Die Würde des Menschen: Im Gehirn angelegt, aber etwas Absolutes im Menschen.

Das Buch „WÜRDE“ von Gerald Hüther
1.
Gerald Hüther, einer der bekanntesten Hirnforscher in Deutchland, argumentiert in seinem Buch über die „Würde“ des Menschen vor allem als Biologe. Zum Thema hat er einen praktischen Vorschlag, begründet in der Erkenntnis des Naturwissenschaftlers: Jeder Mensch kann seine absolut geltende menschliche Würde durch praktische, auch leibliche Erfahrungen, seit der frühen Kindheit, aufbauen und pflegen. Schon Kleinkinder machen Kontrast-Erfahrungen, erleben also Momente, in denen sie spüren: Diese Situation im Umgang mit anderen Menschen sollte es für mich nicht geben. Es gibt also etwas in unserem Gehirn, „das von ganz allein aktiv wird, wenn etwas geschieht, das nicht so ist, wie es sein sollte… Dies ist für Kleinkinder nur eine Empfindung, noch kein Wissen, sondern ein ungutes Gefühl“ (S. 113). Diese Wahrnehmungen werden zum Gehirn geleitet; und dann als Widerspruch zum Menschlichen schon vom Kind gespürt.
2.
Die Menschen-Würde kann im ganzen Leben wieder „aufgeweckt“ werden, wenn sie durch negative Erfahrungen verdeckt wurde. Wenn hingegen ein Mensch positive Erfahrungen in einer Umgebung erlebt, die Geborgenheit und Verbundenheit mit anderen lebendig erfahrbar macht, kann der einzelne seine Autonomie und Gestaltungsfähigkeit, also seine Würde, (wieder)erlangen. Diese Erfahrungen werden „im Gehirn verankert“ (S. 87). Es sind die je neu gestaltbaren „Verschaltungen im Gehirn“, die Würde erlebbar machen. „Jeder Mensch ist in der Lage, ein Gespür für das zu entwickeln, was seine Würde ausmacht. Diese Fähigkeit ist bereits im kindlichen Gehirn angelegt“ (S. 133). Wenn die ersten Erfahrungen mit anderen Menschen negativ sind, also keinen Sinn wecken für die eigene Würde, so kann es doch möglich sein, „dieses tief im Hirn verankerte Empfinden (für die eigene unantastbare Würde, CM) durch spätere, günstigere Beziehungserfahrungen wiederzuerwecken“. Mit anderen Worten: Würde ist selbst noch den lange Zeit würdelos (wie Objekte) behandelten Menschen vermittelbar. Wer seine eigene Menschenwürde kennt und schätzt oder diese Menschenwürde wieder gefunden hat, der hat einen „inneren Kompass“ zur Lebensgestaltung, betont Gerald Hüther. Dass Menschenwürde immer auch mit Rechten (und Pflichten) in Gesellschaft und Staat verbunden ist, wird meines Erachtens zu wenig in dem Buch erörtert. Wie können Menschen in dem reichen Europa heute von ihrer eigenen Menschenwürde noch überzeugt sein, wenn ihre Politik, ihre Ökonomie, zur Würdelosigkeit sehr vieler arm gemachter Menschen in Afrika führt?
3.
Ich finde die letztlich knappen Ausführungen des Biologen Hüther auch philosophisch sehr relevant: Denn so wird die philosophische Erkenntnis etwa zum Gewissen, zum Kategorischen Imperativ oder zur transzendental-notwendigen Bindung an das Gute biologisch „verortet“. Ohne dass dabei naturwissenschaftlich gesagt wird: Diese Bindung an das Gute oder diese Bindung an das Gespür der eigenen Würde, seien „nichts als“ ein materielles und deswegen manipulierbares und sogar auch auslöschbares Nerven-Geschehen. Bekanntlich ist es doch so: Wenn es einen materiellen, leiblichen „Ort“ gibt für die mit dem Menschsein schon immer mitgebrachten neuronalen Verschaltungen, dann sagt diese Herkunft nichts aus über die geistige Qualität des Erlebten, etwa der Würde. Man muss grundsätzlich „Genesis und Geltung“ unterscheiden, wie der Philosoph Vittorio Hösle betont: Mit anderen Worten: Was im Materiellen generiert wird, kann doch eine universale geistige Geltung haben. Gerald Hüther spricht vom „Ende des genetischen Determinismus“ (S. 167).
4.
Diese Erkenntnis Hüthers scheint mir besonders wichtig zu sein: Bei einem Menschen ist keine Haltung definitiv, für immer (negativ), festgelegt: Eine gerechtere, bessere Welt der würdevoll lebenden Menschen ist also möglich und als Ziel auch zu gestalten. Naturwissenschaftlich gesagt: Durch neue, das Bewusstsein der eigenen Würde stärkende Erfahrungen können die alten, negativ stimmenden neuronalen Verknüpfungen „im Gehirn ÜBERFORMT werden“, wie Hüther schreibt (vgl. S. 172).
Dabei deutet der Autor durchaus auch politische Konsequenzen an, wenn er etwa an die friedliche Revolution in Deutschland und an die politische Entwicklung danach erinnert: Die Menschen in Ostdeutschland, „müssen spüren, dass sie in der freiheitlich-demokratischen Ordnung auch von ihren Mitbürgern gesehen, wertgeschätzt und ernst genommen werden. Dass sie nicht weiter zu Objekten gemacht werden. Dass ihnen andere Menschen, auch Politiker, Meinungsmacher, Lehrer usw. so begegnen, dass das Empfinden, die Vorstellung und das Bewusstsein ihrer eigenen Würde gestärkt wird“ (S. 172).
Dabei ist Gerald Hüther realistisch: Dass sich unsere Welt tatsächlich zu einer Welt der in Würde lebenden Menschen entwickelt, ist alles andere als sicher oder gar bloß wahrscheinlich. „Es ist allerhöchste Zeit aufzuwachen“ (S. 160), betont er, und „öffentlich auszusprechen, was man (politisch, ökologisch) nicht länger hinzunehmen bereit ist. Und dafür zu sorgen, dass die Würde von Menschen nicht länger mit Füßen getreten, verletzt und untergraben wird“ (ebd.).
5.
Gerald Hüther äußert sich in dem Buch auch zur Pädagogik und möglichen Reformen der Erziehung. Und er zeigt auch Aspekte seiner Philosophie: Denn für ihn wird in der Verteidigung der Würde des Menschen deutlich: „Es gibt etwas Überzeitliches, Zeitloses, etwas Göttliches, das man nicht vernichten kann“(S. 58). Dieses unterstörbar Göttliche im Menschen ist die Menschen-Würde. Die Gültigkeit dieser Idee kann kein Mensch vernichten, selbst wenn Menschenwürde so selten erfahrbare Realität ist.
6.
Der Philosoph Franz Josef Wetz hat in seinem Aufsatz “Illusion Menschenwürde” (in “Der Wert der Menschenwürde”, Paderborn 2009, S. 45ff) darauf Wert gelegt, die Menschenwürde gerade NICHT “religiös-metaphysisch” zu begründen: Einmal, weil diese Begründung zur pluralistischen und säkularen Gesellschaft nicht passe und dann auch wegen des “zunehmend naturwissenschaftlichen Weltbildes” (S. 61). Dass gerade Naturwissenschaftler wie Gerald Hüther offenbar das Gegenteil behaupten, zeigt nur, dass es eben “die” Naturwissenschaft nicht gibt. Und auch “die” “säkulare” Gesellschaft, von der Wetz spricht, wird von etlichen Philosophen und Religionssoziologen zurecht als “postsäkulare” Gesellschaft wahrgenommen.
Aber schwerer wiegt meines Erachtens, dass Franz Josef Wetz die Auffassung von menschlicher Würde lediglich und nur als “reinen Gestaltungsauftrag” (S. 54) definieren will “ohne weltanschauliche Hintergrundannahmen”. Dabei wird überspielt: Dass die Annahmen von Wetz auch weltanschaulich geprägt sind, sie sind alles andere als “neutral” (S.61). Aber noch entscheidender ist: Wer die Geltung der menschlichen Würde, also die Würde eines jeden Menschen, aus dem Bereich der absoluten Unantastbarkeit (Grundgesetz!) heraushebt und sie lediglich als eher subjektiven “Gestaltungsauftrag” sieht, gefährdet diese unantastbare Würde. Denn Gestaltungsaufträge können je nach politischer und ökonomischer Konjunktur mal so und mal anders gedeutet und praktiziert werden. Die Menschenwürde ist aber nichts, was der gestalterischen Freiheit und Willkür bestimmter einzelner (Herrscher) überlassen werden darf. Sie ist eben unantastbar. Wetz redet Klartext: (Seite 58): Wenn er die Menschenwürde nur als Gestaltungsauftrag sieht, dann “wird die metaphysisch begründete Vorstellung von der vorgefundenen Wertabsolutheit des Menschen und der unantastbaren Heiligkeit seines Lebens hinter sich gelassen”. Man lese das Grundgesetz, das ist anderer Meinung, Gott sei Dank möchte man fast sagen.
Und: Wer würde denn leugnen, dass mit der Annahme der unendlichen Würde eines jeden Menschen, gültig bereits VOR jeder Anerkennung durch Staat und Gesellschaft, die praktische “Gestaltung” dieser Würde ausgeschlossen wäre? Die unendliche Würde eines jeden Menschen erfordert gerade die von Wetz geforderte “Gestaltung”. Aber diese Gestaltung gestaltet etwas unantastbar Heiliges eines jeden Menschen. Da darf nicht herum modelliert werden, je nach Laune der Herrschenden oder eines sich zurecht naturalistisch nennenden Philosophen wie Franz Josef Wetz. Dass er Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung ist, soll nur, ohne jede Polemik, der Vollständigkeit halber am Rande bemerkt werden. Franz Josef Wetz hat auch interessante Bücher geschrieben, wie etwa über Schelling…

Gerald Hüther: Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. Pantheon Verlag, 2019. Taschenbuch. 189 Seiten, 14 EURO.

Nietzsche neu lesen: Er öffnet Denkräume, zersetzt kulturelle Üblichkeiten

Nietzsche neu lesen

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 3.8.2019

1.
Mit einem erneuerten Verstehen Nietzsche lesen: Das fordert der Philosoph Andreas Urs Sommer (Uni Freiburg i. Br.) in seinem Essay in der Zeitschrift „Information Philosophie“, Ausgabe Dezember 2018. Sommer ist Leiter der „Forschungsstelle Nietzsche-Kommentare“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Weil Nietzsche vor allem von vielen philosophisch Interessierten oft und viel zitiert sowie mit Schlagwörtern, wenn nicht Klischees, fixiert wird, lohnt es sich, diesen Beitrag von Andreas Urs Sommer besonders zu beachten.
2.
Seine Überlegungen sind bezogen auf seine umfangreichen Studien des „Nietzsche Kommentars“, die selbstverständlich auch die vielen Texte aus dem Nachlass berücksichtigen. Der Beitrag setzt sich mit zwei gegensätzlichen Interpretationslinien der Philosophie Nietzsches auseinander: Die beliebte „inhaltliche“ Position, die in Nietzsches Schriften feste Überzeugungen entdeckt. Und diese dann auch auf aktuelle Fragen bezieht, etwa „Tod Gottes“, „Nihilismus“, „Übermensch“. Und dann die eher „textische“ Lektüre, wie Sommer sagt, die Nietzsche nur als Verfasser von literarischen Texten versteht: Die dann von diesen Sprach-Forschern in allen philologischen Nuancen ausgeleuchtet werden.
Der Essay von Andreas Urs Sommer hat den provozierenden Titel „Was von Nietzsche bleibt“. Das ist ein Titel, der auf Abschließendes, Definitives hinweisen könnte. Tatsächlich aber will Sommer eher einen „Denkraum“ eröffnen…
3.
Der Artikel ist für LeserInnen Nietzsches wichtig, weil zentrale Differenzierungen genannt werden. So etwa Nietzsches Umgang mit Kant (S.10, in dem genannten Heft). Nietzsche habe, so Sommer, Kants Werke selbst nicht gelesen. „Nietzsches Kant ist ein Monstrum, von Nietzsche erdacht oder erschrieben als Gegner, an dem man sich messen kann, um sich in ein ablehnendes Verhältnis zu setzen…Nietzsche will einen Waffengefährten oder einen Gegner haben“. Eine Erkenntnis übrigens, die etwa schon der Philosoph Vittorio Hösle im Nietzsche Kapitel seines Buches „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (2013) mitgeteilt hatte (S. 185, auch S.190: „Nietzsche war als Philosoph nie ausgebildet“).
Wer hingegen die ganze große Fülle des Nachlasses berücksichtigen muss, wie Sommer, der wird bei Nietzsche dem stetigen mühevollen Ringen um den treffenden Ausdruck begegnen. Z.B.: „Die vom historischen Subjekt Nietzsche (dann) für publikationswürdig erachteten Aussagen über den =Willen zur Macht= stehen unter Vorbehalt. Sie haben die Gestalt eines Denkexperiments“ (S.12.) Dadurch gelangt man zu einem neuen Verstehen dessen, was Philosophie für Nietzsche bedeutet. “So hat man“, betont Sommer, “in den philosophischen Texten Nietzsches ein Philosophieren in der Hand, als permanentes Fort – und Überschreiben einmal erreichter Standpunkte, nicht als ein festes Gefüge von Gedanken, Überzeugungen, sondern Philosophieren als Prozess, als Bewegung“(S. 13). Philosophieren zeigt sich in Nietzsches Texten als etwas ungewöhnlich anderes, „es unterscheidet sich“, so Sommer, „fundamental von Philosophie im landläufigen Sinne“ (S. 14). Philosophieren widerspricht den festen Fügungen und letzten Überzeugungen, denkt Nietzsche.
4.
Was also bleibt von Nietzsche? Nichts Festes. Schon gar kein Lehrsystem. Sondern Denken als Prozess, als ständiges Aufheben und Überschreiben fester Überzeugungen (Propositionen). Große dogmatische, handlich griffige Lehrgewissheiten sind also aus Nietzsches Schriften nicht zu erzeugen und auch nicht mehr festzuhalten, so Sommer. Es sind bei ihm Denkbewegungen zu finden, bei denen der Leser Unterstützung finden kann in den umfangreichen Kommentaren, die nun von der Forschungsstelle herausgegeben werden. Dadurch wird deutlich: Selbst bei einer Vielzahl möglicher Interpretationen von Nietzsches Texten sind doch nicht alle Deutungen vertretbar. „Nietzsches Philosophie öffnet Denkräume. Es entsteht Weite. Abschließendes gibt es bei Nietzsche nicht. Diese Haltung im Denken hat etwas gegenüber der fixierenden Tradition durchaus „Zersetzendes“, betont Sommer. „Diese Zersetzungskraft rückt den Selbstverständlichkeiten abendländischer Moral – und Weltanschauungskonsense auf den Pelz. Auch das bleibt von Nietzsches Philosophie“ (S. 15).
Wie das zu bewerten ist, bleibt eine offene Frage: Das Tote, d.h. das Unmenschliche einer Kultur, kann ja gern „zersetzt“ werden: Aber wenn es dann doch – gegen Nietzsche – bleibend Gutes und Wahres gibt, warum sollte das nicht erhalten bleiben, etwa die Menschenrechte, die so oft missbraucht, aber trotzdem universal geltend für alle Menschen unersetzlich sind…
Für uns am wichtigsten: Nietzsche fördert bei seinen Lesern den eigenen Denkweg zu suchen, die eigene Praxis zu finden. Die fraglich bleibt und nur in der Bewegtheit des Lebendigen selbst das Bleibende sieht.
5.
Freilich: Bestimmte Grund – Überzeugungen“ zur Philosophie Nietzsches haben sich öffentlich durchgesetzt, haben sich als Sprüche in den Köpfen festgesetzt. So etwa die Diagnose, die er im Text „Zarathustra“ verbreitet: „Wir haben Gott getötet“. Dieser Satz gibt nach wie vor zu denken: Kann der Mensch Gott töten, wenn ja: welchen Gott, wer ist „wir“? Über Nietzsches Text „Der Antichrist“ wäre eigens sprechen (erschienen 1895). Darin „verkündet“ Nietzsche doch wohl eine neue, eine explizit antichristliche Moral? Manche Leser haben diesen Eindruck, wenn man das von Nietzsche Geschriebene ernst nimmt. Und auch dies: Die Polemik Nietzsches gegen, so wörtlich, „die Schwachen und Missratenen“, ist nicht nur antichristlich. Sie ist antihuman. Oder muss man auch bei dem Thema das nur „Vorläufige“, wenn nicht „Spielerische“ des Gesagten bedenken?
6.
Man wird also Nietzsche, dann mit den ausführlichen kritischen Kommentaren ausgestattet, sehr vorsichtig, immer mit einem Abstand kritisch lesen müssen und ihn schon gar nicht zu einem „Meisterdenker“ aufwerten, selbst wenn viele seiner Aphorismen anregend sind, zum kritischen Weiterdenken führen. Das gilt sicher schon heute, auch wenn diese großen Kommentare noch nicht vorliegen.

Siehe auch: „Forschungsstelle Nietzsche Kommentar“. 2020 soll z.B. ein Kommentar zum „Zarathustra“ erscheinen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wenn die Rechtspopulisten zornig werden…

Ein neues Buch der Soziologin Cornelia Koppetsch über „Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“

Ein Hinweis von Christian Modehn

Den Rechtspopulismus neu verstehen: Das ist das Ziel der umfangreichen Studie der Soziologin Cornelia Koppetsch (Prof. an der TU Darmstadt), ihr Buch aus dem Transcript Verlag ist am 19. Mai 2019 erschienen und hat seitdem viel Aufmerksamkeit in der Presse gefunden.
1.
Das Buch erfordert von den LeserInnen, die nicht professionelle Soziologen oder Politologen sind, eine große Lektüre Anstrengung, weil etwa allein die (langen) Sätze voller Substantive sozusagen „wimmeln“, was bekanntlich jegliche Lesefreude, die einem guten Stil voller Verben verpflichtet ist, sehr erschwert.
2.
Zudem ist das Buch vor dem Mord an dem Regierungspräsidenten Walter Lübcke (Kassel) am 2.Juni 2019 geschrieben worden: Dieser Mord stellt bekanntlich eine nun ganz offensichtliche „Qualität“ der Aktionen sehr rechtslastiger Kreise dar: Mord und Totschlag, sowie Brandattacken, von sehr rechtslastigen Kreisen gelten ab sofort nicht mehr „nur“ den Flüchtlingen und ihren Unterbringungen, von „Heimen“ sollte man angesichts dieser Unterbringen besser nicht reden. Die üblichen verbalen Attacken und Beleidigungen, dieses Schmähen der Demokratie und der Menschenrechte, wird nun offenbar praktisch, d.h. mörderisch. Diese Attacken gelten gezielt demokratischen, den Menschenrechten verpflichteten Politikern. Von bloßem „Rechtspopulismus“, wie der Buchtitel suggeriert, nur zu sprechen, erscheint mir schon deswegen als gar nicht treffend und auch etwas zu wohlwollend für diese Kreise.
3.
Es ist wohl einzig angemessen, auch angesichts der AFD Führer etwa in Thüringen oder Brandenburg, von Rechtsextremismus im Zusammenhang der AFD zu sprechen. Wie dies andere Forscher und kompetente Journalisten, etwa im WDR tun, und nun ihrerseits mit dem Leben bedroht werden. „Der AFD geht es letztlich um einen Bruch mit zentralen Werten des Grundgesetzes“, schreibt nicht etwa Cornelia Koopetsch, sondern Wissenschaftler wie Christoph Butterwegge, Gudrun Hentges und andere in dem Buch „Rechtspopulisten im Parlament“ sehr richtig.
4.
Von der AFD als einer Gestalt des bloßen Rechtspopulismus zu sprechen, erscheint mir also als überholt, und sogar falsch selbst wenn die Autorin zwischen den radikalen Führern der AFD (Höcke und Co.) und den Mitgliedern bzw. Wählern unterscheidet. Diese Mitglieder und Wähler der AFD hält Cornelia Koppetsch letztlich für konservative Irregeleitete: Wenn diese Kreise aber nur diese Merkmale haben, also noch kritisch reflektieren können, dürfte man konsequenterweise erwarten, dass sie die AFD als Partei Mitglieder verlassen oder diese Partei nicht mehr wählen: Beides tun diese Kreise aber nicht, und zwar wider besseren Wissens über die permanent verbale und oft schon faktische Gewalt einiger Leute aus dem AFD Umfeld. Das wichtige Buch von Andreas Speit, (Hg.) „Das Netzwerk der Identitären“ ist im Oktober 2018 erschienen, es wird von Koppetsch nicht erwähnt. Aber es zeigt: „Die AFD steckt mit den Identitären unter einer Decke“.
5.
Mich freut, wenn die Autorin ganz am Ende ihrer Studie „die Rechtsparteien“ (von Extremisten ist wieder keine Rede) ein so wörtlich „hochwirksames Gift“ nennt, das diese “Rechtsparteien“ „in den Gesellschaftskörper schleusen“ (Seite 258). Sie schreibt anschließend die für mich kryptische, aber irgendwie auch gefährliche Prognose: “Wenn die Zeichen nicht trügen, dann stehen uns konfliktreiche Zeiten bevor. Das muss nicht zwangsläufig eine schlechte Nachricht sein“ (ebd.) Die konfliktreichen Zeiten sind doch längst da, mindestens seit 4 Jahren. Was soll denn an den konfliktreichen Zeiten „keine schlechte“!, also eine gute Nachricht sein, wenn man die Unbelehrbarkeit der AFD Führer bedenkt und die faktische tötende Gewaltbereitschaft. Ich habe den Eindruck, die Professorin Cornelia Koppetsch unterschätzt deutlich die AFD.
6.
Freilich: Die Darstellung dieses „Gifts“, also die AFD, hat schon dadurch ihre erhebliche und sehr bedauerliche Grenze, dass in dem Buch fast ausschließlich nur von der AFD die Rede ist. Als hätten wir nicht in unserer unmittelbaren west-europäischen Nachbarschaft nicht längst hochgiftige, also nicht nur „rechtspopulistische“, sondern eben rechtsextreme Parteien in ihren Aktionen vor Augen: So ist von der von so vielen Beobachtern rechtsextrem genannte FPÖ in dem Buch soweit ich sehe keine Rede. Dieser Mangel ist besonders gravierend, weil die FPÖ seit Jahrzehnten mit widerlichen Hasstiraden die Reste demokratischer Kultur in Österreich zerstört. Die Partei von Marine Le Pen in Frankreich wird ganz kurz im Zusammenhang der „Nouvelle Droite“ erwähnt, von den rechtspopulistischen Parteien in den Niederlanden oder Belgien ist keine Rede, obwohl die AFD sichtbar seit Jahren mit den Parteiführern dieser europäischen so genannten rechtspopulistischen Parteien auch gemeinsam auftritt. Auch von der Beziehung dieser Parteien, auch der AFD, mit PUTIN ist in dem Buch keine Rede.
Nebenbei: Ich empfehle nicht nur der Autorin, sondern allen Lesern dieses Textes die kritische Studie über die FPÖ, die ja bekanntlich heftig verbandelt ist mit der ÖVP( mit Sebastian Kurz und Co). Siehe das Buch von Robert Misik. https://religionsphilosophischer-salon.de/11616_niedergang-der-demokratie-heute-ueber-oesterreich-und-europa_aktuelle-buchhinweise/philosophische-buecher
7.
Was ich an dem Buch von Cornelia Koppetsch noch problematischer finde: Die Autorin schreibt in ihrer „Danksagung“ auf Seite 259: Sie bedanke sich „bei meinen Bekannten aus der AFD, die mir in vielen Diskussionen ihre gesellschaftlichen Sichtweisen dargelegt haben“. Wenn die Autorin also erläuternde „Bekannte“ in der AFD hat, von Freunden ist ja nicht die Rede, warum werden diese nicht ein einziges mal zitiert: Haben die Bekannten der Autoren Angst, genannt zu werden? Dann hätte die Autorin doch wenigstens aus der einschlägigen AFD Presse und den Stellungnahmen der AFD Führer wichtige Zitate bringen und diskutieren können. Man wird aber keinen einzigen O TON aus AFD Kreisen in dem soziologischen (!) Buch über die AFD finden, sondern nur Zitate aus (z.T. älteren) Studien ÜBER die AFD. Das finde ich, gelinde gesagt, für eine soziologische Studie ( „Feldforschung“ ?) etwas seltsam. So wird kein Wort gesagt über das Parteiprogamm der AFD, das bei Lektüre jeglichen Anschein zerstört, als wäre die Partei sozialpolitisch ganz aufseiten der Armen und Ausgegrenzten.
8.
Trotz dieser Kritik an dem Buch lohnt sich die für gebildete Kreise mühsame Lektüre des Buches doch ein bißchen: Es geht ja um eine Erläuterung des „Zorns“, der sich in den AFD Kreisen Ausdruck verschafft. Dabei folgt Koppetsch den Zorn – Analysen von Peter Sloterdijk. Der Kern ihrer Aussage: Vielfältige Kreise der Gesellschaft, nicht nur Menschen aus dem „Prekariat“, sondern auch vor allem konservativ bürgerliche Männer, sind böse und zornig: Weil sie angesichts der Globalisierung nicht nur die dadurch bedingten Umbrüche nicht mehr verstehen. Sondern weil sie sich beruflich, finanziell und existentiell degradiert sehen. Sie fühlen sich förmlich aus der altvertrauten Bahn ihres üblichen Lebens geworfen. Und sie geben für diesen Verlust an innerer wie äußerer vertrauter Heimat den Fremden, den Flüchtlingen, vor allem die Schuld. Und indirekt auch den Politikern, die sie für die „abgehobenen Eliten“ halten und manchmal noch kosmopolitisch und humanistisch denken, wie die Kanzlerin in den ersten Tagen, als 2015 viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen. .
Diese Zusammenhänge werden von Cornelia Koppetsch sehr ausführlich dargestellt. Zusammenfassend glaubt sie sogar feststellen zu müssen, dass die AFD Wähler „auch nachvollziehbare Gründe für die Zurückweisung liberaler Gesellschaftsbilder, emanzipatorischer Politikmodell und linksliberaler Eliten haben“ (257). Diese rechtspopulistischen Kreise, die ja, wie gesagt, in dem Buch nie rechtsextreme Kreise genannt werden, haben also für Frau Koppetsch subjektiv gute Gründe, antiliberal zu sein. Also damit wohl auch gegen die vom Liberalismus nun einmal formulierten Menschenrechte zu stimmen: Weil diese Rechtspopulisten schlicht und einfach meinen, summarisch gesagt, diese liberalen Kreise seien arrogant, herrschsüchtig, verlogen, kosmopolitisch und empfinden damit anti-heimatlich. Sie werden von den Rechtspopulisten förmlich zu „Volksfeinden“ erklärt.
Der feine Unterschied ist doch der: Diese liberalen oder sozialdemokratischen oder grünen Kreise halten jedenfalls noch sehr viel von den Menschenrechten, auch wenn sie wissen, dass sie den Forderungen der Menschenrechten sehr selten persönlichen ganz entsprechen. Aber sie halten die Menschenrechte immerhin noch hoch und fordern sie von den Politikern. Die AFD Leute setzen sich meines Wissens hingegen nicht subjektiv und auch nicht objektiv in der Politik für die Geltung der universalen für alle Menschen geltenden Menschenrechte ein. Denn: „Wir sind das Volk“, also alles bestimmend. Deswegen: Germany first, USA first: Menschenrechte, wenn überhaupt, ganz zuletzt. Das sind die Unterschiede, die leider Frau Koppetsch bei ihrem Verständnis, ich sage ja nicht versteckte Sympathie für die AFD nicht sieht und auch nicht sagt. Mit der Elite der, Gott sei Dank, noch herrschenden Demokraten sind die Menschenrechte noch einklagbar. Und es gibt noch Menschen bei Greenpeace oder Ärzte ohne Grenzen oder an der lebendigen Basis der Kirchen, die diese Menschenrechte faktisch leben. Mit der AFD Clique ginge das ganz und gar nicht. Schade, dass das Frau Koppetsch nicht sagt.
9.
Mit scheint, dass Cornelia Koppetsch durchgängig die These variiert: Schuld am Aufkommen des Rechtspopulismus sind die liberalen, demokratischen Kreise: Sie grenzen aus, sie ignorieren die alten Werte, sie sind egoistisch. Man lese die immer wieder kehrende Beschreibung, dass sich die Liberalen als Wohlhabende abschotten von den ärmeren Leuten; dass die Liberalen den Kapitalismus faktisch bejahen, selbst wenn sie ihn theoretisch ablehnen. Und vor allem auch dies ist eine wichtige These der Autorin: Sie sind verlogen, weil sie selbst ausländerfeindliche oder flüchtlingsfeindliche Ressentiments haben. Diese aber verstecken und nicht öffentlich zugeben.
10.
Aber immerhin sind die von Frau Koppetsch kritisierten liberal-wohlhabenden Kreise, zu denen sie ja als Professorin selbst gehört, immer noch zur Selbstkritik in der Lage. Sie sind lernbereit. Und auch dies: Sie sind bekanntlich, gerade aus Kirchenkreisen, sehr hilfsbereit. Auch für die Flüchtlinge. Mit ist nicht bekannt, dass auch nur im entferntesten irgendein AFDler aktiv positive Flüchtlingshilfe leistet. Falls ja, bitte melden!
11.
Religionen und Kirchen werden in dem Zusammenhang von der Autorin äußerst marginal erwähnt, sie sind für sie eher eine vergangene Gestalt gesellschaftlicher Präsenz, lediglich die Evangelikalen werden kurz gewürdigt. Bezeichnenderweise ist soweit ich sehe das wichtigste und zitierte Buch über Religionen für die Autorin das Buch von Martin Riesebrodt von 1990.
12.
Was mich am meisten erstaunt, mit welcher Naivität positiv gestimmt die Autorin mit dem Begriff des „Nationalen“ und der „Nation“ umgeht. Sie schreibt: „Die Identifikation mit der Nation war eine progressive, keine regressive Kraft“ (186, ähnlich auch 252). Die Identifikation mit einer Nation war und ist die Hauptursache für Kriege und Aggressionen: Man muss kei Fachhistoriker sein, um dies zu wissen. Erstaunlich, dass eine Soziologin sich zu solcher Verteidigung der Nation hinreißen lassen kann. Vielleicht hat sie etwas zu viel mit ihren Bekannten von der AFD verständnisvoll geplaudert…
13.
Schlimm finde ich auch die eher nebenbei geäußerte Meinung zur Holocaust-Erinnerung: Cornelia Koppetsch schreibt: „Als wenig hilfreich erweist sich auch eine Holocaust-Erinnerung, die in leeren Ritualen und monumentalen Denkmälern und auf das Singuläre (kursiv von Koppetsch) der Gräueltaten von Auschwitz und Treblinka gerichtet ist, während dem bis heute wirksamen kolonialen Rassismus sowie tief verwurzelten islamophoben Einstellungen weitaus weniger Beachtung geschenkt wird“ ( 252 f.). Dass Islamophobie zu wenig kritisiert wird genauso wie die koloniale Rassismus, ist wohl klar. Aber muss man deswegen die Holocaust-Erinnerung herunterspielen und falsch beschreiben, indem die Autorin von „leeren Ritualen“ und monumentalen Denkmälern spricht: Welche monumentalen Denkmäler meint sie eigentlich? Was ist „leer“ an humanen Ritualen, wenn Menschen voller Trauer auf dem Gelände ehemaliger KZs mit den wenigen noch Überlebenden ins Gespräch kommen und gemeinsam laut ein „Nie wieder“ sagen oder schreien?
Angesichts des zunehmenden aggressiven Antisemitismus in Deutschland und Europa (die AFD tut nur so, als wäre sie pro-jüdisch, um dann nur um so mehr anti-islamisch zu sein), sind diese Sätze von Cornelia Koppetsch nicht nur überflüssig, sondern falsch. Hat sie die Äußerungen von Herrn Gauland über die Nazi-Terror-Herrschaft mit der systematischen Ermordung von 6 Millionen Juden vergessen? Als dieser AFD Führer im Juni 2018 (!), also noch zur Zeit der Arbeit an dem Buchmanuskript, sagte: „Die NS Zeit ist nur ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte“.
14.
Auch wenn einige Aussagen, sowie einige gut nachvollziehbare grundlegende Darstellungen etwa über Norbert Elias (206 f.) interessant sind: Abgesehen von der zweifellos zu bedenkenden und manchmal bedenklich arroganten Haltung der Liberalen und der Demokraten sehe ich in dem so ausführlichen Buch keinen bedeutenden Erkenntnisgewinn. Die politische Geschichte in Deutschland (und bei den europäische Nachbarn) ist im Zusammenhang des so genannten Rechtspopulismus und der AFD über die Erkenntnisse dieses Buches längst hinausgegangen, siehe die tiefe historische Zäsur durch den Mord an Walter Lübcke. Dieser Bruch in der Demokratie begann wahrscheinlich schon, als die NSU Morde geschahen und die deutsche Justiz Jahre lang geschlafen hat in der Verfolgung dieser Verbrecher.
15.
Das von Koppetsch angedeutete GIFT des Rechtspopulismus wird bereits heute mehrfach „eingesetzt“. Und zwar tödlich. Und die nun ja auch bereits zum Teil rechtslastige Polizei ist überfordert, angeblich. Und die Richter urteilen im Falle von rechtsextremer Gewalt meist sehr milde.
Das ist unsere Situation. Und da zeigt sich meines Erachtens genauso wichtige ZORN der Demokraten. Sie wollen in ihrem Zorn aber im Unterschied zur AFD eine bessere Demokratie. Und die Geltung der für alle Menschen geltenden Menschenrechte!

Cornelia Koppetsch, Die gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter. 283 Seiten, Transcript Verlag im Mai 2019, Taschenbuch 19,99 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Den Zölibat abschaffen. Hubert Wolf schreibt 16 Thesen über den Zölibat: Die sexuelle Liebe und die Ehe sind verboten.

Das neue Buch von Hubert Wolf „Zölibat. 16 Thesen“

Ein Hinweis von Christian Modehn. Dieser Text fiel etwas länger aus, weil auf grundsätzliche, aber kaum diskutierte Probleme hingewiesen werden musste.

Und dem Text ist ein Motto vorangestellt, von Christian Pfeiffer, Kriminologe, der den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche Deutschlands untersuchen sollte, aber wegen eines Konflikts mit den alles bestimmenden Bischöfen seine Arbeit beendete. Er sagt:
Das Verbieten von Sexualität (für Priester) ist ein Grundfehler und hat massiv zum Missbrauch beigetragen. Die ständige Lüge von der Enthaltsamkeit vergiftet die Kirche von innen her”. (Die ZEIT, 17.4.2019, Seite 48).Und weiter: “Nirgends wurde bislang nur ansatzweise eine solch hohe Quote mutmaßlicher Täter erreicht wie Priestern”. (ebd.).

Wie schon oft gesagt: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie muss sich auch mit dem realen Zustand der Religionen und Kirchen heute befassen, um zu erkennen, zu welchen Verirrungen auch Religionen/Kirchen neigen. Das Zölibatsgesetz für Priester in der römischen Kirche ist dafür ein heftiges Beispiel. Es ist ein Symbol für Herrschaft des Klerus, Engstirnigkeit und vor allem: Bindung an ein Weltbild, das spätestens mit der Aufklärung überwunden wurde.

Über das Zölibatsgesetz für den römisch-katholischen Klerus und die Ordensleute dieser Kirche sind nach meinem theologischen Gefühl mindestens 100 Bücher in den letzten 50 Jahren erschienen. Wenn diese Bücher dem Anspruch kritischer Wissenschaft verpflichtet sind, heißt ihr eindeutiges Urteil: Das Zölibatsgesetz ist kein „ewiges“ Dogma der Kirche. Es könnte deswegen im Grunde sofort aufgehoben werden, durch einen Papst, der noch Mut hat und Verantwortung für die Zukunft dieser Kirche kennt. Und keine Angst hat vor den Cliquen der Kardinäle, der offiziellen, aber nicht immer auch faktischen Zölibatsfreunde, die den Vatikan beherrschen.
Aber die Abschaffung des Zölibates geschieht nicht, obwohl Umfragen zeigen: Die so genannten Laien wollen gern mehrheitlich verheiratete Priester in ihren Gemeinden erleben. Warum wird dieses Zölibatsgesetz nicht rigoros und sofort abgeschafft? Weil für den zölibatären Klerus als den Herrschern über diese Kirche der Zölibat als eine angebliche „Wesenseigenschaft“ ihrer Kirche erscheint. Und weil diese Herren selbst vom Zölibat als ihrer angeblich herausragenden Lebensform gegenüber dem Plebs, dem Volk Gottes, also den Laien, profitieren. Auch finanziell, und vom Lebensstil her. Sie haben eine extravagante Sonderrolle und profitierten, mindestens bis jetzt, etwa von der eigenen Rechtssprechung der Kirche, die sie, bis vor kurzem noch, von staatlicher Bestrafung im Falle von sexuellem Missbrauch befreite. Als „ehrwürdige Patres und hochwürdige Pfarrer“, mit demütigem Knicks ängstlich verehrt, und als Eminenzen und Exzellenzen mit dem Kuss des Ringes, dem so genannten „anulus (!) pontificalis“, förmlich ins Himmlische gehoben.

Der bekannte und vielfach prämierte Kirchenhistoriker Hubert Wolf, katholischer Priester und auch Mitglied im offiziellen „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“, (ZdK), ist Professor an der theologischen Fakultät der Universität Münster, er legt jetzt in 16 Thesen noch einmal auf knappen 190 Seiten die alte Erkenntnis dar: Das Zölibatsgesetz könnte abgeschafft werden. Es ist nicht teil der „göttlichen Offenbarung“ Jesu Christi, sondern Menschenwerk, d.h. für diese Kirche eben immer: Kleruswerk. Dieses Gesetz stört nicht nur die weitere Entwicklung der Gemeinden, die immer mehr mit dem Mangel an zölibatär lebendem Klerus konfrontiert sind, sondern vor allem: Weil das Zölibatsgesetz für die betreffenden Priester meistens wie ein zwanghaftes Korsett wirkt, das eine normale seelische Entwicklung der Betroffenen meistens verhindert.
Vieles, was Hubert Wolf schreibt, ist also bekannt und wie gesagt, tausendmal ergebnislos gegenüber der allmächtigen Zentralgewalt im Vatikan vorgebracht worden. Wichtig ist in Hubert Wolfs Studie die umfangreiche historische Dokumentation zum Thema, auch dadurch wird das Buch besonders lesenswert. Tatsache ist: Selbst einzelne Bischöfe sind offiziell gegen das Zölibatsgesetz, aber dieses ihr „mutige“ Geplaudere ist wirkungslos. Sollten sie doch selbst heiraten und mit gutem Beispiel vorangehen. Macht aber niemand dieser „Mutigen“, die finanzielle großartige Versorgung ist wichtiger als die theologische Ereknntnis…

Der Reiz dieses Buches sind, wie gesagt, die vielen historischen Details zum Thema: Treffend für heute zitiert der Autor den einflussreichen Kurien Kardinal Lazzaro Opizio Pallavicini aus dem Jahre 1783: „Wenn man den Geistlichen die Ehe gestattet, so ist die römisch-päpstliche Hierarchie zerstört, das Ansehen und die Hoheit des römischen Bischofs verloren; denn verheiratete Geistliche werden durch das Band mit Weibern und Kindern an den Staat gefesselt, hören auf, Anhänger des römischen Stuhls zu sein“ (S. 146).
Hubert Wolf sagt es mit seinen treffllichen Worten: “Der Zölibat ermögliche die Sozialkontrolle, und die Priester könnten von den Bischöfen „wie Figuren auf dem kirchlichen Schachbrett“ hin und her geschoben werden“ (ebd.).
Interessant ist auch, dass noch im 19. Jahrhundert Priester, die homosexuelle Handlungen begangen hatten oder sexuellen Missbrauch an Kindern, Knaben, getan hatten, in so genannte kirchliche „Korrektionshäuser“ verbracht wurden, auch „Demeritenhäuser“ genannt, also so genannte „Priestergefängnisse“ der Kirche, so wurden sie vor der Justiz des Staates entzogen (S. 129).
Die 16 Thesen gegen das Zölibatsgesetz sind klar formuliert und einleuchtend, sie könnten Pflichtlektüre in allen Gemeindekreisen und Priesterkonferenzen werden. Der Verlag oder der Autor sollten so großzügig sein und jedem deutschsprachigen Bischof das Buch zusenden.
Meine Kritik: Ich hätte mir noch ein paar weitere Thesen gewünscht:
Etwas ausführlicher zu den „Priesterkindern“ (und den Priester-Freundinnen), die ihr Leben lang unter der Verschwiegenheit gelitten haben, weil sie kaum öffentlich bekennen konnten: „Mein Vater ist ein Pater“ oder: „Mein „Mann steht sonntags am Altar“. Man hätte sich nur umsehen müssen, etwa unter den Krankenhausseelsorgern der siebziger Jahre: Da waren doch viele Väter als Patres tätig. Selbst der berühmte Jesuit Rupert Lay, einst Philosophie Professor an der Hochschule Sankt Georgen und anerkannter Autor zahlreicher theologischer und philosophischer Studien, hat 1996 in einem Beitrag für die Wochenzeitung „Die Zeit“ gestanden, einen Sohn, Rupert Dietrich, zu haben, „mein Mündel“, wie der Jesuit sagte. Pater Rupert Lay ist bis heute Mitglied des Jesuitenordens, er wohnt aber „wonders“, wie die Website des Ignatiushauses der Jesuiten in Frankfurt am Main lapidar mitteilt. Es ist also möglich, als Priester zu zeugen und trotzdem Priester und Mitglied einer Ordensgemeinschaft zu bleiben. Das ist doch eine erstaunliche Liberalität…Wie es auch viele Witwer, ehemalige Priester, gibt, die nun nach dem Tod der Gattin wieder als Priester arbeiten dürfen. Die Phase ihrer „sexuellen Verunreinigung durch den Verkehr mit Frauen und den Samenerguß”, ist ja nun wohl vorbei, um einmal die klassische Begrifflichkeit der Kirche zu zitieren, über die auch Hubert Wolf kritisch schreibt.
Inzwischen haben sich die französischen Bischöfe im Juni 2019 zum ersten Mal mit „Priesterkindern“ ganz offiziell getroffen. Deren Organisation hat etwa 70 Mitglieder, aber die Anzahl der Betroffenen liegt bei mindestens 1000. Die katholische Tageszeitung La Croix und France Culture berichteten darüber. In Deutschland hätte sich doch wenigstens die Nachfrage gelohnt, wie viele tausend Euros Alimente die Bistümer und Ordensgemeinschaften jährlich zahlten oder zahlen.
Ich hätte mir mehr empirische Belege gewünscht: Etwa zur Tatsache, dass, nach etlichen Berichten von Theologen in Lateinamerika, behauptet wird. Die (Welt)Priester seien de facto verheiratet. Prima, denke ich. Und die Gemeinden sind wohl glücklich! Über den Begriff und die tatsächliche Bedeutung der “Haushälterin” von Pfarrern wäre auch historisch – kritisch nachzudenken. In München wurde etwa in den siebziger Jahren ein bekannter “Stadtpfarrer”, der Jahre lang mit seiner Freundin im Pfarrhaus bekanntermaßen zusammenlebte (und nebenbei noch eine Haushälterin hatte), sogar noch mit dem Titel “Dekan” und “Geistlicher Rat” ausgezeichnet. Welche Anerkennung!

Noch einmal zum Buch selbst: Ich hätte mir mehr also tatsächlich empirische Belege gewünscht, auch für das seelische Leiden der zölibatären Priester, etwa im Rahmen einer Alkoholerkrankung, die etwa den Klerus in Polen heftig betrifft.
Ich hätte mir mehr Informationen gewünscht, wie durch die Krankheit AIDS viele hundert Priester in Europa und den USA gestorben sind. Die Zeitung „The Star“ in Kansas City hatte z.B. im Januar 2000 berichtet, dass „hunderte katholischer Priester in den USA in aller Stille“, so wörtlich, „an AIDS gestorben sind“. „Hohe Würdenträger der amerikanischen Katholiken bestritten die Ergebnisse nicht. Es zeige, dass Priester auch nur Menschen sind, deute allerdings auf schwere Versäumnisse bei der Sexualerziehung der Priester hin, hieß es“. Wenn Priester aber auch „nur Menschen sind“, warum verbietet man ihnen dann die Sexualität, und im Falle von AIDS, die selbstverständliche Verwendung von Kondomen. Wie viele Priestet könnten noch leben, hätten sie Kondome verwenden wollen und dürfen…

Selbst wenn in absehbarer Zeit das Zölibatsgesetz aufgehoben wird: Wie geht man dann mit den Priestern um, die nicht heiraten wollen, sich also nicht mit einer Frau verheiraten wollen? Einige wenige werden sicher als besonders begabte Zölibatäre gelten können. Aber die anderen: Sie werden, zumal die jüngeren Priester, als homosexuell gelten, was nach neuesten Schätzungen sicher zutrifft: Mehr als 50 Prozent des jüngeren Klerus sind homosexuell. Wird der Vatikan ihnen auch die Homo-Ehe erlauben? Das wäre ja großartig, ist aber eher ein Thema etwa fürs Jahr 2200.

Noch viel wichtiger ist das theologische Argument, ob man diese Gestalt der Priester, ob zölibatär oder nicht, überhaupt für eine christliche Gemeinde braucht. Priester bleiben immer in diesem Denken “Mittlerwesen” zwischen Gott und den Menschen. Sie sind die angeblich einzig kompetenten Mittler, die Brot und Wein auf “wunderbare Weise” in den Leib und das Blut Christi verwandeln. Das zeichnet sie aus, ob zölibatür oder nicht. Aber ist diese merkwürdige, vernünftig kaum noch vermittelbare Funktion des “Irdisches in Göttliches wandelnden Priesters” theologisch und biblisch notwendig? Nur wenn man in diesen Kategorien denkt, bleibt auch die Eucharistiefeier, wie ständig vom Klerus und seinen Dienern eingehämmert, “absoluter Mittelpunkt der Gemeinde”. Man macht die Eucharistiefeier absolut wichtig, um an der absoluten Bedeutung des Priesters festhalten zu können. Darüber sollte doch mal diskutiert werden!
Sollten nicht heute dringend anstelle der ewig gleichen Gestalt der Messe (überall die gleiche, z.T.langweilige Form in unverständlicher Floskel-Sprache des Mittelalters) neue Formen der religiösen Zusammenkunft, “Gottesdienst”, praktiziert werden: Gespräche ohne hierarchische Führung, Meditationen, Austausch, Musik, Tanz, Lektüre der Bibel und anderer humaner (religiöser) Texte… und eben auch manchmal das Teilen von Brot und Wein als Ausdruck dafür, dass Menschen vom Teilen wesentlich leben. Welch eine politische Deutlichkeit würde davon ausgehen. Diese Fixierung auf die absolute Bedeutung der “wandelnden” Eucharistie stärkt nur die Rolle des Priesters, ob zölibatär oder nicht. Diese Fixierung auf die herausragende Rolle des Priesters verhindert das wirkich gelebte allgemeine Priestertum aller Glaubenden und aller Menschen. Leiter der Gottesdienste können prinzipiell alle werden, eine gewisse theologische Kompetenz und psychologische Bildung vorausgesetzt. Da würde Kreativität wieder in die christlichen Gemeinden einziehen und viele würden sich angesprochen fühlen, weil es in diesen Feiern tatsächlich um ihr Leben geht und nicht um die Teilnahme, das Absolvieren, an einer fernen Floskelsprache, die entstanden ist, weil man wortwörtlich aus dem Lateinischen die Gebete und Sprüche in die jeweilige Landessprache übersetzt hat.

Früher hatte doch mal ein kluger Theologe den richtigen Satz formuliert: „Salus animarum suprema lex“, d.h. „Das Heil der Seelen, der Menschen, ist das oberste Gebot für die Kirche“.
Angesichts des fortbestehenden Zölibatsgesetzes wird dieses oberste Gesetz der Kirche von den Herrschern dieser Kirche absolut missachtet. Dies eine Schande zu nennen, sollte normal sein unter Theologen, die das Prädikat kritisch noch für sich gelten lassen. Mit anderen Worten: Wenn hoffentlich alsbald eine 2. Auflage des Buches des Priesters und Theologen Hubert Wolf erscheint, wünsche ich mir noch mehr kritische und angesichts des nun offenkundigen Zölibats-Gesetz-Unsinns (Wahns) noch mehr Deutlichkeit. Es gilt einen Wahn zu kritisieren, von einer Krankheit zu befreien…
Die Welt hat, nebenbei gesagt, ganz andere Probleme…

PS.
1. Man muss kein Eugen-Drewermann-Fan sein, aber erstaunlich ist: Hubert Wolf zitiert und bearbeitet nicht die große Drewermann Studie „Kleriker. Psychogramm eines Ideals“ (1989). Diese Nichtbeachtung Drewermanns ist ein Fehler meines Erachtens.
2. Viele Reaktionäre sagen: „Aber das Zölibatsgesetz wird doch freiwillig übernommen“. Dem Anschein nach stimmt das. Aber: Wer tatsächlich Priester werden will als wirkliche Berufung, MUSS das Gesetz übernehmen. Es gibt keinen anderen Weg. Dies ist eine Einschränkung des Menschenrechts der freien Berufswahl.

Hubert Wolf, „Zölibat. 16 Thesen“, 190 Seiten. C.H.Beck Verlag München. 2019. 14,95 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Volksreligionen kritisieren: Über David Hume anläßlich seines Todestages am 25.8.1776

David Hume und die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
David Hume, schreibt der Philosoph Friedo Ricken, „ist der heute in der angelsächsischen Philosophie wahrscheinlich einflussreichste Klassiker der Religionskritik“ (F. Ricken, Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, 2003, S. 233). In Deutschland, so mein Eindruck, hat der schottische Philosoph David Hume (7.5. 1711 – 25.8.1776) keine allgemeine Bekanntheit oder Würdigung in „breiteren Kreisen“ gefunden. Vielleicht findet er neue Aufmerksamkeit, weil wieder stärker die Arbeiten seines Freundes Adam Smith, Philosoph und Ökonom, beachtet werden. Bestenfalls kennt man heute Hume als Vertreter des „Empirismus“, der gegen die Metaphysik alles Erkennen auf den Bereich des sinnlich Erfahrbaren begrenzte; einmal abgesehen davon, dass Hume auch als Historiker sowie als Botschaftssekretär in Paris (1763 bis 1765) und Gast der dortigen Salons von Holbach und Diderot zu würdigen ist.
2.
Nebenbei: Gegen die Metaphysik zu rebellieren ist ein hervorstechendes Kennzeichen angelsächsischer Philosophen, Das Erleben der realen Macht der Kirche und ihrer Dogmenwelten war sicher ein dauernder Impuls für den empiristisch denkenden Philosophen David Hume. Kant hat sich mit der Erkenntnistheorie Humes kritisch auseinandergesetzt.
3.
Religionsphilosophisch besonders wichtig sind die beiden Werke „Dialoge über natürliche Religion“ (posthum, 1779) und „Die Naturgeschichte der Religion“ (1757). Die „Dialoge“ sind ein kontroverser theologischer Disput (nach dem Vorbild Ciceros „de natura Deorum“).
Wenn man „Die Naturgeschichte der Religion“ in den Mittelpunkt stellt, dann fällt auf, wie Hume die philosophische Deutung der Religion von der geschichtlichen Entwicklung religiöser Praxis abhängig macht. Weil die Menschen Furcht und Angst in einer bedrohlichen Welt hatten, entstanden Religionen, so meint er, und zwar zuerst in den Gestalten des Polytheismus. Der Monotheismus ist für Hume eine spätere Erscheinung. Auch Religionswissenschaftler haben sich mit dieser historisch wohl zutreffenden Deutung befasst.
Philosophisch bzw. sogar auch theologisch ist in dem Buch das Kapitel über „Aberglaube und Schwärmerei“ besonders interessant, das Buch enthält auch Kapitel über die „Unsterblichkeit der Seele“ und den „Selbstmord“.
3.
Einige Erkenntnisse aus dem Aufsatz „Aberglaube und Schwärmerei“ sind nach wie aktuell. Polytheismus ist für Hume vor allem Aberglaube. Bemerkenswert ist, dass Hume meint, auch diesen Glauben habe „der göttliche Werkmeister seinem Werk (also den Menschen) eingeprägt“. Denn, so meint er, eine „unsichtbare, intelligente Macht gibt es in der Welt“: Diese intelligente Macht ist also auch die Ursache für Aberglaube/Polytheismus, aber auch die Ursache für den Monotheismus. Und auch für den von Hume geschätzten, allein philosophisch erzeugten „Vernunftglauben“. Er nennt diesen auch „natürliche Religion“, die unabhängig von jeder Offenbarung gedacht werden kann.
Es gibt also für Hume einen volkstümlichen Theismus (Monotheismus) UND darüber hinaus einen wertvolleren, philosophisch reflektierten Theismus der Vernunftreligion. Diese Vernunftreligion sieht in den Ereignissen der Natur eben nicht göttliche Kräfte am Wirken; sie erklärt vielmehr alles ohne einen Wunderbegriff, also allein aus natürlichen Ursachen: Deswegen werden philosophisch reflektierte Anhänger der Vernunftreligion verachtet, und vom Volk und der Kirche als Ungläubige behandelt.
4.
Den populären, also unreflektierten Theismus hält Hume sogar für gefährlicher als den alten Polytheismus. Er nennt die Fehlformen des von absoluter Wahrheit besessenen Theismus: Intoleranz, Gewalt, Menschenopfer. Den Polytheismus deutet Hume dann doch vergleichsweise eher positiv: Er führe zu Mut und Freiheitsliebe. Ob das historisch gesehen korrekt ist, bleibt sehr die Frage. Auch heutige Philosophen wie Odo Marquard haben Lobeshymnen auf den Polytheismus angestimmt. Und rechte bzw. rechtsextreme Ideologen geben sich gern als Freunde des Polytheismus und Feinde des angeblich nur intoleranten Monotheismus aus, wie etwa Ideologen der Nouvelle Droite in Frankreich. Insofern wirken jedenfalls die ziemlich pauschalen Polytheismus-Thesen Humes bis heute weiter.
5.
Hume meint: Nur eine kleine Gruppe von Menschen wird sich jemals aus den Verirrungen der populären monotheistischen Religionen befreien können. Es ist die Philosophie als Skepsis, die die verirrten Menschen aus der heillosen Populärreligion befreien kann; etwa dann, wenn sich Menschen in ihrem religiösen Wahn gar nicht an Gott binden, sondern an Zwischenwesen, also Heilige, die sie als Schutzgottheiten (also dann doch wieder in polytheistischer Haltung) verehren.
Die Kritik der theistischen Volksreligion (auch und gerade innerhalb des Christentums und der Kirchen) ist sicher ein Thema, das im Zusammenhang von Hume weiter diskutiert werden sollte. Es sollte also der immer noch stark vorhandene populäre Glaube an Wunder diskutiert werden, also über die Meinung, Gott könne Naturgesetze für einzelne besonders Fromme wunderbar durchbrechen. Und als könnte „die Gottesmutter und Jungfrau Maria“ vom Himmel herabschweben und in zu Menschen sprechen, wie in Fatima oder Lourdes immer noch geglaubt wird.
6.
Und dann wäre zu erörtern, ob philosophisches Welt- und Selbstverstehen jemals ohne das eine und einzige vertretbare Wunder auskommen kann, das sich in dem Erstaunen äußert: „Dass überhaupt etwas ist und nicht nichts“. Dieses ist wohl das einzige Wunder, das Gültigkeit hat. Alle anderen so genannten Wunder sind bestimmte Formen des Volksglaubens, auf die aber viele Menschen einfach nicht verzichten können und wollen, weil sie meinen, in dem Volksglauben bzw. Aberglauben inneren Halt zu finden. Ob man diese die Betroffenen von dieser subjektiven Überzeugung des volkstümlichen Glaubens argumentativ befreien kann und dann auch befreien sollte, ist eine offene Frage. Wahrscheinlich haben sogar die kritischsten Anhänger eines Vernunftglaubens noch einen Restbestand an Volksglauben in sich, und sei es die Beschäftigung mit Astrologie oder Homöopathie usw.
7.
Was Vernunftglauben heute aktuell und neu formuliert bedeuten kann, ist eine aktuelle Herausforderung der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie. Den alten Vorwurf des „trockenen und abstrakten Begriffssystems“ wird der neue Vernunftglaube überwinden müssen. Der neue Vernunftglaube könnte angesichts des Niedergangs der konfessionellen Kirchen in Europa eine neue Ökumene religiöser und explizit christlicher Menschen erzeugen; dieser Vernunftglaube würde die auch sich stets weiter entwickelnden Menschenrechte in seinen „Grundbestand“ aufnehmen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Der Glaube muss vernünftig sein! Forderungen eines äthiopischen Philosophen am 17. Jahrhundert!

Ein Hinweis auf das wichtige Buch des äthiopischen Philosophen
Zär ´a Yaqob (1599 – 1693).
Von Christian Modehn

1.

Den Versuch, den Glauben unter den Bedingungen des Christentums und der Kirchen vernünftig zu begründen und sich persönlich an diesen vernünftigen Glauben auch zu binden, hat es schon im 17. Jahrhundert gegeben. Nicht etwa nur in Frankreich oder in England, wo die rationalistische Theologie eine gewisse Rolle spielte. Sondern, ein Europäer glaubt es kaum, in Äthiopien: Zär´a Yacob heißt der Autor seiner „Untersuchung“. Dieser Text liegt auf Deutsch vor, er sollte viel mehr beachtet werden, nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen, sondern durchaus auch, weil er ein aktueller spiritueller Impuls ist. Erschienen ist der Text in der Edition Victoria, Wien.
Der Leser ist überrascht, wie modern die Erkenntnisse des äthiopischen Gelehrten sind. Er bietet Elemente der Reflexion für einen Glauben an die göttliche Wirklichkeit, einen Glauben, der ganz elementar ist, möchte man sagen, also ganz einfach, nachvollziehbar ohne Hinweise auf mysteriöse Ereignisse, Wunder, Heiligengestalten usw. Der Autor zeigt, dass die menschliche Beziehung zu Gott eher ein Wissen als ein Glauben im Sinne eines bloßen eher willkürlichen „Für-Wahr-Haltens.

2.

Zär´a Yacob war gründlich ausgebildet in den christlichen Traditionen, vor allem der koptischen Tradition, er kennt die Bibel, vor allem die Psalmen des Alten Testaments. Er zitiert auch Texte des Neuen Testaments, etwa aus dem Johannes-Evangelium. Er lebte zu einer Zeit, als in Äthiopien nicht nur die koptische Kirche stark war und dort Juden und Muslime lebten, sondern auch Katholiken ihre Mission, z.T. erfolgreich im Königshaus betrieben, bis hin zur Etablierung des Katholizismus („Frang“ in Äthiopien damals genannt) als Staatsreligion! In jedem Fall gab es viel Streit vor allem zwischen Kopten und Katholiken. Was ist die Wahrheit des Christentums?
In dieser Situation formuliert Zär´a Yacob seine Vorschläge, die auch dem Frieden in der Gesellschaft dienen sollten. Ihm geht es um eine universelle Wahrheit, die über den Konfessionen steht.

Aber der alles entscheidende Mittelpunkt seiner vernünftigen Theologie oder treffender Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist die Erfahrung der Welt als Schöpfung Gottes. Dies ist die alles entscheidende Basis seines Denkens und seines Lebens. Und zu der Erkenntnis gelangt Zär´a Yacob durch die alte metaphysische Überlegung, dass alles Gegebene dieser Welt endlich ist, also irgendwie gemacht sein muss von einem „Schöpfer“, der selbst nicht seinerseits auch noch geschaffen ist, sondern eben ewig und ungeschaffen.
Die einzige Frage ist: Sind wir bereit, diese Welt als Schöpfung Gottes, um bei dem Symbol-Begriff zu bleiben, zu verstehen? Alle weiteren theologischen Überlegungen ergeben sich dann von selbst. Es sind Überlegungen der Vernunft, die keine weiteren Wunder braucht als eben die Annahme des einen Wunder, dass „es diese Welt gibt“. Es ist die Vernunft des Menschen (als göttliche Schöpfungsgabe), die entscheidet, was vernünftig ist und menschlich. Dogmen werden so selbstverständlich zweitrangig, wenn nicht überflüssig. Auch die üblichen kirchlichen Gebräuche, wie das Leben im Kloster mit dem Verzicht auf gelebte Sexualität oder die rigiden Fastengebote auch im Islam, werden in Sicht Zär´a Yacobs überflüssig und unvernünftig. Er stellt die provozierende und durchaus mutige Frage: „Ist alles wahr, was in der Heiligen Schrift geschrieben steht“? Und seine Antwort ist: Natürlich ist nicht alles wahr, weil es unvernünftig ist! „Wenn wir mit dem vernünftigen Licht unseres Herzens richtig umgehen, kann es uns nicht in die Irre führen“, schreibt Zär´a Yacob. Und dann folgt der entscheidende Satz: „Denn die Bestimmung dieses Lichts, der Vernunft, die uns unser Schöpfer gab, ist die: uns zu erretten und nicht uns zu verderben. Alles, was das Licht unserer Vernunft uns zeigt, stammt aus der Quelle der Wahrheit“. Das heißt: Die von Gott gegebene Vernunft im Menschen ist selbst rettend, hat also eine erlösende Bedeutung. „Unsere Seele besitzt die Fähigkeit, sich einen Begriff von Gott zu machen und ihn geistig zu erfassen“ (S. 29). Auch die Grundlagen der Ethik sind vernünftig erkennbar, etwa die „Goldene Regel“, die Zär´a Yacob ausdrücklich als Vorbild erwähnt (S. 31).

3.

Darum wundert man sich nicht, wenn von der besonderen Erlösergestalt Jesus von Nazareth in dem kleinen Text keine Rede ist . Zär´a Yacob denkt förmlich dialektisch: Der Mensch erlöst sich selbst kraft seiner Vernunft. Aber es ist die göttliche Gabe Vernunft, die da erlösend tätig ist. Insofern ist also auch Gott der letzte Grund der Erlösung durch die Vernunft und vernünftiges Handeln. Für die Hüter der wahren, weil alten Lehre sind diese Einsichten natürlich ein Skandal, wird doch die alte klerikale Ordnung erschüttert. Aber die Vernunft muss sich von Ketzerei-Vorwürfen nicht verwirren lassen. Was meint Zär´a Yacob? Zu Beginn der Kirchengeschichte waren die reinen Lehren des Evangeliums „nicht schlecht“, meint der Autor. Es war die Botschaft der Liebe und Barmherzigkeit. Aber mit den machtvollen Konfessionen wurde dann „die vom Evangelium empfohlene Nächstenliebe beiseite geschoben und durch Hass, Gewalt ersetzt. Meine Landsleute haben ihren Glauben bis hinein in seine Grundlagen zerfetzt, sie lehren Eitelkeiten, sie tun Böses, und sie werden fälschlicherweise Christen genannt“ (S. 27)

Angesichts dieser Situation totaler christlicher Verlogenheit rettet nur die Vernunft Religion, meint Zär´a Yacob.

4.

Bezeichnenderweise konnte er diese Gedanken nur in der Einsamkeit, im Rückzug vor den bedrohlich konfessionalistischen Menschen in einer Höhle, entwickeln! Nur weniges, was er dort meditativ erkannte, schrieb er auch auf. Leider! Denn er sah sich bedroht und musste seine Erkenntnisse in der Öffentlichkeit verbergen und verleugnen. Aus dem einfachen Grunde, um nicht als Ketzer ausgelöscht zu werden. Man denke, in einer Parallele, etwa an Abbé Meslier (1664 – 1729) in Frankreich, der als katholischer Priester weiterhin die Messe las und predigte, obwohl er in seiner eigenen Theologie längst zum Atheisten geworden war. Siehe dazu meinen Aufsatz. Wie viele große Denker gab es und gibt es, die es nicht wagen, zu ihrer eigenen Erkenntnis und Konfession öffentlich zu stehen?
Zär´a Yacob hat diesen jetzt vorliegenden Text nur auf Bitten seines Schülers Waldä Heywat geschrieben! Auch von ihm ist in dem Buch ein weiterführender Text veröffentlicht, der allerdings meiner Meinung nach nicht die Radikalität seines Lehrers erreicht.

5.

Das Buch aus der „edition Victoria“ ist 2008 in Wien erschienen und noch immer, Gott sei Dank, im Buchhandel zu haben. Es wurde von Victoria Frysak und Bekele Gutema herausgegeben und hervorragend betreut, auch in der Übersetzung und den erklärenden Kommentaren.
„Zär ´a Yaqob. Eine äthiopische Weltanschauung“ ist der Titel des Buches. Es hat 134 Seiten und kostet 16,50 Euro!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Leszek Kolakowski: Vor 10 Jahren gestorben und lebendig

Ein Hinweis von Christian Modehn auf den „König von Mitteleuropa

„Die kulturelle Funktion der Philosophie besteht nicht darin, die Wahrheit zu verkünden, sondern den ‚Geist der Wahrheit’ herauszuarbeiten. Und das heißt: niemals die Wissbegierde des Verstandes einschlafen zu lassen. Niemals aufzuhören, das zu hinterfragen, was selbstverständlich und endgültig erscheint…“

Was für ein Satz eines Philosophen, der sich der großen Tradition humanistischer und skeptischer Philosophie anschließt: Eine Erkenntnis des polnischen Philosophen Leszek Kolakwoski, an den zu denken und mit ihm zu denken es jetzt allen Anlass gibt: Vor 10 Jahren, am 17. Juli 2009, ist der polnische Philosoph gestorben. Geboren wurde er am 23. 10. 1927 in Radom, einer Industriestadt bei Warschau. Er war als junger Mann in die Kommunistische Partei eingetreten, weil er dort hoffte, nach dem Grauen des 2. Weltkrieges und dem Wahn des Nationalismus (Nationalsozialismus) universale Werte der Menschheit gestalten zu können. Ein Irrglaube, von dem er sich auch als Professor für Philosophie kontinuierlich befreite. Ein Schlüsselerlebnis war die Freilegung der Verbrechen und Massenmorde von Stalin. In der umfangreichen Studie „Hauptströmungen des Marxismus“ wirft er dem ihm bekannten Marxismus “Selbstvergötterung des Menschen“ vor.
Biographische Details lassen sich leicht im Internet finden.

Inspirierend bleiben Kolakowskis Bücher bis heute. Um nur das einleitende Zitat aus dem Buch „Narr und Priester, Ein philosophisches Lesebuch“ fortzusetzen: „Die kulturelle Funktion der Philosophie besteht darin, immer wieder zu vermuten, dass es auch die ‚Kehrseite’ dessen geben könnte, was wir als sicher annehmen, und niemals zu vergessen, dass es Fragen gibt, die jenseits
des legitimen Horizonts der Wissenschaft liegen und dennoch für das Überleben der Menschheit, wie wir sie kennen, bedeutend sind.
“ (Kolakowski, „Ende der Utopie aufs Neue erwogen“, in: ders: Narr und Priester. Ein philosophisches Lesebuch, hrsg. von Gesine Schwan, Frankfurt/M. 1995, S. 236 – 259).
Da spricht Kolakowski von seiner zentralen, für manche unbequemen Einsicht: Es gibt lebenswichtige Fragen jenseits der Wissenschaften, es gibt also unabweisbare, immer existentiell wichtige und bleibende Fragen nach der Transzendenz, dem Mythos, der Religionen. Es gibt für Kolakowski unbedingte geistige Wirklichkeiten wie Wahrheit, Wert, Sein… Mit dem Thema befasste sich Kolakowski in seinem Exil in Kanada und England ständig; unbequem war er, manche nannten ihn etikettierend „konservativ“. Bewahren wollte er eine moderne Form der Transzendenz, ist das konservativ? Auch hat er leicht nachvollziehbare Einführungen ins Denken „großer“ Philosophen der Vergangenheit verfasst.
Nicht zu vergessen: Jürgen Habermas schätzte Kolakowski sehr und wollte ihn gern 1970 als Nachfolger von Adorno auf dem Lehrstuhl in Frankfurt am Main sehen; was die „Fachschaft“ ablehnte.
In einem seiner letzten Interviews erinnerte Kolakowski daran, dass sich die heutige Welt der Grenzen des eigenen Wohlstandes bewusst sein sollte. Es komme sogar darauf an, die eigenen so selbstverständlichen Wünsche um des Überlebens der Menschheit zurückzustellen. Man könnte das auch VERZICHTEN nennen. Aber das werde nur gelingen, wenn die Menschen ein religiöses Bewusstsein pflegen bzw. neu entdecken.
Sonst werde alles, so Kolakowski, „in furchtbarer Frustration und Aggression enden, was katastrophische Ausmaße annehmen könnte. Der Grad von Frustration und Aggression hängt dabei nicht vom Grad einer absoluten Befriedigung ab, sondern von der Lücke, die zwischen den Wünschen und ihrer wirkungsvollen Befriedigung klafft. Die religiöse Tradition hat uns Beschränkung gelehrt. Alle großen religiösen Traditionen haben uns über Jahrhunderte gelehrt, uns nicht an eine Dimension allein zu binden – die Akkumulation von Reichtum und die ausschließliche Beschäftigung mit unserem gegenwärtigen materiellen Leben. Sollten wir die Fähigkeit verlieren, diese Distanz zwischen unseren Wünschen und Bedürfnissen aufrechtzuerhalten, wäre das eine kulturelle Katastrophe. Das Überleben unseres religiösen Erbes ist die Bedingung für das Überleben der Zivilisation“. Das Interview mit Nathan Gardels hatte den Titel „Ich rechne nicht mit dem Tod Gottes“ (https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article4455514/Ich-rechne-nicht-mit-dem-Tod-Gottes.html)
Kolakowski war ein vielseitiger Autor, auch begabt im Erzählen und Erfinden phantastischer Zusammenhänge, man denke an sein Buch „Gespräche mit dem Teufel“. Er hat sich auch vielfach mit theologischen Fragen befasst, etwa, so ein Beitrag von Christian Modehn, mit der Bedeutung bzw. Nicht-Bedeutung der Philosophie für die Reformatoren Luther und Calvin. Oder eben mit kurzen Einführungen wie „Mini-Traktate über Maxi-Themen“, Reclam Verlag, Leipzig 2000, Taschenbuch, 108 Seiten. Philosophisch inspirierend sind die Beiträge, die in dem Buch “Geist und Ungeist christlicher Traditionen” (1971) zusammengestellt sind. Darin auch der Beitrag “Der philosophische Sinn der Reformation” sowie sehr lesenswert: “Erasmus und sein Gott”.
Der Leichnam Leszek Kolakowskis wurde mit einem Flugzeug der polnischen Luftwaffe nach Warschau transportiert, von Polens Außenminister Sikorski am Flughafen mit militärischen Ehren in Empfang genommen und auf dem Powszki-Friedhof in einem Staatsbegräbnis beigesetzt. „Polen in Trauer“ titelte die Tageszeitung „Gazeta Wyborczka“ ihren Nachruf und krönte Kołakowski posthum zum „König von Mitteleuropa“.
Copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin