Von den Abgründen der Seele und dem Wahnsinn der Politik: Francois Mauriac.

Die Abgründe der Seele und der Wahnsinn der Politik

Über den Schriftsteller Francois Mauriac
Hinweise von Christian Modehn

1.
Wer heute an den Schriftsteller Francois Mauriac erinnert, bezieht sich nicht auf eine Gestalt und ein Werk von vorgestern, wie dies jetzt gern behauptet wird! Mauriac ist doch erst vor 50 Jahren gestorben. Aber die Distanz – wie ist sie zu dieser nahen und doch fern wirkenden Zeit und ihrer Kultur mit dem Schriftsteller Mauriac zu verstehen? Unter den Jüngeren, zumal in Deutschland, ist Mauriacs Name kaum noch ein Begriff. Können Gedenktage wieder zur lebendigen Erinnerung, zum Denken, führen? Der Nobelpreisträger für Literatur (1952) Francois Mauriac wurde vor 135 Jahren, am 11. Oktober 1885 geboren und vor 50 Jahren, am 1.9.1970, ist er gestorben.
2.
Mauriacs Romane werden, selbst in seiner Heimat,in Frankreich, wie die Tageszeitung „La Croix“ (Paris) kürzlich schrieb, kaum noch gelesen, genauso seine Gedichte, auch seine Theaterstücke werden nicht mehr aufgeführt. Aus einem eher politischen Interesse werden seine berühmten, oft spitzen und polemischen, journalistisch – literarischen „Bloc-Notes“, seine „Notizblöcke“, neu herausgegeben, Notizen, die er über viele Jahre (von 1952 -1970) in verschiedenen Zeitungen veröffentlichte (jetzt im Verlag Laffont als „Bouquins“ neu herausgegeben).
3.
Mauriac gehört prominent zu einer Epoche der französischen Kultur, die etwa von den 1930 Jahren an einen Aufschwung ganz eigener Art erlebte: Es gab damals in Frankreich parallel und dialektisch – disputierend verbunden mit der vorherrschenden säkularen, agnostisch – atheistisch und politisch oft kommunistisch orientierten Kultur eine starke, sichtbare und durchaus auch respektierte intellektuelle katholisch geprägte Literatur und Philosophie. Und dies in einem Staat, der bekanntlich seit 1905 von der Trennung von Kirchen (Religionen) und Staat bestimmt war, mit einer einflussreichen antiklerikalen Mentalität und militanten atheistisch – freidenkerischen Organisationen. Diese stark wahrgenommene Präsenz katholischer Schriftsteller, Journalisten und Philosophen in Frankreich von etwa 1930 bis 1970 ist aus heutiger Sicht nichts anders als erstaunlich zu nennen: Da gibt es Intellektuelle, die sich dem katholischen Glauben anschließen, von Bekehrungserlebnissen sprechen, obwohl sie wissen, welche konservativ – reaktionären Positionen im Vatikan vertreten werden. Schriftsteller, wie Mauriac, haben in ihren Werken zentrale Themen des Glaubens und der katholischen Dogmatik literarisch bearbeitet und individuell geformt. Und das haben damals viele Leser begeistert aufgenommen. Mauriac hat die Bürokratie der Kirche, die Verlogenheit ihrer offiziellen Theologie, öffentlich kritisiert, aber an seiner Verbundenheit mit der Institution Kirche im allgemeinen hat er dennoch festgehalten. Aus einem vielleicht letztlich „kindlichen“ Glauben, den ihm seine fromme Mutter vermittelt hatte…
4.
Aber: Ich denke, es gehört einfach zum Verstehen „unserer“ Gegenwart, den tiefen Bruch hinsichtlich der religiösen Mentalitäten im 20.Jahrhundert wahrzunehmen. Ich habe vor einigen Jahren auf spirituelle Aspekte heutiger französischer Literaten hingewiesen, aber es sind eben „nur“ spirituelle Aspekte, keine direkt christlichen, geschweige denn katholische. (Siehe den LINk: https://religionsphilosophischer-salon.de/10014_auf-der-suche-nach-dem-verlorenen-gott-religioese-fragen-franzoesischer-schriftstellerinnen-von-heute_gott-in-frankreich)
Das ist eine Beschreibung von Tatsachen, keine Wertung, wobei natürlich zu fragen wäre: Welchen Anteil die katholische Kirchenführung über all die Jahre hat, dass sich eigentlich kaum noch ein französischer Intellektueller mit der Kirche und ihrer Lehre identifizieren kann. In Deutschland, ja in ganz Europa ist das genauso. Unter den großen französischen Historikern gab es bsi vor kurzem noch einige wenige bekennende Katholiken, wie Prof. Jean Delumeau, aber auch er hatte zur Kirche insgesamt ein gut begründetes kritisches Verhältnis.
Nebenbei: Das noch katholische Milieu Frankreichs ist heute geprägt von Angestellten und Beamten, Mitarbeitern aus der Wirtschaft und Technik … und sehr vielen Rentnern…
5.
Auch wenn nicht alle Romane Mauriacs explizit die Verbundenheit seiner ProtagonistInnen mit dem Thema Sünde, Gnade, Schuld, Strafe, Gottes Gericht bezeugen: Die innere Welt dieser „Mauriac-Menschen“ ist ohne die katholische Prägung des Autors nicht zu begreifen. Und das Erstaunliche ist ja, dass Mauriacs Romane damals auch außerhalb Frankreichs viel gelesen wurden, schließlich hat Mauriac 1952 für dieses sein katholisches Werk den Literatur Nobelpreis erhalten: „Für die tiefe spirituelle Reflexion und künstlerische Intensität, mit der seine Romane eingedrungen sind in das Drama des menschlichen Lebens“, wie es in der Begründung aus Stockholm heißt.
6.
Zu den Romanen: Der Theologe und hervorragende Kenner der Literatur, Pater Jean-Pierre Jossua aus dem Dominikaner – Orden in Paris, hat darauf hingewiesen: Es gibt nur wenige Romane Mauriacs, die nicht unmittelbar von Themen der christlichen Glaubenswelt und katholischen Tradition geprägt sind, dazu gehört wohl das Meisterwerk „Thérèse Desqueyroux“ (1927). Ein Roman, der die leere und moralisch miserable Welt in Mauriacs Heimat, Bordeaux und die Umgebung mit den großen Weingütern und deren Chateaux, beschreiDer Roman zeigt „la misère de l homme sans Dieu“, schreibt Mauriac und, wie Kritiker betonen, „die gefrorene Oberfläche der Seele“…Über die Protagonistin Thérèse Desqueyroux hat Mauriac später noch weitere Texte verfasst, wie „La fin de la nuit“ (1935)…
Als Meisterwerk gilt auch „Le Noeud de Vipères“ (Natterngezücht) von 1932, auch dieser Roman führt in das menschlich so zerstörerische bourgeoise Milieu, voller Bosheit, eine Welt, die Mauriac bestens kannte.
7.
Seine tiefe spirituelle Bindung an zentrale Dogmen der katholischen Kirche war für Mauriac überhaupt kein Hindernis, ausdrücklich für Reformen und Neuansätze in der französischen Kirche einzutreten. Insofern wird er durchaus zurecht als „linker Katholik“ dargestellt. Konflikte mit der Kirchenleitung scheute er nicht, sein literarisches, nicht exegetisches Jesus-Buch „Vie de Jesus“ (1936) zeigt den Mann aus Nazareth in seiner ganzen Menschlichkeit, was der auf „Göttlichkeit“ bedachten Hierarchie gar nicht gefiel und erwartungsgemäß Mauriac attackierte. Wichtig ist in dem Zusammenhang bis heute sein Vortrag „Die Nachahmung der Henker von Jesus Christus“, den er am 15. November 1954 vor der „Vereinigung katholischer Intellektueller“ (auch das gab es damals!) hielt und darin zeigte: Eigentlich sind die sich brav fühlenden Christen in ihrer rassistischen und kolonialistischen Haltung ebenfalls Henker („bourreaux“) wie die Misstäter, die Jesus Christus ans Kreuz geschlagen haben. Die sich katholisch nennenden Henker sah Mauriac damals in weiten Kreisen der französischen Politiker und Militärs, die etwa brutal den Freiheitswillen der Marokkaner niederknüppelten. Dieser Vortrag Mauriacs wurde erst 1984 als Buch veröffentlicht (bei Desclée de Brouwer).
Schon 1933 hatte sich der eigentlich konservativ geprägte Katholik Francois Mauriac aus großbürgerlichem Hause zum Verteidiger der Menschenrechte entwickelt, als er die Aggressionen Mussolinis in Äthiopien verurteilte und sich den links-katholischen und vatikankritischen Zeitschrift „Temps présent“ (ab 1937 mit einem Beitrag jede Woche auf der ersten Seite vertreten) anschloss. Heute werden diese Ideen fortgesetzt in der Revue „Parvis“ an der sich auch liberale Protestanten beteiligen. (https://www.reseaux-parvis.fr/)
8.
Ein eigenes Kapitel ist die Unterstützung Mauriacs für die in den 1940 bis 1950 Jahren „berühmten“, aber vom Vatikan letztlich verurteilten Arbeiterpriester. „Der Arbeiterpriester ist für Mauriac vor allem die Möglichkeit, das Christentum von der bourgeoisen Korruption zu befreien“ (zit. in dem großartigen von Jean Louis Schlegel u.a herausgegebenen Buch „A la Gauche du Christ“, ed. du Seuil, 2012, S.128 f). Mauriac kennt gut die Arbeiterpriester, etwa in der Wohngemeinschaft in Montreuil bei Paris mit André Depierre und Geneviève Schmitt. Er schätzt deren Versuch, einen nicht bürgerlichen Katholizismus mit den Arbeitern und den Armen zu leben. Aber, als Rom unter Papst Pius XII. im Jahr 1954 das „Experiment der Arbeiterpriester“ stoppt, ist Mauriac hin – und hergerissen zwischen der Treue zur Institution und dem von vielen anderen geforderten Widerstand gegen diese römische Entscheidung. Mauriac entschied sich dann doch für die Treue zur Institution. „Es ist ihm unendlich viel leichter, sein Talent zu entfalten im Namen der Caritas und der Gerechtigkeit, etwa in seinem Kampf gegen die Folter (von Franzosen ausgeübt) in Nordafrika als in der Anklage der katholischen römischen Bürokratie. In letzter Instanz führt ihn seine Gläubigkeit immer dazu, diese kirchliche Bürokratie zu rechtfertigen“ (a.a.O., S. 130).
9.
Mauriac, wie gesagt, großbürgerlicher, „bourgeoiser“ Herkunft und in einer letzten frommen Anhänglichkeit mit der Institution Kirche verbunden, war kein politisch militanter Verteidiger der Menschenrechte, sicher kein Linker, aber bekannt ist sein Einsatz zugunsten der Résistance. Wegen seiner Haltung in der Résistance gehörte er im Herbst 1945 zu dem „Conseil National des Ecrivains“ (CNE), der die Aufgabe hatte, mit dem Pétain Regime und mit dem französischen Nazis verbundene Schriftsteller zu überprüfen, zu „säubern“ und den Strafen zuzuführen, wenn sie denn Verbrechen der Okkupation begangen hatten. Mauriac gehörte zu diesem Kreis der mit den „Säuberungen“ Beauftragten neben Malraux, Camus, Sartre, Aragon und anderen. Er war in diesem Kreis des CNE eher ein Gemäßigter. Mit Claudel, Anouilh, Colette hatte er sogar ein – letztlich vergebliches – Gnadengesuch für den Nazi-Schriftsteller Brasillach unterschrieben. Brasillach wurde hingerichtet; ein anderer rechtsextremer Poet, Céline, konnte fliehen und wurde 1951 begnadigt. Unter de Gaulle wurde alles unternommen, Frankreich als Land der Résistance zu etablieren, was den Fakten nicht entsprach.
Interessant ist in dem Zusammenhang Mauriacs Beziehung zu Camus. Mauriac schätzte Camus, auch wenn es mit ihm Streit gab in der Einschätzung der épuration. Mauriac war überzeugt: Absolute Gerechtigkeit kann es in der Welt nicht geben. Anläßlich des plötzlichen Todes des großen Humanisten Camus konnte Mauriac nicht darauf verzichten zu sagen: „Schade, dass Camus kein Christ war“.
10.
Meine Hinweise haben nur an einige Aspekte im Werk Francois Mauriacs aufmerksam machen wollen. Über Mauriacs Verehrung für de Gaulle wäre zu sprechen genauso wie über die nun deutlicher diskutierte homosexuelle Neigung Mauriacs, die Jean Luc Barré in seiner „Biographie intime“ (im Verlag Fayard) ausführlich würdigt. Barré stellt auch die Frage, wie diese von Mauriac niemals öffentlich gemachte homosexuelle Neigung (er war bekanntlich verheiratet und hatte vier Kinder) das eigene Werk, die Romane etwa, verschwiegen, aber „strukturell“ auch prägt…Dass die tiefe Verbindung zum bourgeoisen Milieu und die von der Mutter vermittelte Abhängigkeit von der katholischen Lehre auch nicht gerade förderlich war für ein öffentliches Bekenntnis (Coming-out), ist auch klar. (vgl.: https://www.lemonde.fr/idees/article/2010/10/29/jean-luc-barre-mauriac-a-lutte-contre-le-feu-qu-il-portait-en-lui_1432937_3232.html)
11.
Um noch einmal an den Anfang dieser Hinweise zurückzukommen: Kulturwissenschaftlich betrachtet, ist das „Verschwinden“ katholischer Intellektueller (Schriftsteller, Philosophen usw.) in Frankreich, aber auch in vielen europäischen Staaten im 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ein philosophisch zu bedenkendes „Zeichen der Zeit“. In Paris wurde das schon erwähnte „Zentrum der katholischen Intellektuellen Frankreichs“ in der Rue Madame in Paris im Jahr 1977 aufgelöst… weil es so viele katholische Intellektuelle einfach nicht mehr gibt …Und vielleicht ist manch ein „säkularer“ Autor tatsächlich auch von „christlichem“, jesuanischen Geist geprägt…
Noch einmal: Für diesen hier nur angedeuteten kulturellen – religiösen Umbruch als Vertreibung Intellektueller aus der Kirche ist die katholische Kirchenführung, also der alles bestimmende Klerus, selbst mit verantwortlich: Sie hat sich über all die Jahre trotz mancher Reformen bzw. Reförmchen als hierarchisch-antidemokratische und letztlich auch Frauen- und Homosexuellen feindliche Institution etabliert. Sie hat die Kritik von Mauriac in seinem schon zitierten Vortrag über die „Nachahmung der Henker von Jesus Christus“ nicht beantwortet: „Ich bin wie besessen von all den Kreuzen, die immer noch errichtet werden von dieser blinden und tauben Christenheit…“(Seite 17). “Und der Lauf der Geschichte wurde nicht von Heiligen bestimmt. Sie haben zwar Herzen und Geist bewegt. Aber die Geschichte ist kriminell geblieben“ (Seite 21).
12.
Das Schloss und der Park der Domaine Malagar, Mauriacs „Landsitz“, ist heute das „Centre Culturel Francois Mauriac“ http://malagar.fr Oder: https://monumentum.fr/domaine-malagar-actuel-centre-culturel-francois-mauriac-pa00083896.html

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Über universale Werte, die alle Menschen respektieren sollen: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“.

Das neue Buch des Philosophen Markus Gabriel
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Warum ist ein philosophisches Buch, also ein Buch zum Philosophieren, wichtig und bedeutend? Wenn es die LeserInnen zum Nachdenken, Weiterdenken, Erstaunen, Kritisieren und schließlich auch zur Anerkennung überraschender Erkenntnisse führt … und dann eine Erschütterung hinterlässt, z.B.: Wie sehr man als LeserIn bisher hinter dem philosophisch klar bewiesenen Guten zurückgeblieben ist… und eigentlich zum neuen Handeln aufgerufen ist: Also der Erkenntnis folgend, man müsste Neues zu tun, auch in der eigenen Lebenspraxis, die ja nie nur privat, sondern immer auch politisch ist.
2.
Ich bin überzeugt, das neue Buch des inzwischen bekannten Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel erfüllt die oben genannten Kriterien. Schon der Titel weist in die politische Gegenwart: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“, und dies ohne Fragezeichen. Dass die Zeiten dunkel sind, dürfte allgemeine Zustimmung finden. Erst der UNTER – Titel macht den philosophischen Ansatz dieser Gegenwartsphilosophie von vornherein brisant:„Universale Werte für das 21. Jahrhundert“. Eine provozierende Formulierung! Provozierend für alle, die noch in der postmodernen Beliebigkeit und dem totalen Relativismus befangen sind und nun zur Erkenntnis universaler Werte geführt werden sollen. Und diese universalen Werte werden nicht religiös begründet oder in den Rahmen einer politischen Ideologie gestellt: Sie werden aus der Vernunft, der allgemeinen, begründet. Markus Gabriel geht von der These aus: Die Menschen als von der Vernunft bestimmte Wesen haben eine gemeinsame, allgemeine Vernunft, aus der sich selbst bestimmte universale Werte ergeben. Damit wird eine elementare Einheit der in sich pluralen Menschheit anerkannt. Rassismus in welcher Form auch immer ist also definitiv als vernunftwidrig ausgeschlossen.
Problematisch mag der Anspruch des Autors erscheinen, wenn er pauschal vom „21. Jahrhundert“ spricht, wo doch dieses 21. Jahrhundert gerade mal erst mit allen Problemen begonnen hat und mancher befürchtet: Wenn alles politisch (populistisch, antidemokratisch), ökologisch und damit neoliberal so weitergeht wie bisher, ist es vielleicht das letzte Jahrhundert für einen Teil der Menschheit.
Die philosophischen Erkenntnisse Markus Gabriels sind zudem von Gewicht, weil sie auch deutlich auf die Corona – Pandemie bezogen sind. Diese hat einerseits Solidarität wachgerufen, andererseits schwierige ethische Fragen, wie die Triage aufgeworfen.
3.
Im Zentrum seiner Argumentation steht also der Hinweis auf „moralische Tatsachen“, die, wie Gabriel betont, „einzig in der universalen Menschenvernunft begründet werden können und müssen“ (343)..
Diese universal für alle Menschen geltenden moralischen, also das geistige Wesen des Menschen auszeichnenden, „Tatsachen“ sind für Gabriel identisch mit einigen universalen Werten. An diese zu erinnern und sie zu beleben ist der Zweck des Buches, das sich nicht zuletzt wegen der leichten „Lesbarkeit“ an weite Kreise richtet.
Es erstaunt dabei, dass Markus Gabriel mit aller Vehemenz auf den allgemein geltenden universalen Werten beharrt. Er sieht die ganze Menschheit unter die Aufforderung gestellt, universale Werte zu realisieren, also das jeweils gebotene Gute zu tun und das durch die Vernunft deutlich gewordene Böse zu unterlassen. Dass sich dabei das Gute bzw. das Böse jeweils inhaltlich auf konkrete Situationen bezogen bleibt, also alles andere als abstrakt bleibt, ist klar.
Wenn das Gute immer mehr realisiert wird, dann wird auch der moralische Fortschritt befördert, von dem Gabriel überzeugt ist. Moralischer Fortschritt ist eine eigene Realität, ist grundlegend, der allen selbständigen Fortschritt in Wissenschaften und Technik und Naturbeherrschung wie eine Art Leitplanke bestimmen sollte.
Aber dieser dringende moralische Fortschritt gelingt nur in der Kraft der Reflexion. „Gegen dunkle Zeiten hilft (philosophische) Aufklärung. Sie setzt das Licht der Vernunft und damit moralische Einsicht voraus…Moralischer Fortschritt besteht darin, dass wir besser erkennen, was wir tun bzw. was wir unterlassen sollen“ (19).
4.
Moralische Tatsachen sind die Normen fürs Handeln der Menschen, sie zeigen differenziert, aber doch allgemein, „was erlaubt ist“ (12). Deutlich wird dabei das Gute und das Böse, aber auch der Bereich dazwischen, den Gabriel „das Neutrale“, das „Indifferente“, nennt (43, auch 103). Also jenen Bereich des alltäglichen Handelns, in dem wir uns oft routiniert bewegen und tun, was nicht moralisch von Bedeutung ist, etwa das Aufräumen oder das Säubern der Wohnung, wobei ein übermäßiger Wasserverbrauch wieder in den Bereich des moralisch Verwerflichen führen kann: man sieht, es gibt Übergänge auf der Skala „Gut-neutral-böse“…
5.
Es überrascht angesichts der Debatten über Relativismus und Postmoderne sicher, mit welcher Bravour Gabriel von den objektiv bestehenden moralischen Tatsachen spricht. “Es gibt moralische Tatsachen, die vorschreiben, was wir tun und was wir unterlassen sollen“ (39). Diese Tatsachen erkennt die Vernunft als solche mit absoluter Gewissheit: Etwa: „Keine Kinder quälen“ (40, noch einmal 91); „die Umwelt schützen“, alle Menschen möglichst gleich behandeln“, also allen die gleichen elementaren Lebensrechte zugestehen (40). Diese moralischen Tatsachen sind universal, gelten kulturübergreifend. Man möchte sagen, sie gelten ewig, wenn damit nicht ein Anklang an religiöse Maßstäbe wach würde, die Gabriel zurecht als Begründung ablehnt, weil sie eben einer bestimmten Tradition entstammen und nicht von der allgemeinen Vernunft erzeugt sind.
6.
Diese moralischen Tatsachen, diese Maßstäbe zur Beurteilung von gut und schlecht, nennt Gabriel WERTE“ (44).
Wie im einzelnen die universal geltenden Werte tatsächlich Schritt für Schritt aus der Vernunft entwickelt werden, zeigt Gabriel meines Erachtens nicht deutlich. Er setzt sie gleich am Anfang als gegeben voraus: „Die Geltung moralischer Aufforderungen liegt vielmehr in ihnen selbst begründet“ (92). Sie zeigen ihre Lebendigkeit und ihre Kraft im Gewissen. Erst später erinnert Gabriel an die Formen des „Kategorischen Imperativs“ von Kant als den Maßstab moralischer Orientierung (144 ff). Aber es hätte meines Erachtens noch deutlicher gezeigt werden können, dass aus dem kategorischen Imperativ die von Gabriel universal geltenden moralischen Tatsachen entwickelt werden können.
7.
Gabriel nennt praktische Forderungen, die sich aus seiner Erkenntnis ergeben: „Wir brauchen eine neue Aufklärung. Jeder Mensch muss ethisch ausgebildet werden, damit wir die gigantische Gefahrenlage erkennen, die darin liegt, dass wir moralisch verblendet fast ausschließlich Naturwissenschaft, Technik und der neoliberalen Marktlogik folgen“ (311).
Gabriel nennt es einen Skandal, dass die Mehrheit der Deutschen ethische Analphabeten sind (339). Es gilt also, die „rationale Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens zu lernen“ (342)
Gabriels Kritik richtet sich gegen Darwin ( „seine Schriften sind gelinde gesagt, keine besonders geeignete Quelle moralischer Einsicht“ (317) oder gegen Peter Singer (322): Gabriel betont gegen Singer: „Der Mensch ist mehr als ein wenn auch komplexer Zellhaufen“ (322)
Politisch deutlich und sehr treffend ist Gabriel, wenn er über neoliberale Weltordnung schreibt: „Sie beruht auf asymmetrischer Verteilung materieller und symbolischer Ressourcen“ (333), sie „versetzt letztlich sehr viele Menschen in extreme Armut. Und dieser elende Zustand so vieler widerspricht den obersten Werten, die nur „eigentlich“ (also bloß in Sonntagsreden etc.) anerkannt werden…
8.
Gabriel argumentiert durchaus kosmopolitisch:
„Es kann prinzipiell keine Ethik geben, die sich exklusiv damit befasst, was Einwohner eines einzigen Nationalstaates tun bzw. unterlassen sollen“ (335).
9.
Ich finde es bedauerlich, dass sich Gabriel in seiner Ethik ausschließlich auf den Begriff der Werte bzw. der moralischen Tatsachen bezieht und dabei die Fragen und Ansätze einer Tugendethik außer acht lässt, die ja viel älter ist als die „Wertethik“. Und eine etwas breite kritische Debatte über die Werte-Philosophie, prominent vertreten etwa durch Max Scheler, fehlt ohnehin in dem Buch. Aber Gabriels Leistung ist es in diesem Buch, Pflichtethik mit einer bestimmten Wert-Ethik zu verbinden.
10.
Das Problem philosophischer Erkenntnisse in ihrer Beziehung auf die Lebenspraxis ist natürlich auch Markus Gabriel nicht verborgen. Bezeichnend sind deswegen die letzten Worte seiner Studie: „Hören wir den (also Gabriels, CM) Weckruf? Oder fallen wir bald wieder übereinander her wie raffgierige Raubtiere? Es liegt an uns. Der Mensch ist frei“ (344).
Der Philosoph kann also offenbar nur appellieren, kann nur einen „Weckruf“ loslassen, an die unabweisbare Tatsache erinnern, dass wir Menschen eben im allgemeinen frei sind, das Gute zu tun. Also etwa den im Buch beschriebenen Werten in der eigenen Lebenspraxis zu folgen.
Natürlich hängt alles Handeln von der Freiheit des Menschen ab. Aber bei Gabriel werden philosophische Erkenntnisse (Werte, moralische Tatsachen) wieder einmal, so mein Eindruck, als zunächst dem Menschen bloß gegenüberstehend und damit fremd und befremdlich entwickelt. Es ist dies die Position der puren „Sollens-Forderung“. Anders gesagt: Es könnt doch auch alternativ gezeigt werden: Indem man zuerst eine Lebenspraxis beschreibt, in der „immer schon“ Werte jeweilig gelebt werden, vielleicht unthematisch und fragmentarisch…um aber dann von diesem Immer-Schon-Gelebten zu einer vertieften Erkenntnis zu gelangen, auch zur umfassenden Erkenntnis der immer schon (etwas) gelebten Werte. Mit allen den möglichen Korrekturen, um sich von Un-Werten zu lösen und sich den wahren Werten zuzuwenden. So wäre der Übergang zu einer „umfassenderen Werteerkenntnisse“ harmonischer und „vermittelter“, würde Hegel sagen. Von einem solchen Ansatz bei den de facto immer schon gelebten Werten verspreche ich mir eine größere praktische Wirksamkeit. Theorie und Praxis werden und sind eins.
11.
Nebenbei: Über die Kritik einer nur auf Werte fixierten Lebenshaltung – also ohne Einbezug der Pflichtethik im Sinne Kants – hat bekanntlich der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich das hoch interessante Buch „Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur“ (Wagenbach Verlag) geschrieben.
12.
Im ganzen möchte ich aber das Buch von Markus Gabriel empfehlen, auch als Grundlage für philosophische Gesprächskreise.

Markus Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ullstein Verlag, 3. Auflage 2020, 368 Seiten, 22 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Täglich ein Satz von Hegel! Eine Art Geburtstagsgeschenk zum 250.

Eine philosophische Einstimmung auf Hegels 250. Geburtstag:
15 Tage täglich (wenigstens) einen Satz Hegels lesen und „bedenken“ und weiter lesen…

Von Christian Modehn (Die Sammlung dieser Zitate wurde am 13.8. 2020 begonnen)

Am Donnerstag, dem 27.8.

„Dass das Wahre nur als System wirklich oder dass die Substanz wesentlich Subjekt ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht, – der erhabenste Begriff und der der neueren Zeit und ihrer Religion angehört. Das Geistige allein ist das Wirkliche; es ist das Wesen oder Ansichseiende, – das sich Verhaltende und Bestimmte, das Anderssein und Fürsichsein – und [das] in dieser Bestimmtheit oder seinem Außersichsein in sich selbst Bleibende; – oder es ist an und für sich.“
(Phänomenologie des Geistes, Suhrkamp Verlag 1970, S. 28)

Am Mittwoch, dem 26. August:

Wahrheit ist für Hegel mehr als „bloße Richtigkeit“, wie er sagt: „Dagegen besteht die Wahrheit im tieferen Sinn darin, dass die Objektivität mit dem Begriff identisch ist. Der tiefere Sinn der Wahrheit ist es, wenn z.B. von einem wahren Staat oder von einem wahren Kunstwerk die Rede ist. Die Gegenstände sind dann wahr, wenn sie das sind, was sie sein sollen, d.h. wenn ihre Realität ihrem Begriff entspricht. So aufgefasst ist das Unwahre dasselbe, was sonst auch das Schlechte genannt wird. Ein schlechter Mensch ist ein unwahrer Mensch, d.h. ein Mensch, der sich seinem Begriff oder seiner Bestimmung nicht gemäß verhält.“
(Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, I, § 213, Zusatz. Suhrkamp 1970, S. 369).

Am Dienstag, dem 25. August:

„Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“
(Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Vorrede vom 25. Juni 1820, Suhrkamp 1070, S 28.)

Dieses viel zitierte Wort braucht eine Erläuterung, die hier nur kurz formuliert werden kann:
Philosophie „malt grau in grau“: D.h.:Philosophie ist nüchtern, beschreibend, nimmt Wirklichkeit nur wahr.
„Eine Gestalt des Lebens ist alt geworden“: Es ist nur EINE Gestalt des Lebens, die alt geworden ist; das Leben des Geistes geht weiter, die alte Gestalt wird „aufgehoben“.
Nur weil diese Gestalt alt geworden ist, kann die Philosophie sie als ganze, förmlich in einer gewissen Vollendung, Ganzheit, „Abrundung“, erfassen und im Überblick haben.
Diese vollendete “alte”, vergangene Welt kann die Philosophie beim besten Willen nicht verjüngen, das wäre ein Rückschritt.
Diese alte Welt ist zwar vergangen (und erkannt), aber sie wird „bewahrt“, „aufgehoben“ in den folgenden neuen Welten des Geistes. (Man könnte hier an Hegels Wahrnehmung des Katholizismus denken, der auch eine alt gewordene Konfession ist, aber sich im Protestantismus z.T. aufgehoben hat).
Dieser viel zitierte Satz Hegels hat also keine resignative Bedeutung, Hegel weiß ja, dass der Geist lebendig ist und Zukunft eröffnet. C.M.

Am Montag, dem 24.August: Ein zentraler Text!:

“Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.
Der Geist gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen. Sondern der Geist ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.”
(„Phänomenologie des Geistes“, Vorrede, Suhrkamp, 1970, S. 36)

Am Sonntag, dem 23. August:

“Der Verstand bestimmt und hält die Bestimmungen fest; die VERNUNFT ist negativ und dialektisch, weil sie die Bestimmungen des Verstandes in Nichts auflöst. Die Vernunft ist positiv, weil sie das Allgemeine erzeugt und das Besondere darin begreift.”

(Wissenschaft der Logik, Vorrede zur ersten Ausgabe.(http://www.zeno.org/Philosophie/M/Hegel,+Georg+Wilhelm+Friedrich/Wissenschaft+der+Logik/Erster+Teil.+Die+objektive+Logik/Vorrede+zur+ersten+Ausgabe)

Am Samstag, dem 22. August:

“So ist das, was von jeher für das Schmählichste, Unwürdigste gegolten hat, der Erkenntnis der Wahrheit zu entsagen, von unseren Zeiten zum höchsten Triumphe des Geistes erhoben worden. Die Verzweiflung an der Vernunft war, bis es bis zu ihr gekommen war, noch mit Schmerz und Wehmut verknüpft. Aber bald hat der religiöse und sittliche Leichtsinn, und dann die Plattheit und Seichtigkeit des Wissens, welche sich Aufklärung nannte, frank und frei seine Ohnmacht bekannt und seinen Hochmut in das gründliche Vergessen höherer Interessen gelegt.”
(Enzyklopädie der philsophischen Wissenschaften III. Dieses Zitat ies ist ein Auszug aus der Antrittsrede an der Berliner Universität am 22. Oktober 1818, Suhrkamp 1070, S. 402f.)

Am Freitag, dem 21.August:

“Als Gefühl ist der Geist der ungegenständliche Inhalt selbst und nur die niedrigste Stufe des Bewusstseins, ja in der mit dem Tiere gemeinschaftlichen Form der Seele. Das Denken aber macht die Seele, womit auch das Tier begabt ist, erst zum Geiste!”
(Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Suhrkamp Verlag, 1970, S. 24 f.)

Am Donnerstag, dem 20. August:

In seiner Antrittsrede in der Berliner Universität am 22. 10. 1818 sagte Hegel u.a.:

„Zunächst darf ich nichts in Anspruch nehmen als dies, dass Sie Vertrauen zu der Wissenschaft (also der Philosophie) mitbringen und Glauben an die Vernunft, Glauben und Vertrauen zu sich selbst“.
(„Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, Suhrkamp 1970, S. 404)

Am Mittwoch, dem 19. August:

„Das negative Verhalten der religiösen Menschen ist die Meinung: Dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben, also: Seid fromm und ihr könnt sonst treiben, was ihr wollt. Ihr könnt euch der eigenen Willkür und Leidenschaft überlassen und die anderen, die Unrecht dadurch erleiden, an den Trost und die Hoffnung der Religion verweisen oder schlimmer noch: Diese Menschen als irreligiös verwerfen und verdammen.“
(Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Suhrkamp, 1986, S. 418)

Am Dienstag, dem 18. August:

„Was vernünftig ist, das ist wirklich.
Und was wirklich ist, das ist vernünftig“
(Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Suhrkamp Verlag, 1986, S. 24)

Dieser häufig zitierte und oft missverstandene Satz bedarf einer Erklärung:
Hegel behauptet nicht, dass alles, was in dieser Welt, in den Staaten, Gesellschaften, Religionen usw. vorhanden ist, schon deswegen beanspruchen kann, auch vernünftig zu sein. Sondern nur dasjenige Bestehende ist wirklich, also gültig, wenn es von der Vernunft bestimmt ist.
Man könnte also den berühmten Satz umwandeln und sagen:

„Was bloß vorhanden ist und bloß besteht, ist noch nicht vernünftig.
Erst wenn das Bestehende und Vorhandene von den Gesetzen der Vernunft bestimmt ist, ist das Bestehende und Vorhandene auch wirklich.“
Es kommt also darauf an, die Vernunft in das Bestehende „einzuführen“, das ist eine politische Aufgabe!

Am Montag, dem 17. August:

„Man hat gesagt, die Französische Revolution sei von der Philosophie ausgegangen. Und nicht ohne Grund hat man die Philosophie WELTWEISHEIT genannt. Denn sie ist nicht nur die Wahrheit an sich und für sich, als reine Wahrheit. Sondern sie ist auch die Wahrheit, insofern sie in der Weltlichkeit lebendig wird“
(„Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Suhrkamp Verlag, 1970, S. 527 f.)

Am Sonntag, dem 16. August:

„Es kann verdächtig erscheinen, dass die Religion vornehmlich auch für die Zeiten öffentlichen Elends, der Zerrüttung und Unterdrückung empfohlen und gesucht wird und an sie verwiesen wird für Trost gegen das Unrecht und für Hoffnung zum Ersatz des Verlustes“.
(„Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Suhrkamp Verlag, 1986, Seite 416)

Am Samstag, 15.8., Feiertag Maria Himmelfahrt:

„Der Hauptgegenstand der (katholischen) Verehrung unter den Heiligen war die Mutter Maria. Sie ist allerdings das schöne Bild der reinen Liebe, der Mutterliebe. Aber der Geist und das Denken ist noch höher. Und über dem Bild (Mariens) ging die Anbetung Gottes im Geiste verloren, und selbst Christus ist auf die Seite gestellt worden“.
(„Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, Suhrkamp Verlag, 1970, S. 455)

Am Freitag, dem 14. August:

Der Mensch als endlicher für sich betrachtet, ist zugleich auch Ebenbild Gottes und Quell der Unendlichkeit in ihm (im Menschen) selbst. Der Mensch ist Selbstzweck, hat in ihm selbst einen undendlichen Wert und die Bestimmung der Ewigkeit“
(„ Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, Suhrkamp Verlag, 1970, S. 403 f.)

Am Donnerstag, dem 13. August:

„Wir Deutschen sind passiv erstens gegen das Bestehende, haben es ertragen; zweitens, ist es umgeworfen, so sind wir ebenso passiv: Durch andere ist es umgeworfen worden, wir haben es uns nehmen lassen, haben es geschehen lassen“
(„Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“, III, Suhrkamp Werkausgabe, Band 20, S. 297).

COPYRIGHT: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

AMO: Der erste Philosoph aus Afrika in Deutschland – im 18. Jahrhundert.

Über Anton-Wilhelm AMO
Ein Hinweis von Christian Modehn

Endlich wird die “Mohrenstr.” in Berlin Mitte umbenannt. Sie heißt nun “Anton Wilhelm Amo Straße” und erinnert an den ersten Philosophen in Deutschland, der als Sklave aus Afrika stammte. Da haben die Berliner einiges dazuzulernen…
Diese Umbenennung ist Teil des äußerst langwierigen und mühsamen Prozesses, in der öffentlichen Erinnerung sich zu befreien von rassistisch und kolonialistisch und militaristisch bestimmten (Straßen-) Namen. Da gibt es noch viel zu tun, zu kämpfen möchte man fast sagen. Denn es muss immer mit Widerstand aus “nostalgisch – sehr konservativen, oft sich christlich nennenden” Kreisen gerechnet werden, wenn etwa auch die vielen Hindenburgstraßen in Deutschland die Namen von Menschen erhalten sollen, die für die Menschlichkeit und die Menschenrechte tatsächlich Wegweisendes getan haben.

Eines Tages, und zwar bald, hoffe ich hier berichten zu können, dass die Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche in Berlin, oft nur noch schamhaft “KWG” oder “Gedächtniskirche” genannt wegen des allseits bekannten kolonialistischen protestantischen Kaisers umbenannt wurde. Ganz nebenbei: Alle meine Korrespondenzen als Journalist mit entsprechenden verantwortlichen evangelischen Bürokratien in Berlin blieben unbeantwortet, was nicht nur unfreundlich, sondern auch unüblich ist in journalistischem Zusammenhang…. LINK: https://religionsphilosophischer-salon.de/12801_die-kaiser-wilhelm-gedaechtniskirche-in-berlin-wird-umbenannt_denkbar

Es folgt ein Hinweis zu Anton Wilhelm Amo, der schon im Juni 2020 publiziert wurde:

In Braunschweig, im dortigen „Kunstverein“, wird noch bis zum 13.9.2020 eine Ausstellung zu Ehren des Philosophen Anton Wilhelm Amo gezeigt. 16 künstlerische Positionen setzen sich mit dem Denken und dem Werk dieses nun wirklich sehr ungewöhnlichen Philosophen auseinander. Amo ist, soweit wir wissen, der einzige schwarze, aus Afrika stammende Philosoph, der 40 Jahre im Deutschland des 18. Jahrhunderts lebte: Anton Wilhelm Amo ist sein Name.

Er wurde 1700 in Axim, Westafrika, dem heutigen Ghana, als Sohn eines hochrangigen Häuptlings geboren. Dann als Sklave über Holland nach Deutschland verbracht. Von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig – Wolfenbüttel als „Diener“ („Hofmohr“) 1707 aufgenommen und dann gefördert, etwa an der Universität Helmstedt. Amo wurde lutherisch getauft auf den Namen Anton Wilhelm.

Der Hochbegabte war schließlich viele Jahre Dozent für Philosophie in Wittenberg, Halle und Jena. Er war geprägt vom Geist des Rationalismus (inspiriert durch Christian Wolff), studierte die antiken Philosophen, die Stoa, und setzte sich gleichermaßen für eine die Leiblichkeit des Menschen, das „Materielle“, ins Zentrum stellende Erkenntnislehre ein. „Der Mensch empfindet die materiellen Dinge nicht von seiner Seele, sondern von seinem lebenden organischen Körper aus.“

Wichtig ist auch seine Schrift „Traktat von der Kunst, nüchtern und sorgfältig zu philosophieren“: Er wendet sich gegen die Bindungen an Autoritäten und Traditionen, zentral ist für ihn die Debatte, der Dialog. Ein neues, humaneres Verhältnis unter den Menschen sollte dadurch möglich werden.
Seine erste Publikation, 1729, galt den „Rechtstellung der Mohren in Europa“. Da spricht ein junger Philosoph, der am eigenen Leib erfahren hatte, was Sklaverei bedeutet. Dieser wichtige Text wurde damals viel diskutiert, aber leider ist er verschollen, nur aus zeitgenössischen Stellungnahmen kann er etwas rekonstruiert werden. Deutlich wird daraus: Sklaverei ist für Amo eine illegale Praxis, so wollte er es in juristischer Terminologie sagen. Das zu zeigen, war damals ungewöhnlich und gefährlich.
Amo hat keineswegs eine eigenständige „afrikanische Philosophie“ hier in Deutschland präsentiert, er war ja als Kind nach Europa gekommen. Er beteiligte sich qualifiziert an den europäischen philosophischen Debatten und verteidigte dabei die Grundideen der Aufklärung.

Im Laufe der Jahre als Philosoph und Universitätsdozent in Deutschland wurde AMO zwar für seine Kompetenz geschätzt, nicht aber als Mensch respektiert oder gar geliebt. Knapp 40 Jahre lebte er in Deutschland. Dann kehrte er – 1747/48- resigniert über deutsche Zustände und Umgangsformen mit den “Anderen” ,den Fremden, nach Westafrika, Ghana, zurück. Dort lebte er als Gelehrter und Weiser zurückgezogen, 1759 ist er gestorben. Schade, dass wir von dieser Lebensphase, wieder in Afrika mit Erinnerungen an Deutschland, nichts wissen!

AMO wurde zwar in Deutschland nicht mehr ausführlich gewürdigt, Immanuel Kant erwähnte ihn nicht; wichtiger ist, dass sein Denken den Abbé Grégoire, den führenden demokratischen und antiklerikalen Vorkämpfer innerhalb der Französischen Revolution, bewegte und bestärkte. In seiner Schrift von 1808 geißelte Abbé Grégoire die Sklaverei mit der These: “Die wahren Barbaren sind wir Europäer“. Ausdrücklich erwähnt er, der progressive katholische Priester, den Philosophen AMO.

Im 20. Jahthundert hat sich der Gründer des Staates Ghana, Kwame Nkrumah, auf Amo berufen. Und auch die DDR würdigte AMO auf ihre Weise.

Man darf nicht vergessen, dass sogar Kant mit seiner „Theorie der Rassen“ grundlegende Irrtümer über die „Anderen“, die Afrikaner, aussprach und zeigte, dass er offenbar von dem Philosophen Amo nie etwas gehört hatte. Auch Hegel hat in seiner Philosophie der Weltgeschichte Vorurteile über Afrika und die Afrikaner verbreitet…Diese „Meisterdenker“ haben das Bild von Afrika bei vielen Bildungsbürgern mit-bestimmt.

PS.1.: Es gibt in Berlin den unermüdlichen Versuch “schwarzer Deutscher” und deren FreunDinnen, auf den Straßennamen Mohrenstr. in Berlin Mitte zu verzichten. Und dieser Straße (und dem U Bahnhof) den Namen Anton-W-Amo Str. zu geben. Für weitere Informationen: http://isdonline.de/

PS.2.:Ich habe kürzlich auf einen äthiopischen Philosophen ganz ungewöhnlicher Art hingewiesen, auf Zär a Yacob,der zu Beginn des 17. Jahrhunderts (!) in seiner Heimat Äthiopien eine sehr auf die Vernunft setzende Gotteserkenntnis entwickelte. Ein kirchenkritischer, mutiger Denker aus Afrika. Und ein sehr wichtiges, aktuelles, leider kaum beachtetes Buch. Über dieses Buch sollten philosophische Seminare der Universitäten usw. Seminare veranstalten usw.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der Freund der Unterdrückten, ein Mystiker, ein Bischof. Über den ungewöhnlichen Pedro Casaldáliga

Ein Hinweis von Christian Modehn
Unter Position 10 dieses Beitrags werden einige Gedichte von Pedro Casaldáliga vorgestellt.

Casaldáligas Lebens-Motto, seine Maxime: „Nichts besitzen, nichts mit sich tragen, nichts verlangen, nichts verschweigen und, vor allem, nichts töten“.

1.
Warum erinnern so wenige Medien, in Deutschland fast keine, an Pedro Casaldaliga? Verstorben am 8. August 2020 in Brasilien? An einen Mann, der zugleich sein ganzes Leben für Unterdrückte, für Arme, einsetzte und es deswegen immer wieder der Gewalt der Herrschenden aussetzte… und ZUGLEICH ein Mystiker, ein Poet, war? Und er war, man glaubt es kaum, auch noch Bischof der römisch-katholischen Kirche! Warum wird dieser Bischof/Menschenrechtler/Poet/Mystiker nicht erwähnt in den frommen Worten der vielen Bischöfe heute? Sie schwadronieren lieber zum hundertsten Male über die „Himmelfahrt Mariens“ am 15. August und ähnliche Geschichten bzw. Wunder. Dabei ist es ein großes Wunder ganz realer Art, dass es einen Mann wie Pedro Casaldaliga gab.
Meine Vermutung: Es ist diesen Exzellenzen und Eminenzen, so nennen sich ja die Oberhirten, peinlich, sich an ihren Mitbruder Pedro Casaldaliga zu erinnern, der als Bischofspalast eine Hütte hatte, weil er so leben wollte, wie seine Mitmenschen in der ärmsten Region, der Hungerregion, Brasiliens.
2.
Hinzukommt: Corona macht Deutsche, macht Europäer, noch mehr zu Deutschen, noch mehr zu Europäern. Corona fixiert noch mehr als bisher auf Deutschland, auf Europa: Wenn die wirkliche globale Welt heute in den „großen Medien“ „vorkommt“, dann eher als Corona-Statistik in Indien, Brasilien oder Peru. Ist ja verständlich, aber darf nicht fast alles sein.
Auch wegen dieses Corona-bedingten Nationalismus haben „wir“ jetzt den Tod eines Menschen übersehen, der von denen, die ihn in Lateinamerika kannten, und das sind sehr viele, sehr zu recht als Prophet bezeichnet wurde. Als Prophet der Menschenfreundlichkeit, der Solidarität; als Prophet, der nicht etwa Zukunft voraussagt, sondern der, wie die Propheten der hebräischen Bibel, sein prophetisches Amt als kritische Anklage versteht. Und entsprechend auch lebt! Und zwar so, dass er selbst sich auf die Seite der Rechtlosen gestellt hat. Entschieden, radikal, politisch präzise.
3.
Die Rede muss also von Pedro Casaldáliga sein. Er war ein Mensch, ich möchte sagen „hingegeben“ für die Armen, auch für die indigenen Völker in Brasilien. Wo wagt man sonst noch dieses so menschliche Wort der Hingabe zu verwenden? Bestensfalls noch im erotischen Zusammenhang des Privaten. Casaldaliga war aber politisch hingegeben den anderen, weil er sie liebte, diese Vergessenen, diese für minderwertig Erklärten durch die politischen wie ökonomischen Gewalttäter, die als Verbrecher einfach so diese Armen auch abknallen können, wenn es um Landraub geht in Brasilien oder Rodungen des Waldes oder Tötung der Indigenen.
4.
Leider sind Bücher in deutscher Sprache von und über Pedro Casaldaliga nur noch antiquarisch zu haben, für ein paar Groschen möchte man sagen, werden sie verramscht, so, als wären ihr Inhalt, passé, unbrauchbar. Kein Verlag eines dieser vor Geld förmlich stinkenden Klöster in Deutschland oder Österreich bringt Bücher von und über Casaldaliga neu und aktualisiert heraus. Man veröffentlicht lieber zum hundertsten Male Bücher und Broschüren über Engel, nenen wir überspitzt einige künftige Titel: „Wie Engel den Schlaf schützen“ oder „Wie Engel helfen, das Privateigentum zu bewahren“. Mit Engeln verdienen Klöster sehr viel Geld, das weiß Anselm Grün, mit Casaldaliga Büchern oder Befreiungstheologie wohl nicht. Also: Lieber erfolgreich über Esoterik schreiben als politisch-theologische Analysen bieten. Gefühl contra Aufklärung, das ist auch „typisch“ katholisch.
5.
Pedro Casaldáliga, der Katalane, geboren 1928, kam 1968 als Priester des „Claretiner – Ordens“ nach Brasilien, in die entlegene und ärmste Gegend des Landes, nach Mato Grosso am Amazonas. Weil der Vatikan eine Art Struktur dort brauchte, wurde er 1971 zum Bischof einer „Prälatur“, also einer Kirchenprovinz schlichter Art, ernannt. Sein „Bischofssitz“ wurde der Ort Sao Felix de Araguaia.
Seinen „Bischofspalast“ hätten sich seine begüterten Kollegen in den reichen Städten Brasiliens ansehen sollen oder auch einmal eine Delegation aus Köln oder München: Das Palais war schlicht und einfach eine Hütte. Und die Tür stand offen, natürlich waren es die Armen der Umgebung, die da kamen und Rat suchten und Hilfe fanden. Der Bischof, eine „Exzellenz“ (das bedeutet ja „hervorragend“) als Mensch, nicht als Kirchenchef, empfing (immer schlank, fast erbärmlich dünn) alle in Jeans, T-Shirt und oft nur Plastiklatschen.
6.
Bischof Casaldaliga wollte nicht mit seiner Armut kokettieren, er meinte es ernst: Er war einer wie die Leute seiner Gegend. Er kämpfte mit den landlosen Bauern um die gerechte Verteilung der Ländereien gegen die Latifundien-Besitzer, die multinationalen Gesellschaften, die Beherrscher des Bergbaus, die Holz – Spekulanten usw. Und: Casaldáliga unterstützte die indigenen, „indianischen“ Völker in der Nachbarschaft, er förderte die Bildung, die Kultur, kümmerte sich um die Gesundheit der Armen. Für ihn konnte Predigt nur möglich sein, wenn sie zugleich für ein würdevolles materielles Leben sorgte. Die praktische und deswegen immer politische Sorge um die Überwindung des Hungers IST Predigt, ist Realisierung des Evangeliums. Insofern war Casaldáliga ein leiblicher, man möchte sagen „materialistisch“ engagierter „Seelsorger“. Dieses abstrakte Wort hat er nie verwendet. Er war kein „Seelsorger“, sondern schlicht Bruder seiner Mitmenschen dort, in der entlegenen, aber ausgebeuteten Ecke Brasiliens. Wegen dieser „materialistischen“ Seelsorge wurde er als Befreiungstheologe selbstverständlich von vielen sich nur „vergeistigt“ fühlenden Katholiken und Bischöfen verachtet und angeklagt; und von der Militärdiktatur verfolgt, die Brasilien terrorisierte und beherrschte, von 1964 – 1985. Seelsorger klassischer Art hat das Regime nie verfolgt, sondern begünstigt, man denke unter anderen klerikalen Kollborateuren etwa an den reaktionären Erzbischof Geraldo Sigaud svd von Dimantina und seine reaktionäre „Bewegung zur Verteidigung der Tradition, der Familie und des Privateigentums“…Die Diktatoren wollten Casaldáliga des Landes verweisen, mehrfach wurde er mit dem Tode bedroht, seine engsten Mitarbeiter erschossen… „In diesem Land Brasilien ist es leicht geboren werden und zu sterben, aber schwer zu leben“, erklärte 2012 gegenüber AFP anläßlich des TV – Programms „Nackte Füße auf der roten Erde“, von Francisco Escribano.
7.
Seine Erfahrungen im Kampf um die Menschenrechte konnte Casaldaliga in zwei landesweite Gremien übertragen, die er innerhalb der brasilianischen Kirche für die Landlosen und für den Schutz der indigenen Völkern mit anderen einrichten konnte.
Aber Casaldáliga ließ sich nicht beirren: Er blieb Befreiungstheologe. Das heißt: Für das materielle, das leibliche und kulturelle Leben der ausgehungerten Armen zusorgen, ist zentraler Auftrag der Kirche. Genauso wichtig wie die Liturgie. Und diese neue gerechte Gemeinschaft der Menschen wurde ansatzweise realisiert in den Basisgemeinden, für die er immer eintrat.
8.
Niemand wird sich wundern, wenn Casaldáliga erhebliche Schwierigkeiten mit dem Vatikan hatte, auch mit Kardinal Ratzinger damals, der von seinem barocken „grünen Tisch“ in den behüteten Palästen des Vatikans aus meinte, den spirituellen und theologischen Lebenskampf Bischof Pedro Casaldáligas beurteilen und möglicherweise verurteilen zu dürfen. Was für eine Unverschämtheit einer bestens versorgten Eminenz in ihrem Palazzo. Und erstaunlich, wie es ein offenbar leidenschaftlicher Katholik wie Casaldáliga aushielt, alle diese Erniedrigungen durch die römischen Behörden und Bürokratien zu ertragen. Vielleicht brauchte er so viel Wut oder Enttäuschung über alle diese Eminenzen und klerikalen Schreibtischtäter, um Wut und Enttäuschung in seinen Kampf für die Armen umzusetzen. Nach einem für ihn so enttäuschenden Aufenthalt im Vatikan, auch beim polnischen Papst, sagte er leicht ironisch: „Der Heilige Geist hat zwei Flügel, aber die Kirche hat stets Freude daran, eher den linken zu stutzen“. Johannes Paul II. war ja immer politisch, aber immer zugunsten der rechten Seite, siehe seine Freundschaft mit Reagan, seine Nähe zu Pinochet usw…Selbst die Gewerkschaft Solidarnosc war für ihn eine „rechte“ Bewegung..
Zurück zu den gestutzten linken Flügeln des römischen Katholizismus:
Und die wurden bekanntlich auch bei den wenigen anderen linken Bischöfen gestutzt, so dass der heilige Geist heute, nicht nur in Lateinamerika, so zusagen nur mit einem rechten Flügel herumstolpert, fliegen kann der heilige Geist ja ohne den linken Flügel nicht mehr, um im Bild zu bleiben: Man sieht in diesem treffenden Bild von Casaldáliga das für Kirche und Gesellschaft insgesamt Tödliche dieser ganzen administrativen „Maßnahmen“ der römischen Bürokraten bis heute.
9.
Und genauso bemerkenswert ist, dass dieser ausgemergelte und verfolgte Christ als Bischof so reich an spiritueller Erfahrung war und an poetischer Begabung. Casaldáliga war ein Poet. Wann wird man seine Poesie noch einmal entdecken? Wann wird man fragen: Wie konnte dieser Mann in seiner Bischofs – Hütte oder in als Gast in den Hütten der Atmen Poesie schreiben? Ist Poesie der Unterdrückten schon ein Forschungsprojekt in Deutschland?
Man lese also die noch greifbaren Casaldáliga Gedichte, die oft auch Poesie als Gebete sind. Wer Geduld hat, kann die Texte antiquarisch finden oder aus dem Spanischen, Porugiesischen oder Französischen sich übersetzen. Es könnte ja auch ein Bischof oder Kardinal hierzulande auf die Idee kommen, eine „Pedro Casaldáliga Stiftung“ zu gründen, mit der Herausgabe von Büchern zu beginnen und Konferenzen in den katholischen Akademien. Etwas Geld würden die Kardinäle schon abzweigen können von ihrem Monatsgehalt, das sich in Deutschland zwischen 10.000 und 12.000 Euro bewegt. Allein wenn man sich diese „ökonomische“ Differenz hinsichtlich des Geldvermögens von Bischöfen hier und in Sao Felix, Brasilien, zu Zeiten Casaldáligas ansieht: Man glaubt nicht, dass diese Bischöfe einer und derselben Kirche angehören. Für Casaldáliga wurde immer etwas gebettelt, über die Hilfswerke. Er war wirklich ein Bettler gegenüber seinen „Kollegen“ in Köln oder München. Aber: Casaldáliga wollte arm bleiben. Dafür nahm er die Gestalt Jesu von Nazareth zu ernst.
10.
Was bleibt? Es bleiben die Erinnerungen an seinen Lebenseinsatz, an seine Gedichte, Gebete, Erinnerungen an die Poesie von Pedro Casaldáliga:

Unsere Stunde

Es ist spät
Aber es ist unsere Stunde.

Es ist spät
Aber es ist die ganze Zeit
Die wir in Händen haben
Um die Zukunft zu gestalten.

Es ist spät
Aber es sind wirklich wir:
Diese späte Stunde.

Es ist spät
Aber es ist früher Morgen
Wenn wir darauf bestehen!

(in: Pedro Casaldáliga, „Hermano de los sin tierra“, Von J.L.Vázquez Borau, 2018, S. 98 f, Übersetzung von Christian Modehn.)

……..

Das Wort zähmen

Das Wort zu zähmen
Ist die schwierige Aufgabe
Der Stille,
des Hinhörens,
des Erwartens,
des Empfangens.

Man lernt nur sprechen,
wenn man schweigen lernt mit dem Volk.
Das Wort wird Fleisch
In der erlittenen Stille.

(zit. In Concilium, Dezember 2017, S. 612 in einem Beitrag von Emerson Sbardelotti).

……………

Die Stimme des Volkes, der Armen.

Die Stimme des Volkes,
Die Stimmen Gottes
Sie wurden verdammt.
Die Skalvenlager, sie werden beschützt,
vom Schweigen
Von Zustimmung
Vom Kartell.
Riesige Viehherden
Reiche Ackerböden
Große Straßen:
Die prächtige Zukunft Brasiliens
Wurde erbaut auf den Knochen der Tagelöhner
Vom Revolver der Ausbeuter niedergemetzelt
Vom Hunger ausgemergelt und den ständigen Lügen.

Ihr Sänger schreit,
Scheit zu Gott ihr Toten
Und heult vor Scham
Ihr armseligen Feiglinge

(Dieses Gedicht hat den Titel „Sehr eiliges Nachwort. Gegen die Sklavengesellschaft und gegen alle Großgrundbesitzer. Mit großer Wut. Aber mit noch größerer Liebe“. Aus: Pedro Casaldalga, Fleuve libre, o mon peuple, Paris 1978. Dieses Gedicht hatte ich 1979 in meinem Aufsatz für das Buch „Volksreligion“ verfasst, veröffentlicht, das von Christian Modehn zusammen mit Karl Rahner und Michael Göpfert herausgegeben wurde. Stuttgart 1979. Das Gedicht auf S. 23 f.).
……………….

Bischof Casaldáliga hat das Vater Unser neu formuliert, inspiriert von seinen Freunden, den Armen, den Menschen seines Landes rund um Sao Felix:
Vater unser der Armen.
Vater unser der Märtyrer und Folteropfer.
Geheiligt werde dein Name durch die, die im Kampf für das Leben sterben.
Geheiligt werde dein Name,
wenn die Gerechtigkeit das Maß der Dinge wird.
Dein Reich ist ein Reich der Freiheit, der Brüderlichkeit und des Friedens.
Bewahre uns vor der Gewalt, die das Leben verschlingt.
Wir werden deinen Willen tun.
Du bist Gott, der Befreier.
Wir weisen ein Denken zurück, das durch Macht korrumpiert ist.
Gib uns das Brot des Lebens, das Sicherheit schenkt,
das Brot für alle,
das Menschlichkeit bringt und die Waffen ächtet.
Verzeih uns, wenn wir voller Angst schweigen angesichts des Todes.
Lass nicht zu, dass die Korruption das Gesetz verdrängt.
Schütz uns vor der Brutalität und den Todesschwadronen.
Du bist auf der Seite der Armen.
du bist ein Gott der Unterdrückten.
Dein ist das Reich und die Herrlichkeit.
In Ewigkeit. Amen.
(Quelle: http://gebetssuche.de/vater-unser-der-armen/)
………………………….
11.
Bischof Casaldáliga hat viele Jahre unter der Parkinson – Krankheit gelitten, er hat versucht, diese Krankheit in sein Leben zu integrieren. Deswegen sprach er von „Bruder Parkinson“. Unter Schmerzen har er sich immer wieder noch zu Wort gemeldet, er hatte einen Freundeskreis weltweit, Menschen, Laien, einfache Leute, Ordensleute, die ihn schätzen, mit denen er korresponiderte. Am 8. August 2020 ist er in der Nähe von Sao Paulo, Brasilien, gestorben.
Aber noch Ende Juli 2020 unterzeichnete Casaldáliga mit 151 anderen brasilianischen Bischöfen einen kritischen Brief, bestimmt für den rechtsextremen, gleichzeitig katholischen wie evangelikalen Präsidenten Bolsonaro. Ihm wird „Unfähigkeit vorgeworfen, auf die gegenwärtige Corona-Katastrophe in Brasilien vernünftig und vor allem menschlich zu reagieren. Und vor allem die Indigenas mit seiner dummen Gesundheitspolitik zu gefährden.
12.
Die Filmsgesellschaft VERBO FILMS (geleitet von der Ordensgemeinschaft „Gesellschaft vom göttlichen Wort“, SVD) hat in Brasilien mehrere Filme über Bischof Casaldáliga realisiert und zugänglich gemacht:

Am 13., 20. und 27. Dezember 2014, also noch „vor“ Bolsonaro, strahlte TV Brasil in Partnerschaft mit dem spanischen Sender TVE und dem katalanischen Sender TVC eine dreiteilige Dokumentation (jeweils 52 Minuten) über Pedro Casaldáliga aus. Der Titel: „Barfuß über roter Erde“.
Für alle, die Spanisch lesen können, empfehle ich: „Pedro Casaldáliga, Hermano de Los Sin Tierra“. Von J.L. Vázquez Borau. 3. Auflage 2018, „independently published“. 115 Seiten. 9 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Über die Papstkirche und den absoluten Papst Pius IX.

Das neue Buch des Historikers Hubert Wolf „Der Unfehlbare“
Ein Hinweis von Christian Modehn

Unser Motto, noch einmal gesagt: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist immer auch Religionskritik.

Die katholische Kirchenführung, also Klerus, Bischöfe, Papst, hat in gewisser Weise Glück gehabt: Im Juli standen dringende Probleme im Mittelpunkt öffentlichen Interesse, Probleme, die sich auf das Überleben der Menschheit beziehen, also Corona und Klimakatastrophen. Vom Überleben der katholischen Kirche war zwar auch die Rede, aber dabei ging es “nur” um den stetigen Mitgliederschwund in Deutschland. Aber ein großes „Überlebens“ – Thema wurde förmlich ausgeblendet: Die katholische Kirche im ganzen ist als Institution sozusagen „innerlich“, von der eigenen Lehre und Dogmatik, bedroht. Diesen Kampf ums geistige Überleben veranstalten nicht „Feinde“ von außen; sondern die Krise ist begründet am sturen Festhalten von befremdlichen, belastenden, nicht mehr eines modernern Glaubens würdigen Dogmen.

Dieser Gedanke drängt sich förmlich auf, wenn man das neueste Buch des Kirchenhistorikers Professor Hubert Wolf (Universität Münster) liest. Es hat den Titel „Der Unfehlbare“, der Untertitel nennt den Inhalt der Studie schon in Kurzform: „Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“. Papst Pius IX., der von 1846 bis 1878 die Kirche beherrschte, hat die bis heute noch weithin gültige Gestalt des Katholizismus absolut eigenmächtig und mit aller egozentrischen Bravour festgelegt.

Diese Bewertung ist die Summe der sehr differenzierten Studie über Pius IX. von Hubert Wolf, die er ausdrücklich als Biographie versteht. Wegen des Dogmas von der “Unfehlbarkeit des Papstes”, formuliert vor 150 Jahren, im Juli 1870, von Pius IX., kämpft die katholische Kirche bis heute um ihr Überleben, d.h. um die geistige und spirituelle Akzeptanz von nachdenklichen, gebildeten Christen. Dieses Dogma liegt wie ein erratischer Fels in der “geistigen und religiösen Landschaft”.

„Man hat (durch Pius IX.) eine neue Kirche gemacht“. Mit diesen Worten eines Münchner Theologen und Zeitgenossen Pius IX. beendet Wolf sein Buch. Das heißt: Die katholische Kirche wurde als Papstkirche förmlich zementiert. Mit Pius IX. setzte sich das Bild eines charismatischen Papstes durch, dessen Person und Persönlichkeit ganz in den Mittelpunkt gerückt wurde. Die Verehrung und Bewunderung für die Person dieses obersten „Führers“ führte etliche fromme Leute, ja ganze Bewegungen, zu einem ungeahnten Personenkult. Dabei hatte Pius IX. sich in den ersten Monaten nach außen hin etwas liberal gezeigt, darauf weist Wolf hin, was angesichts seines reaktionären Vorgängers Gregor XVI.auch nicht so schwer war. Aber Pius IX täuschte die Leute: Schon seine erste Enzyklika war Ausdruck von Feindseligkeit gegen die moderne Welt. Den Fußkuss erwartete dieser Nachfolger des Fischers Petrus ganz selbstverständlich, kritischen Leuten gab er sogar nach dem Kuss noch einen leichten Tritt, auch dies ist überliefert.

Trotzdem galt er vielen, die ohnehin schon politisch konservativ bis reaktionär gestimmt waren, als ein „charismatischer Papst“.

Dieser Personenkult um eine „charismatische Papst-Persönlichkeit“ setzte sich in gewisser Weise fort, man denke an Papst Johannes XXIII. oder noch viel mehr an Johannes Paul II., der auch post mortem einen irrational wirkenden Kult etwa in Polen erlebt. An Papst Franziskus scheiden sich heute die Geister, aber für viele ist er trotz aller seiner theologischen Widersprüche eine absolute Lichtgestalt. Die Menschen brauchen – leider – immer wieder Führer, von denen sie förmlich Wunderbares erwarten…Und konservative Franziskus-Feinde sehen in ihm den charismatischen Führer in den Niedergang…

Hubert Wolf zeichnet als Biograph Papst Pius IX. nicht allzu ausführlich dessen aktuelle Wirkungsgeschichte bis heute nach, über die Absetzung von Hans Küng als katholischem Theologen an der Uni Tübingen (wegen seiner kritischen Studie zur Unfehlbarkeit) erfährt man nichts.
Aber Wolf stellt klar: Mit diesem Papst ist die Kirche anders geworden, noch autoritärer, noch distanzierter und feindlicher gegenüber der modernen, der liberalen und demokratischen Welt. Und im Innern ist die Kirche monolithisch geworden, intolerant gegenüber progressiven Theologen, alles auf einen angeblich zu kontrollierenden Einheitskurs trimmend.

Das zeigt Wolf ausführlich an den Debatten während des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870: Da setzte sich Pius IX. trotz heftigen Widerspruchs zahlreicher Bischöfe mit seiner Lieblingsidee durch, der Unfehlbarkeit des Papstes, die er zum Dogma erhob und für alle Katholiken als bindende Wahrheit verkündete. Dieses Dogma wurde vor 150 Jahren, am 18. Juli 1870, offiziell ausgesprochen. Der Papst konnte nun gegen die Überzeugung der Bischöfe, gegen die Einsichten von Konzilien, alles aus eigener Macht lehren und verfügen. Schon 1854 hatte Pius IX. die absolute Machtfülle förmlich schon mal vorgeführt, als er ebenfalls gegen den Widerspruch kompetenter Theologen und Bischöfe die „Unbefleckte Empfängnis Mariens“ zum Dogma erhob, also den frommen Glauben, dass Maria, die Mutter Jesu, „unbefleckt“, (was für ein Begriff ! ), also ohne die für alle Menschen sonst übliche Erbsünde empfangen und geboren wurde. Denn die Erbsünde werde, so meinen die Kirchenführer bis heute, durch den Sex, also auch durch Sperma, also durch „Flecken“, übertragen… Das ist, milde gesagt, problematisch, wenn nicht lächerlich. Zumal auch die „echten“ Eltern Marias gar nicht namentlich als historische Personen bekannt sind: Die Kirchenführer haben dann einfach als Mutter eine gewisse Anna (aber natürlich auch als imaginäre Gestalt heilig) konstruiert und als Vater einen imaginären Joachim. Über die hoch umstrittene Erbsünde will ich hier kein Wort verlieren…

Jedenfalls hat sich Pius IX. immer in seiner eigenen privaten theologsichen Liebhaberei und Meinung durchgesetzt. Er hat sich, auch das zeigt Wolf, mit untertänigen, eher unbegabten, wenn nicht korrupten Beratern umgeben. Auch in der ausdrücklichen Verurteilung der modernen Gesellschaft und des neuen italienischen Staates, vor allem in der Enzyklika „Quanta Cura“ und im „Syllabus errorum“ von 1864, profilierte sich dieser Papst als Feind der Freiheit, als Feind der Moderne.

Pius IX. hat die Kirche definitiv ins Getto bewusst führen wollen, das war sein starrsinniger Wille, auch wenn ihm viele Leute zujubelten, die gerade auch aus politisch – reaktionären Gründen diese kirchliche Sonderwelt in Form einer großen Sekte rühmten, wie der Erzreaktionär Joseph de Maistre. Die Jesuiten als Herausgeber der damaligen „Stimmen der Zeit“ (mit dem Titel „Hefte aus Maria Laach“) haben diesen Kurs offen unterstützt.
Und bis heute ist das offizielle katholische Gesetzbuch, der Codex Iuris Canonici, noch von diesem Ungeist des absoluten Papst-Fixierung geprägt: Wenn dieses Gesetzbuch, in der Neufassung aus dem Jahr 1983 !, das Kapitel „Papst und Bischofskollegium“ eröffnet, heißt es gleich am Anfang im § 331: „Der Papst verfügt kraft seines Amtes in der Kirche über höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann“. Das hätte der absolutistische Papst Pius IX. nicht besser sagen können. Wenn das auch heute so ist, dann wundert sich manch einer vielleicht, warum nicht der angeblich so progressive Papst Franziskus kraft seiner päpstlichen All-Gewalt das Zölibatsgesetz von heute auf morgen abschafft oder Frauen als Priesterinnen zulässt, all dies könnte er ja kraft seiner absoluten Gewalt des Kirchenrechts. Aber er tut das nicht…
Ich empfehle das Buch von Hubert Wolf ausdrücklich, es ist eine gut lesbare Biographie eines Mannes aus dem italienischen Adel. Geboren am 13.5.1792 als Giovanni Maria Mastai Ferretti macht er in der Kirche systematisch Karriere, obwohl er als junger Mensch schwer erkrankt (an Epilepsie) und mit etlichen Gönnern wird er Priester, Bischof, Kardinal. Seinen launischen und cholerischen Charakter mit Tobsuchtsanfällen (S. 313) hat er sich stets bewahrt und von vielen, die ihn als Papst dann kannten, wurde er als verrückt und geisteskrank beschrieben (S. 311) Die Lebensgeschichte dieser kranken, autoritären Person stellt Wolf in den größeren politischen Zusammenhang des Untergangs des Kirchenstaates und des mühevollen Entstehens des vereinten Italiens, dem sich Pius IX. auch widersetzte. Als sein Leichenwagen durch die Straßen von Rom fuhr, wurde er von wütenden Bürgern mit Steinen beworfen. Pius IX. hätte selbst dies noch gefreut, denn er wusste: Als Verteidiger der einen und einzigen absoluten Wahrheit hat er eben auch böse Feinde.

Und eigentlich ist es bei dieser Kirche normal, dass dieser Pius IX. dann vom polnischen Papst Johannes Paul II. „selig“ gesprochen wurde (2000), trotz erheblicher Widerstände von Historikern und Theologen. Unter Papst Paul VI. wurde diese Seligsprechung schon einmal inszeniert, aber vergeblich: Damals folgte der Papst den kenntnisreichen Warnungen der Historiker vor diesem seelisch offenbar kranken Papst (vgl. besonders S. 313).

Aber Pius IX und Johannes Paul II. waren geeint in ihrem exzessiven, fanatischen Glauben an die Wunderkraft Marias, der unbefleckt empfangenen! Pius IX. glaubte, dass die himmlische Jungfrau ihm so gar himmlische Heerscharen zur Rettung senden würde (vgl. S. 201). Und ohne Marias Beistand konnte sich Johannes Paul II. zum Beispiel den Untergang des Kommunismus auch nicht vorstellen. Und die Liebe des polnischen Papst zu den „Erscheinungen Marias“ in Fatima, wo sie höchstpersönlich zu einigen Kindern sprach, ist bekannt. Man darf sagen, durch solche infantilen religiösen Praktiken haben diese Päpste den christlichen Glauben eigentlich zur mysteriösen Story gemacht, man könnte auch sagen: „Warum ist eigentlich nicht auch im Himmel Jahrmarkt? Diese Flucht der obersten Kirchen-Führer, der Päpste und mit ihnen die devoten Bischöfe, ins Mysteriöse, hat Menschen aus der Kirche getrieben, die noch wertlegen auf die Gültigkeit des göttlichen Gabe, Vernunft genannt!

PS: Als Trost für alle Laien in dieser Kirche, die noch Nerven haben dieses wichtige Buch von Hubert Wolf zu lesen: „Selbst minimale politische Forderungen innerhalb des Kirchenstaates, wie die Mitverantwortung von LAIEN in der Verwaltung auf kommunaler Ebene, wurden von Pius IX. als verbrecherisch diffamiert.“ (S. 79). Da dürften doch heute im Verwaltungsbereich katholische Laien (nicht in der Gemeindeleitung) ein bisschen mehr tun… Der Fortschritt ist also auch katholischerseits nicht zu stoppen, er dauert nur Jahrhunderte. „Macht nichts“, denn die Kirchen-Führer denken in „Kategorien“ der Ewigkeit. Die einzelnen betroffenen und leidenden Katholiken können und wollen nicht so denken. Aber das ist den „geistlichen“ Herren und war den „geistlichen“ Herren immer schon egal. Es ist dieser den Geist-tötende egozentrische Klerikalismus, den das große Buch von Hubert Wolf einmal mehr freilegt als chronische Krankheit des Katholizismus.

Hubert Wolf, „Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“. C. H. Beck Verlag München 2020, 431 Seiten, 28 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Mit Nietzsche weiterdenken: Vier Hinweise von Christian Modehn, anläßlich von Nietzsches Todestag am 25. 8.1900

1.
Nietzsche neu lesen
Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 3.8.2019
1.
Mit einem erneuerten Verstehen Nietzsche lesen: Das fordert der Philosoph Andreas Urs Sommer (Uni Freiburg i. Br.) in seinem Essay in der Zeitschrift „Information Philosophie“, Ausgabe Dezember 2018. Sommer ist Leiter der „Forschungsstelle Nietzsche-Kommentare“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Weil Nietzsche vor allem von vielen philosophisch Interessierten oft und viel zitiert sowie mit Schlagwörtern, wenn nicht Klischees, fixiert wird, lohnt es sich, diesen Beitrag von Andreas Urs Sommer besonders zu beachten.
2.
Seine Überlegungen sind bezogen auf seine umfangreichen Studien des „Nietzsche Kommentars“, die selbstverständlich auch die vielen Texte aus dem Nachlass berücksichtigen. Der Beitrag setzt sich mit zwei gegensätzlichen Interpretationslinien der Philosophie Nietzsches auseinander: Die beliebte „inhaltliche“ Position, die in Nietzsches Schriften feste Überzeugungen entdeckt. Und diese dann auch auf aktuelle Fragen bezieht, etwa „Tod Gottes“, „Nihilismus“, „Übermensch“. Und dann die eher „textische“ Lektüre, wie Sommer sagt, die Nietzsche nur als Verfasser von literarischen Texten versteht: Die dann von diesen Sprach-Forschern in allen philologischen Nuancen ausgeleuchtet werden.
Der Essay von Andreas Urs Sommer hat den provozierenden Titel „Was von Nietzsche bleibt“. Das ist ein Titel, der auf Abschließendes, Definitives hinweisen könnte. Tatsächlich aber will Sommer eher einen „Denkraum“ eröffnen…
3.
Der Artikel ist für LeserInnen Nietzsches wichtig, weil zentrale Differenzierungen genannt werden. So etwa Nietzsches Umgang mit Kant (S.10, in dem genannten Heft). Nietzsche habe, so Sommer, Kants Werke selbst nicht gelesen. „Nietzsches Kant ist ein Monstrum, von Nietzsche erdacht oder erschrieben als Gegner, an dem man sich messen kann, um sich in ein ablehnendes Verhältnis zu setzen…Nietzsche will einen Waffengefährten oder einen Gegner haben“. Eine Erkenntnis übrigens, die etwa schon der Philosoph Vittorio Hösle im Nietzsche Kapitel seines Buches „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (2013) mitgeteilt hatte (S. 185, auch S.190: „Nietzsche war als Philosoph nie ausgebildet“).
Wer hingegen die ganze große Fülle des Nachlasses berücksichtigen muss, wie Sommer, der wird bei Nietzsche dem stetigen mühevollen Ringen um den treffenden Ausdruck begegnen. Z.B.: „Die vom historischen Subjekt Nietzsche (dann) für publikationswürdig erachteten Aussagen über den =Willen zur Macht= stehen unter Vorbehalt. Sie haben die Gestalt eines Denkexperiments“ (S.12.) Dadurch gelangt man zu einem neuen Verstehen dessen, was Philosophie für Nietzsche bedeutet. “So hat man“, betont Sommer, “in den philosophischen Texten Nietzsches ein Philosophieren in der Hand, als permanentes Fort – und Überschreiben einmal erreichter Standpunkte, nicht als ein festes Gefüge von Gedanken, Überzeugungen, sondern Philosophieren als Prozess, als Bewegung“(S. 13). Philosophieren zeigt sich in Nietzsches Texten als etwas ungewöhnlich anderes, „es unterscheidet sich“, so Sommer, „fundamental von Philosophie im landläufigen Sinne“ (S. 14). Philosophieren widerspricht den festen Fügungen und letzten Überzeugungen, denkt Nietzsche.
4.
Was also bleibt von Nietzsche? Nichts Festes. Schon gar kein Lehrsystem. Sondern Denken als Prozess, als ständiges Aufheben und Überschreiben fester Überzeugungen (Propositionen). Große dogmatische, handlich griffige Lehrgewissheiten sind also aus Nietzsches Schriften nicht zu erzeugen und auch nicht mehr festzuhalten, so Sommer. Es sind bei ihm Denkbewegungen zu finden, bei denen der Leser Unterstützung finden kann in den umfangreichen Kommentaren, die nun von der Forschungsstelle herausgegeben werden. Dadurch wird deutlich: Selbst bei einer Vielzahl möglicher Interpretationen von Nietzsches Texten sind doch nicht alle Deutungen vertretbar. „Nietzsches Philosophie öffnet Denkräume. Es entsteht Weite. Abschließendes gibt es bei Nietzsche nicht. Diese Haltung im Denken hat etwas gegenüber der fixierenden Tradition durchaus „Zersetzendes“, betont Sommer. „Diese Zersetzungskraft rückt den Selbstverständlichkeiten abendländischer Moral – und Weltanschauungskonsense auf den Pelz. Auch das bleibt von Nietzsches Philosophie“ (S. 15).
Wie das zu bewerten ist, bleibt eine offene Frage: Das Tote, d.h. das Unmenschliche einer Kultur, kann ja gern „zersetzt“ werden: Aber wenn es dann doch – gegen Nietzsche – bleibend Gutes und Wahres gibt, warum sollte das nicht erhalten bleiben, etwa die Menschenrechte, die so oft missbraucht, aber trotzdem universal geltend für alle Menschen unersetzlich sind…
Für uns am wichtigsten: Nietzsche fördert bei seinen Lesern den eigenen Denkweg zu suchen, die eigene Praxis zu finden. Die fraglich bleibt und nur in der Bewegtheit des Lebendigen selbst das Bleibende sieht.
5.
Freilich: Bestimmte Grund – Überzeugungen“ zur Philosophie Nietzsches haben sich öffentlich durchgesetzt, haben sich als Sprüche in den Köpfen festgesetzt. So etwa die Diagnose, die er im Text „Zarathustra“ verbreitet: „Wir haben Gott getötet“. Dieser Satz gibt nach wie vor zu denken: Kann der Mensch Gott töten, wenn ja: welchen Gott, wer ist „wir“? Über Nietzsches Text „Der Antichrist“ wäre eigens sprechen (erschienen 1895). Darin „verkündet“ Nietzsche doch wohl eine neue, eine explizit antichristliche Moral? Manche Leser haben diesen Eindruck, wenn man das von Nietzsche Geschriebene ernst nimmt. Und auch dies: Die Polemik Nietzsches gegen, so wörtlich, „die Schwachen und Missratenen“, ist nicht nur antichristlich. Sie ist antihuman. Oder muss man auch bei dem Thema das nur „Vorläufige“, wenn nicht „Spielerische“ des Gesagten bedenken?
6.
Man wird also Nietzsche, dann mit den ausführlichen kritischen Kommentaren ausgestattet, sehr vorsichtig, immer mit einem Abstand kritisch lesen müssen und ihn schon gar nicht zu einem „Meisterdenker“ aufwerten, selbst wenn viele seiner Aphorismen anregend sind, zum kritischen Weiterdenken führen. Das gilt sicher schon heute, auch wenn diese großen Kommentare noch nicht vorliegen.

Siehe auch: „Forschungsstelle Nietzsche Kommentar“. 2020 soll z.B. ein Kommentar zum „Zarathustra“ erscheinen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

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2.
Über ein Sonderheft des „Philosophie Magazin“ (Berlin):
Also sprach Nietzsche
Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlich am 9.7.2017

Immer wieder Nietzsche also. Die Einführungen in sein Denken sind heute kaum noch zu überschauen. Liegt es daran, dass Nietzsche sehr oft erstaunlich gut und „eingängig“ schreiben konnte, aber dabei selten doch klar verständlich war? Dass man also bei jedem Nietzsche Zitat oder Aphorismus mit größter Vorsicht umgehen muss, ob denn der „tolle Satz“ im Ganzen des Denkens von Nietzsche noch „stimmt“? Und ob die Nietzsche Überzeugung überhaupt stimmt?

Das Interesse an Nietzsche hat heute sicherlich mit der expliziten oder der verschwiegenen Verbindung seines Denkens mit der alten rechtsextremen Ideologie und der „neuen Rechten“ („La nouvelle Droite“) zu tun und auch mit der postmodernen Ideologie, die da den philosophisch kaschierten Glauben verkündet, „alles ist elativ … und Wahrheit gibt es nicht“.

Darum ist es wohl am wichtigsten, in dem neuen Sonderheft über Nietzsche aus der Reihe des „Philosophie Magazins“ die Interviews zu dem politisch aktuellen Thema zuerst zu lesen.

So sagt gleich am Anfang des Heftes Rüdiger Safranski: „Nietzsche war sehr dezidiert kein Demokrat … Mehrheiten sind für ihn immer töricht“ (S. 18). Dann folgt ein Hinweis Safranskis, dass Mehrheiten (in Demokratien) eben auch irren können, er nennt das Beispiel im Nationalsozialismus, woraus Safranskis schließt: „Es schadet durchaus nicht, auch die radikale Alternative zum demokratischen Denken kennen zu lernen“ (ebd.) Dass es von Herrschern und Medien dumm gemachte Mehrheiten in Demokratien gibt, sieht Safranski nicht. Hätte er sehen können, wenn er die Trump – Wahl studiert hätte. Diese durch idiotische Propaganda dumm gemachten Mehrheiten sind aber meines Erachtens kein Grund, prinzipiell gegen Mehrheitsentscheidungen in einer Demokratie zu sein. Aber das nur am Rande. Befremdlich auch, dass Safranski meint, es habe, so wörtlich, „intelligente nationalsozialistische Philosophen“ (S. 20), wie etwa Alfred Baeumler, gegeben. Heidegger nennt Safranski nicht. Meint Safranski solche Philosophen, die mit der formalen philosophischen Logik, dem „Einmaleins“, gut klar kamen? Dann mag es zu Zeiten der Juden – Vernichtung durch die Nationalsozialisten vielleicht logisch korrekt denkende Nazi – Philosophen gegeben haben. Aber wenn Intelligenz auch Ethik umfasst, dann kann es definitiv keinen „intelligenten nationalsozialistischen Philosophen“ gegeben haben. Sie waren verirrte Ideologen, mehr nicht. Schade, dass solche Auslassungen Safranskis einfach im Interview (geführt wie die meisten Interviews im Heft von der Philosophin Catherine Newmark) unwidersprochen stehen bleiben.

Deutlich ist die Aussage des Philosophen Bernhard H.F. Taureck: „Die Mehrheit der Italo – und Germanofaschisten stand eindeutig auf der Seite Nietzsches“ (S. 105). Es faszinierte die Nazis, „das Nein Nietzsches zur Demokratie, seine Verachtung der Frauen, sein Ja zum Krieg und sein Votum für die Überschreitung des bisher bekannten Menschentypus… (S. 105). Nietzsche war einerseits gegen das Judentum als Träger universalistischer Werte. „Aber er bejahte die jüdische Bevölkerung Deutschlands, um aus ihr und den Germanen eine höhere Menschheit zu züchten“ (S. 107). Kann man sagen, diese Haltung sei nicht antisemitisch? Sie ist es, denke ich. Interessant ist der Hinweis Taurecks, dass etwa 150.000 deutsche Soldaten im 1. Weltkrieg Nietzsches „Zarathustra“ im Gepäck bei sich hatten, als eine Art Religionsersatz.

Wie die Philosophie des Transhumanismus (d.i. kurz gesagt: sehr langes Leben – 150 Jahre – für einige reiche Herrschaften als Lebensziel) mit Nietzsche zurecht kommt, kann man in dem Interview mit dem Transhumanismus – Philosophen Stefan Lorenz Sorgner nachlesen. Sorgner ist auch Mitbegründer des „Beyound Humanism“ – Netzwerkes! Er plädiert für einen „liberalen (was ist das?, CM) Umgang“ mit Technologie in der Hoffnung, durch den Schritt zum Trans- oder vielleicht Posthumanen die Wahrscheinlichkeit des guten Lebens zu erhöhen“ (S. 115). Es ist für mich unverständlich, dass solche Auslassungen vom Interviewer Sven Ortoli nicht unterbrochen werden, nicht nachgefragt wird, so wird ein Interview zur Propaganda, die mit Philosophie nichts mehr zu tun hat.

Der Nietzsche Spezialist Andreas Urs Sommer ist da kritischer: Nietzsche habe einen Hang zum Autoritären, betont er, ein konkretes politisches Programm habe er nicht vorgelegt, insgesamt nennt Sommer Nietzsches Denken wohl sehr treffend „schräg“ (S. 30). Er bezeichnet dann die Provokationen Nietzsches „in hohem Maße verdächtig – verdächtig im positiven Sinne“. Was im positiven Sinn „verdächtig“ denn bedeuten könnte, wird nicht erklärt.

Sehr interessant für mich ist das Interview mit dem Philosophen und Theologen Christoph Türcke über die „Tiefen – Psychologie“, die Nietzsche in seinem Werk ausbreitet: Ausgangspunkt sei, so Türcke, dass Nietzsche „den menschlichen Verstand bloß eine Art Wurmfortsatz der menschlichen Triebnatur auffasst, nicht als eigenständige Kraft“( S. 82). Sind solche Wurmfortsatz – Denker wie Nietzsche noch Philosophen?

Das Nietzsche Heft ist für solche, die bisher wenig von dem Propheten wissen, doch empfehlenswert, zumal auch einige treffende Nietzsche – Zitate versammelt sind. Und auch wird die Rolle von Nietzsches Schwester Elisabeth für die Philosophie durch Kerstin Decker sehr schön dargestellt und neu interpretiert. Auch Stefan Zweig kommt zu Wort und Thomas Mann, so wird zusammen mit der Daten – Übersicht eine inspirierende, Fragen weckende Broschüre veröffentlicht. Schade nur, dass die internationale Relevanz Nietzsches etwa in Italien oder Frankreich nicht dargestellt wird. Wird er etwa in Indien wahrgenommen oder im buddhistischen Kontext? Was denken Menschen in arm gemachten Regionen über ihn, der die Kleinen und Kranken und Armen verachtete? Ohne internationale Bezüge kann heute kein Philosophie – Heft mehr auskommen, denke ich.

Leider fehlt auch der für Nietzsche entscheidende Hass aufs Christentum als eigenes Thema. Es hätte die Rede sein müssen, wie sich dieser blinde Hass des Pfarrerssohnes mit seiner ganz offenen, lyrisch bewegten Zuneigung zu Jesus verträgt.

Es fehlt leider auch die Auseinandersetzung zu der Frage, in welcher Weise denn Nietzsche nun wirklich und ernsthaft als Philosoph angesprochen werden kann. Ist er nicht eher ein literarischer Prophet, etwa in seiner philosophisch wie auch empirisch völlig unbegründeten Verkündigung „Gott ist tot“. Dieses Bonmot geistert durch die Köpfe der Menschen, alle glauben es und keiner weiß, was dieses Predigt – Wort Nietzsches eigentlich bedeutet und ob es wahr ist: Welcher Gott ist denn tot???

Am schwerwiegendsten wohl: Es hätte meines Erachtens dem Heft sehr gut getan, auch Vittorio Hösle zu Wort kommen zu lassen, der ja bekanntlich in seiner Studie „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (Beck Verlag 2013) gezeigt hat: Nietzsche war philosophisch gesehen ein „Dilettant“, es gibt keine „Konsistenz“ seiner Aussagen (S. 185), Nietzsche „verdeckt in seinem einzigartigen Stil von verführerischer Schönheit den Mangel an Argumenten und Evidenzen“ (S. 186). „Schopenhauer war der einzige Philosoph, den Nietzsche neben den Vor – Sokratikern wirklich kannte“, sagt Hösle. (S. 188). Auch Hösle weist darauf hin, dass Nietzsche tatsächlich neue „Werttafeln“ aufstellte, als „Verkünder“ (S. 201). Zurecht sagt Hösle, „dass Nietzsche sich selbst mit seiner allgemeinen Leugnung der Wahrheitsfähigkeit der Menschen schädigt“ und sich „die eigenen Beine wegsprengt und geistig am Verbluten ist“ (S. 202 f.)

Über den Übermenschen wäre zu sprechen, diese maßlose Behauptung, die sich Philosophie nennt. Der Philosoph und Nietzsche Spezialist Volker Gerhardt hat recht, wenn er den bloßen Behauptungscharakter der Nietzsche Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen dadurch beiseite schiebt, wenn er sagt, dass wir uns heute ja nicht an frühere Leben in dieser ewigen Wiederkehr erinnern können. Wichtig dann die Schlußfolgerung: „Aus meiner Sicht liegt der größere Ernst im Bewusstsein der Einzigartigkeit der jetzt gegebenen Situation“. Man kann also sagen: Nietzsche Lehre von der ewigen Wiederkehr ist Predigt, ist Ideologie.

www.philomag.de

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

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3.
Nietzsches Philosophie – gefährlich anregend

Von Christian Modehn, Berlin, veröffentlicht am 23.9.2012, anlässlich der Sitzung des religionsphilosophischen Salons, auf vielfachen Wunsch publiziert.

PS: Es handelt sich um ein einführendes, zur Diskussion führendes Statement, das keineswegs umfassend ist.

Der Titel deutet bereits das Spannungsverhältnis an, dem man sich stellen muss, wenn man sich mit Nietzsches Philosophie befasst. Er selbst hat sein eigenes Denken gefährlich genannt, weil es in die Weite einer neuen Kultur führen soll, was einen Bruch mit der vertrauten alten Kultur bedeutet.

In seinem relativ frühen Text „Fröhliche Wissenschaft“ (von 1881) gibt Nietzsche selbst die Losung aus, „gefährlich zu leben“. Gerade in dieser Infragestellung unserer bisherigen kulturellen Selbstverständlichkeiten ist Nietzsche anregend – und aufregend. Sein Denken kann niemanden unbewegt lassen.

Warum gerade jetzt eine Auseinandersetzung mit N. Philosophie? Vielleicht, weil viele seiner Analysen und Prognosen heute von vielen als zutreffend erlebt werden. Sie sind entschieden von einer radikalen, das bisherige christliche System vernichtenden Religionskritik geprägt und von dem äußerst eindringlichen Vorschlag, sich neu religiös zu orientieren. Das gilt es wahrzunehmen, ohne gleich zuzustimmen!

Die entscheidende Perspektive heißt bei Nietzsche: Gott ist tot. Da muss man genau hinhören: Er sagt in diesem Satz, der seiner Analyse seiner Gegenwart entspringt, dass Gott tot ist. Das ist etwas anderes als zu sagen: Gott gibt es nicht; oder: Gott existiert nicht. Wer sagt: Gott ist tot, und er sagt auch: Er war mal lebendig. Nun ist er tot, ein bestimmter Gott ist nicht mehr am Leben.

Da sind wir schon beim aktuellen Bezug: Jeder sieht in Westeuropa und unter allen gebildeten Menschen weltweit: Dass der alte bekannte überlieferte und eingeprägte Gott der Christen, etwa die Trinität oder Jesus als „Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinweg nimmt“, ist nicht mehr nachvollziehbar lebendig, wird nicht mehr innerlich verehrt und akzeptiert. Der alte dogmatische Glaube ist tot. Jeder macht sich seine persönliche „Glaubensmelange“… Das ist eine Tatsache, und war wohl früher schon eine Tatsache. Welcher bayerische Bauer glaubte im 17 Jahrhundert z.B. dogmatisch korrekt, etwa, laut Glaubensbekenntnis, dass der Heilige Geist von Vater und Sohn ausgeht?

Man werfe heute nur ein Blick in die Kirchen am Sonntag: Der Gottesdienstbesuch lässt in ganz Europa ständig nach; in manchen Ländern geht er gegen Null; die dort verbreiteten Gotteslehren und oft auch in eins mit Morallehren sind nicht mehr nachvollziehbar. Das Mönchsleben und die Orden sterben aus; große Begeisterung, Pfarrer zu werden, ist kaum zu spüren, viele theologische Fakultäten stehen etwa in Deutschland vor der Schließung. Was Nietzsche empört, ist, dass alle so weiter machen und weiter leben wie bisher, als sei dieser Gott gerade nicht tot. Sie flüchten in den Schein und den Selbstbetrug.

Aber dieser verstorbene Gott war früher sozusagen der oberste Garant einer Werte – Ordnung: „Für Gott und Vaterland“, man erinnert sich an den Spruch; Gott ist die oberste Wahrheit; alles Erkennen geschieht in göttlichem Licht; Gott ist der Schöpfer der Welt usw.

Wenn dieser Gott der obersten Werte und vertrauten Weltbilder tot ist: Dann bricht eine Welt zusammen. Dann wird den Menschen der Boden entzogen.

Das Schwierige im Umgang mit Nietzsches Texten ist nur: Es sind in den umfangreichen Büchern viele, meist kurze knappe Texte hintereinander gestellt, es sind meist keine systematischen Abhandlungen, zumindest im Spätwerk (ab 1880) ist das so. Da sollte man nie isolierte Aphorismen für die ganze Wahrheit von Nietzsche Aussagen nehmen.

Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) ist zweifellos einer der ungewöhnlichsten Philosophen. Er schreibt in einer Sprache, die musikalisch – poetisch ist, keineswegs abstrakt und nur in Theorien – versponnen. Nietzsche ist heute einer der am meisten gelesenen und philosophisch bearbeiteten Denker. Er wurde rezipiert von Künstlern, wie Picasso, Kandinsky, Klee, Schriftstellern wie Rilke, George, Thomas Mann, Proust; Richard Strauss („Also sprach Zarathustra“) Gustav Mahler…

In Deutschland begann die gründliche kritische Nietzsche Forschung erst in den sechziger Jahren.

Nietzsche spricht als persönlich Erschütterter und Leidender. Seine Texte sind mit dem eigenen Leben verbunden, sind niemals Erkenntnisse, die am „grünen Tisch“ entstanden sind oder sich lediglich als Beiträge akademischer Debatten oder gar als „Glasperlenspiel“ verstehen. Wichtig ist der extrem hohe Anspruch seines Denkens, das sich besonders in der späten Phase, vor der Umnachtung im Januar 1889, als prophetische Stimme, als Weisung und radikale Lebenserneuerung präsentiert. Das ist in dieser, man möchte sagen, „missionarischen Sendung“ durchaus selten innerhalb der Philosophiegeschichte.

Nietzsche will mehr sein als ein Philosoph, er will als Ausnahmeexistenz des Umstürzlers und Neues Stiftenden ein Beispiel geben. Er möchte eine neue Renaissance einleiten, Geburtshelfer einer neuen Kultur sein. Dabei kommt es gerade in den letzten Jahren zu einer extremen Stilisierung des eigenen Daseins und Denkens. Er will aus seinem Leben ein Kunstwerk machen. Er schreibt Worte, die Taten sein wollen. Er will ein Philosoph „mit dem Hammer“ sein: D.h. wohl: Es ist der „Hammer“ gemeint, mit dem der Arzt den Körper des Patienten abklopft, so will Nietzsche sinnlich wahrnehmen, hören, was unter „uns“ geistig – religiös krank ist.

Ich will kurz einen, vielleicht das Wesentliche treffenden biographischen Hinweis geben: Hier kommt es nur darauf an, zentrale menschliche Lebens – Erfahrungen Friedrich Nietzsches zu erwähnen, die unmittelbar für sein Denken und Schreiben wichtig wurden: Vor allem ist da zu nennen der schmerzvolle Tod seines Vaters im Alter von 36 Jahren, ihn erlebte Friedrich Nietzsche als 5 Jähriger. Sein Vater war evangelischer Pfarrer, er stammte aus einem alten „Pfarrergeschlecht“, in der Familie gab es schon in der 5. Generation Pastore. Zuhause wurde auf strenge Befolgung der kirchlichen Lehren geachtet.

Friedrich Nietzsche wandte sich angesichts des Leidens und frühen Sterbens seines Vaters an Gott, betend und bittend; aber ohne göttliche Antwort blieben seine Bitten.

Kein Gott antwortet: Nietzsche lernt daraus: Gott erhört uns nicht; die Frommen verehren eine Art Phantom, ein illusorisches Himmelswesen, unerreichbar und tyrannisch. Dieser Glaube, sagt Nietzsche später, führt die Menschen dazu, das Beste ihrer Ideen und Energien an einen illusorischen Himmel zu verschleudern … anstatt „fröhlich“ auf Erden zu leben. Es kommt für Nietzsche entschieden darauf an, dass die Menschen die Freude am Lebendigen bewahren, dass sie sich am Genuss der Sinne erfreuen, dass sie Stärke erleben…Bleibt der Erde treu, heißt dann sein Prinzip.

Ich will hier nur kurz erwähnen, dass Nietzsche in Basel schon als hochbegabter junger Mann – ohne Promotion, ohne Habilitation – Professor für Altphilologie wird. Aber in den Baseler Jahren wird schon die Philosophie für ihn immer wichtiger: Er gibt die Professur auf und lebt fortan ziemlich bescheiden als freier Philosoph und – kaum erfolgreicher – Schriftsteller bis zu seinem geistigen und körperlichen Zusammenbruch Anfang 1889. Nietzsche ist 1900 gestorben, seit 1889 von seiner Mutter in Naumburg liebevoll versorgt, ab 1897 von seiner Schwester Elisabeth in Weimar betreut, die sich – als Antisemitin schlimmster Art – erdreistete, unveröffentlichte Texte ihres Bruders nach eigenem ideologischen Gusto zu veröffentlichen (etwa: „Der Wille zur Macht“). Sie hat auch dafür gesorgt, dass von Nietzsche ein paar Sprüche durch die Stammtisch Gesellschaften geisterten und geistern. Etwa: Nietzsche propagiere den Machtmenschen, den Übermenschen, die blonde Rasse usw, Dinge, die im Faschismus aufgegriffen wurden. Erst die kritischen Gesamtausgaben von Colli und Molinari ab 1960 haben eine ernsthafte differenzierte Nietzsche Lektüre möglich gemacht.

Nietzsche hat eher „anti – systematische“ Werke hinterlassen, aber er hatte systematische Absichten, schreibt der Philosoph Volker Gerhardt.

Ein Wort zur „Methode im Denken Nietzsches:

Wichtig ist das radikale Hinterfragen und Bezweifeln der überlieferten kulturellen und religiösen Traditionen. Er fragt, was ist das VERBORGENE in dem, was sich kulturell zeigt. Der Verdacht spielt bei ihm eine große Rolle, ihn interessiert der Schleier, der sich über die Wahrheit legt, die Rolle des Unbewussten wird von Nietzsche klar gesehen. Nietzsche als Psychologe wäre ein Thema!

Also: Hinter dem, was sich öffentlich als gut zeigt, kann etwas anderes, etwas Böses lauern. Der Schein trügt, ist seine Devise. Und hinter dem, was wir als Böse hingestellt bekommen, kann sich gerade das Gute und das Wahre verbergen. Wir müssen also immer skeptisch bleiben, nicht auf alle Sprüche aller möglichen Herrschaften reinfallen. Wir müssen damit rechnen, so Nietzsche, dass uns auch in den entscheidenden Begriffen und Dogmen, wie Gott z.B., nur Masken begegnen.

In Nietzsches späterem Werk, also etwa seit 1880, kehren bestimmte Themen und Motive immer wieder, z.T. mit unterschiedlicher Schärfe und Intensität.

Ich will versuchen, eine Art kleinen systematischen Durchblick zu bieten:

Stichwort Nihilismus: Da zeigt sich Nietzsche als der große Analytiker der Gegenwart und als „Wahrsagevogel – Geist“, wie er sich selbst nannte.

Er sieht einerseits die große Öde, das nur glitzernde Phantom, den routinierten und öden „Kulturbetrieb“, wie Adorno später sagt.

Die alten Werte werden nicht mehr als solche respektiert. Sie werden zwar pro forma mit dem Anspruch der absoluten Wahrheit verkündet, aber, so Nietzsche, diese absolut geltenden Wahrheiten gelten eigentlich nicht mehr. Die meisten wissen längst: Alles Erkennen ist perspektivisch, also ausschnitthaft. Es gibt keine rund herum absolut wahre Erkenntnis des „Dinges an sich“.

Aber die alte Welt der Kultur und Religion redet uns ein, wir müssten absoluten Werten folgen, diese Einrede ist obsolet geworden. Diese Bindung an die alten Werte wird passiv hingenommen, der oberste Wert, Gott und Christus, werden als Aufforderung verstanden, das Leiden hinzunehmen, alles zu ertragen.

Aber Nietzsche fragt: Woher kommt der Nihilismus. Es sind die Priesterklassen und Asketen, die ihre Werte verbreitet haben, Werte des Jenseits, die mit dem Leben nichts zu tun haben. Den dort gepredigten passiven Nihilismus will Nietzsche überwinden.

Aber zuvor, damit zusammen hängend, muss erkannt werden:

Gott ist tot: ist das entscheidende Stichwort. Aber alle tun so, als sei er nicht tot.

In der „Fröhlichen Wissenschaft“ kündigt der tolle Mensch den Tod Gottes an. Wichtig ist zu sehen, dass der Tod Gottes nicht als bedauernswertes, zwar als überwältigend erschütterndes Ereignis gesehen wird, sondern im letzten als große Befreiung. Später auch, in seinem Zarathustra Buch, wird der Tod Gottes als das zentrale Ereignis beschrieben. Jedenfalls liegt da kein Plädoyer pauschal für den Atheismus vor, eher die Aufforderung der Suche nach einem neuen Gott, von dem schon der junge Nietzsche sprach.

Differenzierter sollte man sehen: Jesus bejaht Nietzsche als die vorbildliche menschliche Gestalt und die menschliche Lehre des Jesus von Nazareth. Jesus habe ein Nein gesprochen gegen alles, was Priester und Theologen sagten. Er hat zum Widerstand aufgerufen, die kleinen Leute sollten widerstehen…

Nietzsche sieht den Ursprung der Verfälschung der Jesus – Lehre mit Paulus beginnen. Durch die Lehre von der Auferstehung verschiebe sich das Interesse am Dasein ins Jenseits, in weite Fernen.

Nietzsche sieht die Kirche wegen dieser monströsen dogmatischen Lehren, so wörtlich, als Irrenhaus.

Er spricht davon, dass die „Kirchen zum Grab Gottes“ werden, eine sehr hellsichtige Analyse, wenn man bedenkt, wie heute viele (katholische) Kirchenmitglieder, „eigentlich“ durchaus gläubig, durch die Verbrechen der Kircheninstitutionen, der Päpste, der Priester usw. usw., zu Atheisten werden.

Nietzsche sieht sich als Überwinder des Nihilismus.
Er ist alles andere als ein nihilistischer Denker, der sozusagen in das Nichts verliebt ist. Nietzsche macht konkrete Vorschläge, wie denn eine neue Kultur und eine neue Religion aussehen könnte: Dabei sieht er sich wie einen Narren, der Unbequemes sagt, wie ein Hanswurst, sagt er wörtlich, wie einen tollen Mensch. Insgesamt aber sieht sich Nietzsche als FREIER GEIST und befreiter Geist (von der alten Religion).

Aber zunächst noch: Es gilt, nach dem Tode Gottes neue Tafeln, so wörtlich, neue Gebote also, zu setzen. Die andere Möglichkeit wäre, im Alten zu verharren und beim „letzten Menschen“ zu bleiben. Der Begriff der letzte Mensch ist sehr vieldeutig, es ist auch der „letzte“ im moralischen und zeitlichen Sinne. Diese Menschen folgen noch dem untertänigen Geist der alten Sklavenmoral. Sie ersetzen Gott durch neue Idole, für Nietzsche sind das Demokratie, Fortschritt, Wissenschaft.

Der erste Vorschlag: der Mensch muss den Menschen überwinden und zum Übermenschen werden.
„Tot sind alle Götter, nun wollen wir, dass der Übermensch lebe“. (Zarathustra). Der Übermensch ist ein belasteter und oft missverstandener Ausdruck. Mit dem Übermenschen meint Nietzsche entschieden den Menschen, der sich von dem immer wieder aufgedrängten und eingeübten Selbsthass der alten religiösen Kultur befreit hat, der sich nicht mehr untertänig verhält, sondern stolz ist auf sein Leben. Und der dieses Leben als einen Prozess der ständigen Steigerung versteht. Der Übermensch lebt das Leben auf immer tiefere Erfahrungen hin. Der sich ständig überschreitet und wächst.

Da spielt die aktuelle Diskussion hinein, es herrschen die Slogans: Mach aus deinem eigenen Leben ein Kunstwerk. Werde schöpferisch. Höre auf mit der verordneten Selbstverarmung. Deine Tugenden sollen Selbstaufwertung und Selbstüberbietung sein. Hört auf mit der von den Religionen diktierten Selbstverschwendung. Und hört auf mit der Idee der Gleichheit aller Menschen. Das ist die hoch problematische Seite an diesem Begriff, wie ihn Nietzsche vorträgt.

Mit Nietzsche wird ein „Gegenevangelium“ formuliert, wie der katholische Theologe Eugen Biser sagt. Nietzsche will lehren, dass nach dem Tode Gottes die Menschen und die Welt den Platz Gottes einnehmen müssen. Es gilt, sich in einer irdischen Welt einzurichten und umfassend Freude am Leben zu haben. Es wird eine Alternative zur bisherigen Welt geplant. Das Leben ist der Höchstwert als nur menschliches Leben. Dabei sollen nach Nietzsche, und das macht ihn problematisch, die Starken als die Herrscher, entscheidend den Ton angeben. „Wie kann der Übermensch Ja sagen zum umfassenden Leben und gleichzeitig die anderen, die Schwachen, verachten?“, darauf macht der Philosoph Schönherr Mann aufmerksam. Dennoch bleibt die Auseinandersetzung mit der Frage wichtig: Wie können Menschen sich selbst überschreiten und alle positiven Kräfte in sich entwickeln.

Dahinter steht der Begriff „Der Wille zur Macht“. Dieses Thema hat Nietzsche selbst nicht vollständig ausführen können. Aber deutlich wird: Die neue Macht der neuen Welt können nicht die einstigen Sklaven, die Unterlegenen, die kleinen Leute übernehmen. Die sind ohnehin von Ressentiments, von Neid, geprägt, aber Nietzsche sah, wie der gelebte Wille zur Macht tatsächlich auch zu einem großen Durcheinander verschiedener Willen führen kann. Darauf hat er keine Antwort gegeben. Aber für ihn hat alles Lebendige in sich den Willen zur Macht, zur Steigerung und Gestaltung.

Darum sein Vorschlag für eine neue Sinnorientierung: Die ewige Wiederkunft des Gleichen. Dies ist eine heroische Haltung, die Annahme des unausweichlichen Schicksals. Da tritt Nietzsche wie ein Stifter eines neuen Glaubens auf. Ewige Wiederkunft: Da ließe sich auch an das Nirwana des Buddhismus denken. Aber im Buddhismus gibt es einmal den Ausstieg aus dem Kreislauf, eben den definitiven Schritt ins Nirwana.

Das ist bei Nietzsche nicht gemeint. Das ist der Versuch, die lineare Geschichte aufzugeben, also die Idee einer unbekannten Zukunft vor uns aufzugeben, zugunsten eines Kreises, der Wiederkehr der bekannten irdischen Welt. Diese Vorstellung hat Nietzsche selbst für die schwerste unter allen Erkenntnissen gehalten; sie setzt auch den einzelnen ein in die Wiederkunft des schon einmal Erlebten. Das wird von Nietzsche durchaus als Last angesehen, wer will schon alles Leid, das er einmal durchmachte noch einmal und noch einmal später erleben? Aber diese heroische Annahme der Wiederkunft lobte Nietzsche als amor fati. Was sich ständig wiederholt, hat einen zwanghaften Charakter, ohne Ziel und ohne Ende dreht sich die Welt. Ob das eine bessere Lösung ist als die klassische Lehre von der himmlischen und zukünftigen Erlösung ist eine andere Frage!

Das Buch „Der Antichrist“ ist die heftigste Anklage und Verurteilung des Christentums. In einer scharfen Tonart geschrieben! Es geht ihm, wie Eugen Biser sagt, um einen Vernichtungsschlag“. Luther habe bloß den Papst kritisiert, jetzt kommt es darauf an, das Christentum und die Kirche zu vernichten. (§ 57, Antichrist). „Ich heiße das Christentum den einen großen Fluch, die ein große innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig. Heimlich, unterirdisch, klein genug ist, ein Schandfleck der Menschheit“.(§ 62)

Sein letztes, aber erst nach seinem geistigen Zusammenbruch veröffentlichtes Bekenntnisbuch autobiografischen Charakters heißt Ecce Homo, ein biblischer Titel. Darin erklärt er sich selbst zur Person, an der sich das Schicksal der Menschheit entscheidet. Er sieht sich als dionysischer Erlöser. Er leidet, aber nimmt alles an als eine amor fati, als eine Liebe und Annahme des Schicksals.

Nietzsche verstand sich selbst als Experimentalphilosoph, und das ist seine bleibende Leistung: Neuland zu betreten

Aber es ist verfehlt, Nietzsches Schriften unmittelbar für eine Lebens- Orientierung zu halten, dafür ist seine Konzeption einer neuen Kultur und neuen Religion mit einem neuen Gott noch viel zu abhängig von dem, was er selbst überwinden will. Er verharrt innerhalb der Dialektik „Gott – Nicht Gott“ auf der Stufe der bloßen Negation. Wichtiger wäre eine neue Position, eine neue Synthese, sozusagen als das Dritte jenseits von klassischem Theismus und Atheismus. Vielleicht wäre dies die Mystik.

Was bleibt nach Nietzsche für ein Denken des Unendlichen, des Ewigen? Das menschliche Leben ist Geheimnis. Das Leben, auch das leibliche, soziale und sinnliche und erotische, gilt es in höchstem Maße zu schützen und zu pflegen und zu lieben. Wir können das Geheimnis des Lebens niemals umgreifen und damit niemals endgültig definieren. Wir sind sozusagen im ständigen Schwebezustand des Ungewissen. Das ist unsere Gewissheit, unser „Getragensein“. Gott ist dabei unser Symbol für dieses Schweben im Geheimnis, für dieses Ausgesetztsein dem Geheimnis gegenüber und IM Geheimnis. Wir brauchen dieses Symbol der Öffnung, der Weitung, weil wir wissen: Unsere Welt ist niemals nur irdische Welt. Der Mensch ist niemals nur Mensch, aber er wird wohl nie Übermensch. Er bleibt Mensch, ewig auf der Suche nach dem unergründlichen Geheimnis, allein und in (religiösen) Gemeinschaften, die für diese undogmatische Position Verständnis haben.

Copyright: Christian Modehn, Berlin.

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4.

Man muss Jesus als das wärmste Herz denken«
Was Friedrich Nietzsche den Christen heute schreiben würde

Von Christian Modehn, veröffentlicht am 18.7.2009

Einige Freunde haben mich gebeten, einen kleinen Beitrag über Nietzsche aus dem Jahr 2001 noch einmal zugänglich zu machen, es handelt sich um den Versuch, einige wichtige Gedanken Nietzsche vor allem gegenüber spirituell und kirchlich Interessierten –provokativ – deutlich zu machen. Dass ich dabei einige Vorschläge Nietzsches als „kompatibel“ mit christlichem Denken darstelle, wäre eine eigene Debatte wert, die mir jetzt, im Rückblick auf diesen Text, im Juli 2020, interessant erscheint.

100 Jahre bin ich nun tot. Aber meine Ideen, meine Vorschläge, meine Polemiken: Sie leben, sie sind wichtiger denn je. Nicht nur Martin Heidegger hat betont, dass man sich an mein Denken noch erinnern wird, wenn mein Name längst vergessen ist. Aber ich bin nicht vergessen. Ich bin heute wie früher auch umstritten, und das freut mich. Ihr wisst, dass ich nie zur Bescheidenheit neigte. Ängstlichkeit lag mir fern, und Autoritäten hab’ ich meist verabscheut. Ich wusste, was ich kann; und ich weiß, dass ich heute Euch Christen etwas zu sagen habe. Darum wende ich mich an Euch. Ihr wisst, dass ich deutliche Worte liebe und manchmal übertreibe, einfach nur, um die Wahrheit besser hervortreten zu lassen. Darum freue ich mich über Eure Toleranz und vor allem über Euren Mut, mitzudenken und keine falschen dogmatischen Barrieren aufzustellen. Denn ich hatte immer ein deutliches Gespür dafür, Dinge zu sagen, die niemand sonst so treffend formuliert hat. Typisch Nietzsche, werdet Ihr denken … Euer Neid sei Euch verziehen. Dass ich mich manchmal als Prophet fühlte, als Künder neuer, epochaler Wahrheiten, mag ein bisschen übertrieben gewesen sein, aber ganz Unrecht hatte ich ja oft nicht.

Darf ich darum zuerst an einen Satz aus meinem Zarathustra-Buch erinnern? »Ich beschwöre Euch, meine Brüder (und Schwestern), bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche Euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.« Ihr wisst, das ist mein Programm: »Bleibt der Erde treu!« Wie oft habe ich als Sohn eines evangelischen Pfarrers erleben müssen: Fromme Leute, die ihre ganze Existenz auf dieser Welt schon auf den Himmel ausrichteten. Sie hatten kein Gespür für die schöne Welt, für die Natur, den Leib, die Sexualität, die Lust, ja, durchaus auch den Spaß; sie hatten keinen Sinn für die Befreiung und Entwicklung des ganzen, des leibhaftigen Menschen. Sie gönnten sich nichts, sie waren Asketen und schwärmten nur vom Himmel. »Bleibt der Erde treu«, heißt mein Programm. »Schaut nicht hinauf in den Himmel«, hat das nicht schon Jesus den Jüngern im Moment seiner Himmelfahrt zugerufen? Ich meine nach wie vor: Bleiben wir irdisch, bleiben wir menschlich, hüten wir uns, auf der Seite Gottes zu stehen und als Agenten seiner Wahrheiten aufzutreten. Hat nicht Joseph Ratzinger schon in München das Kardinals – Motto gewählt: „Mitarbeiter der Wahrheit“? Welch ein Wahn, würde ich sagen…Wer uns von der Erde loslösen und in himmlische, charismatische, fromme, transzendente Regionen entführen will, der vergiftet uns: Das wollte ich mit meinem Wort »Giftmischer« sagen. Geistliche Meister des Jenseits vergiften unser Leben, nehmen uns langsam dosiert unsere Lebensenergie weg. Sie verderben unser Dasein, weil sie uns in der angeblich ewigen Spaltung von Diesseits und Jenseits festlegen wollen. Das Diesseits ist das Jammertal, das unsichtbare Jenseits das Paradies, diese Ideen leben noch heute. Warum hat eigentlich der Vatikan so sehr gegen die Befreiungstheologie polemisiert und ihre Verteidiger schikaniert? Weil diese Christen der Erde treu bleiben wollten. Weil „Seelsorge“ als der einzige Auftrag der Kirche endlich, endlich, zurückgewiesen wird. Weil es auf Leibsorge ankommt, auf eine bessere Gesellschaft. Weil die Befreiungstheologen Nahrung für alle und gerechte Verhältnisse einklagen und das zumindest genauso wichtig fanden wie die Welt der Dogmen. Oder irre ich? Ein Papst, der einmal eine Enzyklika mit dem Titel »Bleibt der Erde treu« schreibt, wird sicher danach auf allen sakralen, barocken Pomp verzichten und anstelle von kostspieligen Weltreisen Gesundheitsprogramme in Afrika, vor allem die Aids-Prophylaxe, massiv und wirksam fördern. Jetzt werden Aids betroffene Afrikaner von vielen Katholiken nicht mit Leben schützenden Kondomen versorgt, sondern in Sterbekliniken aufs Jenseits vorbereitet. Sehr löblich, diese Sterbebegleitung, aber sollte man nicht zuerst das Leben schützen? Den Homosexuellen verbietet der Papst zu lieben, also im umfassenden Sinne zu leben; sie sollen sozusagen ihre Lebensenergien unterdrücken, als »Nobody« leben. Wer der Erde treu bleibt und auch seinem Leib, wird Sexualität als Form der lebendigen Transzendenz erleben. Wie schreibt doch der Professor für evangelische Theologie Manfred Jossutis so schön, in meinem Sinn denke ich: »Menschliche Sexualität hat eine transzendierende Tendenz. Wer die Sexualität verweltlicht, fördert die Verarmung des menschlichen Lebens.« Deswegen noch einmal: Hören wir auf mit der Trennung von Diesseits und Jenseits, von schlechtem Weltlich-Menschlichen (Sexuellen) einerseits und gutem und reinem Jenseitigen. Bleiben wir vielmehr der Erde – ganzheitlich – treu!

Ihr wisst, dass ich, Friedrich Nietzsche, mich gerade in der letzten Phase meines klaren Daseins, also vor meinem Zusammenbruch 1889, besonders entschieden gegen die Macht der Kirchen gewandt habe. Ich kam in »Rage«, wie die Franzosen sagen. Ich war ein Philosoph mit Wut im Bauch, aber das immer nur als Durchgangsstadium hin zu einer »Fröhlichen Wissenschaft«, wie ich sagte, zu einer Philosophie als fröhlicher Lebenskunst. Das war mein Lebensziel. Tatsächlich sah ich mich aber selbst am Sterbebett des Christentums sitzen; die Institution Kirche war für mich »fragwürdig und furchtbar«, sie war für mich »zum Grab Gottes geworden«. Denn ich spürte intensiv: Die alte religiöse Welt geht zu Ende, die alte Glaubenswelt bricht zusammen, die früher den Menschen Halt und Richtung gab. Aber ich habe dann doch das Ende des institutionalisierten Christentums als Hoffnung und Befreiung gedeutet, weil alle Energie nun auf die Erde, auf das glückliche Leben im Hier und Jetzt gerichtet werden kann. »Weil wir unser Dasein heiligen können«, wie ich sagte, weil wir als Menschen von unendlichem Wert werden. Darum habe ich ja den Vorschlag gemacht, dass wir Menschen zu Übermenschen werden müssten. Der Übermensch: Ein Wort, das leider oft völlig missverstanden wurde, vielleicht habe ich mich aber nicht immer klar genug ausgedrückt. Aber PhilosophInnen wie Annemarie Pieper (Basel) oder Günter Figal (Freiburg) und andere haben Euch darauf hingewiesen: Mit dem Übermenschen meine ich, dass wir auf eine neue Art leben sollten, dass wir sozusagen den »alten Menschen«, von dem ja auch schon das Neue Testament voll ist, hinter uns lassen. »Übermensch ist ein Name für die menschliche Freiheit«, sagt Günter Figal. Der Übermensch hat nichts mit der »Herrenmoral« zu tun; er ist vielmehr der Mensch, der sich gegen den um sich greifenden Nihilismus wendet und seinem Leben selbst einen Sinn gibt. Er ist dabei, die Einheitlichkeit im Leben zu schaffen, Göttliches und Menschliches als Einheit zu gestalten.

Denn Ihr müsst wissen: Ich habe dem Begriff des Übermenschen, des »freien Menschen«, der aus seinem Leben ein »Kunstwerk« macht, stets den »letzten Menschen« gegenübergestellt. Der »letzte Mensch« ist für mich der alltägliche Mensch, der sich um nichts anderes kümmert als um das banale Leben. Er ist sozusagen der Materialist, der keine Fragen mehr nach dem Sinn und Zweck des Ganzen stellt. Der »letzte Mensch« ist von mir durchaus im qualitativen Sinne gemeint, so etwa, wenn Ihr abschätzig sagt: »Na, der ist ja der Letzte.« Für mich ist dieser klein karierte Menschentyp Inbegriff des Nihilismus, von dem ich immer wieder gesprochen habe. Ich habe ja unsere Epoche insgesamt als nihilistisch bezeichnet. Ich hatte die tiefe Erfahrung der modernen Menschen gespürt und gesagt: Unsere Epoche ist nihilistisch. Die tragenden Werte, der gründende Sinn, der transzendente Horizont, alles das ist »nichts«. Vor allem der alte Gott im Himmel, der Herrscher, der Richter, der Ursprung der Moral, dieser Gott gilt nichts mehr, lebt nicht mehr, weckt keine Lebensenergie. Ich habe den »tollen Menschen« in meinem Buch »Fröhliche Wissenschaft« diese Erfahrung in Form einer Parabel sprechen lassen, fast wie einen biblischen Text. Ich habe gesagt, dass Menschen den bisher geglaubten Gott getötet haben, eben weil sie nicht länger die Zerrissenheit von Diesseits und Jenseits ertragen konnten. Ich habe den »tollen Menschen« sagen lassen, dass mit dem Tod Gottes ein Chaos eintreten wird, von Absturz, Kälte, Finsternis habe ich gesprochen als Konsequenzen dieses Erlebens, dass der »alte Gott« nichts mehr gilt. Der bisher übliche transzendente Horizont ist »weggewischt«. Wir nach dem „Tod Gottes“ ein neuer, ein „göttlicher Gott“ erscheinen, wie Martin Heidegger sagte? Die Frage ist offen. Sehnen sich die Menschen nach einen „göttlichen Gott“? Sehnen sich die Christen nach dem göttlichen Gott oder bevorzugen Sie Pater Pio und den Landpfarrer Johannes Vianney und Lourdes und Fatima und den Papst-Kult???

Darüber hinaus sage ich, Friedrich Nietzsche, gar nicht so viel Neues zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Der Nihilismus ist – zumindest in Europa und Amerika, in Japan und Australien – die allgemeine Religion geworden. Aber Ihr versteht mich völlig falsch, wenn Ihr denkt: Der Nietzsche will doch nur, dass es bei diesem Nihilismus bleiben soll. Das Gegenteil ist wahr: Ich habe mich immer gegen den platten Nihilismus, gegen die banale Weltlichkeit gewehrt. Der letzte Mensch, der Nihilist, »macht alle klein«, habe ich im Zarathustra geschrieben, einen hartnäckig dahinvegetierenden »Erdfloh« habe ich ihn abschätzig-übertreibend genannt. Ihm habe ich, ich komme noch mal darauf zurück, den Übermenschen gegenübergestellt, den freien Menschen, von dem ich schrieb: In ihm selbst »tanzt der Gott«. Im Leben erlebt er Göttliches, Heiliges…

Ich meine also: Wir müssen unsere Transzendenz nach innen verlegen, der göttliche Funke ist in der Seele, als Lebensspender, gewiss auch als Trost, vor allem aber als Energie zu lachen und zu leiden, zu lieben und zu tanzen. Diese Umkehrung der Transzendenz vom fernen, äußeren Gott in den inneren Gott: Davon sprechen ja auch schon einige Theologen. »In einer säkularisierten Welt hat die Beschäftigung des Menschen mit sich selbst und seiner Leib-Geistigkeit einen neuen Rang erhalten. Dem kann nur der Gott-in-uns, nicht der Gott-außerhalb-von-uns eine Entdeckungsreise wert sein«, schreibt zum Beispiel der katholische Theologe und Jesuit Hans Waldenfels. Aber wahrscheinlich stehen wir noch am Anfang dieser Entdeckungsreise zum neuen Gott in uns.

Wie sehr meine Lehre vom Übermenschen als dem »freien Geist« schon angekommen ist, zeigt mit das zunehmende Interesse der Europäer und Amerikaner am Buddhismus. Sich selber meditativ auf den Weg machen, die große Harmonie suchen, das Ziel der Erleuchtung als der vollendeten Menschlichkeit anstreben: Buddha-Sympathie und Nietzsche-Sympathie reimen sich gut, das ist viel zu wenig beachtet! Und vielleicht, das fällt mir jetzt ein, ist »der Heilige« für Euch der Übermensch, mit dem Ihr Christen leben könntet. Nur wünsche ich mir einmal Heilige nicht der Lebens- und Lustentsagung, sondern Heilige sozusagen des prallen, auch erotischen Lebens. Die »heilige Hure« war bisher nur ein Film. … Wenn es wenigstens ein erotisches Paar gäbe, das heilig gesprochen wäre …

Ihr seht, der alte Nietzsche hat noch was zu sagen und Euch Fragen zu stellen. Vielleicht lest Ihr mal wieder mein umfangreiches Werk? Und lasst Euch nicht abschrecken von Widersprüchen, die ich in meinem Eifer als »experimentierender Philosoph« verfasst habe. Die Nazis haben mein Denken missbraucht; dass ich alles andere als ein Antisemit bin, das haben ja nun zahlreiche Studien belegt; nur so ganz herumgesprochen hat es sich bei Euch noch nicht. Hört endlich auf, den Nazi-Ideologen mehr zu glauben als den wissenschaftlich arbeitenden Philosophen.

Zum Schluss will ich Euch noch auf eine bislang unbekannte Seite von mir aufmerksam machen: Ich bin nämlich, wie der katholische Theologe Eugen Biser, einer meiner Interpreten, schreibt, »ein kritischer Nachahmer Jesu«. Wenn ich auch das institutionalisierte Christentum meiner Zeit als eine lebensverneinende Macht verurteilte, so habe ich doch stets für Jesus von Nazareth viel Sympathie gehabt. Man muss ihn sicher als »wärmstes Herz« denken, als den »edelsten Menschen«. Seine Botschaft der Ganzheitlichkeit lautet: »Das wahre Leben, das ewige Leben, ist gefunden. Es wird nicht verheißen, es ist da! Es ist in Euch: Als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz.« Diese Erfahrung der innersten Nähe des Göttlichen »hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in tausend Jahren. Es ist eine Erfahrung in einem Herzen, es ist überall da, es ist nirgends da …« Schaut Euch die Jesus-Bilder an, die den Mann aus Nazareth wie einen heiligen Narren zeigen, etwa die Arbeiten von Otto Dix, George Rouault oder Herbert Falken, dann ahnt Ihr, was es mit meiner Jesus-Vorliebe auf sich hat. »Für mich gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz«, das habe ich schon vor 120 Jahren geschrieben: Inzwischen ist eine heftige Diskussion im Gange, wie Jesus-nah denn die Kirchen sind. Heute frage ich, Friedrich Nietzsche: Was hat der Petersdom mit Jesus zu tun? Was haben die Milliarden Kirchensteuereinnahmen mit dem Mann aus Nazareth gemeinsam? Was hat die Hütte von Bethlehem mit den Palästen der Kirchenbürokratie zu tun? »Ja, aber«, schreien sie bereits, die Pröpste und Prälaten. Mit diesem ewig wiederholten »Ja, aber« der Kirchenbeamten werdet Ihr Christen Euch auseinander setzen. Ich denke nur, dass ich als Philosoph für Euch nur eines tun kann: Ich kann zu denken geben.

copyright:Christian Modehn

Ein TEXTAUSZUG AUS DER “FRÖHLICHEN WISSENSCHAFT”
»Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ›Ich suche Gott! Ich suche Gott!‹ – Da dort gerade viele von denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? Ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ›Wohin ist Gott?‹ rief er, ›ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet –, ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet –, wer wischt dies Blut von uns ab?

Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat –, und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!‹ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. ›Ich komme zu früh‹, sagte er dann, ›ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert –, es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.«

Aus der »Fröhlichen Wissenschaft« von 1882