in dem Zusammenhang wichtige Studie des protestantischen Bibelwissenschaftlers, Prof. Stefan Alkier (Uni Frankfurt.M) „Die Realität der Auferstehung“ (2009): „Die Welt, alles Leben und auch das je meinige Leben entspringen […] nicht einem blinden Zufall, sondern der intentionalen Kreativität des sich liebevoll in Beziehung setzenden Gottes.“ „Wer diese Hypothese nicht teilt, kann auch nicht mit den Schriften des Neuen Testaments […] von der Auferweckung Jesu Christi und der Hoffnung auf die Auferweckung der Toten sprechen“ (S. 238).
10.
Diese Erkenntnis hat Jesus von Nazareth offenbart und dadurch allen Menschen zugänglich gemacht. Dies ist also der entscheidende Vorschlag der christlichen Religion und der biblischen Überlieferung: Das menschliche Leben ist im Zusammenhang des schöpferischen (ewigen) Gottes zu verstehen. Nur weil das menschliche Leben immer schon in das Leben des Ewigen einbezogen ist, „gibt“ es die Auferstehung Jesu und die Auferstehung aller anderen Menschen.
Diese Erkenntnis wurde bekanntlich auch vom Philosophen G.W.F. Hegel vorgetragen und begründet.

Siehe auch den ausführlichen Beitrag von Christian Modehn, “Die Auferstehung Jesu von Nazareth vernünftig verstehehen”, LINK

Hans Kessler, Auferstehung? Matthias Grünewald Verlag Mainz, 2021, 203 Seiten, 22 Euro.

Gegen die Erbsünde. Der Beitrag von Christian Modehn in PUBLIK FORUM

Ohne Erbsünde glauben! Für die Befreiung von  dieser verhängnisvollen Ideologie (Dogma).

Von Christian Modehn Juni 2017, PUBLIK FORUM.
Erneut veröffentlicht am 24.3.2021 mit einem Hinweis auf eine Antwort Eugen Drewermanns zu diesem Beitrag, Drewermann bietet eine pauschale Verteidigung der Erbsünden – Lehre des Augustinus!  Siehe auch: LINK

1.

Papst Benedikt XVI. nahm seinen ganzen Mut zusammen, als er am 20. April 2007 die Lehre vom »Limbus puerorum« abschaffte. Diese Lehre, die ein heutiger Christ kaum kennt, geschweige denn nachvollziehen kann, reicht zurück bis in die Anfänge Weiterlesen ⇘

Ein Buchtipp zur Pariser Commune und ein Hinweis auf Bismarcks Beitrag, die Commune zu zerschlagen

Von Christian Modehn

1.
In Frankreich sind zahlreiche neue Studien zur Pariser Commune erschienen, meines Wissens aber keine Arbeiten, die speziell das Thema „Pariser Commune und die Kirche“ diskutieren.
Ich möchte auf einen umfangreichen Band hinweisen, der unter dem Titel „La Commune de 1871 – une relecture“ im Verlag Creaphiseditions 2019 veröffentlicht wurde (sous la direction Marc César et Laure Godineau).
Im Vorwort wird etwa daran erinnert, dass im Jahr 2016, zum 145. Jahrestag der Commune, der Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon ausdrücklich an die Commune erinnert hatte, in einer symbolischen „Eroberung“ des „Platzes der Republik“ in Paris am 18.März.

2.
Unter den zahlreichen Aufsätzen spricht Laurent Le Gall von den Spuren der Pariser Commune im Département Morbihan in der Bretagne unter dem Titel „Le silence et la peur“, „Das Schweigen und die Angst“ (S. 115 ff.):
In der Zeitschrift „La Semaine religieuse du diocèse de Vannes“ wird Ende Mai und Anfang Juni 1871 von der „blutigen Woche“ in Paris sehr ausführlich berichtet bzw. polemisch kommentiert, immer „gegen die aufständischen und gotteslästerlichen Communarden“ (S. 117). Es wurde, schreibt der Autor, ein Bruch konstruiert zwischen „den Leuten da“, also den gotteslästerlichen und anarchistischen Communarden UND den „hier Geborenen, den Frommen, also denen, die die Gesetze gehorsam beachten“.
Diese Zeitung des Bischofs spricht von einer „grauenhaften Komödie“, die sich in Paris – wegen der Commune – abspielt“. Dieses Blatt diente dem Klerus in der Bretagne als Vorlage für die Sonntagspredigten. Diese Ideen fanden also weite Verbreitung. Manche Leser sahen nach der Lektüre der Zeitung „Anzeichen einer Apokalypse, die bald kommt“ (S. 118). Jedenfalls gab es im berühmten Wallfahrstort Sainte Anne d Auray in den Wochen der Commune zahlreiche Konversionen, Bekehrungen, zum Katholizismus – aus Angst vor der Apokalypse.

3.
Interessant ist auch die „micro-analytische historische Studie“ über das Viertel Popincourt in Paris (11. Arrondissement) von Iain Chadwick (S. 254ff). Der Autor berichtet, dass dort die Commune „bien géré“, also gut „gehandhabt“ wurde. Es gab, so zeigt er, dort einen gewissen moderaten Antiklerikalismus, „aber man sah in Popincourt keine Zerstörung einer Kirche“. Der „Club der Proletarier“ versammelte sich in der dortigen Kirche Saint-Ambroise nach dem 7. Mai, aber der Pfarrer setzte die Feier der Messe dort fort“ (S 269). In dem Zusammenhang möchte ich auf den Beitrag „Les Eglises de Paris sous la commune“ hinweisen. LINK

4.
Die Pariser Commune und Deutschland
Ebenfalls ein weites Forschungsthema. Von Bismarck müsste gesprochen werden, der gern die französischen Kriegsgefangenen wieder nach Frankreich ziehen ließ, damit sie dort die auch von ihm verhassten Sozialisten bekämpfen und erschießen, was sie dann auch nachweislich taten (die „blutige Woche“).
Es ist eine Tatsache, dass die Pariser Commune nur durch diese raffinierte Hilfe Bismarcks (Freilassung der kriegsgefangenen französischen Soldaten) blutig niedergeschlagen werden konnte. Bismarck wollte wie der französische Regierungschef Thiers unter allen Umständen eine demokratische Regierung der Arbeiter (in der Pariser Commune vorbildlich organsiert) verhindern und zerschlagen.
Der Sozialdemokrat August Bebel hielt schon am 24. April 1871 im Reichstag eine Rede, die seine Solidarität mit den Arbeitern in Paris ausdrückte. Er freute sich, dass die Communarden die Macht in Paris erobert hatten. Das sagte er schon am 24.April 1871!
Auch darauf weist ein Artikel (von Daniel Mollenhauer) in dem genannten Buch aus den creaphiseditions hin, (S. 446). Ebenso wird aber auch daran erinnert, dass die nationalistischen Deutschen Frankreich als den Erbfeind betrachteten. Daniel Mollenhauer weist auch auf eine Studie zu den Predigten der deutschen Militärpfarrer 1870 hin (Christian Rak, „Krieg, Nation und Konfession“, Paderborn 2004).

FORTSETZUNG der Berichterstattung folgt…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wer darf übersetzen? Über Identität und allgemeine Vernunft

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Wer ist in der Lage, das Gedicht von Amanda Gorman, der schwarzen Lyrikerin, der US – Amerikanerin, zu übersetzen? Man denkt: Natürlich jemand, der kompetent ist und sehr gute Kenntnisse des amerikanischen Englisch und auch Erfahrungen im Umgang mit den Nuancen der Poesie hat und dies auch auf Deutsch z.B. vermitteln kann.
Das war bisher allgemeine Auffassung. Aber so einfach ist das nicht mehr: Jetzt darf die Poetin und Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld aus Holland nicht das berühmte Gedicht von Amanda Gorman übersetzen. Der in der Öffentlichkeit verbreitete, sich durchsetzende Vorwurf: Die Übersetzerin hat die Hautfarbe weiß und sie sei deswegen inkompetent, das Gedicht einer Schwarzen zu übersetzen. So behaupten autoritär die Verfechter der Identität: Nur eine Schwarze versteht den Text einer Schwarzen so gut, dass sie als Übersetzerin in Frage kommt. Dabei hatte Amanda Gorman, die Schwarze, die weiße Übersetzerin ausdrücklich begrüßt. Aber die kritische Power der auf Identität („hier Schwarz – da Weiß“) fixierten Leute setzte sich durch. Auch in Barcelona ist das so. Dort darf ein weißer Übersetzer (ein Mann noch dazu) auch nicht das Gedicht der Schwarzen Frau Gorman übersetzen.

2.
Wissen wir eigentlich, dass sich an diesem Beispiel so etwas wie eine kulturelle Wende andeutet? Grundsätzlich formuliert: Mit der Debatte um neue „identische“ Kriterien für die Qualitäten eines kompetenten Übersetzers könnte das Bewusstsein einer allen Menschen gemeinsamen, also allgemeinen menschlichen selbstkritischen Vernunft verloren gehen. Dabei steht im Hintergrund die nach wie vor universale philosophische Einsicht: „Übersetzen“ ist nur ein anderes Wort für „Verstehen“: Wer im Alltag einen anderen Menschen versteht, übersetzt also immer dessen Aussage, dessen Begriffe, in seine eigne Denk/Gefühlswelt hinein, in sein eigenes Leben. Das kann ganz alltäglich banal beginnen: Wenn mir eine Person A von ihrer „Frömmigkeit“ erzählt, verstehe ich von meinen Erfahrungen mit „Frömmigkeit“ ihren Begriff Frömmigkeit auf meine Art. Der Begriff Frömmigkeit der Person A wird durch mein Verstehen also „verändert“, und das ist notwendigerweise so. Trotzdem sind wir beide in der einen Sprachwelt verbunden.

3.
Auf die Identität von Übersetzen und Verstehen hat bekanntlich der Philosoph Hans -Georg Gadamer in seiner großen Studie „Wahrheit und Methode“ ausführlich hingewiesen. Ich nenne hier nur einige zentrale Erkenntnisse Gadamers, bezogen auf die Ausgabe von „Wahrheit und Methode“ von 1965 (Tübingen):
S. 361: „Verstehen, was einer sagt, ist sich in der Sache Verständigen und nicht: Sich in einen anderen Versetzen und seine Erlebnisse Nachvollziehen.“ Ergänzend auf S. 365: „Die Übersetzung eines Textes, mag der Übersetzer sich noch so in seinen Autor eingelebt und eingefühlt haben, ist keine bloß Wiedererweckung des ursprünglichen seelischen Vorgangs des Schreibens, sondern eine Nachbildung des Textes, die durch das Verständnis des in ihm Gesagten geführt wird. Hier kann niemand zweifeln, dass es sich um Auslegung handelt..“
S. 362:“Jede Übersetzung ist Auslegung“

4.
Wer Übersetzen in der Weise einschränkt, dass nur ein Schwarzer in der Lage ist und befugt ist, den Text eines Schwarzen zu übersetzen, der zerstört eine kulturelle Errungenschaft, die die Menschheit bislang tatsächlich als allgemein gültig bewertet hat, selbst wenn es in Einzelfällen selbstverständlich immer Debatten gab und gibt, ob diese oder jene Übersetzung treffend ist. Darum wird ja auch immer wieder neu übersetzt, einen definitiven Abschluss der Übersetzungen kann es nicht geben, weil immer neue Aspekte im Text, immer neue Nuancen entdeckt werden, die in immer neuen Nuancen dann ausgesagt werden in der Übersetzung.

5.
Wenn man das Beispiel ausdehnt: Nur Schwarze Frauen dürfen die Poesie schwarzer Frauen übersetzen, wie verhält es sich dann mit der bislang selbstverständlichen und uns eigentlich als normal vertrauten Übersetzung als Interpretation?
Ist die Interpretation (das ist Verstehen, das ist Übersetzung!) Mozarts durch einen japanischen Dirigenten etwa abwegig und aus Gründen der Identität nicht (mehr) erlaubt? Dann sollte kein russischer Pianist mehr Beethoven spielen. Kein deutscher Übersetzer dürfte einen buddhistischen Autor übersetzen und so weiter. Diese Identität konsequent gedacht, würde zu einer kulturellen Verarmung und zu einer Abkapselung der einen Menschenwelt in viele kulturelle Sonderwelten führen. Atheistische Historiker und Sprachwissenschaftler dürfen dann nicht mehr die Bibel oder den Koran übersetzen. Es wäre zu prüfen: Wie ist früher die Kirche mit Übersetzern der Bibel umgegangen, die nicht auf der „orthodoxen“ Linie waren? Da herrschte sicher auch auf Identität fixiertes Denken vor, Bekanntlich durften Katholiken nicht die Übersetzung der Bibel durch Martin Luther lesen, bloß weil der Protestant Luther der Übersetzer war. Solches identitäre Denken ist sicher noch in muslimischen Kreisen dominant: Welche muslimische Organisation benutzt etwa eine Koran – Übersetzung eines – selbstverständlich wissenschaftlich kompetenten – Christen oder eines Atheisten? Wahrscheinlich keine muslimische Organisation. Ein heilig erklärtes Buch (Koran) kann nur ein heilig erklärter frommer Muslim übersetzen…
Ein weiteres Beispiel: Die Übersetzungen der Werke des Homosexuellen James Baldwin müssten diesem Denkmodell folgend eigentlich eingestampft werden, weil die Übersetzer heterosexuell wohl waren oder gar Frauen, also sich beim Übersetzen gar nicht in die Welt Baldwins einfühlen konnten. Wenn er – möglicherweise – das Wort „Schw..z“ verwendet, meint er eben nicht „Glied“ und auch nicht „Penis“, wer diese Begriffe in der Übersetzung verwendet, übersetzt falsch. Aber die Nuancen weiß jeder gebildete heterosexuelle Übersetzer!
Diese wenigen Beispiele zeigen schon: Die geistige Welt fällt auseinander in viele isolierte kleine Sonderwelten, wenn man an dem nun offenbar üblich werdenden Prinzip der Identität im Vorgang der Übersetzung festhält.

6.
Dieses identitäre Denken und praktisch – rabiate Verhalten ist eine Ideologie, sie führt in eine furchtbare Sackgasse. Denn um noch einmal auf das Beispiel der Übersetzung des Gedichtes von Amanda Gorman zurückzukommen: Eigentlich müsste die dann korrekterweise selbstverständlich schwarze Übersetzerin vom Alter her etwa so jung sein wie Frau Gorman, die Übersetzerin hätte auch in bescheidenen Verhältnissen in Los Angeles groß werden müssen, möglichst die gleiche Schule besucht haben, möglichst ähnliche soziale Kontakte wie das junge Mädchen Amanda haben müssen und so weiter: Das führt dazu, dass eigentlich idealerweise Amanda Gorman allein, nur sie selbst, in der Lage wäre, ihr Gedicht zu übersetzen. Aber selbst wenn Amanda Gorman perfekt Deutsch, Niederländisch oder Finnisch sprechen und verstehen würde: Sie könnte aus ihrem englischen „Urtext“ eben nur nach eigenem (und damit wie bei allen Menschen begrenzten) Verstehen des eigenen Textes übersetzen und auch nur einige Aspekte, Nuancen, in den anderen Sprachen wiedergeben. Mit anderen Worten: Die Übersetzung der Autorin Gorman hätte eigentlich dieselbe Qualität wie die eines anderen Menschen, etwa eines männlichen weißen Übersetzers. Denn man vergesse nicht: Es ist keineswegs so, dass der Autor eines Gedichtes oder eines Romans selbst am besten weiß, was er da in der feinen Komposition seiner Sprache sagen will. Genauso sind die großen Künstler von Gemälden keineswegs die besten Interpreten ihrer eigenen Werke. Sie wissen oft selbst nicht, wie ihnen „das eigene Werk gelungen“ ist. Dies ist das bleibende Rätsel des schöpferischen Prozesses von Autoren, Malern, Komponisten etc.

7.
Aber es keineswegs so, dass nun wiederum nur Menschen, die selber den schöpferischen Prozess wie die Autoren, Maler, Komponisten durchgemacht haben, die Werke dieser Künstler zu übersetzen. Indem diese Werke in die Öffentlichkeit treten, geben sie sich dem allgemeinen Verstehen und das ist immer dem individuell je verschiedenen Verstehen und Übersetzen preis. Da eine exklusive, berufene Clique der mit den Autoren Identischen zu schaffen, wäre maßlos und ausgrenzend und hätte einen nicht mehr demokratischen Charakter.

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

Zur „Philosophie des Weins“ – bedenkenswert nicht nur in „Corona-Zeiten“

Ein Gastbeitrag von Richard Pestemer, veröffentlicht am 14.3.2021

Der Beitrag ist eine kurze Vorstellung der Grundauffassungen von Béla Hamvas zum Wein, die er in seinem Buch „Philosophie des Weins“ (1994) präsentierte.
Richard Pestemer wählte dafür die Form eines fiktiven Interviews mit Béla Hamvas, posthum gestaltet.

Vorbemerkungen von Richard Pestemer

Die 1947 erstellte Abhandlung Philosophie des Weins von Béla Hamvas (1897–1968) — in Zeiten bitterster Not im Ungarn der Nachkriegszeit und brillant übersetzt aus dem Ungarischen von Hans Skirecki — ist ein einzigartiges „Glaubensbekenntnis“ zum Wein und dessen Schöpfer, Gott.
In „heiliger Trunkenheit“ und darin im Bunde mit den weinseligen Poeten wie Goethe (1749- 1832), Hafis in Persien (1315–1390) und Li Bai in China (chin. 李白: 701–762) bekundete Béla Hamvas sein leidenschaftliches Bekenntnis zum Leben, hier und jetzt. Als gläubiger Humanist widerstand er den zukunftsheischenden materialistischen Ideologien des Kommunismus und des Faschismus. Sein Credo lautete vielmehr: Festhalten an dem Fortwährenden, dem Allumfassenden, an der Harmonie des Sinnlichem und Übersinnlichem durch Überwindung der Spaltung von Materie und Spiritualität.

Béla Hamvas träumte sein Leben lang davon – trotz auch vieler bitterer und harter Erfahrungen sowie Enttäuschungen und stets vom Wein begleitet, zur Weisheit zu gelangen. Letztendliche Weisheit bedeutet für ihn nicht Ansammlung von Wissen, sondern Einswerden mit dem „ureigenen Zustand einer Seele, in der alles vom Rausche, vom Frohsinn, von der Vision, vom Wunder und vom Enthusiasmus gelenkt wird (Földényi 1994: 75).“
Wie schon erwähnt verfasste er 1947 in bitterster Not, wo er jeden Tag um sein Brot kämpfen musste und bestenfalls billigen, schlechten Wein trinken konnte, seine einzigartige Abhandlung von der Philosophie des Weins.
In Form eines fiktiven Interviews werden nachfolgend die grundlegenden Auffassungen von Béla Hamvas dargeboten, wobei seine Antworten — bis auf drei Fußnoten, welche von mir eingefügt wurden, — originalgetreu seinem Werk (Hamvas 1994: 7, 10-12, 30-31) entnommen wurden. Die Rechtschreibung der Zitate folgt daher den Regeln vor der Rechtschreibreform in 1996. Ebenso sind die Fragen von Richard Pestemer an Béla Hamvas in der Rechtschreibung dementsprechend angepasst worden.
Die Verehrer eines edlen Tropfens göttlichen Weines, sie mögen dieses fiktive Interview als eine „philosophische Weinprobe“ verkosten, um auf den Geschmack des gesamten Glaubens- bekenntnis von Béla Hamvas vorzudringen, bis hin zu der alles umgreifenden Erkenntnis:

„Zwei bleiben schließlich übrig, Gott und der Wein“. (ibid.: 7)

Das fiktive Interview mit Béla Hamvas, posthum durchgeführt von Richard (Richie) Pestemer:

Richard (Richie) Pestemer (Abkürzung: R(R)P): „Zwei bleiben schließlich übrig, Gott und der Wein“ ist zu einem in Ihrem Heimatland Ungarn zu einem geflügelten Wort geworden. Was hat Sie dazu bewegt, diese ja schon prophetische Feststellung zu entäußern?
Béla Hamvas (Abkürzung: BL): Ich weiß, dass ich Gott nicht einmal erwähnen darf. Ich muß ihn bei einem beliebigen Namen nennen, wie z.B. Kuß oder Rausch oder gekochter Schinken. Als Hauptnamen habe ich den Wein gewählt. Daher der Titel des Buches: Philosophie des Weins, und deshalb das Motto: Zwei bleiben schließlich übrig, Gott und der Wein (Hamvas 1994.: 7).

R(R)P: Aber warum dieser Hokuspokus mit Gott als Kuß, Rausch oder gekochtem Schinken?
BL: Zu diesem Hokuspokus zwingen mich die Umstände. Die Atheisten sind bekanntlich bedauernswert hochmütige Menschen. […] Ich glaube, wenn ich von Speise, Trank, Tabak, Liebe spreche, wenn ich die heimlichen Namen nenne, kann ich sie überlisten. Denn sie sind nicht nur überheblich, sie sind auch ebenso dumm. Diese Art des Gebetes beispielsweise kennen sie überhaupt nicht. Sie glauben, Beten kann man nur in der Kirche oder indem man geistliche Wörter murmelt (ibid.).

R(R)P: Also ist Ihr Buch Philosophie des Weins eine Art Gebetbuch? Und wenn dem so ist, welche Bedeutung hat dabei der Wein?
BL: Dieses Buch muß sich notwendigerweise in drei Teile gliedern. Notwendigerweise, weil sich jedes gute Buch in drei Teile gliedert, die Drei also eine vollkommene Gliederung bedeutet, aber auch, weil die Drei die Zahl des Weins ist, was auch in der Gliederung zum Ausdruck kommen soll (ibid.: 10).
Der erste Teil ist eine Metaphysik des Weins. Ich habe nicht nur die Absicht, sondern auch den Ehrgeiz, mit diesem Teil ein Fundament für alle künftigen Philosophen zu legen. Wie Kant die entscheidenden Gedanken ausspricht für alle nachfolgenden Philosophen, die man billigen oder ablehnen, nie aber umgehen und als ungesagt ansehen kann, so möchte ich in diesem Teil die gemeingültigen und zeitlosen Ideen der Metaphysik des Weins aufzeichnen (ibid.: 10-11).
[…] Der zweite Teil [handelt]1 vom Wein als Natur. Dieser Teil ist seinem Charakter nach deskriptiv. Er beschäftigt sich mit den Reben, den Rebsorten, dem Verhältnis zwischen Boden und Wein, Wein und Wasser mit besonderer Rücksicht auf unsere Weine, aber auch mit Blick auf die namhafteren ausländischen Weine (ibid.: 11).
Der dritte Teil behandelt die Weinzeremonielle. Dieser Teil untersucht, wann man trinken soll und wann nicht, wie, wo und woraus man trinken soll und wann nicht, ob allein, ob zu zweit, ob mit einem Mann oder einer Frau. Er handelt von den Beziehungen zwischen dem Wein und der Arbeit, dem Wein und dem Spazierengehen, dem Wein und dem Bad, dem Wein und dem Schlaf, dem Wein und der Liebe. In ihm sind Regeln enthalten, bei welcher Gelegenheit was für Wein getrunken werden sollte, wie viel und zu welchen Speisen, an welchen Orten und in welcher Mischung (ibid.).
[…] Die Gliederung in drei Teile steht in engstem Einklang mit den drei großen Epochen in der Weltgeschichte des Weins. Der metaphysische Teil entspricht sinngemäß dem Zeitalter von der Sintflut, als der Mensch den Wein nicht kannte und nur von ihm träumte. Nach der Sintflut pflanzte Noah die ersten Rebstöcke, und in der Weltgeschichte begann damit eine Epoche.
Die dritte setzte mit der Verwandlung von Wasser in Wein ein, und in ihr leben wir gegenwärtig. Die Weltgeschichte wird enden, wenn aus den Quellen und Brunnen Wein fließt, wenn es aus den Wolken Wein regnet, wenn die Seen und Meere zu Wein werden (ibid.: 11-12).

R(R)P: Ja, so und nicht anders sollte Weltgeschichte enden, da kann ich nur zustimmen. Nun zum Schluss unseres kurzen aber intensiven Gesprächs sollten wir es nicht mit einem guten Schluck eines edlen Weines ausklingen lassen. Aber mit welchem Wein?
BL: Jeder Wein stellt einen vor neue und wieder neue Unterscheidungsaufgaben. Nun, der Schomlauer2 ist für mich der solare, baritonstimmige, doch symphonische, blonde, männliche Wein, der das Öl der höchsten schöpferischen Spiritualität enthält, und zwar unter allen unseren Weinen in einzigartiger, konzentrierter Reinheit (ibid.: 30). […] Ein Wein der Weisen, jener Menschen, die endlich das höchste Wissen erlernt haben, die Heiterkeit. Es ist eine ganz persönliche Sache, und ich erzähle sie nur, weil sie zu den großen Ergebnissen meiner Meditation in Szigliget3 gehört: In der hieratischen Maske des Schomlauer Weines fühlte ich mich jener ausgereiften Heiterkeit und Weisheit, jenem intensiven und produktiven Rausch am nächsten, die diese Welt erschaffen haben (ibid.: 30-31).

R(R)P: Ja, so ist es, ja, jetzt dämmert es mir: „Zwei bleiben schließlich übrig, Gott und der Wein.“ Danke, Danke und nochmals Danke für Ihre eingehenden Darstellungen zur Trinität der „Philosophie des Weins“. Aber bevor wir beide mit einem Schomlauer Wein dieses erhellende Gespräch beschließen, erlauben Sie mir ein Kurzgedicht vorzutragen, angelehnt an die japanischen Haikus, welche im Deutschen in Form eines Drei-Zeilers mit der Versabfolge 5-7-5- Silben verfasst werden, dies auch, weil Sie ein Liebhaber ostasiatischer Philosophie und Poesie sind.
Meine poetische Danksagung lautet:
Also sprach einst Gott Noah,
pflanze Reben endlich:
Wasser werde Wein

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Literatur:
Földényi, László (1994). „Die Ausstrahlung des Weins — Über Béla Hamvas“. Übersetzt aus
dem Ungarischen ins Deutsche von Anikó Klostermann. In: Hamvas, Béla (1994),
Philosophie des Weins. Berlin: Brinkmann & Bose. 69-76.
Hamvas, Béla (1994). Philosophie des Weins. Berlin: Brinkmann & Bose. Übersetzt von
Hans Skirecki aus dem Ungarischen ins Deutsche. Originaltitel: A bor filózfiája.

Hier für diejenigen, die nach dieser „philosophischen Weinprobe“ ihren weiteren Durst stillen wollen:
Brinkmann & Bose: http://www.brinkmann-bose.de/
Matthes & Seitz Berlin: www.matthes-seitz-berlin.de/autor/bela-hamvas.html

https://www.vinaet.de/2021/02/26/bela-hamvas-die-philosophie-des-weins/

1 Das Verb in eckigen Klammern wurde von mir eingefügt.
2 Schomlauer Weine. Siehe WEINKOMPLOTT UNGARN WEIN-SPEZIALIST: www.weinkomplott.de/catalog/Ungarische-Weine_Somlo.php
3 Siehe BADACSONY RÉGIÓ: www.badacsony.com/de/region-badacsony/szigliget-de/

„Beichtväter“ plaudern: Ein Skandal zur Schweigepflicht der Priester.

Das absolut geltende Beichtgeheimnis wird „ein bisschen“ gebrochen
Die Neuerscheinung „Je vous pardonne tous vos péchés“ von Vincent Mongaillard

Ein Hinweis von Christian Modehn am 13.3.2021. Am Ende dieses Beitrages siehe auch eine von vielen Stellungnahmen in Frankreich.

1.
Ein Skandal: 40 katholische Priester in Frankreich berichten jetzt vom Inhalt der Beichten, die sie von Frommen und weniger Frommen „gehört“ haben. Und diese Plaudereien sind so umfassend, dass sich daraus ein Buch von 480 Seiten machen ließ, das sehr preiswert für 14,90 € im Verlag „Edition de l Opportun“ (Paris) am 12.März 2021 veröffentlicht wurde, also im „Verlag des Günstigen“, der seinen interessanten Untertitel auf der Website mitteilt: „Découvrir, rire et surprendre“, also “Entdecken, Lachen, Überraschen bzw. Überrumpeln“. Ein Verlag, der durchaus seriös ist, auch wenn er in der intellektuellen Szene nicht so bekannt ist; zum Verlag gehört auch der auf Studenten spezialisierte Verlag „L Etudiant éditions“.

2.
Zum Lachen (rire) ist das Buch für die Katholiken und ihre Bischöfe und Theologen ganz und gar nicht. Denn es ist das Dokument eines ungeheuerlichen Tabubruches: Erst im Juli 2019 hatte Papst Franziskus eindringlichst gelehrt: „Das Beichtgeheimnis betrifft das Wesen der Kirche und des Christentums. Das Beichtgeheimnis muss durch den Priester absolut bewahrt werden“. Auch der offizielle Katechismus von 1993 betont im § 1467, „dass jeder Priester unter strengsten Strafen verpflichtet ist, über die Sünden, die seine Pönitenten ihm gebeichtet haben, Stillschweigen zu wahren…Dieses Beichtgeheimnis lässt keine Ausnahmen zu…“

3.
40 Priester haben sich jetzt diese Ausnahme erlaubt: Sie sprechen von den Sünden ihrer Pönitenten (Beichtenden), aber sie nennen keine Namen, die Priester wie die Beichtenden bleiben im Nebel des Anonymen. So entsteht trotzdem ein soziologisch interessantes Bild: Welche Sünden heute und in den letzten Jahren im Beichtstuhl einem Priester anvertraut wurden.

4.
Aber so 100 prozentig anonym sind dann doch die Berichte der Priester nicht: Die katholische Tageszeitung La Croix weist etwa darauf hin, dass auch Namen von Städten genannt werden, auch die Namen von weiteren Orten, „so dass gewisse Leute sich wiedererkennen oder erkannt werden“. Einer der plaudernden Priester berichtet etwa von Beichten, die er „gehört“ hat, bei großen Pfadfindertreffen im Wallfahrtsort Paray-le-Monial. Die Pfadfinder werden wohl in Zukunft nicht mehr so begeistert ihre Pfade zu einem Beichtstuhl finden…

5.
Das Buch von Vincent Mongaillard ist systematisch gegliedert, je nach der „Natur“, d.h. der Schwere und Bedeutung der Sünde. Der Autor ist als Journalist auf religiöse Themen spezialisiert in der eher populären Tageszeitung „Le Parisien“ (Auflage 2020 ca. 180.000 Exemplare) seit mehr als 20 Jahren tätig. Er betont in seinem Vorwort, die Bekenntnisse der Beichtenden seien präzise wiedergegeben. „Wir haben darauf geachtet, dass kein Sünden – Bekenntnis das hochheilige Geheimnis der Beichte verrät. Denn wir wollen nicht, dass wir, die „Wohltäter der Information“, nun förmlich entblößt dastehen aufgrund unseres profanen Werkes (Buches).“

6.
In jedem Fall ist das Vertrauen der Katholiken erschüttert, sie werden kaum noch den Drang verspüren, überhaupt noch zur Beichte gehen. Tatsächlich hat die Praxis des „Bußsakramentes“ in den Beichtstühlen seit Jahren rapide abgenommen. Während sich noch vor 50 Jahren lange Schlangen vor den Beichtstühlen bildeten, zumal vor Ostern, sind die Beichtzeiten in den Kirchen heute auf ein halbes Stündchen pro Woche geschrumpft.

7.
Insofern fördert dieses Buch den weiteren Niedergang der Beichte. War dies vielleicht auch die Absicht der 40 Priester, die da den Tabubruch begehen? Weil sie wissen, wie wenig seelische Hilfe tatsächlich eine Beichte im Beichtstuhl bieten kann, die meistens nicht länger als 3 Minuten dauert. Vielleicht sehen die anonym bleibenden Priester auch das Defizit der Beichte: Denn die Priester können dem Sünder nur empfehlen, die Schuld, die er gegenüber anderen Menschen auf sich geladen hat, zu korrigieren. Über die Motive der Priester, an dem Buch mitzuarbeiten, wird man noch weiter forschen, falls die Priester überhaupt noch einmal etwas sagen.

8.
Papst und Bischöfe werden die 40 Priester nicht zwingen können,ihre Identität preiszugeben. Die kirchlichen Autoritäten stehen also sehr hilflos da. Strafe ist aufgrund der Anonymität unmöglich. Und auch der Staat wird nicht eingreifen können, er lässt die Kirche doch ohnehin nach eigenen Gesetzen im Staat gewähren. Und dass sich ein Beichtender so präzise wiedererkennt, ist unwahrscheinlich.

9.
Warum also dieses Buch? Weil das Thema förmlich in der „Luft liegt“ bei all den nicht enden wollenden Affären zum sexuellen Missbrauch durch Priester. Im Tagesspiegel vom 13.3.2021, Seite 3, wird berichtet, dass ein Beichtvater einer jungen Frau die Abtreibung empfohlen hat, der Vater war ein anderer Priester. Im Beichtstuhl “brennt” es, wenn ein Priester dort das schlimmste aller Übel in der Sicht katholischer Moral empfiehlt: die Abreibung, eine Empfehlung, die übrigens schon der Priester – Vater der jungen schwangeren Frau gegeben hatte. Wieder einmal: Der gute Ruf des Klerus ist sogar wichtiger als der viel beschworene Lebensschutz. Wahrscheinlich geht de Beichtvater nach dieser Beicht – Empfehlung zu einer “Pro – Life – Demo….”

10.
Das Buch „Ich vergebe euch alle eure Sünden“ wird die letzten Phasen der Debatte über die Beichte erneut noch einmal beleben, das Buch wird zu der Frage führen: Wie kommt der Klerus eigentlich dazu, als Mittler zwischen dem einzelnen und Gott, zwischen dem Sünder und Gott, aufzutreten und bindend und lösend zu agieren? Zumal der Verdacht des sexuellen Missbrauchs jegliches Ansehen des Priesters verdorben hat. Und nun auch die 40 französischen Priester, die etwas aus dem Beichtstuhl plaudern…Das ist sozusagen ein weiterer „Gau“ im Katholizismus.
Die Debatte wird also noch mal über die anmaßenden Rechte des Klerus gehen, ein Thema, das seit der Reformation virulent ist. In ihrer wissenschaftlichen Studie. „Pratiques de la Confession“ (Praxis der Beichte), Edition du Cerf, Paris, 1983, weisen die Autoren darauf hin, dass über die Beichte bis dahin wenig studiert und publiziert wurde. Das Detailwissen ist im allgemeinen gering. Erst im 7. Jahrhundert wurde in Irland die individuelle Beichte eingeführt (S.17). Die Studie weist auch auf die klerikale Macht hin, denn bis ins 19.Jahrhundert war der Beichtvater meist der Gemeindepfarrer. Er kannte also viele seelischen Aspekte seiner Mitbewohner, hatte ein geheimes Herrschaftswissen. Er kannte die Familien, wusste, welche Kinder aus welchen „guten“ Familien vielleicht mit einem kirchlichen Stipendium zu fördern seien und welche nicht. Zu Ostern mussten ohnehin alle Angehörigen einer Pfarrei zur Beichte gehen, sie erhielten nach der Beichte ein Zettelchen oder ein Heiligenbild, das die erfolgte Beichte dokumenterte. Nur wer dieses Dokument vorweisen konnte, durfte an der Osterkommunion teilnehmen.

11.
Einem Bekannten kommt diese Buchpublikation etwas mysteriös vor. Ich will gern den – wahrscheinlich doch wohl unbegründeten – Verdacht eines auch mal anonym bleibenden Bekannten weitergeben: Nichts ist leichter für einen Autor, der etwas Aufsehen erregen und Geld verdienen will, als ein Buch zu schreiben, in dem anonym Priester von der Beichte plaudern und von den Süden der Beichtenden erzählen. Niemals wird bewiesen werden können, ob die Stories authentisch sind oder der Phantasie eines Kenners entsprungen sind.
Wie gesagt: Die Kirchenführung hat kein Mittel, die 40 Priester, falls es sie gibt, zum Sprechen zu bringen. Und der Staat auch nicht. Und auch den Autor kann wohl kein Staat zwingen, Namen zu nennen. Die Kirche kann höchstens die Zeitungsredaktion so lange bearbeiten, bis der Journalist seinen Job verliert…
Aus diesem Stoff ließe sich gut ein „Tatort“ oder ein ähnliches Krimi-Stück realisieren. Die Geschichte: Erst wenn der erste plaudernde Priester identifiziert ist und stirbt und dann auch der Journalist angeschossen wird, kommt die Sache „ins Rollen“. Diese Idee hat Christian Modehn am 13.3.2021 formuliert.

12.
„Ins Rollen“ ist die Beichte in jedem Fall gekommen, sie wird wohl “fortrollen”. Die Beichte wird als flüsterndes Gespräch bzw. Getuschel in eher unbequemen, manchmal etwas muffigen Beichtstühlen mindestens in Europa verschwinden.Weil auch das Bewusstsein schwindet, ob der Mensch nun Sünden begangen oder schwere Fehler gemacht hat. Der Gott mit dem drohenden Zeigefinger ist verschwunden.
Leider sind die besseren Seelsorger, also die Psychotherapeuten, absolut ausgebucht.

13.
In einigen Staaten wird darüber debattiert, ob das Beichtgeheimnis der Priester bei „schweren Verbrechen“ gelten kann, so in Australien (Vicoria) oder im Bundesstaat Louisiana, USA.
Nach kirchlichem Recht hat der „Beichtvater“, wenn ihm ein schweres Verbrechen gebeichtet wird, nur die Pflicht, den Übeltäter aufzufordern (!), sich den staatlichen Justiz – Behörden zu stellen. Eine sehr vornehme Art der Kirche, mit beichtenden Schwerverbrechern umzugehen. Dies gilt besonders auch fürs süditalienische Mafia-Milieu, die Maffia Bosse haben ja bekanntlich ihre eigenen Wallfahrtsorte und damit Orte des Beichtens, wie etwa die Kirche Notre Dame de Polsi in Calabrien. “Le Monde” berichtete darüber am 12.2.2021, Seite 19.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

…………………………………………….
Ein Beitrag des Radio – Senders Europe1 am 11.3.2021:

Dans “Je vous pardonne tous vos péchés”, Vincent Mongaillard a recueilli les confidences de 40 prêtres qui, tout en préservant l’anonymat des fidèles, ont accepté de lever le voile sur ce qu’ils entendent en confession. Si certains aveux prêtent à sourire, d’autres relèvent du Code pénal.
C’est une règle d’or depuis des siècles : face aux fidèles venus faire pénitence de leurs péchés, les prêtres sont tenus au secret. Les paroles chuchotées dans la petite alcôve d’un confessionnal sont protégées par le silence du clerc, quelle que soit la gravité du crime avoué. Dans Je vous pardonne tous vos péchés, publié ce jeudi par Vincent Mongaillard aux Éditions de l’Opportun, 40 prêtres dévoilent ce qu’ils ont pu entendre en confession au fil des années, tout en préservant l’anonymat de leurs ouailles.

Un travail de longue haleine pour le journaliste du Parisien, à qui il a fallu trois ans pour arriver à bout de ce livre.”On a établi un rapport de confiance avec ces prêtres et on a gardé que le prénom. Qu’ils se rassurent, ils ne seront pas excommuniés puisqu’ils ne brisent pas le secret de la confession. On ne peut pas identifier les pénitents”, assure-t-il au micro d’Europe 1. Mais comme il l’écrit, certains secrets sont plus lourds à porter que d’autres.

Un crime confessé devant le prêtre

Il y a en effet les petits péchés, comme ce chauffeur de taxi qui confesse prendre des chemins plus longs pour faire payer plus cher ses clients, ou encore ce septuagénaire qui raconte, 60 ans plus tard, avoir bu du vin de messe lorsqu’il était enfant. Il y a également ce jeune scout qui a tué une fourmi. Mais le livre évoque aussi des secrets très lourds. Ainsi, cet homme en détention provisoire qui a confessé son crime à un prêtre. Quelques mois plus tard, il plaide non coupable devant la justice des hommes et se voit acquitté. De quoi placer un énorme poids sur les épaules du prêtre, mais qui assume, comme tous les autres, le secret absolu de la confession.
Les prêtres encaissent en confession beaucoup de souffrance et doivent parfois improviser des solutions pour empêcher le pire. Vincent Montgaillard raconte comment l’un d’eux décide de récupérer l’arme d’un jeune homme de 20 ans qui vit en roulotte avec sa mère… dont il veut se débarrasser. Le prêtre finira par déposer le revolver au commissariat sans donner l’identité de son propriétaire.

C’est très dur pour eux parce qu’ils portent sur leurs épaules tous les vices, toute la misère de notre société. Certains vont vous dire que c’est le Seigneur qui fait le travail mais après une journée de confessions, ils sont épuisés. C’est extrêmement éreintant”, reconnaît l’auteur.
Des confessions plus cocasses
“Certains prêtres m’ont confessé que deux tiers des pêchés étaient liés au-dessous de la ceinture, à des histoires d’adultère, d’addiction”, a encore expliqué Vincent Montgaillard. Comme cette confession cocasse d’un couple : la femme raconte tromper son mari avec un ami du couple, mais juste après, le mari confesse lui aussi tromper sa femme avec un ami. Le prêtre comprend vite qu’il s’agit de la même personne. Mais l’avantage, c’est que tout, devant Dieu, est pardonnable.

Die Pariser Commune – vor 150 Jahren, lebendig, dann ermordet.

Zwei Beiträge von Christian Modehn über “Die Pariser Commune und die katholische Kirche”

1. Die Pariser Commune 1871 als Experiment der Republik unter reaktionären Bedingungen.
Dieser Beitrag erschien auch in einer – von der Redaktion veränderten Form – in der Zeitschrift PUBLIK – FORUM (12.3.2021).
Dieser Artikel von Christian Modehn hier ist besonders wichtig, weil er auch auf die Beziehungen der Communarden zur katholischen Kirche hinweist. Dieser Zusammenhang wurde bislang eher selten dokumentiert.

2. Ein anderer Beitrag bietet ergänzende Details, um zu weiteren Studien zu ermuntern. CM.

1.
Die Feindschaft der „zwei Frankreich“
Über die Pariser Commune

Von Christian Modehn
Die Pariser Commune konnte nur 72 Tage überleben, von Mitte März bis Ende Mai 1871: Die Communarden hatten eigenmächtig ein demokratisches und soziales Gemeinwesen aufgebaut. Es war ein Aufstand der Handwerker, Arbeiter und Intellektuellen, unerträglich für die reaktionären, monarchistischen Führer der jungen „Dritten Republik“. Ihre „heilige Ordnung“ wollen sie mit einem Bürgerkrieg retten, darin unterstützt vom katholischen Klerus und den „anständigen Bürgern“. Die Communarden waren zwar „linke“ Demokraten und antiklerikal, aber doch auch getaufte Katholiken. Sie wurden von ihren eigenen „Glaubensgenossen“ zu tausenden abgeschlachtet. Ein Trauma, das bis heute wirkt.
Paris – „die“ Metropole Europas voller Glanz und Gloria, der Stolz Kaiser Napoléons des Dritten. Er lässt Baron Haussmann riesige Boulevards mit „Sichtachsen“ errichten, sie sollen bei Aufständen dem Militär den schnellen Zugriff erlauben. Arme, Handwerker und Arbeite sind für das Regime eine Bedrohung.

Im Juli 1870 erklärt Napoleon III., im Wahn des Nationalismus befangen, Preußen den Krieg. Das Gemetzel endet für Frankreich schnell mit einer Niederlage, der Kaiser kapituliert. Die „Dritte Republik“ startet offiziell am 13.2.1871 mit der Wahl zur Nationalversammlung. Die Monarchisten und die Getreuen von Papst Pius IX. erreichen die absolute Mehrheit. Wenige Tage später wird der „Vorfrieden“ mit Bismarck unterzeichnet.
Die Bürger von Paris erleben, dass ihre Stadt immer noch von deutschen Truppen umzingelt ist. Das stärkt ihre Entschlossenheit, aus eigener Kraft eine selbstverwaltete republikanische Stadt aufzubauen. Ein unerträglicher Gedanke für Regierungschef Adolphe Thiers. Nach der Niederlage gegen Preußen will nun er endlich einen Sieg vorweisen, im Kampf gegen die eigenen Landsleute in Paris. Aber die verfügen über eine Nationalgarde mit 300.000 Mann, und sie besitzen noch die Waffen, bestimmt für den Krieg gegen die Deutschen.
Am 17. März 1871 wollen Regierungstruppen Paris entwaffnen. Aber die Soldaten verweigern den Befehl, auf die Bürger zu schießen. Empört über den Bürgerkrieg nehmen die Pariser zwei Generäle fest, sie werden erschossen. Nun kann die Regierung, das „Morden und Töten der Commune“ groß herauszustellen. Bis zum 21.Mai 1871 aber wird „von Seiten der Communarden kaum Blut vergossen“ (Johannes Willms).

Die Regierung mit ihren Truppen flieht am 18. März 1871 nach Versailles. Und sofort beginnen die Pariser Bürger mit dem Aufbau ihrer „direkten Demokratie“. In ihrer demokratisch gewählten Selbstverwaltung sind 92 Abgeordnete unterschiedlicher politischer Optionen vertreten, vor allem Sozialisten verschiedener Orientierung, auch liberale Bürgerliche sowie einige Anarchisten sind dabei. Sie alle wollen eine Republik, die den Namen verdient: Die Stadtverwaltung fördert die Gewerkschaften; das öffentliche, kostenfreie Schulwesen – auch für Mädchen – wird ausgebaut; Künstler schaffen ihre eigenen Vereine, sie unterstützen die Commune. Frauen haben das Recht, als politische Akteure selbständig zu handeln. Sie gehören zu den Mutigsten, wie die Lehrerin Louise Michel in ihren Erinnerungen betont.
Die Commune lebt von der Begeisterung der Bürger in den neu gegründeten Debattierclubs. Man trifft sich in mehr als 20 (von insgesamt 67) katholischen Kirchen: Dort wird eine „Umwidmung“ durchgesetzt: „Gotteshäuser sind auch Menschenhäuser“. Und dafür gibt es unterschiedliche Modelle: Manche dieser „Club-Kirchen“ sind wie üblich tagsüber für Gottesdienste geöffnet, am Abend treffen sich die „Clubs“. Dann wird der Altar beiseite geräumt und nach der Debatte mit Brot, Wein und Tabak mit Hunderten gefeiert. In anderen Kirchen wird der Klerus vertrieben, Messgewänder für ein frivoles Spektakel gebraucht. Der antiklerikale Geist ist seit der Französischen Revolution (1789) unter „einfachen Leuten“ noch immer bestimmend. Die Commune ist überzeugt: Der Katholizismus, „die Religion der allermeisten Franzosen“, darf nicht länger die staatlich privilegierte Konfession bleiben. Die Trennung von Kirche und Staat ist das erste Dekret der Commune: Der Klerus soll nicht länger vom Staat gut bezahlt werden. Und die Ordensleute dürfen nicht länger das Schulwesen bestimmen und den Lehrstoff nach kirchlicher Weisung gestalten. Trotzdem: In den meisten Kirchen geht das übliche Leben weiter.

Es gibt jedoch nur sehr wenige Priester, die auch nur die geringsten Sympathien für die Commune haben: Abbé Jean-Hippolythe Michon betont: „Die Arbeiter haben die Sehnsucht, dass die Leiden des Proletariates gelindert werden. Die Arbeiterklasse will endlich ihre Emanzipation, es geht um das schreckliche Problem des nicht gelösten Ausgleichs von Kapital und Arbeit“. Der Kirchenhistoriker Pierre Pierrard fasst zusammen: „Im Ganzen war die Kirche 1871 contra-revolutionär aus Überzeugung. Die Commune deutete sie als einen Aufstand, der von der Hölle und dem Teufel angestoßen wurde“. Zahllose Pamphlete und Artikel dokumentieren den abgründigen Hass des Klerus auf die Demokraten. Abbé Vidieu schreibt: „Die Leute der Commune sind undurchsichtige Schurken, ehrgeizige Proleten, sie beleidigen Gott, zerstören die Kirche“. Die Priester und ihre Bischöfe sind fixiert auf Weisungen Papst Pius IX.: Er hat 1864 in seiner Erklärung, dem „Syllabus“, Menschenrechte, Republik und Religionsfreiheit heftigst verurteilt. Weil er sich seit 1870 unfehlbar nennt, muss er wohl recht haben…

Am 21. Mai beginnt die katholische monarchistische Regierung, ihren finalen Rachefeldzug. Es ist die „Blutwoche“, ein unvorstellbares Inferno mitten im „christlichen“ Europa. Wahllos erschießen die Regierungstruppen Communarden auf offener Straße. Die völlig enthemmten Soldaten wurden gerade aus Kriegsgefangenen-Lagern Preußens entlassen: Bismarck hatte sie „freigegeben“, damit viele Sozialisten vernichtet werden. In Pariser Kasernen finden Massen-Hinrichtungen statt: „Bald floss von der Kaserne Lobau das Blut in zwei Bächen Richtung Seine, deren Wasser lange rot bliebt“, schreibt Louise Michel.

Und die Communarden? Sie kämpfen verzweifelt auf den Barrikaden. Und: Sie töten den Pariser Erzbischof Georges Darboy. Ihn hatten die Bürger festgenommen, als Geisel sollte er gegen einen ihrer gefangenen politischen Führer, Auguste Blanqui, ausgetauscht werden. Aber der Regierungschef lehnt ab: „Ein toter Erzbischof ist für uns propagandistisch wertvoller als ein lebender“. Erzbischof Darboy wird mit 6 anderen Klerikern erschossen.
Der verzweifelte Kampf der Commune auf den Barrikaden endet auf dem Friedhof Père Lachaise. Bis zum Juni geht diese „Orgie des Klassenhasses“ (Johannes Willms) weiter: Erst der Gestank der Leichenberge sorgt für ein Ende. Es wurden, so schätzen Historikern übereinstimmend, etwa 30.000 Communarden hingerichtet. Und die Communarden? Sie haben 1.300 Soldaten im Kampf erschossen.

Die katholische Kirche hat keinen Versuch gemacht, Frieden zu stiften. Anders die damals bedeutenden Freimaurer: In Paris unterstützen sie die Commune, während in Versailles Logenbrüder“ der Regierung nahestehen. Trotzdem suchen die Logenbrüder das Gespräch mit der Regierung und erreichten einen Waffenstillstand, um Menschen im Ort Neuilly zu evakuieren.
Die Kirche unterstützte auch nach der Auslöschung der Commune die antirepublikanischen und zunehmend auch antisemitischen Kräfte. Die reationäre Regierung setzte sich für den Bau der Basilika Sacré-Coeur auf dem Montmartre ein, als „Sühne für die Verbrechen der Commune“. Vom Massenmord an den Pariser Bürgern sprach niemand. Später wird sogar eine Kirche „Unsere liebe Frau der Geiseln“ gebaut.
In der marxistischen Geschichtsphilosophie wird die Commune als eine wichtige Etappe der „Revolution“ gewürdigt. Aber mit dem Bolschewismus hat sie nichts gemeinsam.
Die katholische Kirche hat die Commune nur als Unglück gedeutet. 1905 setzten die Republikaner die Trennung von Kirche und Staat durch. Die Kirche versucht zwar die Arbeiter zu gewinnen, richtet Vereine ein oder fördert das caritative Engagement der Laien, etwa in Suppenküchen. Die tiefe Kluft zu den Linken und Republikanern wird so nicht überwunden. Einige katholische Intellektuelle verteidigten die Republik, und sie wurden von 1930 -1970 öffentlich beachtet, aber sie haben kaum Nachfolger gefunden.
Erst nach 1945 begann die katholische Kirche, sich langsam mit der Republik zu versöhnen. Aber Demokratie, Aufklärung, Selbstbestimmung sind der Kirche immer noch suspekt. Heute nennen sich nur noch 35 % der Franzosen katholisch. Vor 75 Jahren z.B. waren es noch 90 Prozent.

Zum Thema “Pariser Commune und Katholische Kirche”: Pierre Pierrard, L église de France face aux crises révolutionnaires (1789 – 1871), Le Chalet, 1974. ders.,”l Eglise et la Révolution”, ed. Nouvelle Cité, 1988, dort die Seiten 213 – 246.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin
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2.
Die Pariser Commune – damals und heute: Hinweise, um weiter zu studieren.Von Christian Modehn

1.
Die Pariser Commune ist kein „Ereignis unter vielen“. Sie ist ein Einschnitt in der politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Geschichte nicht nur Frankreichs. Dieser kurze Aufstand der Republikaner gegen die Herrschaft der Reaktionäre der 3. Republik wird nie vergessen werden: Denn es waren die Herrschenden, Bürger, die sich brav nannten und katholisch waren und die rebellischen, „linken“ republikanischen Mitbürgern in Paris abschlachteten. Dies ist ein Trauma, das bis heute Frankreich ideologisch – politisch spaltet.
Und die katholische Kirche? Sie stand auf Seiten der Schlächter. Die Katholiken fühlten sich ideologisch – theologisch unterstützt von Papst Pius IX., der ganz offiziell von seinem Thron herab Menschenrechte als Verirrung und Sünde titulierte. Und dieser Stellvertreter Jesu Christi wurde auch noch im Jahr 2000 (!) „selig gesprochen“. Eine Tat Papst Johannes Paul II.

2.Zur allgemeinen politischen Situation:
Es gab Versuche, auch in anderen Städten „Communen“ der Selbstverwaltung der Bürger aufzubauen. Etwa in Lyon, vom 22.3 bis 25. 3. 1871, danach auch in Marseille, Narbonne, Saint Etienne und Toulouse. Sogar in Limoges gab es den Versuch, eine Commune zu errichten.
In Paris war die Gründung einer Commune deswegen sehr wichtig, weil die Bürger endlich eine eigene, selbstgewählte Stadtverwaltung haben wollten. Diese wurde ihnen vom zentralistischen Regime verwehrt.

3. Zur politischen Situation nach der blutigen Zerschlagung der Pariser Commune:
Bis 1876 wurden noch Mitglieder der Pariser Commune von der 1871 von der mordenden Regierung verurteilt. Erst 1880 wurde eine Amnestie für die Verurteilten und Verbannten ausgesprochen. Auch die bekannte Aktivistin und Autorin Louise Michel kehrte aus der Verbannung zurück und wurde von Georges Benjamin Clemenceau (zur Zeit der Commune war er Bürgermeister des 18. Pariser Arrondissements) empfangen.
Bei den Wahlen 1876 erlangten dann die Republikaner die Mehrheit in der Assemblée Nationale. Danach gab es Entscheidungen zugunsten der Republik und entsprechend zu Ungunsten der katholischen Kirche.
1880 wurden die ersten Gedenkfeiern an die Pariser Commune gestaltet.
Und am 14. Juli 1880 wurde wieder der – unter der reaktionären Regierung verbotene – Nationalfeiertag gefeiert, in Erinnerung an den Beginn der Revolution 1789.
Mit der Niederschlagung der Commune wurden die Arbeiter in Paris – aufgrund der radikalen Umgestaltungen der Wohnverhältnisse durch Haussmann – in die Vororte von Paris vertrieben (Banlieue). (siehe: Johannes Willms, „Paris, Hauptstadt Europas“, München, 1988, S. 451). Diese Vertreibung der Arbeiter, der einfachen Leute, der „Ausländer“, aus Paris, hat wohl bisher wohl kein Ende gefunden, die Gentrifizierung ist total: Paris gehört den Reichen.

4. Die „Belle Epoque“: Oder wie die (reichen) Bürger die Commune vergessen:
Die Ausführungen von Johannes Willms sind sehr aufschlussreich: Nach der Zerschlagung der Pariser Commune ist Paris nach außen hin wieder die glanzvolle Metropole, die Welt der Café – Concerts und der Music-Halls; das Paris, in dem „nicht immer (!) schamlos gesungen, getanzt und geschauspielert wurde“ (S.452). Paris, als „das Paradies der Libertinage“ (ebd.). An das Gemetzel und die Ströme von Blut auf den Straßen im Mai 1871 dachten die oberen Schichten und die vielen neugierigen Touristen, vor allem aus England, nicht mehr. Drei Weltausstellungen fanden in der so genannten „Belle Epoque“ in Pais statt. Walter Benjamin sprach in dem Zusammenhang von den „Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware“ (Passagen-Werk). Maupassants Roman „Bel ami“ ist das erhellende literarische Zeugnis für dieses Paris. „Es wurde von einer geldgierigen und machthungrigen Gesellschaft beherrscht“ (Johannes Willms, S. 457). Wenige Jahre nach dem Versuch, eine demokratische Commune zu errichten, herrschte also in Paris „das trügerische Versprechen käuflicher Freiheit von den alltäglichen Zwängen der Moderne“ (S 457)

5. Zur Situation der Katholiken bzw. der katholischen Kirche vor der Commune:
Der Katholizismus war seit dem Konkordat von 1801 die anerkannte und „wichtigste Religion der Franzosen“, der tatsächlich weit mehr als 90 Prozent der Einwohner durch Taufe angehörten. Unter Napoléon III. gab es zwar Spannungen mit der französischen Kirche wegen dessen sehr unterschiedlichen Eintretens für den Kirchenstaat. Das berühmte Gesetz „Loi Falloux“ brachte 1850 der Kirche aber viel finanzielle Unterstützung für die katholischen Schulen. Insgesamt war der offizielle, sich nach außen so furchtbar gläubig zeigende Katholizismus unter Napoléon III. sehr bürgerlich, sehr monarchistisch und sehr antirepublikanisch. Die Kirche blühte auf, die Klöster füllten sich mit neuen Mitgliedern, die Marienverehrung war kaum zu bremsen, zumal Maria in Lourdes (im Jahr 1858) angeblich „höchstpersönlich“ dem Mädchen Bernadette Soubirous als Wunder erschienen war.
Auch schon in den Jahren vor der Pariser Commune gab es keinen Raum für ein freies theologisches Denken. Das wird am Schicksal etwa der Theologe Lamennais, Lacordaire oder des Schriftstellers Montalambert deutlich. Ihr Bemühen, Katholizismus und individuelle Freiheit, Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit endlichzu verbinden, wurde von Papst Pius IX. verboten. Katholizismus und geistige Tyrannei – dieser Gesamteindruck herrschte im Volk, auch in Paris vor, bei einem republikanischen Volk, das nicht länger an Wunder und päpstliche Unfehlbarkeit (1870) glauben wollte.

6. Der Gebrauch der Pariser Kirchengebäude während der Commune:
Es muss genau beachtet werden, in welcher Vielfalt die in sich politisch auch vielfältige Pariser Commune mit der Nutzung der Kirchengebäude umging. So hatte die Commune den Beschluss gefasst, die berühmte „Sühnekapelle zum ehrenden Gedenken an König Ludwig XVI. und Marie Antoinette“ (im 8. Arrondissement) abzureißen. Diese Kapelle sollte vor Gott Abbitte leisten für die Untaten des Volkes, also die Tötung des Königspaares während der Revolution. Aber die „Sühnekapelle“ rührten die Communarden nicht an. Nur ein Kirchengebäude wurde zerstört: Notre Dame de Bercy. Die Kirche St. Pierre de Montmarte wurde geschlossen und im großen Kirchenschiff wurde ein Schneiderwerkstatt eingerichtet, zur Produktion von Uniformen der Pariser Nationalgarde. Sehr beliebt war die Kirche St. Ambroise im 11. Arrondissement, dort gaben die Debattierclubs sogar eine eigene Zeitung heraus.
Diese Clubs in den Kirchengebäuden spielten für die Commune eine wichtige Rolle: Es ging um die „Befreiung des Wortes“ auch bei denen, die bisher ihre Meinung eher selten frei äußern konnten.

7. Die Entwicklung des katholischen Glaubens nach der Commune:
Der Glaube, nach außen hin jedenfalls, blühte auf. Die royalistischen und reaktionäre Politiker unternahmen als fromme Katholiken Wallfahrten nach Chartres. Die riesige Kirche Sacre Coeur de Montmartre wurde von höchster politischer Seite gefördert: Dort, wo die Rebellion der Pariser Commune begann, sollte eine monströs wirkende Kirche, hoch oben auf Paris herabblickend, Sühne leisten für die Verbrechen der Communarden. Diese Verbrechen waren zwar auch schlimm, aber als Widerstand gegen den Aggressor, zahlenmäßig betrachtet, her unbedeutend gegenüber den viel umfassenderen Verbrechen und Morden der katholischen Regierung.
Als die Republikaner die Mehrheit im Parlament hatten, wurde die Macht und der Einfluss der katholischen Kirche – wie zur berechtigen Strafe, möchte man sagen – immer mehr eingeschränkt, bis hin zum Gesetz zur Trennung von Kirchen und Staat im Jahr 1905. Dieses Gesetz der „laicité“ des Staates bestimmt bis heute die Debatten der Politik. Der Antisemitismus gehörte zu der Zeit förmlich zum Glaubensbekenntnis der Katholiken, in der schrecklichen Dreyfus – Affäre war die katholische Presse (aus dem Verlagshaus der französischen Augustiner „La Bonne Presse“, sic) führend in der unverschämten Polemik. Dann war in den zwanziger Jahren die ebenfalls antisemitische katholisch sich gebende „Action Francaise“ einflussreich; Marschall Pétain wurde als guter Katholik verehrt, später gründete dann Erzbischof Marcel Lefèbvre seine traditionalistische Priesterbruderschaft, tatsächlich eine eigene Kirche am Rande des römischen Katholizismus. Sie ist in Frankreich bis heute sehr bedeutend und hat Neugründungen, die so tun, als wären sie auf der Linie des Papstes, wie das „Institut du Bon Pasteur“, de facto aber sind diese Kreise (auch das Kloster le Barroux bei Avignon) so reaktionär wie schon seit 1920. Aber mit diesen reaktionären Kreisen wollte sich schon Papst Benedikt XVI. unbedingt versöhnen, d.h. diese Leute in der römischen Kirche integrieren, auch von Papst Franziskus werden ähnliche Ambitionen berichtet. Es geht dabei um eins: Die römische Kirche braucht die vielen jungen Priester, die tatsächlich in diesen eher fundamentalistischen Kreisen ihre „göttliche Berufung“ finden, wie man so sagt.

8. Über einen „linken Katholizismus“ in Frankreich
Eine „ferne“ Wirkung des Geistes der Pariser Commune ist bei den Arbeiterpriestern lebendig. Es gab bekanntlich ab ca. 1950 Arbeiterpriester in den Fabriken, die dann Mitglieder der Gewerkschaft CGT (und bewusst nicht der christlichen Gewerkschaft CFTC) wurden, diese CGT war kommunistisch orientiert. Sie wurde 1895 von Aktivisten gegründet, die dem Geist der Commune nahestanden, sie wurden „Liberatier“ genannt (vgl. den Aufsatz von Alain Dalotel, Die Pariser Commune 1891: https://transversal.at/transversal/0805/dalotel/de)

Nach einem anfänglichen Misstrauen der CGT gegenüber den Priestern in der Fabrik entwickelte sich bald ein Vertrauensverhältnis. „Die Arbeiterpriester mussten, um militante Gewerkschaftler zu sein, Partei ergreifen, sie mussten die übliche Neutralität des Priesteramtes verlassen, es bildete sich – etwa bei dem Arbeiterpriester Henri Barreau, eine vitale Synthese von christlichem Bewusstsein und Klassenkampf.“
( zit in: https://books.openedition.org/pur/18915?lang=de, ein Artikel von Nathalie Vier-Depaule).
Ein Arbeiterpriester wird in dem Aufsatz zitiert, er lässt förmlich den Geist der Commune noch einmal ahnen:“ Für uns Priester geht es nicht darum zu evangelisieren im Sinne des Indoktrinierens. Sondern es geht um die aktive Zusammenarbeit mit den Kollegen, die sich um die ihre Befreiung bemühen… Durch unsere Gegenwart in der Fabrik wie in der Gewerkschaft CGT heben wir eine schreckliche Last auf, die des Schweigens, des Unverständnisses und der Feindschaft der Kirche gegenüber den Taten der Arbeiter.“ 1954 hat dann Papst Pius XII. in seiner panischen Angst vor den Kommunisten das Experiment der Arbeiterpriester verboten. Das war eine Katastrophe für den Versuch, einen pluralen Katholizismus zu leben, der auch solidarisch verbunden mit den Arbeitern ist. Alle Versuche, „die“ Arbeiter wieder in eine Nähe zur Kirche zu bringen, sind seitdem gescheitert. Die Kirche ist die Kirche der biederen, wohlhabenden mindestens der „honnetes gens“ bis heute: Wer noch Priester wird, kommt in Frankreich aus diesen Kreisen (aus Versailles oder den wohlhabenden Arrondissements von Paris oder aus Neuilly etc) .

9.
Wirkungen der Pariser Commune in der Theologie des Katholizismus heute:
In der frühen Geschichte der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, also Mitte der neunzehnhundertsiebziger Jahre, wurde diskutiert: Mit welchen politischen Aktionen können sich die Menschen und die christlichen Gemeinden aus der Dependenz, also der Abhängigkeit vom Imperialismus und den USA, befreien. Die einen gaben die „klassische“ Antwort: Dies kann mit Hilfe der sozialistischen und kommunistischen Parteien geschehen. Andere bezogen sich auf die Selbstverwaltung und die Arbeiterräte, und sie sahen darin eine Inspiration in der Selbstverwaltung der Pariser Commune. Der Historiker Agustín d Acunto (Buenos Aires, Argentinien) berichtet im Jahr 2012 in der Zeitschrift „Virajes§ über die entsprechenden Forschungen von Miguel Mazzeo zum Thema: (http://vip.ucaldas.edu.co/virajes/downloads/Virajes14(2)_4.pdf)
Dies ist eine der wenigen Studien über eine Wirkungsgeschichte der Pariser Commune in katholischer Theologie und Praxis.
Das bedeutet: Die Pariser Commune hat wegen der maßlosen Hetze der katholischen Konservativen, der Anti-Republikaner, einen ganz üblen Ruf in der Kirche behalten. Manchmal mag der Geist der Commune noch aufgeflackert sein bei einzelnen Theologen, wie dem Dominikanerpater Jean Cardonnel und seinen Predigten bzw. Vorträgen im Pariser Mai 68.

10.
Die Protestanten und die Juden waren zur Zeit der Pariser Commune zahlenmäßig sehr unbedeutend. Und sie waren eher aufseiten der Republikaner, weil sie wussten: “Erst die Französische Revolution hat uns Protestanten und Juden in Frankreich die Möglichkeit geboten, frei unseren Glauben zu leben”. Sie waren also schon aufgrund früherer Verfolgung durch die Monarchie selbstverständlich republikanisch…

11.
Die französische Nationalversammlung hat am 29. November 2016 die Pariser Ciommunarden, die Opfer der staatlichen Repression, offiziell rehabilitiert. Die Initiative dafür ging von den regierenden Sozialisten aus mit der offenen Verurteilung durch die Parteien der Rechten. Der Präsident der Kommission für kulturelle Angelegenheiten, der sozialistische Abgeordnete Patrick Bloche (Paris), nannte diesen feierlichen Akt des Staates eine Pflicht der Geschichte und der Gerechtigkeit!

12.
Der „Verein der Freunde und Freundinnen der Pariser Commune“ (Adresse siehe unten) hat im Jahr 2020 dagegen protestiert, dass der berühmten Basilika „Sacre Coeur de Montmartre“ der Ehrentitel „historisches Monument“ verliehen wird. „Diese Kirche ist wie ein Symbol der damaligen sogenannten „moralischen Ordnung“ (der mordenden Regierung in Versailles) und diese Kirche ist auch ein Symbol par excellence für den Geist der „Anti-Commune“. Diese Auszeichnung ist nicht würdig für die heutige Republik und sie passt auch nicht zu einem jenem Teil der christlichen Welt, der sich heute in den Werten der Pariser Commune wiedererkennt“. (Bekanntlich war die Kirche Sacre Coeur de Montmartre als Sühnekirche für die Verbrechen der Communarden gedacht, von den Verbrechen der Regierung sprach niemand).

13.
Es wurde auch eine weitere Kirche in Paris zur Verehrung derer errichtet, die von den Communarden als Geiseln festgehalten, dann aber erschossen wurden, weil sich Staatschef Thiers weigerte, die Geiseln gegen einen der großen Inspiratoren der Commune, Louis – Auguste Blanqui, auszutauschen:
Über diese katholische Gemeinde „Notre Dame der Geiseln“ in Paris 20. LINK

14.
Es gibt in Paris einen sehr aktiven „Verein der Freunde der Pariser Commune“ mit vielen Informationen und Publikationen: LINK
15.
Zum weiteren Studium empfehle ich den Beitrag: “Aux origines de la commune”, 2018, von Marc Lagana, LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.