„Die Affäre Dreyfus“: “Intrige”. Der neue Film von Roman Polanski und der katholische Antisemitismus.

Ein Hinweis von Christian Modehn zu dem Film von Roman Polanski “J´accuse” (“Ich klage an”).
1.
Der neue Film Roman Polanskis über den „Fall Dreyfus“ bzw. die “Affäre Dreyfus”, hat in Deutschland den Titel „Intrige“.
Um die kriminellen Machenschaften der höchsten Mitglieder des Militärs und unter führenden Politikern geht es ja auch: Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus wird 1894 in Paris des Landesverrates angeklagt, zu Unrecht verurteilt und in die totale Isolation auf die Teufelsinsel in Guyana verbannt.
Die Verurteilung ist einzig und allein Ausdruck des populären Antisemitismus, der weiteste Kreise der französischen Gesellschaft und des Staates zersetzte. Die französische Gesellschaft ist tief gespalten in leidenschaftliche, irrationale ANTI-Dreyfusianer und die eher kleine Gruppe der Vernünftigen. Die Republikaner haben im Unterschied zu den reaktionären Kreisen nicht vergessen, dass durch die Französische Revolution den Juden die Bürgerrechte zugesprochen wurden. Dieses „Dreyfus-Trauma“ wirkt bis heute. Unter (katholischen) Traditionalisten (etwa Anhängern Bischof Lefèbvres) und Rechtsradikalen ist Antisemitismus bis heute eine Realität, auch wenn sie sich heute nach außen hin als Israel-Freunde geben, aus dem einzigen Grund, um ihren Hass auf “den” Islam dadurch abzuschwächen.
2.
Nach der Verurteilung von Dreyfus wird Oberst Marie-Georges Picquart zum Chef der „Gegenspionage“ ernannt: Er entdeckt im Laufe seiner Recherchen, dass Alfred Dreyfus einzig, weil er Jude ist, verurteilt wurde. Picquart ist von der Unschuld von Dreyfus überzeugt. Er wird zu einem entschiedenen Vorkämpfer der Gerechtigkeit in diesem „Fall“. Um ihn, den Oberst, der nicht blind gehorcht, sondern seinem Gewissen folgt, dreht sich der Film.
3.
Der damals allmächtig herrschende Antisemitismus wird in dem Film allerdings nicht weiter analysiert, er wird nur als Faktum dargestellt: Die aufgehetzten grölenden Massen, die Verbrennung der kritischen Zeitung „LAurore“, das Beschmieren jüdischer Geschäfte mit antisemitischen Parolen, die Gerichte, die sich vom Antisemitismus leiten lassen…
Für religionsphilosophisch und theologisch Interessierte ist wichtig: Der Judenhass in Frankreich wird von der katholischen Kirche und ihrer maßgeblichen Presse verbreitet und geradezu leidenschaftlich, unverschämt in den Aussagen, gefördert. Es hätte dem Film gut getan, wenn auf diese klerikalen Wurzeln des Antisemitismus wenigstens hingewiesen worden wäre. Denn Dreyfus ist auch ein Opfer des damals vorherrschenden katholisch befeuerten allgemeinen Antisemitismus.
Das Zentralorgan des katholischen Antisemitismus ist die katholische Tageszeitung LA CROIX (Das Kreuz) in Paris: Sie gehört zum großen Verlagshaus „La bonne presse“, „Die gute Presse“, ein sehr merkwürdiger Titel: Denn „gut“ galt auch das, was antisemitisch war. Antirepublikanisch, gegen die Laicité, die Trennung von Staat und Kirche, war das Verlagshaus allemal. Es gehörte (und gehört) dem französischen Augustinerorden, der sich „Augustiner von der Himmelfahrt (Mariens)“, „Assomption“, nennt.
Über den Antisemitismus, den die Tageszeitung La Croix vor allem seit 1884 verbreitete, sind inzwischen Studien von Historikern erschienen, etwa „La Croix et les juifs“, von Pierre Sorlin, Paris 1967). Aber auch der Orden selbst hat sich – spät – seiner dunklen Geschichte gestellt. Zum Beispiel im Jahr 1998: Da hat der Augustiner und La-Croix Chefredakteur Michel Kubler ausdrücklich die Schuld eingestanden, die Schuld an den jüdischen Mitbürgern. (La Croix, Ausgabe vom 12.1.1998)
4.
Es lohnt sich aber, einige Details dieses damals üblichen, stark katholisch geprägten Antisemitismus zu nennen:
Seit 1884 wird die Feindschaft gegenüber den Juden in La Croix immer größer, dies zeigt die Studie von Pierre Sorlin. Die offizielle päpstliche Verurteilung der „Freimauerei“ im Jahr 1884 hat den Antisemitismus noch einmal befeuert, weil „man“ glaubte: Die als böse geltende Freimaurerei sei wesentlich mit dem Judentum verbunden. Ab 1889 wurde der katholische Antisemitismus noch heftiger, weil die Wirtschafts- und Finanzkrise in dem Jahr einen „Sündenbock“ brauchte und üble pauschale Verdächtigungen verbreitet wurden, so etwa: Die ganze Presse befinde sich in den Händen der Juden. La Croix rühmt sich ganz unverschämt: „Diese Zeitung ist die am meisten antijüdische Zeitung Frankreichs“, so in der Ausgabe vom 30.9.1890. Wie richtig diese Selbsteinschätzung leider ist: Die Karikaturen allein sind eine Schande! Das Verlagshaus „Bonne Presse“, „Gute Presse“, erreicht in der Zeit mindestens 500.000 Leser, das sind viele mehr, als der Erzantisemit Edouard Drumont mit seiner Zeitung „Libre Parole“ erreichte.
5.
“La Croix” hat die heftige antisemitische Hetze seit etwa 1930 aufgegeben. Und „La Croix“ gilt seit 1960 für weite Kreise als seriöse, und gar nicht so klerikale Tageszeitung, wenn auch die Bindung an die offizielle katholische Lehre eine Rolle spielt. Ausdruck für eine gewisse allgemeine Wertschätzung auch außerhalb der Kirchenkreise ist z.B. die Jahre lange regelmäßige Mitarbeit des bekannten Politologen Alfred Grosser, Paris. Pater Michel Kubler, „La Croix“ Chef-Redakteur, bittet in seinem genannten Beitrag um Verzeihung für den antisemitischen Wahn, den die Zeitung seines Ordens verbreitet hat – vornehmlich im Falle Dreyfus: „Keine Person und auch keine christliche Gemeinschaft hat Zukunft, solange sie das jüdische Volk zurückweist, aus dem ja die Christenheit geboren wurde“.
6.
Oberst Marie-Georges Picquart (1854-1914) entstammte einer streng katholisch orientierten Familie aus Strasbourg. Er selbst hat schon als junger Erwachsener die Bindung an die Kirche aufgegeben. Als Oberst sagt er – im Film von Roman Polansky- zu dem bedrängten Hauptmann Dreyfus sinngemäß: „Ich bin zwar kein Freund der Juden. Aber ich will, dass man sie gerecht behandelt“. Eine zwiespältige Haltung gewiss, aber immerhin konnte er in dieser Einstellung die große Intrige aufdecken. Und Dreyfus -spät zwar – aber “immerhin” retten und rehabilitieren.
Aber Respekt und Anerkennung sind die menschlichen Haltungen, die den Antisemitismus einschränken und hoffentlich überwinden.
Auch die große Bedeutung, die der Schriftsteller Emile Zola für die Rehabilitieung von Dreyfus spielt, angesprochen, vielleich zu kurz. “J´ accuse” ist der Titel seines leidenschaftlichen Protestes gegen das Urteil in der Tageszeitung “L Aurore” (am 13. Januar 1898). Zola wird verurteilt, er kann nach England fliehen.
Erst am 12. Juli 1906 wird Alfred Dreyfus offiziell rehabilitiert, er wird zum “Ritter der Ehrenlegion” ernannt und als Major wieder in das Heer aufgenommen. Und Picquart wird 1906 von Ministerpräsident Clemenceau zum Kriegsminister ernannt…

7. PS.: Die katholische Tageszeitung „La Croix“ lobt ausdrücklich den Film von Roman Polanski „J accuse“ („Intrige“) in ihrer Ausgabe vom 12.11.2019. Die Zeitung La Croix hat heute eine Auflage von 95.000 Exemplaren. Die Tageszeitung Libération: 92.000, die Tageszeitung Le Monde 316.000.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Geschichtsphilosophie der Gegenwart – pessimistisch, aber nicht falsch.

Ein Hinweis von Christian Modehn zum neuen Buch von Vittorio Hösle “Globale Fliehkräfte“

1.
Vittorio Hösle will in seinem neuen Buch die vielfältigen politischen Fakten und Daten der Gegenwart zusammentragen und auf den Begriff bringen. Das bedeutet wohl der merkwürdige, gar nicht philosophische Begriff im Untertitel „Kartierung“. Es handelt sich also um eine „zeitkritische Schrift“ (129), sie soll durchaus dem Titel „Geschichtsphilosophie“ gerecht werden. Dass Geschichtsphilosophie zu den besonders umstrittenen „Abteilungen“ der Philosophie gehört, weiß natürlich Vittorio Hösle. Die ins Totalitäre abrutschende Geschichtsphilosophie des Faschismus oder des Leninismus, Stalinismus usw. hat als Ideologie allgemein tiefe Skepsis gegenüber diesem für Hegel noch so wichtigen Thema „Geschichtsphilosophie“ hervorgerufen.
Dennoch ist es für mich eine beachtliche Leistung des Philosophen Hösle, dass er sich an eine – wie Hegel – von empirischen und politischen Daten „gefütterte“ Philosophie als Verstehen der Gegenwart, eben an eine Geschichtsphilosophie, heranwagt. Also gewissermaßen eine philophierende Gesamtschau der Gegenwart bietet, dabei aber durchaus normativ argumentierend. Denn Hösle, das ist bekannt, vertritt als kritischer Metaphysiker mit aller Deutlichkeit Positionen der ethischen Universalität. Er wehrt sich also kraftvoll gegen die allgemeine Beliebigkeit erzeugende Postmoderne. Hösle weiß zurecht, dass nur die universal geltenden Menschenrechte Widerstandsreserven gegen den heutigen Verfall demokratischen Bewusstseins (Populismus, Neofaschismus) bieten. Wer die Menschenrechte verteidigt, sieht natürlich klar, dass die lautstarken verbalen Verteidiger der Menschenrechte in der politischen Praxis auch absolut gegen den Geist der Menschenrechte agieren, siehe die Politik der USA in den letzten Jahrzehnten. Alle – auch ökonomisch motivierten – Verbrechen wurden und werden mit „Verteidigung der Menschenrechte“ (oder „Reformen“ genannt) kaschiert! Aber dieses Faktum spricht nicht gegen die absolute Gültigkeit der Menschenrechte. Und auch die Tatsache, dass sie in der europäischen Kultur wohl zuerst deutlich formuliert wurden, sagt ja nichts gegen die universale Geltung der Menschenrechte. „Genesis und Geltung müssen unterschieden werden“, schreibt Hösle kurz und wahr in seinem ebenfalls empfehlenswerten Buch „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“, München 2013, S.194.
2.
Trotz dieser in gewisser Hinsicht gegebenen Zustimmung zum Grundanliegen des Buches bleibt es für mich erstaunlich bzw. durchaus irritierend, dass die von Hösle beschriebene tiefe Krise der Gegenwart nicht so deutlich mit dem heute allherrschenden Kapitalismus in Verbindung gebracht wird, an dessen Ideologie des ständigen ökonomischen Wachstums praktisch alle teilhaben. Die einen als Akteure bzw. ständigen Gewinner, die anderen, die große Masse der von den Gewinnern Arm-Gemachten! Hösle schreibt am Schluss seines Buches (204), es gehe dringend darum, einen “weltweiten Wertekonsens zu erzielen, der die verschiedenen Kulturen zu einen vermag”. Dieser weltweite Wertekonsens muss aber über die von allen gelebte Anerkennung der universalen Menschenrechte hinaus selbstverständlich auch die Überwindung des Kapitalismus zum Inhalt und Ziel haben oder wenigstens diesen sehr stark und wirksam eingeschränken. Das ist keine Utopie, sondern die Voraussetzung für ein Überleben der Menschheit.
3.
Das sehr dicht geschrieben Buch „Globale Fliehkräfte“ kann in einer eher knappen Rezension nur ansatzweise gewürdigt werden. Hösle selbst nennt Horst Köhler, Theo Waigel (CSU) und Bundesminister Gerd Müller CSU), sie hätten “auf freundlichste Weise” (17) zu diesem Buch ermuntert. Ich kann nicht verschweigen, dass ich es auch treffend gefunden hätte, wenn auch heutige Grüne- oder SPD- oder gar Linke Politiker den Philosophen Hösle zu diesem Buch Projekt „ermuntert“ hätten, also mit ihm in einem ebenso freundschaftlichen Dialog ständen. Aber vielleicht gibt es einen Graben zwischen (den wenigen) katholischen Philosophen an katholischen Universitäten und Politikern, Autoren etc., die sich mit dem grünen bzw. linken Spektrum verbunden fühlen. Mich freut aber dann doch, dass Vittorio Hösle in seinem Vorwort Greta Thunberg lobend erwähnt, „die in der allgemeinen Verlogenheit die Wahrheit sagt“ (18). Das werden die genannten „Ermunterer“ aus der CSU sicher mit großer Wonne zur Kenntnis nehmen.
4.
Hösle zeigt sich als ein guter Kenner der internationalen politischen Entwicklungen der Gegenwart, dabei kommt ihm zugute, dass er seit 20 Jahren in den USA lebt, er ist Professor für Philosophie an der renommierten katholischen Privatuniversität Notre Dame im Bundesstaat Indiana unter Leitung des katholischen “Ordens vom Heiligen Kreuz” (CSC). Hösle stellt sich selbst vor als ein Philosoph mit „besonderem Interesse an der politischen Philosophie“ (13). Er nennt sein 224 Seiten umfassendes Buch eher bescheiden einen “Essay“ (15), er wurde in der ersten Hälfte des Jahres 2018 verfasst. Ein Essay, der die Gefährdungen der Gegenwart klar benennt: Der „Liberalismus“ (verstanden als Eintreten für Grundrechte und Demokratie) sei gerade auch in den USA sehr bedroht, der Autor zitiert etwa zustimmend Madeleine Albright, wenn sie von der Gefahr des Faschismus, nicht in ihrer Heimat, den USA, sondern weltweit, spricht. Ein gewisser Pessimismus durchzieht förmlich diese Geschichtsphilosophie Hösles: „Aber nur wer die Gefahren in den Blick nimmt, hat das Recht Optimist zu sein“ (18).
5.
Von den sieben Kapiteln des Buches interessiert mich „vom Philosophischen her“ am meisten das 4.Kapitel „Die Zersetzung politischer Rationalität“ (96 – 136).
Ich nenne nur einige Stichworte, die die Zersetzung des demokratischen Bewusstseins deutlich machen sowie die Abkehr von der kritisch reflektierten Erkenntnis der Idee des Fortschritts: Das Gemeinwohl ist keine leitende politische Vorstellung mehr. Die Lobbyisten setzen sich mit Bravour in den Parlamenten durch, dabei haben die Lobbyisten der Reichen und Mächtigen förmlich eine Allmacht errungen, so dass sie politisch, in der Gesetzgebung machen können, was sie wollen (118). Man denke in Deutschland nur daran, dass es nicht gelingt einen absolut unfähigen Verkehrsminister Scheuer (CSU) aus dem Amt zu jagen. Er ist wohl der von Auto-Lobbyisten abhängigste Politiker, das sage ich als Meinungsäußerung.
6.
Es herrscht für Hösle insgesamt eine Vergiftung des politischen Diskurses, in dem sich die kritischen Bürger eher als die Unterlegenen fühlen. Die Rechtsextremen setzen sich mit aller Bravour durch. Sehr klar sind Hösles Worte über die rechtsextreme Tea-Party-Bewegung in den USA: „Sie repräsentiert auf idealtypische Weise die Ignoranz, Dummheit und Vulgarität von Millionen durchschnittlicher Amerikaner“ (110). Fest steht, dass zu den militanten Anhängern dieser Tea-Party vor allem Evangelikale gehören, die in Blindheit und Dummheit auch Trump gewählt haben und ihn wohl in der beschriebenen Haltung 2020 wieder wählen werden. Mir fehlt bei Hösle in dem Zusammenhang eine ausführliche Darstellung der christlichen Kirchen und des Islams: Wo liegt deren Beitrag für den Niedergang der demokratischer Kultur? Von der unerfreulichen Rolle der Evangelikalen (etwa in den USA) war schon die Rede.
In seinem Schlußkapitel “Auswege aus der Krise” denkt Hösle dann doch etwas ausführlicher an eine konstruktive Rolle der Religionen zum Schutz und zur Bewahrung der Demokratie. Denn ohne die allseitige Geltung moralischer Prinzipien könne eine Demokratie auf Dauer nicht bestehen. Da seien Religionen vonnöten! “Sofern eine Religion das grundlegende liberale Prinzip der Religionsfreiheit akzeptiert, ist sie in der Regel eher eine Stütze als eine Gefährdung des liberalen demokratischen Staates” (199). An der Stelle wäre eine Diskussion mit dem in ähnliche Richtung denkenden Jürgen Habermas interessant! Hösle schätzt die prinzipiell mögliche positive Bedeutung der (vernünftigen) Religion höher ein als die Leistungen einiger zeitgenössischer Philosophien. Er spricht etwa von der “naturalistischen Ideologie” (200), “die den Menschen nur als materielles Zufallsprodukt einer blind und ziellos evolvierenden Natur sieht”. Schon zuvor hatte Hösle den (atheistischen) Naturalismus zurückgewiesen wie auch den postmodernen Konstruktivismus: “Keine wird etwa der Natur moralischer Verpflichtungen gerecht” (106). Zu den Erkenntnissen könnten sich spannende Debatten entwickeln. Wieweit bestimmte Formen des Islam “eine Stütze der liberalen Demokratie” sind bzw. werden könnten und sollten, sagt Hösle nicht!
7.
Interessant, wenn auch allgemein bekannt sind dann die Hinweise zur Problematik der so genannten sozialen Medien: Twitter reduzieren die Komplexität (115), schreibt Hösle, so dass die Twitter Leser also auf Dauer sehr schlicht im Denken werden, falls sie es nicht schon sind.
8.
Hösle bietet einen vorsichtigen Versuch, auch einige Erkenntnisse von Oswald Spengler (Untergang des Abendlandes) wieder zu bedenken. Dennoch bleibt Hösle ein von der kritisch reflektierten Fortschritts-Idee doch überzeugter Philosoph. „An der moralischen Verpflichtung am Fortschritt zu arbeiten, ist nicht zu rütteln“ (131). Und Hösle meint gar, dass es einen intellektuellen, moralischen und rechtlichen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte „seit den Griechen“ gegeben habe (131). Ob man da die „Hinsichten“ auf den genannten Fortschritt noch weiter spezifizieren muss, scheint mir eine Notwendigkeit zu sein. Wie sonst will man den Massenmord im Kolonialismus oder den Massenmord an den europäischen Juden philosophisch in einen Fortschritt „einordnen“? Zeigt die Ökokrise, die Klimakatastrophe, das Fehlen von elementaren Gerechtigkeitsstandards weltweit nicht eher, wie wenig Fortschritt politisch faktisch greifbar ist, selbst wenn so viele von Ökokrise, Klimakrise und Gerechtigkeit schwadronieren. Das Bewusstsein der Freiheit ist ja doch noch in einigen Kreisen außerhalb der Herrscher da. Aber dieses Bewusstsein kann und darf nicht politisch real Gestalt werden. Das ist die Schande der Gegenwart. Diese Blockade, dieser Stillstand, diese Egofixierung. Sie wird den Demokraten zugemutet von den sich bloß demokratisch nennenden Herrschern, die sich Präsidenten und Politiker nennen dürfen. Hösle hat recht: Auch dieses Kapitel hinterlässt alles andere als optimistische Gedanken. Hegel konnte noch schreiben, seine Geschichtsphilosophie dürfe nicht mit einem „Misston enden“. Heute müssen leider Geschichtsphilosophen eher mit einem „Misston“ enden. Um die letzten verbliebenen kritischen Geister auf diese Weise anzustacheln, zu ermutigen und zu ermuntern!
9.
Oder ist es doch eher noch der Glaube an die “göttliche Vorsehung” im Sinne von Leibniz oder der Glaube an die sich duchsetzende “unsichtbare Hand” im Sinne von Adam Smith, wenn Vittori Hösle in den letzten Zeilen seines Buches schreibt: “Man SOLL für den Fortschritt der Menschheit arbeiten, auch wenn man nicht wissen, sondern nur hoffen kann, dass er sich trotz aller Krisen und Verfallspozesse auf teilweise unvorhersehbaren Wegen durchsetzen wird” (205). Ohne Glauben kommt also auch Philosophie nicht aus. Und Philosophen glauben daran, dass sie die Wahrheit sagen und recht haben.

Vittorio Hösle, „Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart“. Mit einem Geleitwort von Horst Köhler. Verlag Karl Alber, Freiburg. 2019, 224 Seiten. 24 Euro.

Copyright: Christian Modehn
www.religionsphilosophischer-salon.de

Hegel – eine Biographie

Über ein neues Buch von Klaus Vieweg
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Wird das Jahr 2020 auch zu einem „Hegel-Jahr“? Hoffentlich, wenn auch mit aller verständlichen Bravour schon jetzt das „Beethoven-Jahr“ aller Orten eingeläutet wird und sich durchsetzt. Beethoven feiert am 17. Dezember seinen 250. Geburtstag. Hegel seinen 250. Geburtstag schon am 27. August. Es sind uns also noch einige Wochen „Denkzeit“ gegeben, um dieses Ereignis zu „begehen“. Und das könnte zu lebhaften Debatten im Geiste Hegels führen, in dialektischem Für und Wider selbstverständlich! Nur so ehrt man den letzten spekulativen Metaphysiker, der “das Ganze” in seinem System der Vernunft auf den Begriff bringen wollte.
2.
Der Hegel Forscher und Professor für Philosophie in Jena, Klaus Vieweg, legte vor wenigen Monaten, im September 2019, eine sehr umfangreiche Hegel-Biographie vor. Sie hat als Untertitel und als Motto: „Der Philosoph der Freiheit“.
Leitend für das Verstehen Hegels ist für Klaus Vieweg die Hochschätzung und man möchte fast sagen liebevolle Verehrung der philosophischen Leistung Hegels. Etwa wenn er Hegels Werk mit einem „Dom-Bau“ (S.193) vergleicht. Hegels „Phänomenologie des Geistes“ nennt Vieweg einen „unschätzbaren Diamanten“ (S.258), „einen diamantenen Angelpunkt“ (304), oder ein „Jahrtausendwerk“ (306). Das Buch „Wissenschaft der Logik“ wertet Vieweg „Buch der Bücher und „ein Meisterstück des menschlichen Geistes“ (361).
In dieser insgesamt sehr wohlwollenden Grundstimung im Hegel-Verstehen folgt Vieweg dem letzten großen Hegel Biographen Karl Rosenkranz, der sein – immer noch lesenswertes Buch – 1844 veröffentlichte (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1971). Rosenkranz gehörte zum Verein der „Freunde des Verewigten“, der seit 1832 bei „Dunkcker und Humblot“ Hegels Werke herausgab…Rosenkranz war übrigens 1830 Mitglied, dies ist kein Witz, in der „Althegelianischen Gesellschaft zum ungelegten Ei“, an. „Althegelianer“ ist identisch mit dem geläufigeren Begriff Rechtshegelianer. Diese sind eher konservativ gesinnte Philosophen, mit strammem Bekenntnis zum preußischen Staat.
3.
Es ist wohl die große Herausforderung der Hegel-Biographie von Klaus Vieweg, dass er zeigen will: Hegel war während seines ganzen Lebens (1770 bis 1831) ein Freund der Republik, er schätzte die große Tat der Freiheit, die mit der Französischen Revolution 1789 begann. Hegel unterstützte in jungen Jahren die Republikaner nicht nur verbal, sondern war hilfsbereit, praktisch. Im reiferen Alter als Professor einer staatlichen Universität definierte Hegel bekanntlich „Freiheit als das Bei sich selbst Sein des Geistes im anderen“. Da wurde aus dem politischen Freiheitsengagement die spekulative Gedanken-Leistung, also die „halbierte Freiheit“ sozusagen wurde gelebt…
In den ersten Jahren der noch politisch-praktisch verteidigten Freiheit hat ihn der Enthusiasmus der Freunde in Tübingen, etwa Hölderlin, Schelling, mitgetragen. Vieweg schreibt: „Hegel stellt sich (in Jena) gegen jeden Restaurationsversuch“ (361). „Vorwärts durch dick und dünn“, schreibt Hegel an seinen Freund Friedrich Immanuel Niethammer (ebd.)
Später musste Hegel angesichts der repressiven politischen Mächte eher verschlüsselt sein Eintreten für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit benennen. Auch die vielzitierte Erkenntnis Hegels aus seiner „Rechtsphilosophie“: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“, ist ein kritischer Satz: Denn betont wird: Nicht alles real und faktisch Existierende ist vernünftig, das gilt für alles faktisch Bestehende in einem Staat…Erst die Prüfung durch die Vernunft kann im Faktischem dann Wirkliches und Vernünftiges wahrnehmen. In Viewegs Interpretation: “Was dem Begriff nicht entspricht, hat keine Wahrheit, ist bloßes Existieren (406).
Ob es Vieweg ingesamt gelungen ist, eine starke links-hegelianische Interpretation von dem insgesamt nun progressiven und staats-kritischen Hegel zu überzeugen, wird sich sicher in den Debatten der folgenden Monate zeigen.
4.
Vieweg breitet viele Fakten und Daten aus dem Leben Hegels aus, der ja bekanntermaßen oft umziehen musste, von Stuttgart nach Tübingen, dann zuerst als Hauslehrer, nach Bern, dann in Frankfurt, dann Jena vor allem und Nürnberg, später als Professor in Heidelberg und dann als Professor in Berlin von 1818 bis zu seinem Tod 1831. Vieweg spricht etwa von dem unehelichen Sohn Ludwig (256), er erwähnt viele Details der Heirat mit der aus der „altehrwürdigen Tucher-Familie“ stammenden Marie Tucher im Jahr 1811, da ist Hegel 41 Jahre alt! Vieweg berichtet etwa auch sehr ausführlich über den recht beachtlichen Wein-Konsum des immer „geselligen“ Hegels, nennt die vielen kontaktierten Weingüter und Lieferanten… Er berichtet auch von den Vorlesungen Hegels in Berlin, wie er, nach Worten suchend, eher schwerfällig und in sich versunken da steht und eher mit sich selbst sprach (565). Trotzdem bewunderten sehr viele Studenten Hegel, und nicht -zur Freude Hegels – den Berliner Konkurrenten Schopenhauer… Deutlich wird vor allem, wie sehr Hegels Denken vor allem zu Beginn im Kontakt mit anderen Philosophen und den Ereignissen der Politik sich herausbildet. Dabei ist Hegels Wille sehr stark, sehr ehrgeizig, etwas ganz Besonderes, Neues, etwa im Gegenüber zu Schelling, zu denken. Daraus ist der „absolute Idealismus“ entstanden, um ein Stichwort zu verwenden.
5.
Jede Station in Hegels beruflich bedingten „Wanderungen“, Umzügen, durch Deutschland“ wird von Vieweg verbunden mit ausführlichen Zusammenfassungen der Werke Hegels, die an diesen Orten von ihm geschrieben und von ihm selbst als Bücher veröffentlich wurden. Die berühmten Veröffentlichungen der Berliner Vorlesungen zur Geschichte, Kunst, Religion und Philosophie sind bekanntlich Mitschriften von seinen treuen Hörern. Diese Bücher werden von Vieweg aber leider eher knapp dargestellt. Die anderen hingegen, die er Hauptwerke nennt, also die „Phänomenologie des Geistes“, die „Enzyklopädie“, die „Logik“ und die „Rechtsphilosophie“ werden von Vieweg in einer Weise vorgestellt, die ich für problematisch halte, also für nicht für „effektiv“ bei den nicht philosophisch schon hoch gebildeten Lesern. Denn Vieweg wiederholt in Hegels Worten, gar nicht so kurz gefasst, den Inhalt der genannten Hauptwerke. Da wäre das Bemühen der Übersetzung der Hegel-Argumente in eine nicht von Hegel wieder geprägte und von ihm bestimmte Sprache dringend und sinnvoll gewesen. Das kennen wir ja auch von Darstellungen des Werkes Martin Heideggers, dass Heideggerianer eben Heideggers ohnehin oft kaum nachvollziehbaren Worte in ihrer Darstellung bloß wiederholen. Der Begriff der ÜBERSETZUNG ist entscheidend. Also hier die Übersetzung Hegels in heutige gebildete und kritische Alltagssprache. Nur dann gelingt Verstehen und Nachvollzug. Dieses Ziel wird von Klaus Vieweg leider nicht erreicht.
6.
Trotz dieser Kritik ist das Buch von Vieweg auch als Nachschlagewerk durchaus empfehlenswert, weil doch viele Grundthemen Hegels gut herausgearbeitet werden:
Etwa die Trennung von Kirche und Staat. Oder: Das Bemühen, allein durch die Vernunft und nicht durch das Gefühl Religion zu verstehen usw. Vieweg hätte da dem Kontrahenten Hegels, dem Theologen Friedrich Schleiermacher, etwas mehr Gerechtigkeit antun können: Dessen immer wieder zitierte Definition der „Religion als unmittelbares Gefühl der Abhängigkeit des Menschen“ ist doch, in dieser Kürze, tausendmal zitiert, irgendwie oberflächlich. Und die Hegelsche Reaktion darauf auch (etwa so: „Nur Hunde sind abhängig“…) ist eher nur polemisch! Gibt es denn nicht eine philosophische Nähe Schleiermachers zu Hegel, wenn der Theologe 1799 schreibt: „Die Offenbarung ist keine von oben her gekommene, außerordentliche Mitteilung, sondern das Bewusstwerden des eigenen innersten Lebens und einer neuen Anschauung des Unendlichen“. Davon habe ich in dem Umfangreichen Buch von Vieweg nichts gefunden. Er ist vielleicht zu sehr Hegelianer, als dass er Mängel im Denken seines hoch verehrten Meisters eingestehen könnte. Interessant ist Hegels Definition des Protestantismus, formuliert in Nürnberg: „Der Protestantismus besteht nicht so sehr in einer besonderen Konfession als im Geistes des Nachdenkens und höherer vernünftiger Bildung“ (334). In den Worten Viewegs: “Die einzige Autorität (der Protestenten), das einzige Heilige ist die intellektuelle und moralische Bildung aller“ (ebd.). Später, in Berlin, hat Hegel durchaus den Sinn des Kultus beschrieben, der freilich „aufgehoben“ werden muss in die Philosophie.
7.
Wenn noch zum Schluss noch einmal von Mängeln des Buches die Rede sein muss: Ich vermisse die ausführliche Auseinandersetzung mit Frage, ob gerade im Spätwerk Hegels eine gewisse Zwanghaftigkeit vorherrscht, bedingt durch seine absolute Ergebenheit gegenüber dem Gesetz der Dialektik. Ich vermisse eine ausführliche Reflexion zur Erkenntnis vieler seiner Schüler: dass eigentlich durch Hegel „alles gesagt“ ist, die Philosophie also an ein Ende gekommen ist. Neues gebe es also kaum noch zu sagen. Marx hat dann ja seine Konsequenzen gezogen… Ich vermisse dann auch speziell bei dem sehr zentralen hegelschen Thema Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie die Auseinandersetzung (oder wenigstens den Hinweis) mit der umfangreichen und großartigen spekulativen Leistung des Berliner Philosophen Michael Theunissen in seinem Buch „Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat“, Berlin 1970, 460 Seiten!.
Und die immer umstrittene Geschichtsphilosophie Hegels wird von Vieweg mit einigem guten Gründen verteidigt. Aber die kritischen Vorwürfe werden nicht umfassend beantwortet, wie etwa: Der einzelne Mensch innerhalb der Weltgeschichte wird zu einem bloßen verschwindenen Material der sich durchsetzenden Geschichte des absoluten Geistes. Man lese in dem Zusammenhang die kleine, aber sehr inspirierende Studie des ungarischen Philosophen László F. Földényi „Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus“ (Berlin, 2008). Da kommt die Geschichtsphilosophie erst mal ins Schleudern!

Klaus Vieweg, Hegel. Biographie. Der Philosoph der Freiheit.
C.H.Beck Verlag, 2019, 824 Seiten. Davon ca. 140 Seiten Anmerkungen und Literaturhinweise. 34 Euro. Auch als e-Book (26,99 Euro)

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

„Nicht gesagt“ Ein Gedicht von Marie Luise Kaschnitz. Eine philosophische Lektüre

Philosophische Hinweise
Von Christian Modehn

Jedes Verstehen und Interpretieren von Gedichten hat einen philosophischen Horizont und eine philosophische Dimension. Diese sind anders als eine literaturwissenschaftliche Lektüre und Interpretation.
Schon der Titel des Gedichtes von Marie Luise Kaschnitz „Nicht gesagt“ fordert zu einer philosophischen Deutung auf.

1.
Was wird alles „nicht gesagt“? Weil es nicht gesagt werden kann oder gesagt werden darf. Oder: Weil es das Objekt das Sagen übersteigt oder den sprechenden Menschen als Menschen überfordert. Der Mensch ist wesentlich endlich, kontingent, in eine begrenzte Lebenszeit eingespannt und von begrenzter Energie. Der Mensch kann einfach NICHT alles sagen. Selbst wenn er spricht, weiß er nicht, ob sein Gesprächspartner die Worte in der gemeinsamen Sprache versteht. Es gibt da immer nur „Annäherungen“ des gemeinsamen Verstehens. Übersetzuen findet bereits in der gemensam geteilten Muttersprache sttat. „Alles Sagen Wollen“ ist also eine Illusion. Niemals kann „alles“ von einem einzelnen Menschen oder selbst von einer Gruppe gesagt werden. Dies ist zugleich eine Kritik an jedem System, dass sich für umfassend, „alles einbeziehend“ hält. Diese Erkenntnis ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber sie sollte, um des Verstehens des Menschen willen, immer wieder ausgesprochen werden, auch in der Gestalt eines Gedichtes. Denn alles Sagen bezieht sich nicht nur auf die unüberschaubare Vielfalt des Faktischen und Empirischen.
2.
Marie Luise Kaschnitz spricht in dem Gedicht – in einer ersten Ebene – als Autorin: Was sie alles (in Gedichten, Romanen) NICHT gesagt hat. Sie nennt selbst: Sie hat nicht (umfassend) von der Sonne gesprochen, vom Blitz oder der Liebe. Sie hat das Morgenrot und den Sämann nicht angesprochen und ausgesprochen, also das Erfreuliche, das Lebensstiftende. Sie hat sich nicht für die kleinen schönen Dinge sprechend interessiert, für den Hahnenfuß und das Veilchen. Aber indem sie von diesen Dingen wenigstens begrifflich spricht, deutet sie: Diese Dinge kennt sie eigentlich, übersieht sie aber, verdrängt sie.
Sie nennt ihr eigenes Schreiben und Sagen „Versuche. Gesuche. Misslungen. Ungenaue Beschreibung“. Ein selbstkritisches, aber treffendes, ein wahres Wort der Dichterin. Ihr Schreiben ist ein „Versuch“… „Misslungen“. Wie viele Dichter und Künstler wissen das: Ihre Arbeiten sind nicht perfekt. Misslungen. Sie überarbeiten sie, oder vernichten sie sogar. Immer dieses Gefühl, das Eigentliche nicht in Worten sagen zu können.
3.
Dann wendet sich im Gedicht der Gedanke: Die bisher knappen, eher formelhaften Satzfragmente werden zwar beibehalten. Aber die LeserInnen werden angesprochen: „Euch“ „nicht den Rücken gestärkt“, schreibt Kaschnitz. Sie fühlte sich eher abweisend, kritisch, vielleicht pessimistisch: Denn sie sagt: Sie habe den Verfall NICHT geleugnet und auch nicht die Verzweiflung. Habe also von den „großen“ und allgemeinen Themen gesprochen und die kleinen, konkreten lebendigen Wesen (Veilchen etc.) ignoriert.
Zwar habe sie angesichts des Verfalls und der Verzweiflung nicht gleich den „Teufel an die Wand gemalt“: Denn sie glaubt nicht an den Teufel. Dann sagt sie: Sie habe auch „Gott nicht gelobt“. Weil sie auch an Gott nicht glaubt? Das lässt sie offen. Um zum offenen Schlusssatz zu kommen: „Aber wer bin ich dass“. Dieser Satz reißt ab. Er führt nochmals ins Offene.
Kann man, soll man als LeserIn diesen Satz ergänzen? Wer bin ich, dass ich „Gott loben sollte“? Oder: Wer bin ich, dass „ich mich wegen all dieser NICHT gesagten Sätze bekümmern muss?“
4.
Dieses Gedicht sollte nicht nur als Ausdruck einer kritische Reflexion einer Dichterin zum „Beruf“ der Dichterin gelesen werden: Es ist eine allgemeine, philosophische existentiale Aussage. D.h: Das Gedicht spricht vom Menschen als einem begrenzten Wesen. Und es zeigt, dass es Eingeständnisse des Nicht-Gesagten gibt und geben sollte. Aber, dass der Mensch sich aufgrund seiner Endlichkeit keine Vorwürfe machen sollte, wenn er nicht alles gesagt hat. Er sollte hingegen das Wesentliche gesagt haben! (Siehe Nr. 6)
5.
Andererseits klagt die Dichterin sich an: Sie hat sich offenbar zu stark auf den „Verfall und die Verzweiflung“ konzentriert. Hat eben deswegen nicht mehr die Sonne gesehen und den Sämann und das Veilchen…Sie hat den anderen nicht den Rücken gestärkt. Von „ewiger Seligkeit“ hätte sie deswegen ja nicht gleich sprechen müssen. Das „Nicht Gesagte“ hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Auch Versagen angesichts einer pessimistischen Grundhaltung wird angedeutet.
6.
Es bleibt auch die Erkenntnis: „Alles sagen“ muss sich nicht nur auf die unüberschaubare Vielfalt des Faktischen und Empirischen beziehen. Da kann nicht alles gesagt werden. „Alles sagen“ kann auch bedeuten: Alles für das humane Leben Entscheidende und den Menschen als Menschen Auszeichnende, Wesentliche, sagen. Also: Person, Vernunft, Freiheit, Gewissen, Gerechtigkeit. Davon sprechen! Es gibt also ein „Alles“ qualitativer Art, von dem unbedingt gesprochen werden sollte. Auch in Gedichten. In diesem Fall darf das „Nicht gesagt“ nicht gelten.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

Das Gedicht:
Nicht gesagt
Von Marie Luise Kaschnitz (1965)

Nicht gesagt
Was von der Sonne zu sagen gewesen wäre
Und vom Blitz nicht das einzig richtige
Geschweige denn von der Liebe.

Versuche. Gesuche. Mißlungen
Ungenaue Beschreibung

Weggelassen das Morgenrot
Nicht gesprochen vom Sämann
Und nur am Rande vermerkt
Den Hahnenfuß und das Veilchen.

Euch nicht den Rücken gestärkt
Mit ewiger Seligkeit
Den Verfall nicht geleugnet
Und nicht die Verzweiflung

Den Teufel nicht an die Wand
Weil ich nicht an ihn glaube
Gott nicht gelobt
Aber wer bin ich dass

Wer hat Auschwitz möglich gemacht? Zum Auschwitz-Gedenken am 27.1.2020

Philosophische Hinweise
Von Christian Modehn

Erinnern an Auschwitz ist und bleibt unbedingt eine Notwendigkeit. Angesichts des massiven und bösartigen Auftretens rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien in Deutschland und anderen Ländern Europas um so mehr.
Die Frage bleibt nach all den Jahren des z. T. offiziellen Erinnerns: Wird das Er-“Innern” ins “Innere” der Seele, des Geistes und der Vernunft der Menschen heute dringen und wirksam werden? Angesichts des neuen Faschismus und damit der neuen/alten Rechtsextremen in Deutschland im Jahr 2020 eine dringende Frage! Der systematische Mord an den europäischen Juden bleibt einzigartig im Sinne der Herrschaft des total Bösen. Diese Herrschaft hat greifbare Namen: Faschismus, Rechtsextremes Denken, NSDAP, christlich motivierter Antisemitismus.

Das KZ Auschwitz steht heute wie ein “Symbol” auch für alle KZs, für Orte der bürokratisch perfekt geplanten, industriellen Vernichtung der europäischen Juden, für Orte des Ungeheuren, Monströsen, des absolut Grausamen. Orte, errichtet von Deutschen, von Nazis, unterstützt von Teilen der deutschen Industie, der Reichsbahn usw. … und den vielen Mitläufern.
Ermordet wurden in den KZs auch Polen, Russen, Sinti und Roma, Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen, Homosexuelle, Zeugen Jehovas usw.

Auschwitz ist in gewisser Weise das Symbol der totalen Verachtung, der Entmenschlichung und der Ausrottung der „anderen“, also derjenigen Menschen, die den Wahnvorstellungen der Herren-Menschen, der Nazis, nicht entsprachen. Diese Herrenmenschen wollten nur Identität, identische Menschen, fixiert auf Vorstellungen von einer Herren-Rasse.

Historiker sehen deutlich: Die KZs der Nazis haben „Vorläufer-Modelle“. Damit wird die Totalität des Vernichtens der Nazis nicht relativiert, dadurch werden die KZs der Nazis nicht eingeordnet oder irgendwie „eingeebnet“ in eine “allgemeine KZ-Geschichte“ der Menschheit. Es wird auch nicht eine abstrakte Reflexion angestrengt über das „allgemeine Böse“ der Menschen überhaupt, das sich immer wieder in KZs austobte. Und von den sichtbaren Folgen der angeblichen „Erbsünde“ soll auch keine Rede sein.

Es soll nur auf die freien Handlungen der Menschen aufmerksam gemacht und zu denken gegeben werden: Dass konkete Menschen konkrete Taten geplant und selbstbewusst vollbringen, um andere Menschen, durch die ideologische Ausgrenzung zuerst, dann systematisch quälen und töten. Es ist die ideologische Indoktrination, die letztlich tötet; die über viele Jahre betriebene, manchmal kaum wahrnehmbare Gehirnwäsche, die zum Töten der anderen führt.

Dabei soll hier nur an den kolonialistischen Imperialismus der Herrenmenschen in allen Teilen Europas erinnert werden, an einen Imperialismus, der zur Erniedrigung und Auslöschung in den schon damals eingerichteten Lagern, „KZs“, für Afrikaner („Schwarze“, „Einheimische“, Sklaven) führte. Man denke an die Grausamkeit König Leopolds II. von Belgien. Man denke an die Afrika – Konferenz in Berlin (1884 – 1885) unter Kaiser Wilhelm I. und an den Völkermord in der Kolonie Südwestafrika, heute Namibia, zu dem sich die Regierung der BRD endlich offiziell bekennt.
Nebenbei: Und man bedenke dabei, dass die zentrale Kirche in (West-)Berlin am Kurfürsten Damm immer noch immer den Namen dieses Kolonial Herren, Kaiser Wilhelm I., trägt. Und kein Pfarrer, kein Bischof usw. ändert diesen Namen…Diese Gedankenlosigkeit eine Schande zu nennen ist selbstverständlich.

Dieser grausame Ausschluss der anderen, der Fremden, der Befremdlichen, dieses Einsperren in Lager, Gulags usw. hat kein Ende: Man denke jetzt an die Lager in Libyen, in denen sich viele hunderttausend Afrikaner auf der Flucht nach Europa aufhalten, dort gequält werden, vegetieren. Diese Lager werden von kompetenten Kennern immer wieder „heutige Formen von KZs“ genannt. Sie werden mit den Geldern der EU, auch Deutschlands, erhalten, man denke an die libysche „Küstenwache“ und deren Praxis, Aufgegriffene wieder ins Lager zurück zu bringen, falls sie nicht im Meer ertrinken.Lesen Sie diesen ausführlichen Hinweis auf ein wichtiges Buch!LINK

Die Erinnerung an Auschwitz führt also in die Gegenwart des Grausamen, die eine Gegenwart der grausamen Herrscher ist, die sich Politiker, oft noch demokratische Politiker nennen dürfen.
Zu den von diesen Politikern mitverursachten grausamen Zuständen weltweit, nur wenige Beispiele: Das Leiden der Menschen in Yemen, in Zentralafrika und Haiti. Diese Länder haben imperialistische, ökonomisch gut etablierte Staaten in ihrer Nähe, deren Bewohner oft vor Geld förmlich stinken, etwa in Saudi-Arabien, Europa oder in den USA. Aber die imperialen Menschen in diesen Staaten des Wohlstands haben kein Interesse, gezielt und wirksam das Elend ihrer MIT-Menschen in den genannten Ländern Yemen, Zentralafrika oder Haiti zu beseitigen. Diese reichen Staaten “brauchen” – insgesamt betrachtet – auch aus geostrategischen Interessen das Elend der anderen, auch für die eigene Waffenproduktion …oder um irgendwann billige Arbeitskräfte (Flüchtlinge) ausbeuten zu können.

Nur wer diese aktuellen Stätten des zugelassenen Krepierens von Menschen, also in gewisser Hinsicht diese „KZs“, berücksichtigt, erreicht das heute erforderliche Niveau der Erinnerung. Erinnerung wird dann auch zum Vorausblick: Um das Grausame für die Zukunft zu verhindern. Erst in dieser umfassenden Perspektive ist Erinnerung mehr als ein Ritual.

Der Philosoph Theodor W. Adorno hat einige Hinweise gegeben zu den geistigen, philosophischen Voraussetzungen und Denkmodellen, die zu Auschwitz und den anderen Stätten des Mordens führten. Man darf sich nicht an dem immer wieder zitierten Satz Adornos „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (in „Minima Moralia“, Aphorismus 18) festbeißen. Und den Satz dann falsch interpretieren und meinen: Alles ist falsch, also kann es heute kein richtiges Leben mehr geben.

Diese Interpretation des Adorno Spruches ist unzutreffend: Denn nur weil wir erkennend das falsche Leben als falsches erkennen und es ablehnen, zeigen wir: Dass wir einen Maßstab des guten Lebens sozusagen in unserer Vernunft haben. Wir sind also schon über das falsche Leben “hinaus”.
Adorno will also vorsichtig eine Möglichkeit des guten Lebens „trotz allem“ eröffnen. Es gibt zwar versteinerte, tödliche und erstorbene Lebensverhältnisse, aber ein schwaches Licht der Hoffnung, der wahren Alternative, ist doch nicht totzukriegen. Und dafür bietet Adorno eine grundlegende Analyse des menschlichen Selbstverständnisses, wie es sich in der Philosophie und ihrer Geschichte artikulierte.

Wie konnte es zu Auschwitz kommen? Dafür gibt es viele unterschiedliche Ursachen, die man benennen muss, um Klarheit zu haben. Damit „nie wieder“ keine leere fromme Formel bleibt. Wer das historische Auschwitz zu einer Art „Mysterium“ des Unerklärlichen erklärt und verklärt, entzieht sich der Chance, ein neues totales Auschwitz zu verhindern.

Wir müssen also von Auschwitz „trotz allem“ vernünftig begrifflich sprechen. Nur Poeten können sagen: „Da versagen mir die Worte. Ich will nur stammeln und Geheimnisvolles erahnen“. Alle anderen sollen ihre Vernunft anstrengen und begrifflich klar – trotz allem – sprechen! Und die Akteure nennen, die Auschwitz damals errichteten und die neuen „KZs“ heute ermöglichen.

Das ist philosophisch entscheidend. Adorno weist zunächst innerhalb der neuzeitlichen Philosophie auf die beinahe selbstverständlich gelebte Selbsterhöhung des Subjekts hin.
Dieses Subjekt sieht sich so total erhaben im Weltzusammenhang, dass es sogar das absolut Erste, das Ursprüngliche, umfassend und korrekt zu erkennen meint.

Wenn sich das Subjekt als Herr der Wirklichkeit sieht: Ist es dabei ganz in sich selbst befangen. Es kreist nur in sich selbst. Diese Ego-Struktur ist auch in der heutigen Kultur allgemein.

Dieses Subjekt glaubt, alle Wirklichkeit durch sein Denken in die eigene Begriffswelt zwingen zu können, also letztlich alle Wirklichkeit in eine Allgemeinheit, vor allem in eine grundlegende Identität zu pressen.

Das sich selbst ermächtigte Denken kann dann den anderen, den Fremden, als solchen nicht wahrnehmen. Dieses Herrscher – Subjekt kann das andere als anderes, den anderen als anderen, nicht gelten lassen, will ihn dann konsequenterweise nicht leben lassen. Es muss den anderen auf das eigene Niveau zwingen oder andernfalls vernichten.

Die Vernichtung der anderen, der Minderheit, der Befremdlichen, der Herabgestuften, etwa der Juden, entsteht also in einem Denken, das keine gleichberechtigte Vielfalt innerhalb der Menschheit zulassen kann. Dieses Denken kann sich Ruhe, Glück, Frieden nur in der totalen Identität denken. Die so genannten “Identitären” folgen dieser Ideologie. Faschisten wollen eine Welt mit Untermenschen, die schon gar nicht mehr gleichwertige Andere sind, sondern auf einer minderer Stufe stehend eingeschätzt werden,

Was wäre dann eine Utopie der Versöhnung und des Friedens, an der es unbedingt – um unserer allgemeinen und universalen Humanität willen – festzuhalten gilt? Utopie ist dabei kein naiver Wunschtraum, sondern ein wirkender Impuls, die gerechte Welt zu gestalten.

Versöhnung ist das Miteinander des Verschiedenen, Kommunikation des Unterschiedenen, wie Adorno sagt.
In einer Zeit, in der sehr viele Menschen in Europa Zuflucht suchen, formulierte Adorno gültige Grundsätze der Menschlichkeit. Ob sich heute Menschen finden, die diese Perspektiven einklagen unter den allzu oft schon selbst nationalistisch bornierten Politikern Europas?

Es kommt also auf „nicht-vereinnahmende Nähe“ an, also auf die Akzeptanz des Besonderen, schreibt Rolf Wiggershaus in seiner Studie „Wittgenstein und Adorno“, Basel 2012, S. 67.

Notwendig wäre auch heute, allen Menschen, „Rechtsextremen“ zumal, reale Begegnungen mit den anderen, den verschiedenen, den Fremden zu ermöglichen, so könnte Nähe und Freundschaft entstehen.
Erst im Respekt der „anderen“, der Fremden, wird das eigene Leben erst umfassend menschlich, befreit sich von dem Wahn der Ego-Fixierung, die den Menschen nur ins Alleinsein führt. Dieses ist tödlich, seelisch, geistig…

In meiner Sicht wären eigentlich christliche Gemeinden zum Beispiel solche Orte des Lernens von anderen, auch der Freude, mit „den Fremden“ zusammen zu sein. Nun verschwinden aber in Deutschland und in Europa immer mehr christliche Gemeinden, weil das Personal (der Klerus) fehlt usw…Die Kirchen haben zudem selbst dafür gesorgt, dass ihr Ruf, ihre Akzeptanz, eher schlecht ist (siehe sexueller Missbrauch, dogmatische Fixierung auf nicht mehr nachvollziehbare Glaubenssätze und Glaubensbilder usw.).

Um eine menschliche Gesellschaft, also um die Überwindung von Rassismus und Antisemitismus, um das Abschaffen heutiger KZs, bemühen sich jetzt zivilgesellschaftliche Gruppen, NGOs, Aktionskreise, Vereine, philosophische Salons, Widerstandgruppen zugunsten der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit usw. Diese Gruppen sollten vom demokratischen Staat unterstützt und finanziell gefördert werden.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Kardinal Sarah: Über den Liebling von EX-Papst Benedikt

Hinweise von Christian Modehn

Ein aktuelles Vorwort:
Er ist letztlich der Autor der allerneuesten Polemik gegen die Abschaffung des Zölibats jetzt im Januar 2020: Kurienkardinal Robert Sarah (Guinea). Und er schreibt oft umfangreiche Pamphlete gegen die Reform der römischen Kirche. Er hat ein reaktionäres Netzwerk um sich gesammelt, bei Ex Papst Benedikt geht er ein und aus. Mit ihm will er die römische Kirche offenbar endgültig ins “Abseits” und Ende führen. Also ins Sektendasein der Anti-Moderne. Seine Freunde sind u.a. auch Kardinal Müller oder Frau von Thurn und Taxis…Es lohnt sich, an Sarahs Ausführungen auf der römischen Bischofssynode zu erinnern (2015), um das ganze Ausmaß der Ideologie von Kardinal Sarah zu erfassen (siehe weiter unten).
Und es lohnt sich zu wissen, dass der Privatsekretär und Vertraute von EX Papst Benedikt, also Erzbischof Gänswein, auch ein sehr guter Freund von Kardinal Sarah ist. Gänswein hat 2015 ein enthusiastisches Vorwort zu dem Sarah Buch “Gott oder Nichts” geschrieben: Darin heißt es u.a.: “Es ist die Radikalität des Evangeliums, die dieses Buch inspiriert, die Radikalität, die schon viele Glaubenszeugen bewegt und angetrieben hat, die Radikalität einer unausweichlichen Entscheidung, vor der letzlich jeder einzelne Mensch steht…” Erschienen ist das Sarah Buch im Fe Medien Verlag in Kisslegg, einem Verlag, der eine Art Sammelbecken konservativer und reaktionärer Theologen ist: Dort hat Erzbischof Gänswein übrigens auch kürzlich ein eigenes Buch publiziert.
Durch die reaktionären Seilschaften im Vatikan und weltweit ist die römische Kirche längst gespalten. Warum haben Theologen Angst, diese Tatsache akzeptieren und auf dieser Basis weiterzudenken?

Ein Hinweis von Christian Modehn über den Kurienkardinal SARAH: Veröffentlicht 2015.

„Die Gender-Ideologie und der islamische Staat teilen beide denselben dämonischen Ursprung. Was der Nazismus und der Kommunismus im 20. Jahrhundert waren, das ist heute die westliche Homosexualität, die Abtreibungs-Ideologie und der islamische (!) Fanatismus“.

Diese “freundlichen” Worte  sagte dieser Tage (2015), offenbar ohne lautstarken offiziellen Protest, einer der führenden Kardinäle des päpstlichen Hofes, also der Curia, der aus Guinea stammende Kardinal Robert Sarah.

Was es mit diesen nicht sehr hübschen Worten eines der engsten Mitarbeiter des Papstes auf sich hat, erklärt der folgende Beitrag, der sich der Aufklärung und der Religionskritik verpflichtet weiß. Und sich wundert, wie eigentlich angesichts solcher Gestalten wie Kardinal Sarah und Benedikt XVI., heute noch einige Unentwegte an eine Reformation der römischen Klerus-Kirche glauben können…

In der Tageszeitung LE MONDE, Paris, informiert Cécile Chambraud am 17. Oktober 2015, Seite 6, über Details der Welt-Bischofssynode in Rom. Da diskutieren ja bekanntlich im Oktober ca. 260 katholische Bischöfe über das „weite Feld“ der Familien, auch über Sexualität, auch über Homosexualität.

Die afrikanischen katholischen Bischöfe zeigen sich auf der Römischen Bischofssynode als leidenschaftliche und polemische Verteidiger der alten Moral- (Un)- Ordnung. Ihr gemeinsames Motto: „Es darf keinen Wandel, keine Erneuerung der katholischen Ethik zur Ehescheidung oder zur Homosexualität geben“. Die Bischöfe Afrikas wollen den ethisch-konservativen Status quo aus dem 19. bzw. 20. Jahrhundert erhalten, wollen unbedingt das bewahrt sehen, was ihnen die europäischen Missionare einst eingeschärft hatten. Sie sind also nach wie vor die kaum selbst-denkenden, treuen Schüler der Missionare von damals, vom 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts.

Wie schon in der Anglikanischen Welt-Kirche wollen auch in der Römischen Kirche die Bischöfe Afrikas die Bewahrer der uralten moralischen Normen sein. Bei den Anglikanern droht eine Kirchenspaltung, weil sich die modernen Anglikaner in Europa und in den USA ihren eigenen Glauben von den, sagen wir es salopp, “Alt-Gläubigen” Afrikanern nicht nehmen lassen. Und was ist schon schlimm, wenn die “Alt-Gläubigen” ihre eigene Kirche aufmachen? Schlimm ist dies in gewisser Weise für sie nur dann, wenn nicht mehr die westlichen Gelder für die „Afrika-Mission“ und die wahrscheinlich nicht so furchtbar bescheidenen Wohnungen, Residenzen, der Bischöfe fließen… Aber zur Spaltung institutioneller Art wird es im Katholizismus wohl nicht kommen. Denn da denken selbst die allermeisten Bischöfe Europas doch nicht so modern, wie die Afrikaner von diesen behaupten. Eine ganz andere, reale Kirchenspaltung besteht im Katholizismus ja ohnehin schon, zwischen der modernen Basis (incl. einiger Ordensleute) und der Hierarchie…Aber das ist ein anderes Thema im Zeichen des Gedenkens “500 Jahre Reformation 2017”.

Wichtig ist die Erkenntnis, die den afrikanischen Bischöfen nicht so vertraut ist: Die Ehe, die heute als die katholische Ehe hingestellt und verteidigt wird, ist die in der Forschung so genannte “Liebes-Ehe”. Sie hat sich erst im 19. Jahrhundert entwickelt, als bürgerliche „Anstalt“ zur Pflege der Lust, der Zeugung von Nachkommenschaft und des Erhalts der guten Sitten im Obrigkeitsstaat (Mätressen neben der Ehefrau durften sich bekanntlich nur die sehr katholischen Könige, etwa in Frankreich, ohne jeglichen kirchlichen Einspruch „halten“, wahrscheinlich auch die Erzbischöfe etc. damals und heute). Also: Welcher Theologe kann diese Ehe des 19. Jahrhunderts noch im Ernst als DIE katholische Ehe verteidigen?

Wie auch immer: Wenn die Argumente ausgehen, pflegen die Konservativen, auch die entsprechenden Herren der römischen Kirche, eben üblicherweise die Polemik, neuerdings blinden Hass, als Zeichen einer hochgradigen geistigen Verwirrtheit und Stgnation. Einer der einflußreichsten Kardinäle am päpstlichen Hofe, der Kurie, ist Robert Sarah, er stammt aus Guinea aus einer „heidnischen Familie“, also aus einer Familie, die den Naturreligionen folgte, wie er selbst sagt. Und Sarah ist, man glaubt es kaum, zuständig für alle, aber auch alle Fragen der Gottesdienstgestaltung in der weltweiten römischen Kirche.

Dieser Herr sagt also, ich zitiere noch einmal aus dem genannten Beitrag in „Le Monde“: „Die Gender-Ideologie und der islamische Staat teilen beide den selben dämonischen Ursprung. Was der Nazismus und der Kommunismus im 20. Jahrhundert waren, das ist heute die westliche Homosexualität, die Abtreibungs-Ideologie und der islamische (!) Fanatismus“. Dabei brandmarkte Kardinal Sarah, berichtet „Le Monde“ wörtlich zitierend, „die zwei apokalyptischen wilden Tiere (also aus dem Neuen Testament, Buch der Apokalypse des Johannes), das erste Tier ist die Vergötzung der menschlichen Freiheit; das andere Tier ist der islamische Fundamentalismus“. Und weiter: „Alle Öffnung der Ehemoral ist irregulär“! Damit will der Kurienkardinal sagen: Ist der etwas aufgeschlossene Papst Franziskus vielleicht selbst ein Ketzer? Kann man menschliche Freiheit vergöttern? Diese Frage hat man schon Immanuel Kant gestellt, und er entschieden und begründet Nein gesagt. Die Freiheit selbst ist ein Gottesgeschenk. Das hat sich in Rom noch nicht so herumgesprochen.

Jedenfalls hat der offenbar etwas sehr verwirrte Kardinal Sarah jetzt noch einen Beitrag in einem Sammelband afrikanischer Bischöfe schreiben können: „L Afrique nouvelle, patrie du Christ“, also „Afrika, das neue Vaterland, die neue Heimat, Christi“. Darauf läuft die Haltung Sarahs und der anderen afrikanischen Bischöfe hinaus. Sie fühlen sich als Retter der Kirche, als die Bewahrer der reinen Lehre, nur in Afrika wird Christus weiterleben. Es ist nicht ohne Ironie, dass die vor kurzem von Europa Missionierten sich nun als die besseren Katholiken aufspielen, sich also ihrerseits machtvoll-intolerant, also kolonialistisch verhalten. Wird eigentlich schon darüber diskutiert, dass man Herren die Geldspenden für ihre Bistümer, in Milliarden Euros seit Jahren, einfach mal ein bißchen sperrt? Und wissen die europäischen Missionsfreunde eigentlich, welchen Bischöfen sie da in Afrika ihre Spenden überlassen? Und gibt es denn keinen einzigen afrikanischen Bischof, der noch den Mut hat, in aller Öffentlichkeit NEIN zu sagen zu diesem Wahn der Konservativen? Warum wird das von kirchlicher offizieller Pressearbeit verschwiegen. Es muss doch auch einen Bischof Jacques Gaillot in Afrika geben?

Papst Franziskus kann es sich mit der afrikanischen Kirche nicht verderben: Denn die Katholische Kirche in Afrika wächst zahlenmäßig äußerst schnell, kein Wunder, nebenbei, wenn die „Pille“ erstens verboten und zweitens unerschwinglich teuer ist für katholische Ehepaare irgendwo im Busch…Es sind die Afrikaner, die die römische Kirche statistisch stärker machen als den Islam, ein für religiöse Machtpolitker wichtiger Gedanke.

Aber Franziskus will wohl auch aus seiner Sicht Afrikas Bischöfe nicht kritisieren, hat er doch die Sprache der afrikanischen Bischöfe selbst schon übernommen, als er etwa im Januar 2015 auf den Philippinen sagte: „Es gibt einen ideologischen Kolonialismus, der versucht die Familie (also das uralte Familienbild) zu zerstören“, so Le Monde, siehe oben.

Kardinal Sarah jedenfalls hat vor kurzem ein voluminöses Buch veröffentlicht mit Titel, der gut seine absolute Anti-Haltung ausdrückt: „Gott oder Nichts“, erschienen im (kleinen, sehr konservativen) „Fe-Verlag“ in Kißlegg 2015. Das Vorwort schrieb der explizite Sarah Freund Erzbischof Georg Gänswein; einen zustimmenden Brief zum Buch hat Papst emeritus Benedikt XVI. verfasst. Der ja eigentlich sehr gebildete Papst hat, so wörtlich, das Buch von Sarah “mit großem geistigen Gewinn“ gelesen. Von den knapp 400 Seiten handeln ca. 250 von Sarahs Leben in Afrika. Spannend und theologisch wichtig sind erst die letzten Seiten, etwa wenn der römische Chef aller katholischen Gottesdienste, eben Kardinal Sarah, eine durchaus fundamentalistische Haltung vertritt, die man auch aus dem Mund etlicher Islamisten gehört hat. Sara sagt auf Seite 389: „Für einen Christen muss der Glaube die Form, die Gussformform sein GESAMTES privates und ÖFFENTLICHES, persönliches und soziales Leben werden“. Also: Aus dem Glauben sollte unmittelbar der Staat regiert werden? Ist das mit „Gussform“ gemeint?

Sein eigenes theologisches Denken in Bezug auf den Gottesdienst deutet Sarah mit seiner expliziten Vorliebe für die alte lateinische Messe an (Seite 386 f.). Er betont: „Dass wir in der Messfeier nach dem alten Messbuch (also aus dem 16. Jahrhundert) besser verstehen, dass die Messe ein Akt Christi und nicht der Menschen ist“. In der Messe feiert sich also Christus selbst… verstehe es, wer kann.

Ihn verbindet, so betont Sarah, mit Papst Franziskus, die Einschätzung der Gefährlichkeit des Teufels (Seite 383). Tatsächlich spricht ja Papst Franziskus in seinen Predigten in Santa Martha dauernd vom Teufel…

Und eine neue Ökumene deutet Kardinal Sarah an, ausgerechnet mit den Muslimen, mit denen er „eigentlich keinen theologischen Dialog sieht“ (192), hingegen froh ist, dass „die verschiedenen Autoritäten des Islam wie die Kirche mit Nachdruck die neue Genderideologie ablehnen“. Man würde sich fast wünschen, dass entsprechend denkende Imame auch auf der Bischofssynode in Rom jetzt die afrikanischen Bischöfe in ihrem Endkampf gegen alles europäisch-Böse unterstützen. Und im Vatikan das Gesamt-Afrikanische, Muslimische – Katholische – vielleicht auch Pfingstlerisch-Fundamentalistische NEIN zur Gender—„Ideologie“ und vor allem ihren Hass auf Homosexuelle aussprechen.

Die Auslassungen des Herrn Sarah, eines der wichtigsten Männer im Vatikan, der sogar schon als “papabile” bezeichnet wird, zeigen, wie tief eigentlich das Niveau im Vatikan gesunken ist. Das sagen wir mit Bedauern, weil es 1. heute dringendere Themen gäbe als diese Familien- und Sex-Themen und 2. weil die katholische Kirche als “Welt-Kirche” tatsächlich mit mehr Geist und Selbstkritik entschieden und gestaltend diese verrückte Welt etwas heilen könnte, natürlich immer im Sinne Jesu, also im Sinne der Humanität, der Güte, der Toleranz. Die Auslassungen von Herrn Sarah und so vieler anderer Bischöfe aus Afrika sind eine Katastrophe für die humane und freie Entwicklung  dieser Welt insgesamt.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon

 

Was ist denn neu? Über das Schöpferische

Ein religionsphilosophischer Salon am 9.1.2020
Hinweise von Christian Modehn

Das 1. Motto: Die Frage nach dem Neuen ist eine Frage nach dem Schöpferischen. Das Neue als das neu und schöpferisch Gestaltete, entsteht inmitten der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden. Im Wirklichen werden Möglichkeiten entdeckt, die es in der Form und in dem Inhalt noch nicht gegeben hat. Der Philosoph BERGSON sagt: “Das Wirkliche schafft das Mögliche. Und nicht das Mögliche (als bloß Gedachtes) das Wirkliche”.

Das 2. Motto: Wenn das Neue als Neues gestaltet, “gemacht” wird, dann gilt: “Gelingen ist nun einmal nicht zu machen” (sagt der Philosoph Martin Seel). Mit anderen Worten: Gelingen ist eine Gabe. im Wirklichen etwas möglich machen ist auf das Gelingen angewiesen.

1.
Wer sich auf das Neue besinnt, wird zuerst vom Denken und von der Phantasie geführt; dort zeigen sich neue Ideen und neue Gedanken. Das sind nicht immer „ganz große, ganz wichtige Gedanken“: Schon das alltägliche Tun ist stets geprägt als Wirkung von einfachen, aber neuen Gedanken, auch wenn vielfach Routine dabei ist. Aber jede routinemäßige Tat ist notwendigerweise neu, weil zu einer anderen Zeit stattfindend, unter anderen Kontexten und Stimmungen etc., anders als die frühere Tat der Routine.
2.
Der neue Gedanke und die neue Idee streben danach, in der Wirklichkeit, „außen“, in der Welt, gestaltet zu werden. Oder in der Gestaltung der eigenen Person, etwa im Sport usw., „plastisch“ zu werden. Das heißt: Jegliche Tat und jegliches Handeln sind insofern neu.
3.
Dieses Neues Denken und dieses Neue setzen, schaffen, realisieren, ist eine schöpferische Tat. Insofern ist dies dann auch eine Schöpfung, weil immer mein Fühlen und Denken beim Realisieren aktiv sind.
4.
Aber man sollte unterscheiden: Zwischen Schöpfung im „eigentlichen“ Sinn und einer Schöpfung im uneigentlichen Sinn.
5.
In der vom einzelnen Handelnden „unbedachten Schöpfung“ tut man nur etwas, ohne den Gesamtzusammenhang des Tuns mit zu bedenken. Zum Beispiel: Man schichtet Steine aufeinander, um etwas zu bauen. Man folgt dabei nur einem üblichen Geschmack oder einer allgemeinen ökonomischen oder statischen Notwendigkeit. Weiterführende Gedanken werden dann meist nicht entwickelt: Was ist eigentlich Schönheit? Oder: Man baut einen Stall für die Tierzucht, denkt dabei nur an den Profit mit der Konsequenz der Massentierhaltung. Worauf läuft diese Kritik an den „unbedacht Schöpferischen“ hinaus: Eigentlich sollten alle, die handeln, also Neues setzen und schaffen, den „Gesamtzusammenhang“ des Lebendigen bedenken und berücksichtigen.
6.
Diesen begrenzten Horizont meine ich, wenn ich von einem naturgemäß begrenzten technischen Tun spreche. Und dieses Tun kann man Machen nennen oder Erfindung: als eine neue Zusammenfügung alter vorhandener Elemente. Sicher ist die Leistung der Naturwissenschaftler, die Entdeckung der Naturgesetze, ein schöpferisches Tun. Einige Erfinder waren Philosophen. Etwa Albert Einstein: Er war Physiker und als Physiker, der etwa nach dem Ursprung, der „Schöpfung“ fragte, ins Philosophische Fragen gekommen.

Andererseits gibt es in der Technik viel Routine: Ein neuer Auto-Typ wird aus alten Elementen erfunden. Aber der Erfinder fragt meist nicht: Woher kommt das alles, was ich da schaffe. Warum kann ich überhaupt –geistig – etwas schaffen? Ist meine Erfindung moralisch gut oder dient sie nur meinem Profit? Man denke an die Erfinder neuer Waffensysteme.
Martin Heidegger hat die nun einmal begrenzte Welt des Technischen ohne Vorwurf, nur als Beschreiung eines Faktums, mit dem viel zitierten Satz benannt: „Die (Natur)-Wissenschaft denkt nicht“. Wobei Heidegger bekanntlich unter Denken sehr emphatisch das Seins-Denken verstand, also das Innewerden des „Gründenden“ von allem Seienden, also Gegenständlichen…Heidegger hat wohl übersehen, dass die Leistung der Naturwissenschaftler, die Entdeckung der Naturgesetze, ein schöpferisches Tun ist..
7.
Damit wird das Thema „eigentliches schöpferisches Handeln“ angesprochen: Bei dieser Handlung weiß der Handelnde, also der Neues Setzende, dass er auf Materialien zurückgreift, die ihm schon vor – gegeben sind. Letztlich weiß er, dass alles Vorfindliche in dieser Welt etwas Gegebenes ist: Es ist eine Gabe. Aber eine Gabe von wem? Damit führt das schöpferische „eigentliche“ Handeln zur Frage und zur Erfahrung des schon Geschaffenen, der schon immer vorliegenden Gabe, etwa der Welt im ganzen. Und der Handelnde erfährt sich selbst auch als gegebenen, als einen Gesetzten, als eine Gabe. Ein solcher Mensch weiß, dass er nicht nur aus sich heraus handelt. Autonomie ist eine gegebene, geschaffene Möglichkeit, innerhalb dieser gegebenen Möglichkeit können wir Autonomie schaffen.
8.
Ich will jetzt die Frage, wer oder was denn der Gebende und alles Schaffende ist, hier nicht weiter vertiefen. Man käme dann in eine Philosophie der Schöpfung. Ich will nur betonen: Der eigentlich Handelnde Mensch, der also Neues denkt und Neues setzt, weiß sich selbst in seinem Tun als Gabe, als „Geschenk“. Er weiß, dass ihm das Entscheidende, der schöpferische „Moment“ zufällt oder einfällt. Diese Erfahrung machen etwa Künstler, Musiker, Schriftsteller in besonders intensiver Art. Sie wissen, dass ihr „Opus“ sich verdankt, als Gelungenes und Schönes nicht allein Resultat eigenes Tuns ist, sondern eben Resultat, Gabe, des Zugefallenen ist. Aber, noch einmal: Prinzipiell ist jeder Mensch schöpferisch „begabt“. Damit wird auch der Kult um „das Genie“ abgewiesen.
9.
Eine philosophische Besinnung auf das Neue führt also in die Tiefen des Selbstverständnisses des Menschen. Dieser Mensch sieht, sich selbst „tief“ verstanden, als Gabe, die weiterhin schöpferisch wirkt. Man könnte sagen, als Fortsetzung des Schöpfungsprozesses. Dort ist der Ursprung einer Spiritualität des Lebendigen, auch der Religion. Dies müsste weiter vertieft werden. Es würde sich eine vernünftige Spiritualität zeigen, die noch vor jeder konfessionellen Dogmatik lebt.
10.
Ich sehe in der Krise der Gegenwart, d.h. in der Oberflächlichkeit, Aggressivität gegeneinander, im Rassismus usw. einen Ausdruck dafür, dass sich die meisten Menschen nicht mehr als Gabe (oder Geschenk) verstehen.
11.
In diese „metaphysischen Fragen“ muss meines Erachtens eine Besinnung auf den Begriff das Neue führen.
12.
Dabei ist auch klar: Selbst das Alte, schon Vorliegende, kann zum Neuen werden: Indem etwa bestimmte Ideen und Vorstellungen von damals vom heutigen Fragen aus aktualisiert und neu gedeutet werden. Das gilt für den medizinischen Bereich (Hildegard von Bingen), fürs philosophische Denken (Aktualität des Kategorischen Imperativs), für die Kunst (Besinnung auf das Bauhaus) usw.: Immer wieder werden Ideen von einst, aber nicht in der Identität des Früheren, wieder belebt, in den aktuellen Horizont gestellt und dadurch verändert. So wird einiges Alte auch das Neue.
13.
Das Neue unterliegt der normativen Überlegung. Kriterium ist die Frage: Ist das Neue zu verantworten vor dem gültigen Maßstab der Menschenrechte, der Rettung des Klimas, der Gerechtigkeit für die Armen etc.
14.
Aber Neues ist nicht immer nur Resultat menschlichen Handelns: Neues ist auch etwas, das auf uns zukommt. Das absolut Neue, im Sinne des absolut Unbekannten, das auf jeden zukommt, ist der Tod. Das Christentum mildert diesen harten Gedanken ab durch die Erkenntnis: Der Tod ist ein Übergang…
Aber: Es kommen auch Menschen auf uns zu, etwa in der Freundschaft, vor allem der Liebe. Auf diese Zukommenden reagieren wir neu: Überrascht, entzückt, verunsichert…
Auch Kunstwerke „kommen auf uns zu“, d.h., sie sprechen uns an, wie man richtig sagt; auch die philosophische Erkenntnis kommt auf uns zu, wird als Gabe erlebt; auch Religion spricht zu uns als neue Einsicht und Aufforderung zum Handeln.
15.
Die philosophische Besinnung auf das Neue muss sich auch mit dem alltäglichen Verständnis des Neuen auseinandersetzen, etwa dem populären Spruch: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“. Ein Zitat aus dem alttestamentlichen Buch Kohelet, in der Züricher Bibelübersetzung:
Was einmal geschah, wird wieder geschehen, und was einmal getan wurde, wieder getan, und nichts ist wirklich neu unter der Sonne.
Wohl sagt man: Sieh dies an! Es ist neu! – Es war längst schon einmal da, in den Zeiten, die vor uns waren. (Verse 9 und 10)
Dieser Spruch hat recht … und er hat vor allem auch unrecht.
Er hat recht, insofern alle Menschen aller Zeiten von allgemeinen Daseinsstrukturen wie Lieben, Sterben, Arbeiten, Krieg und Frieden usw. sprechen. Siehe die zwanzigtausend Romane, die von Liebe sprechen…
Am schlimmsten ist der banale Satz in diesem Denksystem: „Gestorben wird immer“. (Werbeslogan der Bestatter). Das meint aber auch: Also lassen wir alles aktive Gestalten sein, fliehen wir aus der Welt, eine Maxime der Eremiten und Wüstenväter…
ABER der Satz „Nichts Neues unter der Sonne“ ist grundlegend falsch:
Es gibt im Laufe der Menschheitsgeschichte zwar in der Literatur z.B. immer formal dasselbe Thema; aber es ist jeweils historisch bestimmt und immer in der Konkretheit einmalig. Die Inhalte sind je anders. Warum lesen wir sonst so gern so unterschiedliche Romane, die alle dasselbe Thema haben: Liebe, Arbeit, Alltag, Tod etc.? Warum genügt uns denn nicht die eine einzige Lektüre eines einzigen Buches, etwa der Odyssee. Und auch bei allem Respekt: Platon kann uns philosophisch nicht genügen, jeder Philosoph lebt in neuen Kontexten und entwickelt dem entsprechend Fragen.
Warum gibt es Musik von unterschiedlichen Komponisten. Was hat die griechische Lyra mit Mozarts Violine gemein, außer, dass eben beides eben Musik „erzeugt“.
16.
Noch etwas zur Vermutung, Grundlage der Produktion von Neuem sei die NEUGIER. Ich definiere Neugier als unstillbare Unruhe des menschlichen Geistes. Neugier ist eine Lebensform des Geistes, aber eine zwiespältige Aktivität: Denn Neugier ist eine Art Sucht, immer alles mögliche Neue zu erleben, zu sehen, zu wissen.
Neugier ist Laster und Tugend, wie der Philosoph Martin Seel sagt. Als Tugend: Denn ohne Neugier gibt es keine Wissenschaft.
Neugier kann auch ein Laster sein: Als haltloser Ausfall jeglicher Diskretion zum Beispiel. Totale Neugier ist Orientierungslosigkeit, man sammelt alles Neue ohne Struktur. Martin Seel sagt: „Die haltlose Begierde nach Neuem macht den Sinn für das nachhaltig Neue tendenziell blind“ (in Merkur, Heft 712, S. 829
17.
Falsch ist der populäre Spruch von der „Stunde NULL“, dieser Spruch suggeriert den völligen Zusammenbruch (8. Mai 1945) als den dann absoluten neuen Neubeginn, als „Neugeburt“, mit dem angeblich absoluten Abstoßen alles Vergangenen.
Aber es gibt keine Stunde Null: Weil es z.B. auch politisch vor-geprägte Menschen sind, die die Zukunft von dieser Stunde „Null“ an neu gestalten, diese Menschen bringen sich selbst, also auch ihre Vergangenheit mit im Eintreten in eine neue Zeit.
Diese „neue Zeit“ ist aus alten Elementen neu entworfen. Nebenbei: Die „Trümmerfrauen“ haben alte Steine aus der Nazi Zeit wieder brauchbar gemacht stellt und für den Neubeginn der DDR oder auch der BRD verwendet…
18.
Zum schöpferischen Handeln gehört immer auch die nachträgliche Reflexion, und die erkennt: Jede Neuschöpfung greift auf altes Material zurück. Beethoven z.B. verdankte vieles seinen Vorgängern. Aber er schuf in der „Kombination“ des Alten unglaublich Schönes, also Neues. Aber gerade die Form eines Streichquartetts ist eine Gabe, ist eine Neuschöpfung. Beethoven ist eben keine Variante von Haydn oder gar von Mozart, so sehr er die Arbeiten dieser Komponisten auch kannte und vielleicht kurz zitierte, aber dann schöüferisch in neue Zusammenhänge stellte. Es gibt freilich auch ein Arbeiten am vorgegebenen Material, das eher ein Abschreiben ist, und dann entstehen nur Kopien oder Varianten des Früheren, wahrscheinlich Kitsch.
19.
Zusammenfassend:
Schöpferisch Leben verlangt nach der Reflexion: Man muss die Frage stellen: Woher stammt das alte Material, das ich für das Neue verwende, vor allem woher komme ich, was bin ich für eine Schöpfung?
Auch der menschliche Geist ist etwas Gegebenes: Wir greifen immer auf etwas Geschaffenes zurück. „Wir sind niemals die ersten, immer die Zweiten“, so ein Gedanke des Philosophen Giambattista Vico ( 1668 -1744, S. 352 in „Philosophie in Italien“).
20.
Und dann beginnt die Philosophie als Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie: Die Welt, so der Mythos etwa der Bibel, wurde „durch ein göttliches Wort“ erschaffen. Das ist ein poetisches, aber dem Thema angemessenes Wort. Diese Welt wurde also nicht erfunden und nicht entdeckt!! Sie wurde geschaffen. Creatio! Kreatives Geschehen. Da wird die Frage gestellt: Warum ist etwas und nicht vielmehr Nichts? Diesen Ursprung kann Naturwissenschaft nicht greifen und denken. Sie bleibt vom „Wesen“ her auf das Vorgegebene analytisch fixiert. Dies ist eine Beschreibung, kein Vorwurf!
21.
Wir können den schöpferischen Moment des Neues Schaffen im Menschen nicht definieren. Und das gleiche Eingeständnis gilt auch für den Gedanken an einen Schöpfer „des Ganzen“. Der Literaturwissenschaftler George Steiner sagt: „Wir als Geschaffene sind Teil des Schöpferischen“, „wir haben eine transzendentale Intuition“ als „Adel der Vernunft“ (In: „Grammatik der Schöpfung“, Seite 25).
Wer den „ersten“ und alles in die Existenz setzenden schöpferischen Akt, als den Ursprung des Ganzen, erkennen will, müsste diesen Ursprungt von allem als endlicher Mensch förmlich umgreifen können, begrifflich fassen. Er müsste zum Begreifen hinter den Schöpfer treten… Ein unsinniger Gedanke.
Dennoch müssen wir den Gedanken an eine UR-Schöpfung poetisch – philosophisch denken.
22.
Das Neue tun, das ist das Tun dessen, was wir in unserem Gewissen bereits wissen oder mindestens ahnen. Dieses Geahnte, als das, Utopische, als das hoffnungsvoll Ersehnte: Das, was eigentlich jetzt not – wendig dran ist und gefordert ist: Dieses Neue hat nur ethisch wertvollen Sinn, wenn es das Bessere und Gerechtere ist.
Ich will aus der Fülle der Kommentare und Stellungnahmen, die sich auf das dringend Neue beziehen, das als Neues/als das Gute zu tun ist, nur an einen Text des Historikers Timothy Snyder erinnern: Er ist Professor an der Yale University und Mitarbeiter an dem berühmten Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen. In der SZ vom 23.Dezember 2019, Seite 11, sagt Snyder zur Einschätzung der Demokratie: „In Europa und Amerika glauben viele Menschen nicht mehr, dass die Demokratie tatsächlich notwendig, unvermeidlich ist. Die Demokratie befindet sich auf der Verliererseite. UND: Die Demokratie ist in Gefahr, weil die Zukunft nicht mehr existiert“. D.h. Wir haben den Gedanken an eine gute Zukunft verloren. Dieser grundlegende Gedanke wurde uns zerstört durch die Propaganda der Neoliberalen: „Es gibt keine Alternative“.
Soweit Timothy Snyder: Er insistiert darauf: Wir können uns nicht mehr vorstellen, welcher Zukunftsentwurf besser ist. Uns wird zudem noch eingeredet, es gibt keine Alternative zum Kapitalismus in der bestehenden Form, einem Kapitalismus, der Elend erzeugt, weil er elende Menschen als billigste Arbeitskräfte braucht, einem Kapitalismus, der die Natur nur als Material der Ausbeutung und der technischen Verwendung betrachtet….
23.
Die Welt im ganzen und „sofort“ gerechter machen, das können wir als einzelne und kleine Gruppe oder NGO nicht. Aber jeder an seiner Stelle kann dafür sorgen, das etwas mehr Gerechtigkeit wirklich wird, und dies wahrscheinlich auch nur, um seinem Gewissensspruch zu entsprechen. Um nicht gewissenlos zu leben. Das wäre schon viel. Auch Neues im politischen Sinne hat seinen Ursprung im Gewissen, in der Phantasie, im Mitgefühl, in der Vernunft. Wenn dieses Neue – immer als Plural verstanden – den Normen der Humanität, der Menschenrechte, entspricht, sollte es gestaltet werden, von den Menschen, in denen der Gedanke „aufblitzte“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin