Giorgio Agamben: Was ist Philosophie ?

Ein Buch aus dem S. Fischer Verlag. 188 Seiten. 18 €
Ein Hinweis von Christian Modehn

Philosophie gibt es nur im Plural. Darum ist der Titel irreführend: Der italienische Philosoph bietet in 5 Essays einige Hinweise zu seinem eigenen Denken. Diese zum Teil älteren Aufsätze sind hochkomplex, reflektieren Zeitloses und esoterisch Wirkendes. Sie handeln von „Elementarem“, von der Stimme und dem Sprechen, dem Sagbaren und der Möglichkeit, überhaupt philosophisch zu schreiben. Aber dies interessiert wohl nur den Kreis derer, die sich bereits in das Werk des viel-schreibenden Philosophen vertieft haben. Etwas aktuell-politisch wirkt der Aufsatz über das „Erfordernis“, also über die Vorstellung, dass sich etwas Dringend-Gebotenes in alle seine Möglichkeiten entfalten können sollte. Aber auch dies bleibt für den Autor nur eine „Idee“. Man spürt, dass Agamben beim späten Heidegger studiert hat und dessen allgemeine Abgehobenheit (um nicht zu sagen Esoterik) des philosophischen Denkens hier fortführt. Wer Einführungen ins philosophische Denken sucht, sollte sich anderswo umsehen.

Gregor Dotzauer schreibt in seinem Beitrag über Agamben im „Tagesspiegel“ (14. Juni 2019, Seite 19) sehr treffend: Dass Agamben wohl auch sehr das poetische Denken liebt, „das Schärfe und Unschärfe zwischen den Textgattungen vereint“. Und an anderer Stelle: „Abstraktion und vermeintliche Konkretion gehen (bei Agamben) eine raunende Liaison ein“. Siehe Heidegger. Alles werde „dunkel“. Im ganzen nennt Dotzauer sehr treffend vieles von Agamben Publizierte ein „Vorgehen, das die Würde von Philosophie und Poesie gleichermaßen beschädigt“. Warum? Weil hier Philosophie wie eine Obskur-Wissenschaft betrieben wird, sage ich. Philosophie lebt aber prinzipiell vom Dialog, und Dialog ist nur möglich ohne obskures Raunen. Es gibt ja einen philosophischen Begriff des Geheimnisses, aber der bezieht sich einzig und allein auf die Frage: „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ Dies ist das einzige „Geheimnisthema“ der Philosophien.
Und man darf sich doch wohl wundern, warum so viele Menschen diesem Geheim-Obscur-Philosophen Agamben nacheifern und ihm – hoffentlich verstehend- zuhören. Es darf doch wohl noch philosophische Philosophen-Kritik geben, ohne dass der Kritiker als Banause hingestellt wird!
Vielleicht lesen dieselben Agamben Freunde auch alsbald wieder den späten Heidegger, etwa „Vom Ereignis“: Dann beginnt hoffentlich das Sein sich ihnen zuzusprechen, falls sie hörend und gehorsam sind und zu Hirten und Horchern des Seins bzw., sorry, des Seyns bzw. Sein (kreuzweise durchgestrichen) werden. Oder vielleicht gleich die “Schwarzen Hefte” des Schwarzwald-Philosophen lesen und be—denken.
copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Jürgen Habermas wird 90. Sein Thema: Welche Religionen können heute noch hilfreich sein für die säkulare Gesellschaft und den Staat?

Hinweise zu Habermas Vorschlägen zu Religion und Philosophie
Von Christian Modehn

Mein Hinweis zum 85. Geburtstag von Jürgen Habermas, publiziert am 15. Juni 2014, ist nach wie vor als eine Art Einführung interessant.

Dennoch: Zum 90. Geburtstag des Soziologen und Philosophen noch einmal einige weiter führende Hinweise und Fragen. Es werden die Grenzen der auf Religion bezogenen Äußerungen herausgestellt.

1.

Seit der „Spätphase“ seines Denkens, also ab 2001, setzt sich Jürgen Habermas mit der Bedeutung der Religionen für das säkulare Bewusstsein, die säkulare Gesellschaft und den bleibend säkularen Staat explizit und ausführlich auseinander. Er nennt die heutige westliche Gesellschaft „postsäkular“. So, als wäre die Definition mit dem bislang üblichen Prädikat „säkular“ für heute nicht mehr gültig angesichts der unerwarteten Präsenz der Religionen in den Staaten und Gesellschaften. Ob damit auch eine neue Praxis des Glaubens/der Glaubenden geschieht, ist eine andere, von Habermas nicht beantwortete Frage.

2.

Habermas empfindet es als ungewiss, dass angesichts der globalen Herausforderungen der Gegenwart „die Ressourcen einer unverlierbaren (!), aber nur schwach motivierenden Vernunftmoral … ausreichen“ ( „Politik und Religion“, hg. Friedrich Wilhelm Graf und Heinrich Meier, München 2013, s. 299). Er spricht sogar davon, dass „in der (modernen Aufklärungs-) Philosophie selbst ein Defätismus der Vernunft brütet“ (S. 300). Ist die säkulare Vernunft vielleicht stark angekränkelt? Das sagen ja auch andere, gar nicht so progressiv Gesinnte.

3.

Es ist also für Habermas die Schwäche der Vernunft und damit der Demokratie, die nach einem Dialog mit den Religionen förmlich ruft. Habermas befürchtet ohne die vernünftige Anwesenheit der Religionen ein „Entgleisen der Gesellschaften“. Ein Grund dafür: Die neuzeitlichen Rationalisierungsprozesse sind gar nicht so rational und menschenfreundlich, wie man ursprünglich hoffte. So kommen in seiner Sicht den Religionen heute konstruktive Beiträge zum Überleben der Demokratien zu, indem sie die Philosophie und den säkularen Staat an religiöse Ressourcen erinnern, die weder die neuzeitliche Philosophie noch der säkulare Staat zur Verfügung haben. Gemeint sind religiöse Lehren, Mythen, Weisheiten.
Aber diese können selbstverständlich nicht unmittelbar geltend gemacht werden als Gestaltungsprinzipien innerhalb der säkularen Staaten. Habermas sagt klipp und klar: “Der liberale Staat ist mit religiösem Fundamentalismus unvereinbar“ (ebd., S. 291) Vielmehr müssen die religiösen Inhalte, so Habermas, in säkulare Sprache übersetzt werden. Habermas nennt die biblische Weisheit von der Gott-Ebenbildlichkeit jedes Menschen: Darin ist die absolute und absolut zu respektierende Würde eines jeden Menschen angesprochen. 

4.

Habermas spricht auch davon, dass religiöse Bürger sich an die universal geltenden, also säkularen Gesetze der Demokratie zu halten haben. Man denke aber etwa an die Debatte um Beschneidung von Knaben im Judentum und Islam: Diese Beschneidung wird von etlichen demokratischen Menschen als unerlaubter Übergriff wegen der Geltung der Menschenrechte und der Selbstbestimmung eines jeden abgewiesen. Die Gerichte in Deutschland haben aber dann letztlich zugunsten der Religionen (Judentum, Islam) entschieden. Wer diese Entscheidung falsch fand, wurde schnell als laizistisch oder atheistisch abgefertigt, was so pauschal nicht stimmt.

5.

Ein Kommentar von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon: Habermas mutet dem religiösen Bürger zu, seine religiösen Lehren, wenn sie denn politisch relevant sein sollen, in säkulare Sprache zu „übersetzen“. Und: Er mutet den säkularen, religionsdistanzierten Bürgern zu, „in der artikulierten Sprache religiöser Stellungnahmen und Äußerungen gegebenenfalls Resonanzen eigener verdrängter Intuitionen wieder zu erkennen, darin also potentielle Wahrheitsgehalte zu entdecken, die in eine öffentliche, religiös ungebundene Argumentation eingebracht werden können“ (ebd. S 293).

6.

Zum Islam in seiner ganzen Vielfalt, die von eher kleinen, demokratisch orientierten reformbereiten Gemeinden reicht bis zu Fundamentalismen äußert sich Habermas nicht; genauso wenig äußert er sich konkret zu den vielen extrem konservativen katholischen Gruppen (Opus Dei, Legionäre Christi, Neokatechumenale) bzw. den starken evangelikalen/pfingstlerischen evangelischen Glaubensgemeinschaften, von den reaktionären orthodoxen Kirchen ist keine Rede. Insofern sind die Vorschläge von Habermas eher abstrakt, allgemein und nicht mehr auf der Höhe der aktuellen Debatten von 2019. Die zerstörerische politische Kraft etwa evangelikaler Gruppen sieht man heute in Brasilien oder in Nigeria: Dort herrschen entsprechend fundamentalistische Politiker, wie Bolsonaro in Brasilien. Welche Bedeutung könnte dort die Religions“theorie“ von Habermas haben? Man hat den starken, beweisbaren Eindruck, global gesehen, dass die religiösen Fundamentalismen in allen Religionen immer stärker werden und sich auch politisch als solche durchsetzen können. Insofern ist Religionskritik eine der obersten philosophischen Beschäftigungen – um der Menschenrechte und der Demokratie willen. Man denke auch an die scharfen Abtreibungsverbote in vielen lateinamerikanischen (katholischen!) Staaten oder in einigen Bundesstaaten der USA sowie in Polen usw. Überall, wo der politische katholische Klerikalismus die Macht hat, setzt er sich mit seinem absoluten ersten aller Gebote durch: Keine Freiheit für Frauen hinsichtlich der Abtreibung.

7.

Diese Themen berührt Habermas nicht. Und seine Schriften wurden zu einer Zeit geschrieben, als das Vertrauen in die religiöse und grundsätzlich humane Kraft der Kirchen noch relativ ungebrochen war. Seit den vielen Missbrauchsskandalen in der römischen Kirche weltweit ist es schwer, mit Habermas noch von den “konstruktiven Ressourcen der Kirchen” für die Gestaltung Europas zu sprechen. Die Kirchen sind ja selbst hilflos, auch wenn es etwa um das Massensterben der Flüchtlinge im Mittelmeer geht; sie sind hilflos, wenn in den Großstädten die Mieten explodieren und immer mehr Arme „erzeugt“ werden; die Kirchen sind hilflos, wenn die reiche und satte Welt auf die arm gemachten Millionen Menschen des Südens schaut und dabei seit Jahrhunderten keine anderen Ideen hat, als “bitte schön” zu spenden.

8.

Mit anderen Worten: Die religiösen Ressourcen, und das sind im Sinne Jesu von Nazareth humane Ressourcen, mit einer prophetischen Dringlichkeit, scheinen in den Kirchen aufgebraucht zu sein. Vielleicht sind sie in mystischen Traditionen noch vorhanden, aber welcher Mystiker wird schon politisch? Oder sie sind in kleinen vernünftigen, also liberal-theologischen protestantischen Kirchen noch lebendig! Und manche Beobachter haben den Eindruck, die Gesellschaft mag zwar mit allerhand Folklore , Kirchentagen, Heilig-Abend-Gottesdiensten etc. noch religiös erscheinen. Vom biblisch- prophetischen Glauben der Gerechtigkeit für alle und des nicht bloß verbalen Kampfes für diese Gerechtigkeit, sind die Kirchen weithin weit entfernt.

9.

Insofern sind die Äußerungen von Jürgen Habermas zu Religion noch interessant für weitere Diskussionen. Aber, sie sind leider bis jetzt nicht relevant geworden. Nicht praktisch geworden.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Lesenswert ist der Beitrag von Michael Kühnlein über Jürgen Habermas in dem Buch „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und Religionskritik“, Suhrkamp, 2018, S. 862 ff.

Niedergang der Demokratie in Österreich. Ein Buch von Robert Misik

Über ein neues Buch von Robert Misik, Wien
Ein Hinweis von Christian Modehn, zuerst veröffentlicht im April 2019, erneut publiziert am 19.5.2019.

In Österreich wird es Neuwahlen geben, nachdem die faschistoiden Äußerungen von Hans-Christian Strache FPÖ, bis zum 18.5.2019 Außenminister Österreichs, bekannt wurden, etwa zur Überwindung der Pressefreiheit und zum Aufbau eines antidemokratischen Systems im Sinne Orbans. Aus diesem Anlass ein erneuter Hinweis auf das neue Buch von Robert Misik, Wien.

Der neue rechte bzw. rechtsextreme Populismus in Europa hat sich früher als anderswo in Österreich öffentlich bemerkbar gemacht, etwa, als die FPÖ schon im Januar 1993 ein „Ausländervolksbegehren“ mit dem Titel „Österreich zuerst“ startete. Mit geringem Erfolg anfangs, aber bei den Nationalratswahlen 1994 stimmten mehr als eine Million Österreicher dann doch für die FPÖ. Österreich ist seitdem ein Staat mit einer starken rechtsextremen Partei geblieben. Bei den Wahlen 2017 erhielt die FPÖ 26% aller Stimmen. Sie ist in der Regierung vertreten, unter Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP), und erhielt 6 von 14 Ministerien, darunter das Innenministerium.
„Österreich zuerst“: Diese Forderung ist heute politisches Prinzip zumal in der Ausländer und Flüchtlingspolitik; es wird – in der werbenden Selbstdarstellung – in den gefälligen Slogan „Genussland Österreich“ übersetzt: Allerorten und in allen Zusammenhängen wird mit „Genuss“ geworben für das, nun ja, von der Natur her tatsächlich meist schöne und von der Kultur her oft interessante Österreich. Nur soll dieses (gastronomisch gemeinte) „Genussland Österreich“nicht allen dort lebenden Menschen zur Verfügung stehen, schon gar nicht den Flüchtlingen, den Asylanten, den Muslims oder gar den Armen, die in der Polemik der FPÖ und der ÖVP jetzt nur als „Nutznießer des Sozialsystems“ verstanden und auch öffentlich so bezeichnet werden.
Wer sich für den aktuellen Zustand des Genusslandes „Österreich First“ interessiert, sollte zu dem neuen, wichtigen Buch des Publizisten und bekannten Buchautors Robert Misik greifen: „Herrschaft der Niedertracht. Warum wir so nicht regiert werden wollen“ ist der Titel seiner von ihm selbst so bezeichneten „Streitschrift“, die wie ein Aufschrei wirkt angesichts der Zerstörung demokratischer Kultur durch die jetzigen populistischen Regierungen in Europa, zumal in Österreich. Ein Buch, das den Willen stärken sollte, die Demokratie und die Menschenrechte zu retten in unserem Europa.
Aber was jetzt an Zerstörung der humanen demokratischen Umgangsformen beschrieben wird, ist mehr als ein österreichisches Problem. Es ist ein europäisches Problem! Und das macht Misiks Buch deutlich: Erschienen ist das sehr inspirierende Buch Anfang 2019 im Picus Verlag in Wien. Es hat 143 Seiten und kostet 15 Euro!
Robert Misik ist als Journalist in Wien u.a. für die Wochenzeitung „Falter“, die Tageszeitung „Standard“, das Magazin „Profil“ und die deutsche TAZ tätig, er hat zahlreiche Bücher, auch zur Religionskritik, veröffentlicht.
Zentral ist seine Erkenntnis: In Österreich wird mit aller Bravour eine „konservative Revolution“ betrieben, die letztlich auf einen Umbau der bisherigen demokratischen Verhältnisse hinausläuft: Der Titel „konservative Revolution“ wird heute in allen europäischen Ländern prominent unterstützt: In Deutschland hat sich der Chef der CSU im Bundestag Alexander Dobrindt ausdrücklich für diese „konservative Revolution der Bürger“ ausgesprochen. Der Titel erinnert an die Propaganda rechter Philosophen und Autoren in den neunzehnhundertdreißiger Jahren, wie Carl Schmitt oder Ernst Jünger. Nach der konservativen Revolution setzte sich der Faschismus durch…

Die erste Hälfte des Buches von Robert Misik ist stark auf Österreich bezogen, was ja kein Nachteil ist für deutsche Leser, die etwa als Touristen immer wieder mit dem „Genussland“ konfrontiert sind. Misik spricht eine deutliche Sprache: Nur einige Zitate:
„Österreich hat jetzt eine national autoritäre Regierung“ (28). „Die Regierung will, dass „die Opposition nicht opponieren sollte“.
„Opposition und Zivilgesellschaft sollen nicht mehr aufmucken“ (20).
Die Sprache der führenden verantwortlichen Regierungspolitiker sei von „Rohheit“ bestimmt, „der Zynismus ist an der Macht“ (27). Der Kanzler Sebastian Kurz „ist das Geschöpf einer Zeit, in der die Welt als Kampf aller gegen alle empfunden wird und noch der hilfsbedürftigste arme Schlucker als Konkurrent um knapper werdende Ressourcen gilt – und dies in einer Welt, in der Solidarität, das schlicht Humanitäre, die leise Stimme der Vernunft und Rationalität, aber auch ein Geist des Fortschritts einen schweren Stand hat (51).
In dieser Situation des Kampfes aller gegen alle entsteht die „Sehnsucht danach, dass Gewalt ausbreche,… dass das Elementare einbreche in die Langeweile des Systems…Von dieser Sehnsucht lebt der radikale rechte Neokonservatismus seit jeher“ (81). Explizit werden diese Untergangswünsche und Visionen etwa von dem Katholiken Steve Bannon (USA, mit Einfluss auf Europas Rechtsextreme) propagiert. Jetzt geht es, so schreibt Misik in seinem neuen Buch, diesen Leuten erst einmal darum, die demokratischen Strukturen langsam zu zersetzen; kritische Publizistik, auch in Österreich, wird marginalisiert und mundtot gemacht (76), kritische NGOs werden dort finanziell ausgetrocknet, den Kirchen und ihrer Caritas/Diakonie wird eine übertriebene „Hypermoral“ vorgeworfen, weil sie „Asylbusiness“ (was für ein Unwort der Politiker) betreiben….(131). Politiker in Österreich entwickeln, so Misik, ihre eigenen „Fake-News-Schleudern“ (ebd.).
Es geht letztlich darum, die Demokratie „mit kleinen Schritten in eine wackelige Fassade ihrer selbst zu verwandeln“ (77).Misik zitiert den Schriftsteller Peter Turrini, der bezogen auf Österreich von „einem Staatstreich in Zeitlupe“ spricht (28).
Diese Aussagen versteht Robert Misik als Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes. Dabei klagt er die Führer und Ideologen der rechtsextremen Politiker an, nicht aber pauschal viele der irritierten Wähler der FPÖ oder auch der AFD: Zu den AFD Wählern zitiert Misik eine Studie, die zeigt: Viele dieser AFD Sympathisanten sind, so empirische Studien (103), beklagen den Verlust von sozialen Netzwerken in ihrer Lebenswelt, beklagen, dass sich die Politik aus ihren Vierteln zurückgezogen hat, dass sie as Gefühl haben: niemand interessiert sich mehr für sie“(104). „Nicht dass Migranten geholfen wird, regt die Leute, Wähler der AFD, primär auf, sondern dass sie das Gefühl haben, dass ihnen niemand zuhört, dass sich für sie niemand interessiert, dass da niemand ist, der in der Nähe erreichbar wäre“ (ebd.) Dies ist der „psycho-politische Gefühlscocktail“, so Misik sehr treffend (104).
Der Autor will keineswegs das allgemeine Wehklagen der Demokraten befördern, er will mit seiner heftigen Analyse Mut machen, die Demokratie, die Menschenrechte, die Menschenwürde, noch zu retten, TROTZ aller FPÖ Politiker und Orbans und erzkatholischen Populisten(Nationalisten) in Polen usw. „Haltet euch mit Empörung nicht zurück“, fordert Robert Misik (142). Und er zitiert zum Schluss Robert „Bobby“ Kennedy: “Jedes mal, wenn ein Mensch für ein demokratisches Ideal eintritt oder handelt, um das Los anderer zu verbessern oder gegen Ungerechtigkeit aufsteht, sendet er eine winzige Welle der Hoffnung aus, die sich wiederum mit vielen Millionen anderer Energien und Kühnheiten kreuzt. Und zusammen bauen diese kleine Wellen eine Woge auf, die die mächtigsten Mauern der Unterdrückung hinwegspülen“. (Nebenbei: Man könnte, religionsphilosophisch, in diesen Worten einen guten Ansatz sehen für ein Verständnis von „Auferstehung“ zu Ostern). Wer noch konkretere Formen des vernünftigen demokratischen Widerstands gegen den rechtsextremen Populismus wünscht, lese die Zeilen, die der Autor von dem Sozialexperten der evangelischen Diakonie in Wien, Martin Schenk, übernimmt (135f).
Überhaupt hätte ich mir gewünscht, dass die Stellung der Kirchen, auch der offiziellen Kirchenleitungen, gegenüber der „Herrschaft der Niedertracht“ aussehen. Gibt es Pfarrer und Bischöfe, die noch zur FPÖ halten? Bischof Krenn, St. Pölten, gestorben 2014, war ja ein Freund von Jörg Haider FPÖ… Und wie lebt die jüdische Gemeinschaft in Österreich, wie fühlen sich Muslime fühlen in dieser Angst erzeugenden Situation…

PS: Das Buch wurde geschrieben, bevor einmal mehr deutlich wurde, wie stark die internationalen Verflechtungen der „Identitären“ in Österreich sind. Diese militante Gruppe ist bekanntlich mit der FPÖ eng verbunden. Kanzler Kurz wurde in dem Zusammenhang nun einmal sehr emotional, als er die nun bekannt gewordene finanzielle Unterstützung zugunsten der österreichischen „Identitären“ durch den Massenmörder in Neuseeland (Christchurch, Mitte März 2019) „abscheulich“ fand. Ob es nun zum Koalitionsbruch mit der FPÖ (und der in ihr starken auf Identität eingeschworenen Gruppen) kommen wird, ist wohl eher unwahrscheinlich. Es wird wohl alles nur eine scheinbare Aufregung sein, die bald wieder vergessen wird, weil die brutale Abwehr der Flüchtlinge im Mittelmeer dieser populistischen Regierung z.B. viel dringender erscheint …

Robert Misik, „Herrschaft der Niedertracht. Warum wir so nicht regiert werden wollen“, 2019, Picus Verlag Wien, 15 Euro.

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Remonstranten und ihre wichtigsten Tugenden

Überlegungen anlässlich des 400 jährigen Bestehens der freisinnigen Kirche der Remonstranten
Hinweise von Christian Modehn

Anlässlich des 400 jährigen Bestehens der Remonstranten Kirche in den Niederlanden in diesem Jahr (2019) werden dort weitere Überlegungen publiziert zur Frage: Was ist den Remonstranten wichtig? Was ist für sie, bei aller Liebe zur eigenen innerkirchlichen Pluralität, entscheidend?
Zu der Frage ist jetzt eine Broschüre publiziert worden von fünf TheologInnen der Remonstranten zu fünf „Arikeln“, also Grundbegriffen, sozusagen „Kernwerten“, im Leben und Denken dieser freisinnigen protestantischen Kirche. Alle fünf Artikel bzw. Grundhaltungen beginnen interessanterweise mit einem V in der niederländischen Sprache. Es handelt sich um Vrijheid, Verdraagzaamheid, Verantwoordelijkheid, Vrede und Vriendschap. Also um Freiheit, Toleranz, Verantwortlichkeit, Friede und Freundschaft.
1.
Freiheit ist schon von der Geschichte der Remonstranten her eine zentrale Haltung/Tugend. Bekanntlich haben die ersten Remonstranten-Theologen stark die freie Mitwirkung des einzelnen Menschen in der Entscheidung für den christlichen Glauben betont! Eine absolut umfassende Vorherbestimmung der Glaubenden durch Gott lehnten sie vernünftigerweise ab und so wurden sie deswegen von der Mehrheit der strengen Calvinisten 1619 durch die Synode von Dordrecht ausgeschlossen, verfolgt und ausgegrenzt.
Ein Wunder, dass diese kleine Kirche über all die Jahre Bestand hatte. Sie ist etwas ganz Besonderes, Wichtiges, wohl auch „Einmaliges“ in der Hinsicht, in der weiten Ökumene, denke ich.
2.
Bei der Freiheit, die fürs theologische Denken typisch und normal ist, hätte man natürlich auch die sehr dringenden heutigen Tugenden Solidarität, Gerechtigkeit, Vielfalt als „Kernwerte“ nehmen können. Aber darüber kann man ja weiter sprechen…Die fünf „V“ als „Kernwerte“ haben natürlich einen eigenen Charme.
3.
Ich kann nur empfehlen, Niederländisch mal vorausgesetzt, diese Broschüre (42 Seiten) zu lesen. Ich will kurze Hinweise geben: Sigrid Coenradie, Theologin in Eindhoven, schreibt über „Freiheit“. Sie kümmert sich dort um Verbindungen von Menschen außerhalb und innerhalb der Kirche, ein neues Dialog – Projekt der Remonstranten. Keine Missionsveranstaltung, sondern eben Dialog! Und sie weist in ihrem Beitrag über die Freiheit auch darauf hin, dass die Remonstranten in der internationalen, interreligiösen Vereinigung IARF (International Association for Religious Freedem) vertreten sind. Zur Freiheit gehört, so Sigrid Coenradie, auch das Eintreten für die Menschen, die heute mit dem etwas seltsam anonymen Kürzel LHBTI beschrieben werden: Also das Eintreten für lesbische Frauen, homosexuelle Männer, Bisexuelle, Transgenders und intersexuelle Personen. Diese Menschen haben selbstverständlich ihren gleichberechtigten Platz in der Remonstranten Kirche.
4.
Koen Holtzappfel, Theologe und Pastor in Rotterdam, stellt in seinem Beitrag über Verantwortlichkeit kritische Fragen: „Fühlen wir uns als (Niederlande), Land verantwortlich für das, was in Srebrenica passierte? …Wie weit reicht unsere Verantwortlichkeit, wenn es um die Frage der Natur und des Naturschutzes geht. Nicht umsonst gehen uns heute Schüler voraus in ihrem Protest gegen die als zu sehr vom Kompromiss bestimmte Klimaverträge“.
5.
Ein Hinweis noch auf den Beitrag des Amsterdamer Theologen und Pastors Joost Röselaars über „Freundschaft ist Bruderschaft“. Er erinnert an den alten Titel der Remonstranten: „Bruderschaft“! Der Titel Bruderschaft wird vielleicht in feministisch geprägtem Denken als problematisch empfunden, deswegen spreche viele eher von Remonstranten – Kirche. Aber aktuell ist die Idee der gelebten „Bruderschaft“ nach wie vor, auch wenn man ihn in Richtung Geschwisterlichkeit weiten sollte. Joost Röselaars erinnert an Martin Luther King, der einmal sagte: “Ich habe einen Traum. Wir werden mit unserem Feind zusammensitzen.Wir sollen mit unserem Feind an einem Tisch, einer Tafel, zusammen sitzen…“ Und Röselaars nennt Beispiele: „Das ist vollkommene Bruderschaft: Der Türke sitzt mit dem Kurden an einem Tisch. Der PVV Anhänger (aus der rechtsextremen Partei von Wilders, CM) sitzt zusammen mit dem Flüchtling an einer Tafel“…
Wahrscheinlich ist die Wiederbelebung des Begriffes und der Realität „Bruderschaft“ auch zentral für die Zukunft der Remonstranten Kirche: Die sehnsucht der meisten Menschen, die noch eine christliche Gemeinde suchen, ist ja auch und oft vor allem dieses emotionale Sichwohlfühlen in der Gemeinde, so sehr man auch die intellektuelle, rationale Debatte pflegt. Kopfarbeit und „Seelenarbeit“ also sollten vielleicht stärker verbunden sein.

Die Remonstranten sind eine Kirche, die den theologischen Pluralismus sehr weit reichend auch für ihre eigenen Gemeinden, also für die Glaubensüberzeugung der einzelnen Freunde und Mitglieder nicht nur zulässt, sondern wünscht. Auf der Basis des kurzen allgemeinen Bekenntnisses: „Die Remonstrantische Bruderschaft ist eine Glaubensgemeinschaft, die – verwurzelt im Evangelium Jesu Christi und getreu der Freiheit und Toleranz – Gott ehren und dienen will“.
Diese innere Pluralität ist selbstverständlich im Alltag nicht immer einfach zu gestalten. Eine Glaubensgemeinschaft mit einer inneren Pluralität ist so selten, dass für die Mitglieder dieser Gemeinschaft der offene Dialog untereinander entscheidend ist. Sigrid Coenradie stellt in ihrem Beitrag dazu kritische Fragen.
Ich frage mich angesichts des Jubiläums, ob die Remonstranten eine fast ausschließlich auf die Niederlande begrenzte Kirche bleiben dürfen. Ist in Europa – und darüber hinaus in einer immer mehr fundamentalistisch werdenden Welt – eine freisinnige Kirche nicht enorm wichtig, selbst mit nur kleinen Stützpunkten, „Aktions-, Studien- und Debattenzentren?
Und ich frage weiter, ob die Remonstranten nicht viel mehr Menschen anderer Kulturen, allochthonen sagt man in Holland, und anderer Religionen und Weltanschauungen als Freunde und Mitglieder einladen und aufnehmen. Erst dann, vermute ich, finden die fünf Vs ihre umfassende Gestalt. Koen Holtzappfel gibt schon die auf Zukunft hin orientierte wichtige Antwort:“ Remonstranten können den Zusammenhalt begünstigen, indem sie ihre Türen öffnen und den anderen begegnen. Sie können ein Platz bieten, wo gleichsam Vögel mit unterschiedlichem Gefieder einander entgegenkommen, lernen Respekt für einander aufzubringen und gemeinsam erleben, wie bereichernd Begegnungen sein können…“

Zum Schluss noch ein Hinweis auf die Monatszeitschrift ADREM der Remonstranten. Da berichtet in der Ausgabe Mai 2019 Janny Harmsen von ihrer Gemeinde in Doesburg: Dort orientiert sich die Gemeinde neu, weil sie sehr bald keine eigene Pastorin mehr haben kann. „Darum haben wir eine liturgische Gruppe ins Leben gerufen, in der ich bis vor kurzem auch Mitglied war. Es ist schön, um out of the box zu denken über Liturgie, aber selbst predigen ist für uns möglich. Wir probieren viel Kunst und Poesie in den Gottesdienst zu bringen“.

Die Praxis, dass die Gemeindemitglieder (Laien oft genannt, sie sind aber keine „Laien“, CM) selbst liturgische Verantwortung übernehmen und predigen, wenn kein Pastor da ist, finde ich großartig, auch für die Zukunft der Kirche. Das ist die Grundidee der Basisgemeinden, von dort kann man noch viele gute Inspirationen holen. So braucht keine noch so kleine Gemeinde nur einmal im Monat Gottesdienste zu haben, wenn eben mal ein Pastor gerade da ist…. Die Gemeinde selbst gestaltet auch die Gottesdienste. Ein Projekt für die Zukunft. Sicher ganz dringend, auch was Bildungsmöglichkeiten für „Laien“ am Institut der Remonstranten an der Freien Universität von Amsterdam angeht.

Die Broschüre „de vijf artikelen van de remonstranten“ ist 2019 erschienen. 42 Seiten. Sie kann bestellt werden im Büro der Remonstranten, Nieuwe Gracht 271, 3512 Utrecht. www.remonstranten.nl

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin. Forum der Remonstranten Berlin.

Hässliches Sehen. Ein neues Buch der Philosophin Bettina Stangneth

Ein Hinweis von Christian Modehn

Bettina Stangneth, inzwischen weltweit bekannte Philosophin und Historikerin in Hamburg und Interpretin der (religionsphilosophischen) Werke Immanuel Kants, hat ein eher knappes Buch mit dem Titel „HÄSSLICHES SEHEN“ vorgelegt. Es fällt mit 142 Seiten viel kürzer aus als ihre früheren Bücher über das Lügen und das Böse. Wobei die Autorin in ihrem neuesten Buch pragmatisch gesteht: “Dass sich das Böse, die Lüge und das Hässliche leichter an den Leser bringen lässt als das Gute, Wahre und Schöne … habe ich erst durch die Praxis gelernt“ (S. 142). Dies wäre ein Thema, ob sich ein Philosoph diesem Trend anpassen sollte, um wahrgenommen zu werden. Ich bezweifle das.
Was mir mehr Mühe bereitet ist der irgendwie zwiespältige Titel: HÄSSLICHES SEHEN. Im Buchumschlag selbst sind beide Begriffe immer groß gedruckt, so dass man zuerst erwartet, dass tatsächlich „Objekte“ mit Hässliches gemeint sind. Aber auf Seite 75 wurde ich irritiert, weil da „hässlich“ offenbar als Qualität des Sehens selbst gemeint ist. „Wer moralisch zu bessern versucht, indem er die Menschen das hässliche („hässliche“ klein geschrieben, CM) Sehen lehrt, erteilt die Lizenz zu hassen…“ Wie kann das Sehen selbst hässlich sein? So eine Art böser Blick? Etwas „Verhextes“ im Blick selbst? Aber kann man diese hässliche Qualität des Sehens „lehren“? Oder liegt da ein Druckfehler vor? Offenbar nicht. Denn „hässliches Sehen“ (hässlich wieder klein geschrieben) kommt auf Seite 66 noch einmal vor.
Mühe macht vor allem die erwartete eher stringente Argumentation zum Thema; alles ist dicht geschrieben, konzentriert, über einzelne schöne (!) Sätze könnte man lange meditieren. Aber es sind meines Erachtens eher 14 in sich stehende Essays in dem Buch enthalten, die das Denken der Philosophin selbst in einer gewissen Unmittelbarkeit des Ringens zeigen. Das ist schon interessant. Aber das Thema Hässliches Sehen (oder auch das hässliche Sehen) erschließt sich nicht unmittelbar überall, so sehr auch manche Reflexionen zur Erkenntnistheorie, zur Verteidigung der Aufklärungsphilosophie im Sinne Kants, zu Fragen der Identität irgendwie damit zu tun haben.
Oft ist auch vom „dialogischen Denken“ die Rede. Aber Dialoge im unmittelbaren Sinne mit mehreren gleichberechtigten Gesprächspartnern kommen jedenfalls nicht vor; gemeint ist mit „dialogisch“ wohl der innere Dialog der Philosophierenden selbst.
Aber warum ist die Beschäftigung mit dem Sehen des Hässlichen denn so wichtig, um es einmal bei dieser Objektbezogenen Eingrenzung des „Hässlichen“ zu belassen. Damit wir im Angesicht des Hässlichen aus der so einfachen und so schnellen Haltung der aufgespreizten, wichtigtuerischen und egozentrischen Empörung herauskommen. Und warum ist diese Empörungs-Haltung so falsch? Sie bleibt äußerlich, meint Bettina Stagneth, führt nicht zur kritischen Selbstreflexion und damit zur menschlichen Reife, sage ich in meinen Worten.
Aber ist das wirklich immer so? Waren denn die erfolgreichen Plädoyers von Stephane Hessel für die Empörung so unsinnig? Haben sie nicht viele tausend Empörte, Indignados in Spanien usw., vereint? Natürlich sind auch AFD Leute und andere Unvernünftige empört. Also gibt es treffende, nach vorne weisende Empörung zugunsten besserer Demokratie und eben auch reaktionäre Empörung zur Abschaffung der Demokratie. Irgendwie hätte ich in dem Buch mehr Konkretes, Politisches, gewünscht. Der Text ist eben zu kurz! Zu schnell? Ist denn die Einschätzung von etwas als Hässlichem so eindeutig? Sind die Kunst – Objekte von Joseph Beuys etwa nicht bewusst etwas Hässliches, aber gerade darin eben erstaunliche Kunst?
Gewiss, viele einzelne Hinweise von Bettina Stagneth geben zu denken, etwa der Kult um Vorbilder, die Sehnsucht nach Helden. Aber das sind nicht hässliche Gestalten. Und: Aber warum sehen so viele Menschen gern und so oft objektiv Grausames, also Hässliches, also Mord und Krieg und Waffen und Gemetzel? Ich hätte gern nachvollziehbar gelesen, ob der Anblick von ca. 100 Leichen pro Fernsehabend in der Distanz des Zuschauers als abstoßend, als so Hässliches, erlebt werden, dass man sich dann ekelerregt hochherzig dem Guten und Schönen zuwendet? Oder stärken diese ca. 100 Leichen pro Fernsehabend, trotz schauspielerischer Glanzleitungen manchmal, auch den Trend, sich selbst auf den Weg des Hässlichen zu begeben, weil ja da Hässliches und Böses in eins fallen. Hat das internalisierte Hässliche, also das hässliche Ästhetische, die Kraft, ins Böse, ins Böses-Tun, umzuschlagen? Wenn ich etwa bei google den Suchbegriff „Mord nach einem Vorbild im Fernsehen“ eingebe, erhalte ich am 14.5.2019 1.060.000 Ergebnisse, u.a auch zu „Columbine“ ! Indem die ja wohl manchmal hübsch anzusehenden Waffen tatsächlich nach Mord und Totschlag als hässlich gedeutet werden, weil mörderisch, kippt das Ästhetische ins Moralische, ins Böse, um.
Interessant, dass die Religionsphilosophin Stangneth auch ganz knappe Hinweise bietet zum Kreuz Jesu, an dem sich ein „allein gelassener Mann … unter Schmerzen windet“ (S. 100). Wie können fromme Christen solch ein hässliches Bild wertvoll finden, fragt Bettina Stangneth? Die Antwort ist: Weil diese gebildeten Frommen die ganze Lebensgeschichte dieses Jesus von Nazareth kennen und wissen, dass er wegen seiner radikalen Menschenfreundlichkeit umgebracht, ans Kreuz gehängt wurde. Sie sehen also im Gekreuzigten den ganzen historischen Menschen. Übrigens haben die ersten Christen das Kreuz als Symbol für Jesus gar nicht gekannt, sie verwendeten eher das Symbol des Fisches, ICHTHYS auf Griechisch, aber das ist ein anderes Thema. Der sehr originelle Salzburger Theologe Gottfried Bachl ist übrigens einer der wenigen, die sich mit dem Thema „der hässliche Jesu“ explizit auseinandersetzten, in seinem lesenwerten Buch „Der schwierige Jesus“ (Tyrolia Verlag, 1966, dort S. 77 ff.)
So eröffnet das Buch „Hässliches Sehen“ viele weitere Fragen, die einer ausführlicheren Reflexion noch bedürfen. Aber ist das nicht schon ein schönes Prädikat für ein philosophierendes Buch?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Für eine demokratische, republikanische Kirche: Erinnerungen an Abbé Grégoire

Hinweise von Christian Modehn
Erinnerungen an einen ungewöhnlichen Priester: Er war als Politiker aktiv seit dem Beginn der Französischen Revolution und ein glühender Verteidiger der humanen Werte der Revolution: Sein Name Abbé Grégoire. In Deutschland sollten wir mehr von ihm wissen: Als Ausnahmegestalt eines demokratischen organisierten Katholizismus, der aber diese Kirche, als Hort des Konservativen und damals heftig Reaktionären, nicht verändern konnte. Aber er hatte doch Erfolge, als Verteidiger der Menschenrechte, vor allem auch zugunsten der Juden und der „Schwarzen“ in den Kolonien.

Der katholische Priester Abbé Grégoire heißt mit vollständigem Namen Henri Jean-Baptiste Grégoire. Er war der berühmte „Priester-Bürger“, „citoyen par excellence“, schreibt der Historiker Bernard Plongeron (Concilium, 1969, Heft 1, Seite 31, französische Ausgabe).
Abbé Grégoire ist eine Ausnahme – Gestalt in dem damaligen antirepublikanischen, antidemokratischen und reaktionären Katholizismus, repräsentiert im Vatikan. Aber er hat dafür gesorgt, dass sich mindestens für ein paar Jahre die Ideen des katholischen Glaubens mit den richtigen Ideen der Französischen Revolution versöhnen konnten. Er ist die entscheidende Gestalt unter den Abgeordneten des revolutionären Parlaments, der die rechtliche Gleichberechtigung der Juden durchsetzte sowie auch die Abschaffung der Sklaverei. Die Bevölkerung der Republik Haiti, die erste unabhängige Republik in den damaligen südamerikanischen Kolonien, hat ihn hoch verehrt! Und bei seinem Tod 1831 mehrere Tage eine Staatstrauer begangen.
Er hat für die Eingliederung des katholischen Klerus in die Verfassung der Republik gestimmt („Constitution civile du Clergé“): „Alle Bischöfe und Pfarrer müssen von nun an von den Bürgern gewählt werden“. Der Papst wurde dann lediglich von der Wahl benachrichtigt. Alle Priester sollten – wie er auch es ganz entschieden tat – auf die Verfassung der Republik schwören. Seit der Zeit ist der französische Klerus der Revolutionsepoche gespalten, republikanisch oder königstreu und dem Papst absolut ergeben. Abbé Gregoire hat niemals darauf verzichtet, an dieser Konzeption einer Art „nationalen“, also weithin von Rom unabhängigen katholischen Kirche festzuhalten. Deswegen hatte der Erzbischof von Paris auch verboten, dass ein Priester ihn in seinen letzten Stunden besucht, der Erzbischof hatte sogar eine kirchliche Bestattung verboten.
Geboren wurde Grégoire am 4. Dezember 1750 in Vého bei Luneville in Lothringen, einer Region, in der sich unterschiedliche philosophische und aufklärerische Bewegungen versammelten. Er war zuerst Pfarrer und Theologe, bevor er als Abgeordneter ins Pariser Parlament kam. Als Dorfpfarrer setzte er sich entschieden für die Bildung der Bauern ein, er stellte seine private Bibliothek allen Interessierten zur Verfügung, er hat entschieden gegen den „Obskuratismus“ gekämpft, also gegen die übliche Mischung von Glauben und Aberglauben unter Katholiken. Er sprach drei Fremdsprachen, auch etwas Deutsch. Seine befreundeten Rabbiner empfahlen ihm die Lektüre philosophischer, aufklärerischer Zeitschriften in Berlin.
In seinen Lebenserinnerungen („Mémoires“) schreibt Abbé Grégoire: „Nachdem ich die Zweifel förmlich verschlungen hatte durch die Lektüre so genannter philosophischer Werke, habe ich alles neu geprüft und bin nun Katholik, nicht etwa, weil meine Eltern katholisch waren, sondern weil mich die Vernunft, unterstützt von der göttlichen Gnade, zur Offenbarung (der Bibel) geführt hat“.
Viele theologischen Impulse bezog er auch aus dem Studium der alten, der ursprünglichen Kirche („ecclesia antiquior“). Er verfasste zahlreiche politische und theologische Studien, 427 Titel von ihm sind bis jetzt zusammengetragen und tausende von Briefen: Ein Intellektueller und ein Verteidiger der Menschenrechte, und das alles ab 1789, zu einer Zeit, als die Päpste die Menschenrechte und die Freiheit verfluchten. Abbé Grégoire ließ sich nicht unterkriegen. Dabei hatte er gar nichts gegen die Dogmen der Kirche, er wollte nur die menschlichen Verhältnisse in Staat und Kirche grundlegend durch vernünftige Gesetze verbessern.
Er fand es normal, dass man katholische Bischöfe wählte: Er selbst wurde etwa zum Bischof von Blois gewählt. Er setzte es durch, dass Französisch die Sprache in katholischen Messen wurde; er organisierte Synoden als Orte des freien katholischen Disputs. Er setzte sich für eine Versöhnung der römischen mit der orthodoxen Kirche ein.
Natürlich, möchte man sagen, wurde dies alles vom Vatikan verboten, untersagt, zerschlagen. Die zerstörerische Kraft alles Lebendigen und Neuen war im Vatikan immer schon sehr groß. Aber Abbé Grégorie ließ sich nicht in die Verzweiflung treiben, er kämpfte für die Menschenrechte, für die Befreiung der “Schwarzen“. Michelet sagte von ihm: „Abbé Grégoire hat zwei Gottheiten gehabt, Christus und die Demokratie. Beide vermischten sich seiner Meinung nach zu einer einzigen Überzeugung, denn beide haben dasselbe Ideal, die Gleichheit und die Brüderlichkeit“ (Histoire et dictionnaire de la Révolution Francaise, Robert Laffont, 1987, Seit 860)
1950, zum 200. Gedenken an die Geburt dieses freien, republikanischen Priesters, Bischofs und Politikers war es ausgerechnet der vietnamesische Politiker Ho-chi-Minh, der seiner gedachte: Er nannte ihn einen „Apostel der Freiheit der Völker“.
Am 28. Mai 1831 ist Abbé Grégoire in Paris verstorben. An seiner Bestattung auf dem Friedhof Montparnasse, Paris, nahmen 2.000 Studenten und Arbeiter teil, berichtet Bernard Plongeron (ebd., S. 43).
Ein der Hierarchie gegenüber kritischer Priester (Abbé Guillon) war dann noch bereit, eine kirchliche Bestattung zu feiern.
1989, im Rahmen der Feiern „200 Jahre Französische Revolution“, erhielt dieser republikanische, demokratische Priester endlich ein Ehrengrab im berühmten Pariser Panthéon. Die französischen Bischöfe, immer noch im Zorn auf ihren großen republikanisch-katholischen Vorgänger, nahmen selbstverständlich NICHT an den Feiern im Panthéon teil. Lediglich der progressive Außenseiter unter den Bischöfen damals, Jacques Gaillot, Bischof von Evreux, war – für Gaillot selbstverständlich – bei den von Staatspräsident Francois Mitterrand geleiteten Zeremonien im Panthéon dabei.
Es wird Zeit, in Deutschland umfassender an Abbé Grégoire zu erinnern. Leider sind seine Werke in deutscher Sprache nicht verfügbar. In Frankreich gibt es förmlich einen Boom an Grégoire – Forschung, siehe etwa die entsprechende französische website von wikipedia.
Ich finde diesen Mangel an deutschsprachigen Büchern über Abbé Gregoire in gewisser Weise typisch: Wie viele Bücher wurden in den frommen Verlagen über die Karmeliter-Nonne Theresia vom Kinde Jesu in Lisieux oder über den angeblichen Mystiker, den Pfarrer von Ars publiziert? Und eben nicht über einen revolutionären, republikanischen Priester und Bischof, einen Kämpfer für die Menschenrechte und eine demokratisch verfasste Kirche!

Es gibt ein kleines Abbé Grégoire Museum in Emberménil, Département Meurthe-et-Moselle, in der Region Grand Est.
https://musee-abbe-gregoire.fr/un-musee

Über „Haiti und Abbé Grégoire“ gibt es etliche differenzierende Studien, etwa: https://www.persee.fr/doc/outre_0300-9513_2000_num_87_328_3804

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Be

Misstrauen – Vom Wert eines so genannten Unwertes

Ein Religionsphilosophischer Salon am 3.5.2019
Hinweise zur Einführung von Christian Modehn

Ich beziehe mich auch auf einige Vorschläge und Einsichten, die Florian Mühlfried in seinem Buch „Misstrauen. Vom Wert eines Unwertes“ (Reclam, 2019) nennt.

Es geht also um die Erkenntnis: Misstrauen ist in gewisser Hinsicht (!) ein Wert. Und Vertrauen ist in gewisser Hinsicht (!) ein Unwert. Die strikte Trennung, das absolute Gegeneinander von Misstrauen und Vertrauen, ist philosophisch also Unsinn: Tugenden können Laster sein und umgekehrt. Darauf hat etwa der Philosoph Martin Seel in seinem Buch „111 Tugenden – 111 Laster“ (Frankfurt 2011) hingewiesen.
1.
Misstrauen steht begrifflich nahe zur Skepsis. Sie ist meist identisch mit einer Haltung, einer ziemlich umfassenden Lebensform, dem Skeptizismus.
Dieser Skeptizismus als Lebensform, (beschrieben von Sextus Empiricus, bezogen auch auf Pyrrhon) lehrt: Der Mensch sollte sich aller Urteile enthalten, denn alle Dinge und alle Erkenntnisse sind gleichwertig. Keine Bevorzugung für angeblich Wahres und Falsches. Diese Haltung wird praktiziert, um zur individuellen Seelenruhe als dem Ziel des menschlichen Lebens zu kommen. Die Haltung, die dahin führt, ist das ständige Fragen, besonders das Zweifeln an allem.
Skepsis ist aber in sich widersprüchlich: Denn Skepsis wird vom Skeptiker als Wahrheit empfunden, also bevorzugt. Und: Allen Dingen kann der Skeptiker auch nicht gleichgültig gegenüberstehen: Etwa dem eigenen Schmerz. Als Ausweg kann man Skepsis als eine private Überzeugung gelten lassen, wie dies Montaigne tat.
Skepsis und Zweifeln als Aktivität des Geistes sind eng verbunden. Methodisches Zweifeln in der Wissenschaft soll gerade zu sicherer Erkenntnis führen, wenigstens vorübergehend.
Misstrauen ist mehr emotional strukturiert. Zweifeln mehr intellektuell.
2.
„Misstrauen“, darauf weist Florian Mühlfried zurecht nachdrücklich hin, ist ein politisch aktuelles Thema: Ich konkretisiere diese Einsicht: Etwa jetzt im Umfeld der Europa Wahlen im Mai 2019, wo von den Populisten so viel Unwahres, so viele Fakes, verbreitet werden, dass eine tiefe Irritation erzeugt werden soll unter den Bürgern. Bestimmte extrem rechte Parteien, wie die AFD, fordern z.B. die Schüler auf, misstrauisch gegen ihre Lehrer zu sein und bei „linken“ Äußerungen der Lehrer diese anzuzeigen. Die FPÖ will die Pressefreiheit behindern (siehe den Kampf um die Pressefreiheit im ORF).
Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen und Werten wird von populistischen Parteien verbreitet. Damit wird das Vertrauen als Basis des Miteinanders erschüttert. Lügen sind nicht nur auf den engeren intellektuellen Bereich bezogen; sie haben eine globale zerstörerische Kraft. Dies will Mister Trump. Und den Bürgern gelingt es bis jetzt nicht, dieser Herrschaft ein Ende zu setzen… Wie kann Demokratie so schwach sein???
Das Paradoxe ist ja heute: Demokraten müssen ebenfalls Misstrauen entwickeln gegenüber gewählten Politikern, etwa Trump, Orban, FPÖ Leuten, Polnischen Herrschern, etc, die ebenfalls Misstrauen verbreiten als ihre politische Strategie zur Zerstörung von Demokratie. Der Unterschied ist: Diese genannten Politiker wollen eine ganze andere politische Ordnung, letztlich außerhalb der Menschenrechte. Die misstrauischen Bürger hingegen kämpfen um eine bessere Gestalt der Demokratie und der Geltung der Menschenrechte.
Wir wollen mit unserem Misstrauen, unserer Skepsis, unserer Pflege der unabhängigen Medien etc., die Menschenrechte weiter beleben und die liberale und soziale Demokratie.
Ohne Misstrauen kann keine Demokratie bestehen. Die Politiker sollten froh sein, wenn misstrauische Bürger ihnen beim „Politikersein“ zusehen und Einspruch erheben, Widerstand leisten. Nur das ist Demokratie. Am schlimmsten wird es, wenn die Opposition erlahmt, schweigt oder gar von der Regierung, wie der FPÖ in Österreich, letztlich als überflüssig betrachtet wird. Das ist das Ende einer noch so bescheiden gewordenen Demokratie.
Schlimm sind die Regime, die keine institutionelle Opposition zulassen. Und darauf noch stolz sind. Man denke an den Vatikan, der stolz darauf ist, keine (!) Demokratie mit der umfassenden Geltung der Menschenrechte zu sein. Hans Küng nannte dieses Regime treffend „Diktatur“.
3.
Florian Mühlfried versteht Misstrauen als aktive Tätigkeit: Weil man in seinen Planungen nicht automatisch mit einem guten Ende rechnet, denkt man auch ein Scheitern, überlegt also Alternativen. Misstrauen hat also sehr viel mit Zukunftsplanung zu tun.
Misstrauen löst Handlungen aus. Misstrauen kostet etwas, kostet Nerven und Geld.
Diplomaten sind Menschen, die einander mit Misstrauen und skeptischer Vorsicht begegnen. Nur selten gelingen „vertrauensbildende Maßnahmen“ der politischen Feinde.
Das diplomatische Taktieren, immer wieder bloß die halbe Wahrheit sagen, hat sich wohl auch in die persönlichen Umgangsformen „eingeschlichen“: Sind wir im Miteinander der Gemeinschaften und Gesellschaft längst nur noch diplomatisch-misstrauische „Bekannte“ und diplomatisch sich benehmende „Freunde“ und „Verwandte“ geworden? Kann also Misstrauen auch das gesellschaftliche Miteinander vergiften?
4.
Das Misstrauen als Grundhaltung der Menschen in der Gegenwart zeigt sich an vielen Beispielen:
Es gibt eine Art Boom der Versicherungen. Der Sicherung von Häusern und Villen, „gatend cities“, wird immer üblicher. Mit dem Sicherheitswahn als Ausdruck eines total werdenden Misstrauens geht die Militarisierung der Gesellschaft voran, auch der Klassenkampf, die Missachtung der Menschenrechte. Man denke, wie viele hundert Menschen etwa in Rio de Janeiro in diesen Kämpfen um Gerechtigkeit und Lebensmöglichkeit für alle täglich in diesen Tagen erschossen werden, von paramilitärischen und offiziellen militärischen Organisationen. Absolutes Misstrauen als Herrschaftsform ist tödlich. Der gewählte Präsident Brasiliens, ein Freund von Mister Trump, wird von vielen klugen Beobachtern als prä-faschistisch bezeichnet. Höchstes Misstrauen ist also angesagt: Doch die Holzhändler und Rinderzüchter Imperien werden ihn, weil gewissenlos, bei dieser Abholzung des Amazonas-Waldes, also einem Verbrechen, unterstützen. Auch aus Europa? Aber gewiss doch. Wir protestieren zwar, aber es bewirkt nichts. Wir werden müde gemacht von diesen Herren.
5.
Misstrauen ist die Haltung des total gewordenen Individualismus: Ich vertraue nur noch mir, vertraue nur noch meiner Leistung, meinem Gewinn, dieses alles muss ich gegen andere schützen und verteidigen.
Das ist üblich geworden in der Kommunikation: Sich nur durch Pseudonyme äußern. Aber: Weiß ich zum Schluss noch, wie viele Pseudonyme ich habe? Wer bin denn „real“?
6.
Waren die Menschen im Mittelalter weniger misstrauisch? Waren sie nicht vielmehr auch und noch mehr von Angst zerfressen, siehe das Buch „Angst im Abendland“ von Jean Delumeau. Es ist wohl ein Märchen, dass wir jetzt und erst jetzt in einer „Risikogesellschaft“ leben. Aus dem Misstrauen und der Lebensangst flüchteten sich die Menschen im Mittelalter in einen von Aberglauben durchsetzten Glauben. Er baute die Kathedralen etc.
7.
Misstrauen als –begrenzte – Tugend im privaten Leben: Misstrauen hat eine Art reinigende Wirkung, wenn wir uns selbst gegenüber misstrauisch verhalten und uns selbst gegenüber skeptisch fragen: Folgen wir in unserem Leben immer dem Trend der Zeit? Mode, Religionen, Bestseller-Kultur, die „besten Filme (aus Hollywood) herrschenden Ideologie?
Wie können wir also uns selbst gegenüber misstrauisch sein? Misstrauisch gegen sich selbst ist nur eine Variante der tieferen Befragung des Selbst in Situationen der Entscheidung.
8.
Aber Misstrauen kann es nur geben, weil VERTRAUEN der Rahmen, die Basis, im menschlichen und geistigen Leben ist. Nur auf „dem Boden“ des Vertrauens hat Misstrauen einen Platz. Vertrauen ist also das Erste, die Basis. Vertrauen eine emotionale und reflektierte Lebens-Haltung. Vertrauen ist kein Affekt, also keine punktuelle Gefühlswallung, kurzfristige Freude, Jauchzen, aber schnell aufbrechender Hass.
Vertrauen ist eine dauernde Haltung.
Die dümmste, leider weit verbreitete „Lebensweisheit“ ist: „Vertrauen ist gut, Kontrolle besser“. Der Autor heißt Lenin. Es wird unterstellt, als könnte jemand, oder eine Institution, uns alle so total kontrollieren, dass Vertrauen „überflüssig“ wird. Die Stasi der DDR ist in diesem Kontrollwahn letztlich gescheitert. Auch Stalin, der absolut Misstrauische, wurde überwunden. Ob die jetzigen Regime mit ihrer neuen, umfassenden totalen Kontrolle der Bewohner (etwa in China) scheitern, ist eine andere Frage. Gegen den Kontrollwahn gilt es, sich mit allen Mitteln zu wehren.
9.
Aber: Auch IM Vertrauen sollte eine gute „Dosis“ Misstrauen stets anwesend sein: Blindes Vertrauen ist, wie der Name sagt, kein erstrebenswertes Lebensziel. Blindes Vertrauen ist naiv, vielleicht Ausdruck der Verzweiflung und der Sehnsucht, nun endlich den Heilsbringer, politisch, emotional, erotisch usw. gefunden zu haben. Kein Mensch und keine Institution sind so perfekt, das man ihnen blind (also unkritisch, mit Ausschaltung des Nachdenkens) vertrauen darf und soll.
Diktaturen verlangen absolutes Vertrauen, oft Loyalität genannt ,als Maßnahme der Einschüchterung.
Liebesbeziehungen wachsen und reifen, wenn in ihnen kritisches Nachfragen als Ausdruck wohlwollenden Vertrauens lebendig ist.
10.
Misstrauen und Vertrauen sind also eng miteinander verbunden. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Die Frage ist: Werden wir in diesem stets schaukelnden Verhältnis von Vertrauen und Misstrauen verbleiben und sozusagen beide Haltungen gleich wichtig finden?
Ich bin der philosophischen, beweisbaren Überzeugung, dass Vertrauen die Basis ist für das dialektische Miteinander, Verschränktsein, von Misstrauen und Vertrauen.
Vom Urvertrauen wäre zu sprechen. Manche nennen es auch Gott-Vertrauen als eine Art „Netz“, „unzerstörbare Basis“, des geistigen Lebens. Wie viele Menschen haben es noch? Wie lässt es sich wieder gewinnen? Dass wird diese geistige Basis brauchen, ist wohl keine Frage. Ist sie nicht vorhanden, spricht etwa Nietzsche von Nihilismus. Man lese seine Reden (Zarathustras Reden) vom „Tod Gottes“.
11.
Menschliches Dasein gestalten wir in der ständigen Spannung von Vertrauen und Misstrauen. Für das gesuchte Gleichgewicht innerhalb dieser Spannung gibt es keine allgemeine Regel für alle und immer.
Das Dasein ist also eine ständige Bewegtheit und ständige Suche auf dem „Boden“ des Vertrauens, des Urvertrauens?
12.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat 1968 eine Studie, leider für die vielen zu hochkomplex, geschrieben, zum Thema Vertrauen. Wichtig ist seine Erkenntnis: Wer Vertrauen lebt, nimmt Zukunft vorweg, handelt so, als ob er der Zukunft sicher wäre. Ein Thema, das vertieft werden sollte. Auch das Misstrauen ist auf Zukunft angelegt, man will misstrauisch Schlimmes für die Zukunft verhindern.
13.
Es wäre nachzudenken, warum ausgerechnet die USA als Inbegriff des Kapitalismus auf ihre Münzen und Geldscheine den Spruch gesetzt haben: IN GOD WE TRUST. Sollte damit vielleicht selbstkritisch gegenüber dem Kapitalismus gesagt werden: Aufs Geld vertrauen wir doch nicht so stark, sondern auf Gott. Oder war vielleicht mit „God“ eher das Geld selbst als (der biblische) Gott gemeint? Ich vermute eher dieses.
14.
Sollte in der religiösen Beziehung, auch im christlichen Glauben, das Misstrauen eine Rolle spielen? Ich meine JA!
Den Texten des Neuen Testaments nach zu urteilen jedoch offenbar nicht!
Beispiele:
Der „ungläubige Apostel Thomas“ wird im Johannes Evangelium NICHT als Vorbild dargestellt. Jesus sagt zu ihm: „Selig, die nicht sehen, (also nicht misstrauisch, skeptisch, prüfen) und doch glauben“.
Dabei wird implizit gesagt: Das Fragen und Zweifeln hat im Glauben keinen Platz.
Ich halte diese These für falsch, sie ist bereits Ausdruck einer sich dogmatisch einschließenden Kirche, wo einige Apostel vorschreiben, was Glauben ist. Warum soll denn eine Gottesbeziehung nicht sehen dürfen, nicht vernünftig sein dürfen? Glauben ist doch kein diffuses Fürwahrhalten…
Weitere Beispiele:
Philipperbrief: 2,14: „Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel.
Römerbrief 4, 20: Da ist auch von Abraham die Rede: „Er zweifelte nicht im Unglauben an der Verheißung Gottes“. (d.h. Zweifel und Unglauben sind identisch gesetzt).
1 Timothus 2,8: Da heißt es zu der Frage, wie Männer beten sollen: „Ohne Zorn und Zweifel“.
Jakobus Brief,1,8 : „Ein Zweifler ist unbeständig auf allen seinen Wegen“.
In der katholischen so gen. Einheits-Übersetzung heißt es: „Ein Zweifler ist ein Mann mit zwei Seelen“.
15.
Ich betone: Christlich glauben heißt: Fragend nach dem Göttlichen (dem „Sinngrund“) suchen und dieses Fragen bereits als Gabe des Göttlichen an uns verstehen. D.h. dieses glaubende Fragen ist vom Göttlichen selbst „begründet“.
Glaube ist diese Suche nach dem geliebten Gott/Göttin, Göttlichen, den, die, wir gelegentlich sehen, ahnen, „berühren“ im Denken und Fühlen. Wer sucht, hat schon gefunden.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon, Berlin