Kardinal Sarah: Über den Liebling von EX-Papst Benedikt

Hinweise von Christian Modehn am 14.1. 2020 und ergänzt 13.9.2025:.

Ein weiterer aktueller Hinweis, am 13.9.2025: Der reaktionäre Kurien – Kardinal Sarah, er wurde von Leo XIV. (!) im Juli 2025 als päpstlicher Delegat zu Feierlichkeiten zu Ehren der heiligen Anna in die Bretagne gesandt, läßt nicht locker: Jetzt will er das Dokument verbieten lassen, das homosexuellen Katholiken die Segnung (nicht etwa die Eheschließung!) erlaubt, dieser Kardinal behauptet: Es gefährde die Einheit der katholischen Kirche. Damit befeuert dieser greise reaktionäre Kurien – Kardinal aus Guinea nur die bleibende Verfolgung Homoseuxller in Afrika… Dabei gibt es diese beschworene Kirchen-Einheit im Katholizismus de facto längst nicht mehr, sie wird nur noch behauptet und “geglaubt” oder als Argument reaktionärer Kreise gegen Kirchenreformen eingesetzt.

Zur Stellungnahme des Kardinals Sarah: LINK . Die eher degradierende “Segnung” Homosexueller wurde von Papst Franziskus großzügigerweise erlaubt. Meines Wissens interessieren sich nur sehr sehr sehr wenige homosexuelle Katholiken für diese gnädig gewährte “Segnung”… Sie kommt schätzungsweise 100 Jahre zu spät, wie üblich bei Kirchen”reformen” der katholischen Kirche…

Ein aktuelles Vorwort 14.1.200.
Er ist letztlich der Autor der allerneuesten Polemik gegen die Abschaffung des Zölibats jetzt im Januar 2020: Kurienkardinal Robert Sarah (Guinea). Und er schreibt oft umfangreiche Pamphlete gegen die Reform der römischen Kirche. Er hat ein reaktionäres Netzwerk um sich gesammelt, bei Ex Papst Benedikt geht er ein und aus. Mit ihm will er die römische Kirche offenbar endgültig ins “Abseits” und Ende führen. Also ins Sektendasein der Anti-Moderne. Seine Freunde sind u.a. auch Kardinal Müller oder Frau von Thurn und Taxis…Es lohnt sich, an Sarahs Ausführungen auf der römischen Bischofssynode zu erinnern (2015), um das ganze Ausmaß der Ideologie von Kardinal Sarah zu erfassen (siehe weiter unten).
Und es lohnt sich zu wissen, dass der Privatsekretär und Vertraute von EX Papst Benedikt, also Erzbischof Gänswein, auch ein sehr guter Freund von Kardinal Sarah ist. Gänswein hat 2015 ein enthusiastisches Vorwort zu dem Sarah Buch “Gott oder Nichts” geschrieben: Darin heißt es u.a.: “Es ist die Radikalität des Evangeliums, die dieses Buch inspiriert, die Radikalität, die schon viele Glaubenszeugen bewegt und angetrieben hat, die Radikalität einer unausweichlichen Entscheidung, vor der letzlich jeder einzelne Mensch steht…” Erschienen ist das Sarah Buch im Fe Medien Verlag in Kisslegg, einem Verlag, der eine Art Sammelbecken konservativer und reaktionärer Theologen ist: Dort hat Erzbischof Gänswein übrigens auch kürzlich ein eigenes Buch publiziert.
Durch die reaktionären Seilschaften im Vatikan und weltweit ist die römische Kirche längst gespalten. Warum haben Theologen Angst, diese Tatsache akzeptieren und auf dieser Basis weiterzudenken?

Ein Hinweis von Christian Modehn über den Kurienkardinal SARAH: Veröffentlicht 2015.

„Die Gender-Ideologie und der islamische Staat teilen beide denselben dämonischen Ursprung. Was der Nazismus und der Kommunismus im 20. Jahrhundert waren, das ist heute die westliche Homosexualität, die Abtreibungs-Ideologie und der islamische (!) Fanatismus“.

Diese “freundlichen” Worte  sagte dieser Tage (2015), offenbar ohne lautstarken offiziellen Protest, einer der führenden Kardinäle des päpstlichen Hofes, also der Curia, der aus Guinea stammende Kardinal Robert Sarah.

Was es mit diesen nicht sehr hübschen Worten eines der engsten Mitarbeiter des Papstes auf sich hat, erklärt der folgende Beitrag, der sich der Aufklärung und der Religionskritik verpflichtet weiß. Und sich wundert, wie eigentlich angesichts solcher Gestalten wie Kardinal Sarah und Benedikt XVI., heute noch einige Unentwegte an eine Reformation der römischen Klerus-Kirche glauben können…

In der Tageszeitung LE MONDE, Paris, informiert Cécile Chambraud am 17. Oktober 2015, Seite 6, über Details der Welt-Bischofssynode in Rom. Da diskutieren ja bekanntlich im Oktober ca. 260 katholische Bischöfe über das „weite Feld“ der Familien, auch über Sexualität, auch über Homosexualität.

Die afrikanischen katholischen Bischöfe zeigen sich auf der Römischen Bischofssynode als leidenschaftliche und polemische Verteidiger der alten Moral- (Un)- Ordnung. Ihr gemeinsames Motto: „Es darf keinen Wandel, keine Erneuerung der katholischen Ethik zur Ehescheidung oder zur Homosexualität geben“. Die Bischöfe Afrikas wollen den ethisch-konservativen Status quo aus dem 19. bzw. 20. Jahrhundert erhalten, wollen unbedingt das bewahrt sehen, was ihnen die europäischen Missionare einst eingeschärft hatten. Sie sind also nach wie vor die kaum selbst-denkenden, treuen Schüler der Missionare von damals, vom 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts.

Wie schon in der Anglikanischen Welt-Kirche wollen auch in der Römischen Kirche die Bischöfe Afrikas die Bewahrer der uralten moralischen Normen sein. Bei den Anglikanern droht eine Kirchenspaltung, weil sich die modernen Anglikaner in Europa und in den USA ihren eigenen Glauben von den, sagen wir es salopp, “Alt-Gläubigen” Afrikanern nicht nehmen lassen. Und was ist schon schlimm, wenn die “Alt-Gläubigen” ihre eigene Kirche aufmachen? Schlimm ist dies in gewisser Weise für sie nur dann, wenn nicht mehr die westlichen Gelder für die „Afrika-Mission“ und die wahrscheinlich nicht so furchtbar bescheidenen Wohnungen, Residenzen, der Bischöfe fließen… Aber zur Spaltung institutioneller Art wird es im Katholizismus wohl nicht kommen. Denn da denken selbst die allermeisten Bischöfe Europas doch nicht so modern, wie die Afrikaner von diesen behaupten. Eine ganz andere, reale Kirchenspaltung besteht im Katholizismus ja ohnehin schon, zwischen der modernen Basis (incl. einiger Ordensleute) und der Hierarchie…Aber das ist ein anderes Thema im Zeichen des Gedenkens “500 Jahre Reformation 2017”.

Wichtig ist die Erkenntnis, die den afrikanischen Bischöfen nicht so vertraut ist: Die Ehe, die heute als die katholische Ehe hingestellt und verteidigt wird, ist die in der Forschung so genannte “Liebes-Ehe”. Sie hat sich erst im 19. Jahrhundert entwickelt, als bürgerliche „Anstalt“ zur Pflege der Lust, der Zeugung von Nachkommenschaft und des Erhalts der guten Sitten im Obrigkeitsstaat (Mätressen neben der Ehefrau durften sich bekanntlich nur die sehr katholischen Könige, etwa in Frankreich, ohne jeglichen kirchlichen Einspruch „halten“, wahrscheinlich auch die Erzbischöfe etc. damals und heute). Also: Welcher Theologe kann diese Ehe des 19. Jahrhunderts noch im Ernst als DIE katholische Ehe verteidigen?

Wie auch immer: Wenn die Argumente ausgehen, pflegen die Konservativen, auch die entsprechenden Herren der römischen Kirche, eben üblicherweise die Polemik, neuerdings blinden Hass, als Zeichen einer hochgradigen geistigen Verwirrtheit und Stgnation. Einer der einflußreichsten Kardinäle am päpstlichen Hofe, der Kurie, ist Robert Sarah, er stammt aus Guinea aus einer „heidnischen Familie“, also aus einer Familie, die den Naturreligionen folgte, wie er selbst sagt. Und Sarah ist, man glaubt es kaum, zuständig für alle, aber auch alle Fragen der Gottesdienstgestaltung in der weltweiten römischen Kirche.

Dieser Herr sagt also, ich zitiere noch einmal aus dem genannten Beitrag in „Le Monde“: „Die Gender-Ideologie und der islamische Staat teilen beide den selben dämonischen Ursprung. Was der Nazismus und der Kommunismus im 20. Jahrhundert waren, das ist heute die westliche Homosexualität, die Abtreibungs-Ideologie und der islamische (!) Fanatismus“. Dabei brandmarkte Kardinal Sarah, berichtet „Le Monde“ wörtlich zitierend, „die zwei apokalyptischen wilden Tiere (also aus dem Neuen Testament, Buch der Apokalypse des Johannes), das erste Tier ist die Vergötzung der menschlichen Freiheit; das andere Tier ist der islamische Fundamentalismus“. Und weiter: „Alle Öffnung der Ehemoral ist irregulär“! Damit will der Kurienkardinal sagen: Ist der etwas aufgeschlossene Papst Franziskus vielleicht selbst ein Ketzer? Kann man menschliche Freiheit vergöttern? Diese Frage hat man schon Immanuel Kant gestellt, und er entschieden und begründet Nein gesagt. Die Freiheit selbst ist ein Gottesgeschenk. Das hat sich in Rom noch nicht so herumgesprochen.

Jedenfalls hat der offenbar etwas sehr verwirrte Kardinal Sarah jetzt noch einen Beitrag in einem Sammelband afrikanischer Bischöfe schreiben können: „L Afrique nouvelle, patrie du Christ“, also „Afrika, das neue Vaterland, die neue Heimat, Christi“. Darauf läuft die Haltung Sarahs und der anderen afrikanischen Bischöfe hinaus. Sie fühlen sich als Retter der Kirche, als die Bewahrer der reinen Lehre, nur in Afrika wird Christus weiterleben. Es ist nicht ohne Ironie, dass die vor kurzem von Europa Missionierten sich nun als die besseren Katholiken aufspielen, sich also ihrerseits machtvoll-intolerant, also kolonialistisch verhalten. Wird eigentlich schon darüber diskutiert, dass man Herren die Geldspenden für ihre Bistümer, in Milliarden Euros seit Jahren, einfach mal ein bißchen sperrt? Und wissen die europäischen Missionsfreunde eigentlich, welchen Bischöfen sie da in Afrika ihre Spenden überlassen? Und gibt es denn keinen einzigen afrikanischen Bischof, der noch den Mut hat, in aller Öffentlichkeit NEIN zu sagen zu diesem Wahn der Konservativen? Warum wird das von kirchlicher offizieller Pressearbeit verschwiegen. Es muss doch auch einen Bischof Jacques Gaillot in Afrika geben?

Papst Franziskus kann es sich mit der afrikanischen Kirche nicht verderben: Denn die Katholische Kirche in Afrika wächst zahlenmäßig äußerst schnell, kein Wunder, nebenbei, wenn die „Pille“ erstens verboten und zweitens unerschwinglich teuer ist für katholische Ehepaare irgendwo im Busch…Es sind die Afrikaner, die die römische Kirche statistisch stärker machen als den Islam, ein für religiöse Machtpolitker wichtiger Gedanke.

Aber Franziskus will wohl auch aus seiner Sicht Afrikas Bischöfe nicht kritisieren, hat er doch die Sprache der afrikanischen Bischöfe selbst schon übernommen, als er etwa im Januar 2015 auf den Philippinen sagte: „Es gibt einen ideologischen Kolonialismus, der versucht die Familie (also das uralte Familienbild) zu zerstören“, so Le Monde, siehe oben.

Kardinal Sarah jedenfalls hat vor kurzem ein voluminöses Buch veröffentlicht mit Titel, der gut seine absolute Anti-Haltung ausdrückt: „Gott oder Nichts“, erschienen im (kleinen, sehr konservativen) „Fe-Verlag“ in Kißlegg 2015. Das Vorwort schrieb der explizite Sarah Freund Erzbischof Georg Gänswein; einen zustimmenden Brief zum Buch hat Papst emeritus Benedikt XVI. verfasst. Der ja eigentlich sehr gebildete Papst hat, so wörtlich, das Buch von Sarah “mit großem geistigen Gewinn“ gelesen. Von den knapp 400 Seiten handeln ca. 250 von Sarahs Leben in Afrika. Spannend und theologisch wichtig sind erst die letzten Seiten, etwa wenn der römische Chef aller katholischen Gottesdienste, eben Kardinal Sarah, eine durchaus fundamentalistische Haltung vertritt, die man auch aus dem Mund etlicher Islamisten gehört hat. Sara sagt auf Seite 389: „Für einen Christen muss der Glaube die Form, die Gussformform sein GESAMTES privates und ÖFFENTLICHES, persönliches und soziales Leben werden“. Also: Aus dem Glauben sollte unmittelbar der Staat regiert werden? Ist das mit „Gussform“ gemeint?

Sein eigenes theologisches Denken in Bezug auf den Gottesdienst deutet Sarah mit seiner expliziten Vorliebe für die alte lateinische Messe an (Seite 386 f.). Er betont: „Dass wir in der Messfeier nach dem alten Messbuch (also aus dem 16. Jahrhundert) besser verstehen, dass die Messe ein Akt Christi und nicht der Menschen ist“. In der Messe feiert sich also Christus selbst… verstehe es, wer kann.

Ihn verbindet, so betont Sarah, mit Papst Franziskus, die Einschätzung der Gefährlichkeit des Teufels (Seite 383). Tatsächlich spricht ja Papst Franziskus in seinen Predigten in Santa Martha dauernd vom Teufel…

Und eine neue Ökumene deutet Kardinal Sarah an, ausgerechnet mit den Muslimen, mit denen er „eigentlich keinen theologischen Dialog sieht“ (192), hingegen froh ist, dass „die verschiedenen Autoritäten des Islam wie die Kirche mit Nachdruck die neue Genderideologie ablehnen“. Man würde sich fast wünschen, dass entsprechend denkende Imame auch auf der Bischofssynode in Rom jetzt die afrikanischen Bischöfe in ihrem Endkampf gegen alles europäisch-Böse unterstützen. Und im Vatikan das Gesamt-Afrikanische, Muslimische – Katholische – vielleicht auch Pfingstlerisch-Fundamentalistische NEIN zur Gender—„Ideologie“ und vor allem ihren Hass auf Homosexuelle aussprechen.

Die Auslassungen des Herrn Sarah, eines der wichtigsten Männer im Vatikan, der sogar schon als “papabile” bezeichnet wird, zeigen, wie tief eigentlich das Niveau im Vatikan gesunken ist. Das sagen wir mit Bedauern, weil es 1. heute dringendere Themen gäbe als diese Familien- und Sex-Themen und 2. weil die katholische Kirche als “Welt-Kirche” tatsächlich mit mehr Geist und Selbstkritik entschieden und gestaltend diese verrückte Welt etwas heilen könnte, natürlich immer im Sinne Jesu, also im Sinne der Humanität, der Güte, der Toleranz. Die Auslassungen von Herrn Sarah und so vieler anderer Bischöfe aus Afrika sind eine Katastrophe für die humane und freie Entwicklung  dieser Welt insgesamt.

Copyright: Christian Modehn,  Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Was ist denn neu? Über das Schöpferische

Ein religionsphilosophischer Salon am 9.1.2020
Hinweise von Christian Modehn

Das 1. Motto: Die Frage nach dem Neuen ist eine Frage nach dem Schöpferischen. Das Neue als das neu und schöpferisch Gestaltete, entsteht inmitten der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden. Im Wirklichen werden Möglichkeiten entdeckt, die es in der Form und in dem Inhalt noch nicht gegeben hat. Der Philosoph BERGSON sagt: “Das Wirkliche schafft das Mögliche. Und nicht das Mögliche (als bloß Gedachtes) das Wirkliche”.

Das 2. Motto: Wenn das Neue als Neues gestaltet, “gemacht” wird, dann gilt: “Gelingen ist nun einmal nicht zu machen” (sagt der Philosoph Martin Seel). Mit anderen Worten: Gelingen ist eine Gabe. im Wirklichen etwas möglich machen ist auf das Gelingen angewiesen.

1.
Wer sich auf das Neue besinnt, wird zuerst vom Denken und von der Phantasie geführt; dort zeigen sich neue Ideen und neue Gedanken. Das sind nicht immer „ganz große, ganz wichtige Gedanken“: Schon das alltägliche Tun ist stets geprägt als Wirkung von einfachen, aber neuen Gedanken, auch wenn vielfach Routine dabei ist. Aber jede routinemäßige Tat ist notwendigerweise neu, weil zu einer anderen Zeit stattfindend, unter anderen Kontexten und Stimmungen etc., anders als die frühere Tat der Routine.
2.
Der neue Gedanke und die neue Idee streben danach, in der Wirklichkeit, „außen“, in der Welt, gestaltet zu werden. Oder in der Gestaltung der eigenen Person, etwa im Sport usw., „plastisch“ zu werden. Das heißt: Jegliche Tat und jegliches Handeln sind insofern neu.
3.
Dieses Neues Denken und dieses Neue setzen, schaffen, realisieren, ist eine schöpferische Tat. Insofern ist dies dann auch eine Schöpfung, weil immer mein Fühlen und Denken beim Realisieren aktiv sind.
4.
Aber man sollte unterscheiden: Zwischen Schöpfung im „eigentlichen“ Sinn und einer Schöpfung im uneigentlichen Sinn.
5.
In der vom einzelnen Handelnden „unbedachten Schöpfung“ tut man nur etwas, ohne den Gesamtzusammenhang des Tuns mit zu bedenken. Zum Beispiel: Man schichtet Steine aufeinander, um etwas zu bauen. Man folgt dabei nur einem üblichen Geschmack oder einer allgemeinen ökonomischen oder statischen Notwendigkeit. Weiterführende Gedanken werden dann meist nicht entwickelt: Was ist eigentlich Schönheit? Oder: Man baut einen Stall für die Tierzucht, denkt dabei nur an den Profit mit der Konsequenz der Massentierhaltung. Worauf läuft diese Kritik an den „unbedacht Schöpferischen“ hinaus: Eigentlich sollten alle, die handeln, also Neues setzen und schaffen, den „Gesamtzusammenhang“ des Lebendigen bedenken und berücksichtigen.
6.
Diesen begrenzten Horizont meine ich, wenn ich von einem naturgemäß begrenzten technischen Tun spreche. Und dieses Tun kann man Machen nennen oder Erfindung: als eine neue Zusammenfügung alter vorhandener Elemente. Sicher ist die Leistung der Naturwissenschaftler, die Entdeckung der Naturgesetze, ein schöpferisches Tun. Einige Erfinder waren Philosophen. Etwa Albert Einstein: Er war Physiker und als Physiker, der etwa nach dem Ursprung, der „Schöpfung“ fragte, ins Philosophische Fragen gekommen.

Andererseits gibt es in der Technik viel Routine: Ein neuer Auto-Typ wird aus alten Elementen erfunden. Aber der Erfinder fragt meist nicht: Woher kommt das alles, was ich da schaffe. Warum kann ich überhaupt –geistig – etwas schaffen? Ist meine Erfindung moralisch gut oder dient sie nur meinem Profit? Man denke an die Erfinder neuer Waffensysteme.
Martin Heidegger hat die nun einmal begrenzte Welt des Technischen ohne Vorwurf, nur als Beschreiung eines Faktums, mit dem viel zitierten Satz benannt: „Die (Natur)-Wissenschaft denkt nicht“. Wobei Heidegger bekanntlich unter Denken sehr emphatisch das Seins-Denken verstand, also das Innewerden des „Gründenden“ von allem Seienden, also Gegenständlichen…Heidegger hat wohl übersehen, dass die Leistung der Naturwissenschaftler, die Entdeckung der Naturgesetze, ein schöpferisches Tun ist..
7.
Damit wird das Thema „eigentliches schöpferisches Handeln“ angesprochen: Bei dieser Handlung weiß der Handelnde, also der Neues Setzende, dass er auf Materialien zurückgreift, die ihm schon vor – gegeben sind. Letztlich weiß er, dass alles Vorfindliche in dieser Welt etwas Gegebenes ist: Es ist eine Gabe. Aber eine Gabe von wem? Damit führt das schöpferische „eigentliche“ Handeln zur Frage und zur Erfahrung des schon Geschaffenen, der schon immer vorliegenden Gabe, etwa der Welt im ganzen. Und der Handelnde erfährt sich selbst auch als gegebenen, als einen Gesetzten, als eine Gabe. Ein solcher Mensch weiß, dass er nicht nur aus sich heraus handelt. Autonomie ist eine gegebene, geschaffene Möglichkeit, innerhalb dieser gegebenen Möglichkeit können wir Autonomie schaffen.
8.
Ich will jetzt die Frage, wer oder was denn der Gebende und alles Schaffende ist, hier nicht weiter vertiefen. Man käme dann in eine Philosophie der Schöpfung. Ich will nur betonen: Der eigentlich Handelnde Mensch, der also Neues denkt und Neues setzt, weiß sich selbst in seinem Tun als Gabe, als „Geschenk“. Er weiß, dass ihm das Entscheidende, der schöpferische „Moment“ zufällt oder einfällt. Diese Erfahrung machen etwa Künstler, Musiker, Schriftsteller in besonders intensiver Art. Sie wissen, dass ihr „Opus“ sich verdankt, als Gelungenes und Schönes nicht allein Resultat eigenes Tuns ist, sondern eben Resultat, Gabe, des Zugefallenen ist. Aber, noch einmal: Prinzipiell ist jeder Mensch schöpferisch „begabt“. Damit wird auch der Kult um „das Genie“ abgewiesen.
9.
Eine philosophische Besinnung auf das Neue führt also in die Tiefen des Selbstverständnisses des Menschen. Dieser Mensch sieht, sich selbst „tief“ verstanden, als Gabe, die weiterhin schöpferisch wirkt. Man könnte sagen, als Fortsetzung des Schöpfungsprozesses. Dort ist der Ursprung einer Spiritualität des Lebendigen, auch der Religion. Dies müsste weiter vertieft werden. Es würde sich eine vernünftige Spiritualität zeigen, die noch vor jeder konfessionellen Dogmatik lebt.
10.
Ich sehe in der Krise der Gegenwart, d.h. in der Oberflächlichkeit, Aggressivität gegeneinander, im Rassismus usw. einen Ausdruck dafür, dass sich die meisten Menschen nicht mehr als Gabe (oder Geschenk) verstehen.
11.
In diese „metaphysischen Fragen“ muss meines Erachtens eine Besinnung auf den Begriff das Neue führen.
12.
Dabei ist auch klar: Selbst das Alte, schon Vorliegende, kann zum Neuen werden: Indem etwa bestimmte Ideen und Vorstellungen von damals vom heutigen Fragen aus aktualisiert und neu gedeutet werden. Das gilt für den medizinischen Bereich (Hildegard von Bingen), fürs philosophische Denken (Aktualität des Kategorischen Imperativs), für die Kunst (Besinnung auf das Bauhaus) usw.: Immer wieder werden Ideen von einst, aber nicht in der Identität des Früheren, wieder belebt, in den aktuellen Horizont gestellt und dadurch verändert. So wird einiges Alte auch das Neue.
13.
Das Neue unterliegt der normativen Überlegung. Kriterium ist die Frage: Ist das Neue zu verantworten vor dem gültigen Maßstab der Menschenrechte, der Rettung des Klimas, der Gerechtigkeit für die Armen etc.
14.
Aber Neues ist nicht immer nur Resultat menschlichen Handelns: Neues ist auch etwas, das auf uns zukommt. Das absolut Neue, im Sinne des absolut Unbekannten, das auf jeden zukommt, ist der Tod. Das Christentum mildert diesen harten Gedanken ab durch die Erkenntnis: Der Tod ist ein Übergang…
Aber: Es kommen auch Menschen auf uns zu, etwa in der Freundschaft, vor allem der Liebe. Auf diese Zukommenden reagieren wir neu: Überrascht, entzückt, verunsichert…
Auch Kunstwerke „kommen auf uns zu“, d.h., sie sprechen uns an, wie man richtig sagt; auch die philosophische Erkenntnis kommt auf uns zu, wird als Gabe erlebt; auch Religion spricht zu uns als neue Einsicht und Aufforderung zum Handeln.
15.
Die philosophische Besinnung auf das Neue muss sich auch mit dem alltäglichen Verständnis des Neuen auseinandersetzen, etwa dem populären Spruch: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“. Ein Zitat aus dem alttestamentlichen Buch Kohelet, in der Züricher Bibelübersetzung:
Was einmal geschah, wird wieder geschehen, und was einmal getan wurde, wieder getan, und nichts ist wirklich neu unter der Sonne.
Wohl sagt man: Sieh dies an! Es ist neu! – Es war längst schon einmal da, in den Zeiten, die vor uns waren. (Verse 9 und 10)
Dieser Spruch hat recht … und er hat vor allem auch unrecht.
Er hat recht, insofern alle Menschen aller Zeiten von allgemeinen Daseinsstrukturen wie Lieben, Sterben, Arbeiten, Krieg und Frieden usw. sprechen. Siehe die zwanzigtausend Romane, die von Liebe sprechen…
Am schlimmsten ist der banale Satz in diesem Denksystem: „Gestorben wird immer“. (Werbeslogan der Bestatter). Das meint aber auch: Also lassen wir alles aktive Gestalten sein, fliehen wir aus der Welt, eine Maxime der Eremiten und Wüstenväter…
ABER der Satz „Nichts Neues unter der Sonne“ ist grundlegend falsch:
Es gibt im Laufe der Menschheitsgeschichte zwar in der Literatur z.B. immer formal dasselbe Thema; aber es ist jeweils historisch bestimmt und immer in der Konkretheit einmalig. Die Inhalte sind je anders. Warum lesen wir sonst so gern so unterschiedliche Romane, die alle dasselbe Thema haben: Liebe, Arbeit, Alltag, Tod etc.? Warum genügt uns denn nicht die eine einzige Lektüre eines einzigen Buches, etwa der Odyssee. Und auch bei allem Respekt: Platon kann uns philosophisch nicht genügen, jeder Philosoph lebt in neuen Kontexten und entwickelt dem entsprechend Fragen.
Warum gibt es Musik von unterschiedlichen Komponisten. Was hat die griechische Lyra mit Mozarts Violine gemein, außer, dass eben beides eben Musik „erzeugt“.
16.
Noch etwas zur Vermutung, Grundlage der Produktion von Neuem sei die NEUGIER. Ich definiere Neugier als unstillbare Unruhe des menschlichen Geistes. Neugier ist eine Lebensform des Geistes, aber eine zwiespältige Aktivität: Denn Neugier ist eine Art Sucht, immer alles mögliche Neue zu erleben, zu sehen, zu wissen.
Neugier ist Laster und Tugend, wie der Philosoph Martin Seel sagt. Als Tugend: Denn ohne Neugier gibt es keine Wissenschaft.
Neugier kann auch ein Laster sein: Als haltloser Ausfall jeglicher Diskretion zum Beispiel. Totale Neugier ist Orientierungslosigkeit, man sammelt alles Neue ohne Struktur. Martin Seel sagt: „Die haltlose Begierde nach Neuem macht den Sinn für das nachhaltig Neue tendenziell blind“ (in Merkur, Heft 712, S. 829
17.
Falsch ist der populäre Spruch von der „Stunde NULL“, dieser Spruch suggeriert den völligen Zusammenbruch (8. Mai 1945) als den dann absoluten neuen Neubeginn, als „Neugeburt“, mit dem angeblich absoluten Abstoßen alles Vergangenen.
Aber es gibt keine Stunde Null: Weil es z.B. auch politisch vor-geprägte Menschen sind, die die Zukunft von dieser Stunde „Null“ an neu gestalten, diese Menschen bringen sich selbst, also auch ihre Vergangenheit mit im Eintreten in eine neue Zeit.
Diese „neue Zeit“ ist aus alten Elementen neu entworfen. Nebenbei: Die „Trümmerfrauen“ haben alte Steine aus der Nazi Zeit wieder brauchbar gemacht stellt und für den Neubeginn der DDR oder auch der BRD verwendet…
18.
Zum schöpferischen Handeln gehört immer auch die nachträgliche Reflexion, und die erkennt: Jede Neuschöpfung greift auf altes Material zurück. Beethoven z.B. verdankte vieles seinen Vorgängern. Aber er schuf in der „Kombination“ des Alten unglaublich Schönes, also Neues. Aber gerade die Form eines Streichquartetts ist eine Gabe, ist eine Neuschöpfung. Beethoven ist eben keine Variante von Haydn oder gar von Mozart, so sehr er die Arbeiten dieser Komponisten auch kannte und vielleicht kurz zitierte, aber dann schöüferisch in neue Zusammenhänge stellte. Es gibt freilich auch ein Arbeiten am vorgegebenen Material, das eher ein Abschreiben ist, und dann entstehen nur Kopien oder Varianten des Früheren, wahrscheinlich Kitsch.
19.
Zusammenfassend:
Schöpferisch Leben verlangt nach der Reflexion: Man muss die Frage stellen: Woher stammt das alte Material, das ich für das Neue verwende, vor allem woher komme ich, was bin ich für eine Schöpfung?
Auch der menschliche Geist ist etwas Gegebenes: Wir greifen immer auf etwas Geschaffenes zurück. „Wir sind niemals die ersten, immer die Zweiten“, so ein Gedanke des Philosophen Giambattista Vico ( 1668 -1744, S. 352 in „Philosophie in Italien“).
20.
Und dann beginnt die Philosophie als Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie: Die Welt, so der Mythos etwa der Bibel, wurde „durch ein göttliches Wort“ erschaffen. Das ist ein poetisches, aber dem Thema angemessenes Wort. Diese Welt wurde also nicht erfunden und nicht entdeckt!! Sie wurde geschaffen. Creatio! Kreatives Geschehen. Da wird die Frage gestellt: Warum ist etwas und nicht vielmehr Nichts? Diesen Ursprung kann Naturwissenschaft nicht greifen und denken. Sie bleibt vom „Wesen“ her auf das Vorgegebene analytisch fixiert. Dies ist eine Beschreibung, kein Vorwurf!
21.
Wir können den schöpferischen Moment des Neues Schaffen im Menschen nicht definieren. Und das gleiche Eingeständnis gilt auch für den Gedanken an einen Schöpfer „des Ganzen“. Der Literaturwissenschaftler George Steiner sagt: „Wir als Geschaffene sind Teil des Schöpferischen“, „wir haben eine transzendentale Intuition“ als „Adel der Vernunft“ (In: „Grammatik der Schöpfung“, Seite 25).
Wer den „ersten“ und alles in die Existenz setzenden schöpferischen Akt, als den Ursprung des Ganzen, erkennen will, müsste diesen Ursprungt von allem als endlicher Mensch förmlich umgreifen können, begrifflich fassen. Er müsste zum Begreifen hinter den Schöpfer treten… Ein unsinniger Gedanke.
Dennoch müssen wir den Gedanken an eine UR-Schöpfung poetisch – philosophisch denken.
22.
Das Neue tun, das ist das Tun dessen, was wir in unserem Gewissen bereits wissen oder mindestens ahnen. Dieses Geahnte, als das, Utopische, als das hoffnungsvoll Ersehnte: Das, was eigentlich jetzt not – wendig dran ist und gefordert ist: Dieses Neue hat nur ethisch wertvollen Sinn, wenn es das Bessere und Gerechtere ist.
Ich will aus der Fülle der Kommentare und Stellungnahmen, die sich auf das dringend Neue beziehen, das als Neues/als das Gute zu tun ist, nur an einen Text des Historikers Timothy Snyder erinnern: Er ist Professor an der Yale University und Mitarbeiter an dem berühmten Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen. In der SZ vom 23.Dezember 2019, Seite 11, sagt Snyder zur Einschätzung der Demokratie: „In Europa und Amerika glauben viele Menschen nicht mehr, dass die Demokratie tatsächlich notwendig, unvermeidlich ist. Die Demokratie befindet sich auf der Verliererseite. UND: Die Demokratie ist in Gefahr, weil die Zukunft nicht mehr existiert“. D.h. Wir haben den Gedanken an eine gute Zukunft verloren. Dieser grundlegende Gedanke wurde uns zerstört durch die Propaganda der Neoliberalen: „Es gibt keine Alternative“.
Soweit Timothy Snyder: Er insistiert darauf: Wir können uns nicht mehr vorstellen, welcher Zukunftsentwurf besser ist. Uns wird zudem noch eingeredet, es gibt keine Alternative zum Kapitalismus in der bestehenden Form, einem Kapitalismus, der Elend erzeugt, weil er elende Menschen als billigste Arbeitskräfte braucht, einem Kapitalismus, der die Natur nur als Material der Ausbeutung und der technischen Verwendung betrachtet….
23.
Die Welt im ganzen und „sofort“ gerechter machen, das können wir als einzelne und kleine Gruppe oder NGO nicht. Aber jeder an seiner Stelle kann dafür sorgen, das etwas mehr Gerechtigkeit wirklich wird, und dies wahrscheinlich auch nur, um seinem Gewissensspruch zu entsprechen. Um nicht gewissenlos zu leben. Das wäre schon viel. Auch Neues im politischen Sinne hat seinen Ursprung im Gewissen, in der Phantasie, im Mitgefühl, in der Vernunft. Wenn dieses Neue – immer als Plural verstanden – den Normen der Humanität, der Menschenrechte, entspricht, sollte es gestaltet werden, von den Menschen, in denen der Gedanke „aufblitzte“.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ohne Emotionen kein Verstehen der Kulturen

Der Philosoph Giambattista Vico grenzt den Verstand ein
Ein Hinweis von Christian Modehn

Gedenktage müssen nicht nur eine kulturpolitische Pflichtübung sein. Zumal dann, wenn man nicht auf die „runden Gedenktage“ fixiert ist, sondern auch die „eckigen Gedenktage“ beachtet, etwa an den Tod des großen italienischen Philosophen Giambattista Vico am 23. 1. 1744 denkt. Es ist wohl zutreffend, wenn man sagt: Vico ist heute – leider – nur in Fachkreisen bekannt. Das sollte sich ändern. Biographische Hinweise bieten Lexika, auch wikipedia. Ich will nur auf zwei zentrale Erkenntnisse seiner Philosophie hinweisen.

Giambattista Vico wurde am 23. Juni 1668 in Neapel geboren; und dort ist er am 23. Januar 1744 gestorben. Er war als vielseitig gebildeter Philosoph auch Professor für Rhetorik, und nebenbei: Angesichts seines Hauptwerkes war er mit einem sehr hohen Selbstbewusstsein ausgestattet… Vielleicht zurecht, denn Vico kann als einer der wichtigsten Philosophen der Hermeneutik gelten.

Bei der Gelegenheit möchte ich gleich das Buch von Thomas Sören Hoffmann empfehlen. Der Titel „Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Porträts“, erschienen im MARIX Verlag, Wiesbaden. Die meisten Porträts gelten Philosophen der Renaissance. Vico gehört zum Übergang in die Moderne, wesentliche Aspekte seines Denkens werden auf den Seiten 351 bis 367 dargestellt.

Warum also Erinnerung an Vico?
Weil sein Denken eine Alternative zu dem damals völlig im Mittelpunkt stehenden Descartes bietet: Es gibt andere Bereiche, andere Fragestellungen, so Vico, als die von Descartes strengem Rationalismus vorgestellten. Vico wird zum „Gründervater“ der Geistes-Wissenschaften. Diese haben das Ziel, geistige, kulturelle Erscheinungen zu verstehen, und Verstehen ist etwas Anderes als das naturwissenschaftliche Rechnen und Erfinden. Thomas Sören Hoffmann spricht von einer „Frontstellung Vicos gegen die Rationalisierung der Welt“ (S. 354).
„Scienza nuova“ heißt das Hauptwerk Vicos, es vermittelt ein Bild von der sprachlich und geschichtlich geformten Welt. Um das Verstehen der Geschichte geht es. Und die können Menschen selbst in großem zeitlichen Abstand die anderen, die Fremden, verstehen, weil deren Texte Ausdruck des menschlichen Geistes und der Freiheit sind: Der eine allgemeine Geist ist anwesend in den kulturellen Werken, die sich in der Geschichte zeigen. „Die Wahrheit ferner Welten ist uns erreichbar“, schreibt der Philosoph Hoffmann über Vicos zentrale Erkenntnis. „Was von Menschen hervorgebracht worden ist, ist für andere Menschen erkennbar“ (S. 358). Vico schreibt: „Als wahr erkennen wir nur das, weil wir Menschen es selbst gemacht haben“! Eigentlich eine Aussage, die heute eher eine wie eine Selbstverständlichkeit klingt: Aber sie hat nach wie vor höchste Bedeutung, weil total Fremdes in der Menschenwelt ausgeschlossen ist. Keine vergangene wie gegenwärtige Kultur kann gegenüber einer anderen, etwa „unserer“ heutigen, behaupten: Diese ist und bleibt uns fremd.
Fremdheit kann vor allem durch Einfühlen überwunden werden. Einfühlen: Die ist eine Haltung, die nicht nur fürs Verstehen der Historiker gilt. Einfühlen ist eine Haltung, die für jeden Menschen gilt … und die lernbar ist! Gerade in Zeiten eines zunehmenden Rassismus und Antisemitismus. Im Verstehen des Fremden, der fremden Kultur, werden diese in ihrer Fremdheit natürlich nicht total nivelliert, angepasst oder aufgelöst: Sie bleiben „anders“, aber es wird Aspekte geben, für den jetzt Verstehenden hilfreich, wichtig, inspirierend sind.

Irritierend bleibt in Vicos Werk, dass sein Misstrauen gegenüber der autonomen Vernunft des Menschen umfassend wird. Vico spricht sogar von einer „Barbarei der Reflexion“ und dem „Zerstörerischen der Vernunft-Erkenntnis“. Er hält allein die Emotionalität für die Quelle der Kultur. Rationales Denken (der Verstand) sei zerstörerisches Denken: Eine These, die sich dann immer weiter sich bis in unsere Gegenwart durchsetzte, etwa derart, dass die Rationalität sogar zu Auschwitz geführt habe. Aber die Widerlegung dieser These ist ein anderes Thema.
In jedem Fall haben wir Vico zu danken für seine deutliche und aktuelle Aussage: Die Menschen sollten ihre reflektierte Emotionalität pflegen, wenn sie den anderen verstehen wollen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Was heißt christlich glauben?

Hinweise auf eine Lebens-Philosophie
Von Christian Modehn

1.
Was „christlich glauben“ heute bedeuten kann, ist nicht allein den Definitionen der Kirchen und ihren Institutionen zu überlassen. Selbstverständlich kann auch Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Vorschläge machen, Hinweise geben.
Hier also, kurz gefasst und für „weite Kreise“ nachvollziehbar, Hinführungen zum christlichen Glauben, Skizzen zum Weiterdenken. „Den christlichen Glauben“ gibt es nur im Plural, verteilt auf unterschiedliche Kirchen, aber auch individuell – auch außerhalb der Kirchen – gedacht und gelebt von unterschiedlichen Menschen, die sich auch in unterschiedlichen Gesprächskreisen, etwa „philosophischen Salons“, treffen.
Dies auch als Beispiel für eine “freisinnige” Theologie. Sie muss sich gegen die so mächtig wirkende, zerstörerische fundamentalistische Theologie behaupten.
2.
Ich plädiere hier für einen christlichen Glauben als eine Lebens –Philosophie. Das heißt: Der/die einzelne kann für sich selbst im Nachdenken, in der Meditation oder in der aktiven, auch gesellschaftlichen Praxis den Kern des christlichen Glaubens entdecken, erleben, erkennen, zur Sprache bringen, oft auch in der je eigenen Poesie, die man manchmal auch Gebet nennen kann. Dabei bezieht sich dieser „Kern“ des Glaubens auf einige Grundeinsichten Jesu von Nazareth.
3.
In der Frühzeit des Christentums wurden der christliche Glaube selbst als eine philosophische „Schule“ verstanden, auch von den Philosophen und ihren Schulen (Neoplatoniker, Stoiker usw.). Der Austausch der unterschiedlichen philosophischen Schulen endete damit, als sich die Christen als die einzige, die wahre philosophische Schule durchsetzten und die anderen Schulen als eigene, wertvolle Lebensmodelle ignorierten oder unterdrückten. Ich kann hier zur Vertiefung nur auf einen ausführlicheren Beitrag verweisen. LINK
4.
Christen beziehen sich in ihrem religiösen Glauben vor allem zentral auf einen Text, die Bibel. Besonders auf die vielfältigen Texte des Neuen Testaments (NT). Dass darin wiederum je unterschiedliche Interpretationen der Hebräischen Bibel (Altes Testament, AT) erscheinen, kann hier nicht weiter entfaltet werden.
5.
Im Mittelpunkt des Glaubens steht die Gestalt Jesus von Nazareth, der gerade dann, wenn er zentraler Mittelpunkt im Leben sein soll, Jesus als der Christus genannt wird. Christus bedeutet wörtlich übersetzt: der Gesalbte, also der Mensch mit einer besonderen Würde, vor allem der eines Königs. Und „Christus“ heißt für heute übersetzt bedeutet: Dieser Jesus gilt als das wichtige, befreiende und erlösende „Vorbild“.
6.
Jesus von Nazareth selbst, den man zu Lebzeiten auch Propheten und „Menschensohn“ nannte, haben nur relativ wenige Menschen kennen gelernt und nach seinem grausamen Tod auch weiterhin geschätzt, verehrt, geliebt und von ihm gesprochen. Dieser Freundeskreis ist etwa in den Jahren zwischen 40 bis 60 gestorben. Man nennt diese „Anhänger“ Jesu „die JüngerInnen“ bzw. auch „die 12 Apostel“. Und wiederum deren Freunde haben die 4 Evangelien aufgeschrieben, in den Jahren zwischen 60 bis 80. Mit anderen Worten: Was etwa der Apostel Petrus selbst sagte oder der “Lieblingsjünger“ Johannes selbst mitteilte, ist unbekannt. Alle Berichte des NT beziehen sich auf eine vielfältige mündliche Erinnerung an Jesus von Nazareth, die dann die Erzähler selbst wiederum unterschiedlich verwenden. Unmittelbar ist Jesus von Nazareth selbst in den Texten des NT nicht „erreichbar“.
7.
Seit dem Jahr 50 etwa kann man Jesus von Nazareth nur über die Texte des Neuen Testaments, vor allem durch die vier Evangelien, erkennen. Die so genannten apokryphen Evangelien sind in einem noch größeren zeitlichen Abstand zum Leben Jesu verfasst worden, sie bieten viele, von der offiziellen Kirche unterdrückte Legenden aus dem Leben Jesu…
Zentral ist die Erkenntnis: Wer Jesus Christus als Mittelpunkt des Lebens, etwa der eigenen Lebensphilosophie, sucht, ist auf Erzählungen anderer angewiesen. Eine ähnliche Situation gibt es etwa im Falle von Sokrates, dessen authentische Worte nicht überliefert sind, durch Platon wird seine Gestalt lebendig. Von wichtigen religiösen „Vorbildern“ – etwa auch von Buddha – gibt es keine schriftlichen, „authentischen“ Selbstdarstellungen.
8.
Warum aber das Interesse an Jesus? Seine Person soll eine Offenbarung Gottes sein. Die Kirchen lehren: Gott offenbart sich in dem Menschen Jesus von Nazareth. Der Unendliche, der/die Ewige, das absolute Geheimnis, wie auch immer man die alles gründende Wirklichkeit nennt, kann sich über die Gestalt Jesu von Nazareth erschließen.
9.
Gott selbst „spricht“ nicht direkt als solcher. Gott „spricht“ durch die Vermittlung der Erzählungen der Freunde Jesu. Wer christlich glauben will, kann sich also niemals in einem Text direkt auf Gott beziehen. Jede Behauptung: „Dies sagt Gott“. „Dies will Gott“ usw. , ist also in dieser Absolutheit von vornherein unzutreffend. Solche Sätze legen einen Fundamentalismus frei: Dies ist der Wahn einiger bzw. jetzt leider vieler, die da meinen, auf der Seite Gottes zu stehen…
10.
Das Neue Testament ist (als vielfältige Interpretation des Glaubens der ersten Christen) Menschenwort und als solches historisch und kritisch, d. h. wissenschaftlich, zu untersuchen. Damit kann auch die Dimension des Außerordentlichen der Jesus-Gestalt erschlossen werden.
11.
Die Redeweise in den Gottesdiensten der Kirchen: „Sie hören Gottes Wort“ ist also lediglich eine Art poetische Sprache. Treffender müsste es heißen: „Sie hören nun die für uns inspirierende Deutung der göttlichen Wirklichkeit durch die ersten Freunde Jesu von Nazareth“. Das wäre die Wahrheit.
12.
Die entscheidende Frage ist: Kann die innere Bewegtheit, also der Glaube, wie ihn die damaligen Jesus-Freunde (gerade in ihrer, uns zum Teil befremdlichen Sprache) uns vorlegen, auch uns zu „unserer“ spirituellen Bewegtheit führen, zu einer christlichen Lebensphilosophie?
Hinzu kommt noch die Auseinandersetzung (und manchmal die kritische Abwehr) der vorgefundenen Dogmen und Bekenntnisse, die sehr umfangreich seit dem 3. Jahrhundert von der Kirchenführung formuliert wurden.
13.
Wer diese durchaus „spannende“ Mühe des Studiums und des Lernens erlebt, ist aber im „Resultat“ immer frei, auf die je eigene Weise bestimmte Aspekte für die eigene christliche Lebensphilosophie herauszustellen. Man kann etwa die „wunderbaren“ Gleichnisse Jesu für sich selbst in den Mittelpunkt der eigenen Lebensphilosophie stellen oder die anspruchsvolle und verstörende Bergpredigt oder die Erzählungen von der Auferstehung Jesu: Da wird sichtbar: Wie Jesus, der als verstorbener Mensch wie alle Verstorbenen im Grab bleibt, dennoch als „Auferstandener“ gedeutet und erlebt wird. Weil er – als ein “Sohn Gottes“ – vom Ewigen und Göttlichen in sich selbst ausgezeichnet ist. Diese Auszeichnung ist sozusagen die „Kraft“ der Auferstehung. Jesu Überwindung des Todes schließt aber auch die Erkenntnis ein: Alle Menschen sind als Geschöpfe Gottes auch mit dem Ewigen in Einheit verbunden, deswegen haben auch sie Anteil an der Auferstehung. In welcher Weise und Form dies geschieht? Diese Details entziehen sich dem Begreifen des Menschen. In der christlichen Lebensphilosophie wird sozusagen nur ein Türspalt über den Tod hinaus geöffnet, ein Türspalt, in dem das Licht des Ewigen etwas spürbar wird. Mehr nicht. Aber das ist schon viel, zumal für Menschen, die von einer christlichen Lebensphilosophie auch einen Hinweis, wenn nicht eine Antwort auf den Tod oder auf die Angst vor dem Tod (als definitives Verschwinden im Nichts?) erwarten.
14.
Es gibt aber eine weitere, eine andere Möglichkeit, den christlichen Glauben kennen zu lernen und ihn dann möglicherweise als Mittelpunkt des eigenen Lebens anzunehmen:
Zu den überlieferten Worten des Propheten Jesus von Nazareth gehört auch der Vorschlag: Die Liebe soll die alles entscheidende, gestaltende Kraft im Leben, in der Gesellschaft sein. Liebe ist über alles zu stellen: Die Nächstenliebe als universale Form der Liebe. Denn jeder und jede kann der “Nächste” sein. Diese Nächstenliebe erscheint aber im NT immer als Einheit mit der Gottesliebe. Jesu von Nazareths zentrale, alles andere in den Schatten stellende Erkenntnis und Weisheit heißt: Wer den Nächsten liebt, der liebt Gott. Weil in der Liebe der Sinngrund des Lebens mit bejaht wird, also Gott. Der große katholische Theologe Karl Rahner hat über diese Einheit von Nächstenliebe UND Gottesliebe wichtige Erkenntnisse mitgeteilt.
15.
In einer Lebenspraxis, die von Liebe, Friedfertigkeit, Solidarität, Empathie, Großzügigkeit bestimmt ist, geht dem Menschen inmitten dieser Praxis sozusagen ein Licht auf. Und dieses Licht wird von christlichen Lebensphilosophen als stille Anwesenheit eines überraschend Befreienden, „Beglückenden“, Überraschend – Göttlichen erfahren und ausgesprochen. In gewisser Weise hat wohl sogar der historische Jesus selbst diese Erfahrung beschrieben, als er von dem alles entscheidenden Urteil der göttlichen Wirklichkeit über das gelebte Leben der Menschen sprach: Entscheidend ist allein das Tun, das Tun des Guten und Gerechten. Konkret heißt das: Die Hilfe für Hungernde, das Trösten der Traurigen, der Beistand für die Leidenden usw. Man lese etwa im 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums die Verse 34 bis 46.
16.
Wenn eine solidarische Lebenspraxis bereits entscheidend die christliche Lebensphilosophie ist, dann ergeben sich ganz neue Verbindungen unter den Menschen, die diese Lebenspraxis auf je eigene Art leben: Ich möchte hier nur an eine Erkenntnis des Theologen Paul Bolkovac SJ (Hamburg, 1907-1993) erinnern: „Sobald und solange jemand aus sich herausgeht, über sich hinauswächst und auf einen Anderen zugeht, fremde, andere Belange wahrnimmt, im doppelten Sinn des Wortes, dann ist er mit einer solchen Einstellung im Einklang mit Gott… Diese Praxis macht deutlich, wofür oder wogegen der Mensch steht. In der Gottlosigkeit befindet sich jeder, sobald und solange er in seinem privaten und auch kollektiven Egoismus befangen ist und gefangen bleibt“ (in: „Atheist im Vollzug – Atheist durch Interpretation“, in dem Buch „Atheismuskritisch betrachtet“, 1971, S, 22f.). Mit anderen Worten: Christen und Atheisten sind eng verbunden, sind Freunde, wenn sie eine Lebenspraxis der Solidarität (als Überwindung des Egoismus) leben. Und Atheisten (im Sinne des Egoismus) sind jene Christen und sich christlich nennende Politiker, die etwa eine Politik der Respektosigkeit für die Armen leben.
17.
So ist auch eine bestimmte solidarische Lebenspraxis im Respekt für die „anderen“ selbst schon christlicher Glaube. Aber diese richtige Glaubensform wird von den Kirchen so oft als gleichwertig zum „theoretischen Glauben“ übersehen. Wie alle Lebensphilosophie braucht auch diese eben eigene Worte, d.h. eine Poesie, Gebete genannt. Sie wird sich auch mit anderen austauschen und Gottesdienste gestalten, jenseits aller Routine.
18.
An eine dritte Möglichkeit einer christlichen Lebensphilosophie soll noch erinnert werden: Das Suchen und Fragen nach einem tragenden Sinn im Leben kann zu der Erkenntnis werden: Der Mensch ist selbstverständlich alles andere als ein bloßes „Naturwesen“. Er ist durch seinen Geist über alles Endliche „hinaus“ und damit verwiesen auf etwas Unendliches. Man lese Hegel in dem Zusammenhang! Der menschliche Geist ist nicht eingezwängt ins Weltliche, er transzendiert immer schon alles Vorfindliche – Gegebene. Wer achtsam diese Verwiesenheit auf das Unendliche lebt und zur Sprache bringt, kann von da aus einen Zugang auch zum christlichen Glauben finden. Er kann viele zentrale Glaubens-Wirklichkeiten inmitten seines eigenen Lebens erfahren und zur Sprache bringen: Die Erfahrung der Gnade etwa als das Geschehen eines (zu – fälligen) Beschenktwerdens. Oder die Sehnsucht nach einem Vorbild, das nicht (etwa als Guru oder gar als Führer) ausbeuterisch in die Irre führt, sondern zum je eigenen Sein befreit. Dieses immer schon im Geist, in der Seele, gesuchte Vorbild könnte dann in der Gestalt des Jesus von Nazareth entdeckt bzw. wieder-gefunden werden. Oder die berechtigte innere Sehnsucht nach einer heilsamen Gemeinschaft könnte zu einer Vorstellung einer Gemeinschaft oder Gemeinde führen, die im Geist der Offenheit und des Respekts die christliche Lebensphilosophie feiert. Wer dafür eine klassische theologische Begründung wünscht: Sie hat ihr Fundament in der Lehre vom “heiligen Geist”, der in jedem Mensch wirksam und kreativ handelnd und denkend lebt!
19.
Damit will ich sagen: Vom geistigen Leben der Menschen aus ließen sich die Grunderkenntnisse der biblischen Lehren selbst schon erschließen und ansatzweise formulieren. Auch die überlieferten Erzählungen und Lehren des Neuen Testaments sind nichts anderes als Äußerungen, schriftliche „Objektivierungen“, des inneren Erlebens der Autoren dieser Texte. Sie haben ihr eigenes inneres Bewegtsein niedergeschrieben so, wie sich heute Menschen in eigener Poesie ihr eigenes inneres Bewegtsein vom Glauben niederzuschreiben. So entstehen in gewisser Weise auch „heilige Schriften“ im Laufe der Glaubens – und Kirchengeschichte. Sie stehen in einem Dialog miteinander. Wobei den Texten der ersten Freunden (NT) sicher eine besonders zu respektierende Bedeutung zukommen wird.
Es gibt also ein Christentum, das von „unten“, von der seelischen und geistigen Bewegtheit entsteht.
20.
Warum ist hier immer von christlicher „Lebensphilosophie“ die Rede? Weil der christliche Glaube –„Gott sei Dank“ – weit über den kirchlich fixierten christlichen Glauben hinaus weist. Und weil Philosophie alles andere ist als ein abstraktes Theoretisieren. Philosophieren entsteht inmitten der Lebenspraxis und führt – reflektiert – wieder in eine neue, dann veränderte, möglicherweise tiefere, „verbesserte“ Lebenspraxis zurück. Und dann geht die geistige Bewegung erneut weiter. Christliche Lebensphilosophie ist niemals Stillstand, niemals Stagnation, obwohl so viele Kirchen heute immer noch diesen Eindruck hinterlassen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Eine Philosophie des Störenfrieds. Der “puer robustus”.

Ein Hinweis von Christian Modehn
Das hier vorgestellte Buch habe ich schon im Januar 2017 kurz besprochen, aber die Rezension ist dann irgendwie – leider – liegen geblieben. Darum, zwar etwas verspätet, der durchaus empfehlende Hinweis auf das Buch von Dieter Thomä, Professor für Philosophie in St. Gallen, Schweiz.
Der politische Philosoph Thomas Hobbes (17. Jh.) hat die für sein Fach übliche Abstraktheit etwas aufgelockert.: Er erfand das Bild eines Bösewichts, den er „puer rubustus“, das kräftige Kerlchen, nannte. Als Störenfried, Außenseiter und Rebell attackierte er Ordnung und Wohlergehen. Aber solche Erschütterungen braucht das allzu oft träge Dahinleben in der Gesellschaft und anderen Institutionen bzw. Bürokratien. Demokratien leben förmlich von Störenfrieden, von radikal Fragenden, Suchenden, die Diskussion „Aufmischenden“.
Diesen puer robustus hat Dieter Thomä gründlich erforscht und für uns zu neuem Leben erweckt. Er zeigt, wie „dieser Bursche“ in der Geschichte eine Art Gestaltwandel durchmacht. Immer aber neigt er dazu, alle möglichen Grenzen in der Gesellschaft und im Staat zu überschreiten: So sollte eine andere, bessere Welt befördert werden. Abzuweisen sind lediglich fundamentalistische extremistische Störenfriede: Sie wollen nicht stören, sondern zerstören.
Als akzeptable Störenfriede können etwa Rousseau, Diderot, Victor Hugo, Marx, Freud und andere gelten. Der Leser erlebt, dank dieser Symbol-Figur eine anschauliche, eine durchaus fesselnde Geschichte (eine „Abenteuergeschichte“, sagt der Autor) politischer Philosophie. Dabei ist der puer robustus keineswegs nur – wie bei Hobbes – der Egoist, dem Verantwortung völlig egal ist. Der Philosoph Diderot sieht ihn als exzentrischen „genialen Kindskopf“, der falsche Konventionen zum Einsturz bringt. An den Gesetzen im Dienst einer gerechten Ordnung ist der puer robustus von Rousseau interessiert, an ihm werden sich Demokraten abarbeiten. Leider hat der robuste Bursche auch ein schreckliches Gesicht: Es ist der gemeine Schläger, der sich einer menschenverachtenden (fundamentalistischen) Ideologie hingibt. Vorbildlich hingegen bleiben junge Aktivisten, die unserer Gesellschaft kritisch einen Spiegel vorhalten und vor Verirrungen warnen: Solch ein „starker Typ“ ist der etwa mutige Edward Snowden. Heute erleben wir politische Störenfriede lokal und global: Flüchtlinge bei uns sind die „Überraschungsgäste“ von weit her, die oft den Ungeist des schädlichen Nationalismus bloßstellen und mitmenschliche Verantwortung, Demokratie und Menschenrechte wachrufen.

P.S.: Diese Gestalt des PUER ROBUSTUS ließe sich auch lang und breit in der Religionsgeschichte, der Kirchengeschichte, nachzeichnen. Da wurde von der herrschenden Hierarchie den Störenfrieden fast immer der Titel “Ketzer” angehängt, was oft für die Betroffenen tödlich endete. Es sei denn, diese frommen Störenfriede beugten sich der herrschenden Kirchenordnung und gaben viel Störendes preis. Vielleicht hat sich der eigentlich ja radikale Franziskus von Assisi auch der herrschenden Ordnung gebeugt. Petrus Waldés und die Seinen hingegen beugten sich nicht, die Waldenser leben als kleine Kirche der Rebellen bis heute… Auch die Remonstranten widersetzten sich der großen herrschenden Kirche (den Calvinisten) in Holland im Jahr 1619. Sie leben als freisinnige, humanistische Kirche bis heute.

Dieter Thomä, Puer Robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds. von Dieter Thomä. Suhrkamp Verlag, 2016, 715 Seiten, 35 EURO

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die globale Welt verstehen: Ein neues Lexikon.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Dies ist wohl immer noch eine Art „Ideal“ philosophischen Denkens und Arbeitens „Das, was ist, zu begreifen“, wie Hegel sagte. Ein Ideal, dem man auch heute nachstreben sollte, ohne es jemals zu erreichen. Denn die auf ihre Vernunft hin zu überprüfende Wirklichkeit wird immer komplexer: Immerhin gibt es jetzt eine Art „Kleines Lexikon“ wichtiger (und für viele wohl auch neuer) Begriffe aus Politik, Ökonomie und Gesellschaft; ein Buch von 268 Seiten Umfang, das in 126 Stichworten ein „ABC der globalen (UN)Ordnung“, so der Titel, bietet.
Verfasst haben dieses Buch 126 kompetente AutorInnen, Wissenschaftler, Fachjournalisten. Das Buch gehört meines Erachtens auf den Schreibtisch, Nachttisch, Küchentisch, Schultisch, aufs Lese – Sofa…Es sollte konsultiert werden, wann immer in den Medien Stichworte auftauchen, die noch nicht allzu bekannt sind, also von „Anthropozän“ bis „Zivilgesellschaft“, so der Untertitel. Zu jedem Stichwort werden auf zwei Buchseiten Erläuterungen und Kritik (mit knappen Literaturhinweisen) angeboten. Nur einige der besprochenen Stichworte: Künstliche Intelligenz, Fake News, Finanztransaktionssteuer, Extraktivismus, Flexibilisierung, Grundeinkommen, hybride Kulturen, Commons, Freihandel, Rechtspopulismus usw. usw.
Ich finde als Start für ein philosophisches Begreifen unserer Gegenwart in der Allmacht der Globalisierung das Stichwort „Imperiale Lebensweise“ sehr gut geeignet für Gesprächgruppen: Die Frage ist doch: Ist denn nicht der ganze Westen und sind nicht die so genannten Eliten in den Ländern des Südens von einer „imperialen Lebensweise“ bestimmt?
Wer sich angesichts der Globalisierung auch für Religionen interessiert, wird in dem Buch nicht umfassend bedient, das Stichwort Fundamentalismus bietet Hinweise. Auch zur Philosophie im engeren Sinne hätte ein eigenes Stichwort, etwa zur „interkulturellen Philosophie“ (gefördert durch die Zeitschrift POLYLOG, Wien), gut getan.
Aber diese kritischen Hinweise mindern den Wert dieses Buches überhaupt nicht. Und es ist erstaunlich, dass das neue Buch „ABC der globalen Unordnung“ nur 12 Euro kostet!

Claudia von Braunmühl und andere Hg.: „ABC der globalen (UN)Ordnung“. 2019, VSA Verlag Hamburg, 268 Seiten, 12 €.

Das Buch wurde in Kooperation mit der Friedrich Ebert Stiftung, der TAZ und dem wissenschaftlichen Beirat von ATTAC ermöglicht!

Weihnachten und Philosophieren

Was kann Weihnachten philosophisch bedeuten?

Ein überarbeiteter Text im November 2022.

Siehe auch den Hinweis:”Christus der Retter ist da … Oder treffender: Jesus der Retter ist da! LINK 

Siehe auch den Hinweis: Maria verprügelt das Jesuskind (Anregungen zur Weihnachten anläßlich eines Gemäldes von Max Ernst)  LINK.

Hinweise von Christian Modehn.

Zur Einstimmung: Weihnachten in der reichen Welt als der Welt der Reichen heißt: “Dem Gott Geld Opfer bringen.” Annie Ernaux, Literaturnobelpreis-Trägerin 2022, hat sich in ihrem Hauptwerk „Les Années“, „Die Jahre“ (2008), auch kurz, aber deutlich, mit ihrem Erleben des Weihnachtsfestes auseinandergesetzt: „Weihnachten war ein Fest voller Verlangen auf Dinge und Hass auf Dinge, der jährliche Höhepunkt des Konsums … als wäre man zum Geldausgeben verpflichtet, als müsse man irgendeinem Gott ein Opfer bringen und am Ende ließ man sich doch darauf ein, Weihnachten zu feiern…“ (S. 240, Ausgabe des Suhrkamp-Verlages, 2022). Es war unmöglich „dem Würgegriff durch den höchsten Feiertag Weihnachten zu entkommen. Wenn man daran dachte, hatte man Lust, im November einzuschlafen und Anfang des nächsten Jahres wieder aufzuwachen“.

Über die problematische Theologie vieler kirchlicher Weihnachtslieder: LINK.

1.
Wer sich philosophierend mit Weihnachten beschäftigt, wird zunächst kritisch das Umfeld ausleuchten, in dem dieses christliche Fest heute steht. Das Umfeld in der reichen Welt als der welt der Reichen ist: Kommerz und Konsum, oft zwanghaftes Schenkenwollen und Sehnsucht nach dem Beschenktwerden, Erinnerungen an die eigene Kindheit, Hoffnung auf eine Wiedererweckung der Kindheit … als kurzfristige Nostalgie… der Wunsch, an diesem Tag ausdrücklich kinderfreundlich zu sein…Das Bedürfnis, gerade an diesem Tag einmal gut und nett zu sein, eine heile Insel im belasteten Alltag zu hegen, mit all dem Streß, der dabei entsteht… Daran kann sich eine empirische „Weihnachtskritik“ abarbeiten…

2.
Es müsste zuerst der Begriff und die EWirklichkeit der GABE bedacht werden. Es müsste z.B. gefragt werden, ob der Mensch (“als solcher”) für den anderen wesentlich Gabe ist. Ob die Gaben, die Geschenke, gerade zu Weihnachten, Ausdruck dieser wesentlichen Gabe des Daseins sind oder heute noch sein können. Verdeckt der Konsumismus den Charakter der Gabe? So wird es sein. Weil beim Empfang einer Gabe sofort gerechnet wird: Was muss ich zurück – geben im gleichen Wert!

3.
Weiter sollte gerade vor Weihnachten über die Bedeutung der Gefühle, der Emotionen und Affekte fürs kritische Nachdenken im allgemeinen gesprochen werden. Sind Gefühle der spontane Erstkontakt mit der Wirklichkeit? Erschließen sie auf eigene, noch unthematische Art, das eigene Leben im Kontext mit anderen? Was passiert, wenn Gefühle dann aber tatsächlich reflektiert werden? Dann kommen Gefühle erst zu ihrem wahren Gehalt. Ohne Vernunft sind Gefühle blind, ohne Gefühle ist Vernunft abstrakt und „lebensfern“.

4.
Was bedeutet diese Erkenntnis für Weihnachten? Die einzelnen Gefühle anlässlich von Weihnachten (vor allem: „Heilig Abend“) wären kritisch zu bedenken. Etwa die Sehnsucht nach Nostalgie, nach Eintauchen in die eigene (Weihnachts)–Kindheit. Ist dieses Eintauchen ins angeblich heile Damals eine Flucht, ist es Opium? Oder ist es ein nötiges heilsames Intermezzo, um überhaupt die Routine und Öde und die Ängste des vorherrschenden, “nichtweihnachtlichen” Alltags zu bestehen? Gerade in Zeiten der Kriege! Inszeniert von Verbrechern oder auch fundamentalistisch sich “fromm” nennenden Leuten. 

Wie sind die häufigen Teilnahmen an Gottesdiensten gerade zu Weihnachten zu verstehen? Gehört “Gottesdienstbesuch”  auch zur Nostalgie? Wie kommt es, dass man Weihnachtslieder kitschigen Inhalts und in einer kaum nachvollziehbaren Spiritualität mitsingen kann, dabei auf jeden Gebrauch kritischer Nachdenklichkeit verzichtet, um so das Fremde und ganz Andere (“Eigentliche”) des Weihnachtsfestes zu beleben?

Sind die Kirchen in der westlichen Welt, sonst am Sonntag zum Gottesdienst immer weniger besucht, etwa längst zu „Weihnachtskirchen“ geworden? Sind die Pfarrer bei ihrer totalen Auslastung zu Weihnachten etwa in gewisser Weise „Weihnachtspfarrer“ geworden? Wenn die „Gottesdienstbesucher“ zu Weihnachten  in der Statistik der „Gottesdienstbesucher pro Jahr insgesamt“ mitgezählt werden, ergibt sich dann noch eine halbwegs realistische Statistik zur “allgemeinen Teilnahme am Sonntagsgottesdienst”? Dieser Frage sollten Religionssoziologen nachgehen.

5.
Philosophisch bleibt die Frage: Gibt es prominente Philosophen, die „Weihnachten“ gedacht haben? Da ist zuerst nicht die radikale Religionskritik gemeint, die in einem Vorurteil alles Christliche sowieso abwehrt; sondern eine Philosophie, die auch religiöse Texte relevant findet, weil diese Texte Ausdruck menschlichen Selbstverständnisses sind.

6.
An Meister Eckart, den mittelalterlichen Philosophen und gerade nicht (nur) den Mystiker, wie die neueste Studie von Kurt Flasch zeigt, wäre auch zu erinnern, etwa an das Stichwort von der „Gottes Geburt in der Seele“. Dann ist Weihnachten vor allem die Erkenntnis: Jeder Mensch hat Anteil an dem Göttlichen, das Göttliche, das in seinem Geist, seiner Seele, lebt als “das Ewige”. Die Geburt Jesu von Nazareth, verstanden als Gott-Mensch, macht nur die allgemeine gott-menschliche Befindlichkeit eines jeden Menschen offenbar.

7.
Bei Hegel kommt Weihnachten als explizites Stichwort meines Wissens nicht vor, hingegen steht die “Sache” Weihnachten im Mittelpunkt seines Denkens: Es bezieht sich ZENTRAL auf die „Menschwerdung Gottes“ in Jesus Christus. Um dieses Ereignis dreht sich die Geschichtsphilosophie Hegels. Weil da, in diesem Jesus Christus die Einheit von Göttlich und Menschlich sichtbar wird, eine Einheit, die aber nicht nur für die einzelne Gestalt Jesus Christus gilt, sondern schlechthin für ALLE Menschen. Alle Menschen, im Sinne Hegels und im Sinne des Johannes-Evangeliums, haben Anteil an dem göttlichen Geist, insofern gehören sie als Menschen zu Gott.

8.

Das ist Weihnachten im Sinne Hegels: Politisch bedeutend ist die Menschwerdung Gottes, weil die absolute Wertigkeit, die göttliche Würde des menschlichen Subjekts, und zwar jedes Menschen, sichtbar wird: Jeder Mensch ist von absoluter Würde. Und, so fügt Hegel hinzu, jeder ist in der Lage, die umfassende Freiheit zu gestalten. Denn in der Menschwerdung Gottes ist die Entfremdung zwischen Göttlich und Menschlich „an sich“ überwunden, da gibt es keine prinzipielle Fremdheit mehr, keinen Gegensatz zwischen Gott und Mensch. Wenn die Beziehung zwischen Unendlichem und Endlichem also „an sich“ bereits eine FREIE Beziehung ist, dann ergibt sich die Möglichkeit, alle anderen, auch weltlichen Fremdheiten und Entfremdungen in freie Verhältnisse auch politisch umzugestalten, d.h. grundlegend zu reformieren.

9.

Für Hegel (und für Christen, die wissen, was ihr Bekenntnis bedeutet) ist Weihnachten also ein politisches Fest. Ein Fest, das nicht zum Stillesitzen verführt, sondern zum Eintreten für die Befreiung, für die Menschenwürde, für die Menschenrechte. Und es ist die Frage, ob die zu Weihnachten üblichen Spendenaufrufe diesem umfassenden Projekt entsprechen können, eine gerechte und friedliche Welt zu gestalten. Ich meine: Nein. Sie fördern beim einzelnen nicht die bleibende Kritik der politischen Ungerechtigkeit. Dieses Thema wird in Weihnachtspredigten sehr selten angesprochen, die Prediger wollen die Weihnachtsstimmung der “Weihnachtschristen” nicht stören und freuen sich über die gut “besuchten” Gottesdienste.

Wenn die Versöhnung von Gott und Mensch (also Weihnachten, gemeint als die freie Beziehung von Gott und Mensch), im philosophischen Denken Hegels erreicht wird, wenn der Mensch also dieser Erkenntnis „ganzheitlich“ inne wird: Was bedeuten dann noch die Kirchen? Welche Rolle spielt die Gemeinde usw… Hegel sagte ja einmal: „Philosophie ist der wahre Gottesdienst“…Einige Teilnehmer in unserem religions-philosophischen Salon meinten serh treffend in einer Diskussion zum Thema: Das Innewerden des Göttlichen „in mir“ sei entscheidend… (und ausreichend für eine freie Gottesbeziehung). Hegel jedoch legte allen Nachdruck auf die Gemeinde der Christen, als Ort des Gesprächs, der Feier, auch des Gottesdienstes, um sich wechselseitig der Anwesenheit des göttlichen Geistes zu versichern.

10..
Als Lektüre empfehle ich von G.W.F. Hegel die „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“. In der Theorie Werkausgabe des Suhrkamp Verlages im Kapitel „Das Christentum“ , Seite 385ff. Und natürlich das grundlegende Werk „Menschwerdung Gottes“ von Hans Küng. Ausdrücklich und ganz besonders empfehle ich die ausführliche ausgezeichnete Studie des Philosophen und Hegel-Spezialisten Michael Theunissen: „Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat“.

11.
Auch ein “atheistischer Philosoph” hat sich unter besonderen Bedingungen positiv zum Ereignis der Geburt Jesu von Nazareth geäußert: Weihnachten 1940 verbrachte JEAN-PAUL SARTRE in deutscher Kriegsgefangenschaft in Trier. Für seine Mitgefangenen schreibt Sartre – auf deren Bitte hin – eine Art “Mysterienspiel”, also eine das “Wunderbare” darstellende Aufführung von und für “Laien”. Offenbar sind religiöse Gefühle gar nicht abzuweisen in großer Not, selbst bei einem Atheisten…Sartre stellt einen Widerstandskämfer in den Mittelpunkt, sein Name ist Bariona. Er hilft der “Heiligen Familie” dem Zugriff des Herodes zu entkommen. Und stirbt aber selbst dabei, als er sich für die Flucht des Jesus-Kindes mit seinen Eltern Josef und Maria einsetzt. Das Sartre Stück wurde zu Weihnachten 1941 gleich dreimal von Kriegsgefangenen aufgeführt. Erst 1976 stimmte Sartre der Veröffentlichung seines Theaterstücks im Verlag Gallimard (Paris) zu. Sartre selbst war wohl dieser “fromme Ausrutscher” in seinem Werk etwas peinlich. Siehe dazu knapp zusammengefasst: Christian Modehn, Religion in Frankreich, Gütersloh 1993, Seite 86 ff.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.