“Babylon Berlin”: Der Film, die „goldenen Zwanziger“ und die Theologie

Hinweise anlässlich der TV Serie von Tom Tykwer

Von Christian Modehn am 4.10.2017

„Verlockungen und Abgründe“: Das also hat Berlin zu bieten, nicht zuletzt in der Sicht der Künstler, Autoren, Filmemacher. Und dieses Berlin der „Zwanziger Jahre“ steht ab 13. Oktober 2017 wieder einmal ganz groß im Mittelpunkt begieriger Aufmerksamkeit: „Babylon Berlin“ heißt der fast schon erwartbare Titel der Fernsehserie unter der Regie von Tom Tykwer. Die schon jetzt hoch gelobte Serie wird zuerst auf SKY, leider erst ein Jahr später dann in der ARD gezeigt. Aber muss wirklich immer wieder „Babylon“ herhalten, um Haltlosigkeit und moralischen Verfall in Berlin zu signalisieren? Folgt man immer noch der seit Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ verbreiteten Vorstellung von Berlin als „Moloch“? Unter diesem Symbol fanden sich eher die Benachteiligten und Armgemachten wieder.

„Verlockungen und Abgründe“ gab es zweifellos in den explosiven Nachkriegsjahren, den „Zwanzigern“. Wer diese Jahre als „golden“ (vielleicht sogar als goldig) erlebte, befand sich auf der Seite der „wenigen Glücklichen“ und hatte damit die Macht der Definitionen. Und dies ist wohl heute genauso! Im Überangebot an Lust, Exzessen und Ausschweifungen ist Berlin wahrscheinlich unschlagbar. Dieses Überangebot an Zerstreuung, Unterhaltung und „Kulturindustrie“ (Adorno) zieht bekanntlich nicht nur Künstler, Lebenskünstler, Leute der Start-ups, Studenten hierher, sondern vor allem Touristen: Sie alle „lieben“ (so sagen sie es ständig) die ziemlich absolute individuelle Freiheit in dieser „bunten und schrillen Metropole“ (um noch einmal abgenutzte Klischees zu verwenden). Man lobt die vergleichsweise immer noch erschwinglichen Mieten und die eher geringen Kosten fürs alltägliche Leben. Die Armen in Berlin heute, immerhin ein Drittel der Bevölkerung, also etwa die Hartz IV Empfänger und die Obdachlosen, sehen allerdings NICHT so viel Erschwingliches in dieser Hauptstadt der Verlockungen. Sie leben eher am Rande der Abgründe. Bei dieser zunehmenden Spaltung von Reichen und Armen in ein und derselben Stadt sind wir schon wieder beim Thema „Babylon Berlin“. Da gibt es Straßen in Berlin, da wohnen die Reichen und die Bürgerlichen auf der einen Seite, und ein paar Schritte weiter die Ausgegrenzten: Man denke an „Kreuzkölln“ oder Schöneberg Nord…Verhältnisse, die einst Städteforscher für den Norden von Manhattan beschrieben und beklagten.

Für unseren Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon ist es eine Pflicht, angesichts dieses zweifelsfrei kulturellen TV Ereignisses auf das Berlin der Zwanziger Jahre zu schauen. Natürlich in der uns interessierenden Hinsicht und Rücksicht auf Religionen, Theologien und Philosophien. Auch in dieser Zuspitzung ist dies noch ein sehr weites Feld, das eigentlich nur ein Team von Religions-, Philosophie-, Kirchen- und Literaturhistorikern bearbeiten könnte. Spezielle ausführliche Studien zu diesem eng umgrenzten Thema „Religionen und Theologien im Berlin der Zwanziger Jahre“ sind mir leider bis jetzt nicht bekannt. Vielleicht ist die TV Serie ein Impuls, sich darum zu kümmern.

Ich möchte nur einige Linien und Perspektiven zeigen und vor allem auch einige Fragen stellen in der uns interessierenden Hinsicht .

Zuerst könnte man fragen: Was sagten und wie lebten Theologen, also vor allem Theologieprofessoren, im Berlin der Zwanziger Jahre? An der Universität Unter den Linden gab es ja eine Evangelisch – theologische Fakultät, einst lehrten hier berühmte Leute, wie Schleiermacher und dann Adolf von Harnack. Aber in den Zwanziger Jahren bis 1933 etwa? Wer kennt da als gebildeter Zeitgenosse einen Namen unter den etablierten protestantischen Theologieprofessoren in diesem Berlin von damals? Während die Schriftsteller und Dichter, die Künstler und Musiker in diesen Jahren Berlin zu einem Zentrum kreativer, neuer Kultur machten, lebten evangelische Theologen eher am Rande dieser Welt. Es waren vor allem Schriftsteller und Journalisten, die mit dem Judentum auf irgendeine Weise verbunden waren, die das Leben des Geistes in Berlin prägten, etwa schon in den großen Tageszeitungen damals. Sie waren es, die für die geistige Bewegtheit dieser Jahre sorgten: Dass die Nazis schlechthin „die“ Juden töten wollten, damit auch die jüdischen Intellektuellen, ist eines der größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts und der geistige Selbstmord der sich evangelisch, katholisch oder „deutsch-christlich“ nennenden Deutschen.

Unter den nach wie vor bemerkenswerten und aktuellen evangelischen Theologen ragt der junge Paul Tillich hervor. Von 1919 bis 1924 lehrte er als Privatdozent an der Theologischen Fakultät. Eigentlich eine kurze Zeit, aber in diesen Berliner Jahren publizierte Tillich seine bleibend belebenden, provozierenden Gedanken. Etwa zum Atheismus meinte er, seiner Deutung des Menschseins entsprechend: Selbst das Nein zu Gott kann den Menschen nicht von Gott trennen. Denn zurecht abgelehnt wird von Atheisten der Gott, der wie ein besonderes herausragendes Objekt unter anderen verstanden wird. Diesen „endlichen“ Gott (also Götzen) gilt es zu töten zugunsten eines „Gott über Gott“. „Wer Gott mit unbedingter Leidenschaft leugnet, bejaht (den göttlichen) Gott, weil er etwas Unbedingtes bekundet“ (zit. in Werner Schüssler und Erdmann Sturm in ihrer Studie „Paul Tillich“, Darmstadt 2007, S. 46).

Diese Einsichten diskutierte Tillich übrigens schon sehr früh in einem philosophischen Salon, den er damals sehr mutig in Berlin – Moabit, im Bereich der Erlöserkirche, gründete. Wo sind heute theologische Salons in Berlin Moabit, Wedding oder Kreuzberg, möchte man fragen… In der Erlöser Gemeinde war Tillich von 1911 bis 1913 als „Hilfsprediger“ tätig.

Bedeutend ist seine frühe theologische Leistung schon in Berlin, eine Kulturtheologie zu entwickeln: In den Erscheinungen der Kultur gilt es, „die konkreten religiösen Erlebnisse zur Darstellung zu bringen“ (S. 57). Dabei ist für Tillich leitend: „Religion ist die Substanz der Kultur, und Kultur ist die Form der Religion“ (S. 58). Dies sind unerhörte Perspektiven im Berlin der Zwanziger Jahre: Wie wurden diese Erkenntnisse der Kulturtheologie konkret aufgewiesen im Gespräch mit Literaten, Künstler, Malern, auch mit der Welt der „Lebenlust“? Denn an der Lust (an und in) der Stadt Berlin nahm Tillich leibhaftig teil: Er war kein distanzierter Beobachter im Berlin der zwanziger Jahre: Als junger Mann war er Mitglied der „Bohème“, wie Tillich selbst sagte. Er hatte eine „elementare Daseinsfreude und einen Hunger nach Vergnügungen“, so die Tillich Spezialisten Werner Schüssler und Erdmann Sturm in ihrer Studie „Paul Tillich“, Darmstadt 2007, Seite 10. „Er traf sich mit Freunden und Freundinnen in Cafés und Bars, besuchte Bälle und Kostümfeste und geriet in erotische Abenteuer. Er liebte das Unerreichbare und Unkonventionelle…“ (ebd.). Gerhard Wehr schreibt in seiner Tillich – Monographie (Rowohlt, 1979, S. 67): „Doch wenn es ans Tanzen ging, war Tillich in seinem Element. Er wirkte wie elektrisiert. Er tanzte aus Freude an der Bewegung…“.

Ein bewegter, leidenschaftlicher Theologe, der am Leben der Stadt teilnahm: Eine lebenspraktische Konstellation, um neue bewegte theologische Themen zu formulieren. Aber Tillich blieb wohl in dieser nicht verheimlichten, sondern zugegebenen Lebensfreude eine Ausnahmegestalt. Obendrein war er noch eng mit der sozialistischen (USPD) Partei verbunden, Christentum und Sozialismus zu versöhnen, war ein weiteres Thema Tillichs…

Über Dietrich Bonhoeffer in Berlin zu Beginn der Dreißiger Jahre als Assistent an der Theologischen Fakultät der Universität wäre zu sprechen. Man darf auch nicht vergessen: In den eher proletarischen Milieus spielte die explizit kämpferisch – atheistische Freidenker Bewegung eine große Rolle: Aber mit denen sprach kein Theologe! Die Jugendweihen erfreuten sich großer Beliebtheit; es gab Freireligiöse Gemeinden, es wurde die Feuerbestattung propagiert: Dagegen wandten sich alle Theologen und Bischöfe aufs heftigste. Um 1965 wurde dann auch für Katholiken die Feuerbestattung offiziell erlaubt. Leute, die als junge Katholiken gegen die Feuerbestattung kämpften, mussten sich plötzlich sehr umstellen, als diese vom Vatikan erlaubt wurde!

Katholische Theologen (Theologieprofessoren) gab es bekanntlich nicht in Berlin, einmal abgesehen von dem Priester Romano Guardini, der aber als einsamer „Religionsphilosoph“ an einer protestantisch beherrschten Universität (der heutigen Humboldt – Universität) tatsächlich viel – beachtete Vorlesungen hielt. Guardini lag zwar treu auf der Linie des römischen, vatikanischen Katholizismus, er versuchte aber, in seinen Vorlesungen auch mal neue Themen zu bearbeiten, wie etwa die Gestalt des Buddha.

1923 wurde er an den neu errichteten „Lehrstuhl für Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und katholische Weltanschauung an der preußisch-protestantischen Universität Berlin“ berufen. Rechtlich machte die Anwesenheit eines Katholiken Schwierigkeiten, so gehörte Guardini offiziell noch der katholisch – theologischen Fakultät der Universität Breslau an. Ökumene war damals auch bei protestantischen Theologen ein Fremdwort, nicht nur in Berlin.

Guardini blieb bis Mitte der vierziger Jahre in Berlin, erst im März 1939 wurde er „zwangsemeritiert“, vorher also war er für die Nazis offenbar nicht so gefährlich? Noch unter den Nazi-Herrschaft veröffentlichte er 1937 seine umfangreiche Meditation über Jesus Christus unter dem Titel „Der Herr“, vielleicht im Titel ein ganz kleiner, stiller Protest gegen „Den Führer“? Zuvor hatte er in Berlin noch ein Buch über Blaise Pascal veröffentlicht, jenen Mystiker (und Mathematiker), der am Ende seines Lebens leidenschaftlicher Anhänger einer der strengsten augustinischen Gnadenlehren, der Jansenisten, wurde: Was hatte Pascal im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre für eine Relevanz? Sind seine Vorlesungen noch zu greifen? Wie viele Agnostiker und Atheisten waren unter seinen Hörern, wie so oft in kirchlichen Kreisen heute behauptet wird? Auch seine umfangreichen Meditationen über Christus „Der Herr“ sind merkwürdig befremdlich, die historisch kritische Exegese, die damals bei protestantischen Theologen oft .selbstverständlich war, fehlt völlig. Theologie als Wissenschaft ist das Buch „Der Herr“ jedenfalls nicht. Es ist schon komisch, dass dieser einzige, aber doch eher konservative Theologe und Philosoph Romano Guardini heute im katholischen Berlin so viel Ansehen genießt: Wahrscheinlich liegt das daran: Das theologisch so arme katholische Berlin hat sonst keinen anderen berühmten Namen zu bieten. Man hat die geistige Öde des „katholischen Berlin“ immer mit der „Diaspora – Situation“ zu begründen versucht. Die Minderheit sollte nicht kritisch gebildet werden! Offenbar halten nur dumme Gläubige in der feindlichen Umwelt zu den Dogmen? Heute ist es der Personalmangel an Pfarrern, die ja eigentlich Theologen sein sollten, der die kleiner werden Gemeinden kaputt macht.

Eine ganz ungewöhnliche Rolle spielte in den zwanziger Jahren der katholische Priester Dr. Carl Sonnenschein: Er war aus Düsseldorf 1919 nach Berlin gekommen, um hier außerhalb jeder Gemeinde- Bindung seinen eigenen Stil von „Großstadt – Seelsorge“, wie er sagte, aufzubauen: Unmöglich in knapper Form sein vielschichtiges Werk zu würdigen: Sicher, er war ein Einzelgänger, manchmal autoritär, oft sehr konfessionalistisch am Wohlergehen der katholischen Kirche interessiert: Aber seine soziale Hilfe für die einzelnen, unabhängig von jeglicher Ideologie, ist unbestritten. Kurt Tucholsky lobte ihn! Sein Begräbnis 1929 war eines der größten in Berlin überhaupt mit mehr als 30.000 TeilnehmerInnen aller ideologischen Couleur.

Sonnenschein gründete angesichts der grausamen Wohnungsnot ein eigenes Wohnungsbauprogramm; er kümmerte sich um die kulturelle Förderung der intellektuell sehr vernachlässigten und unterforderten Berliner Katholiken; er schuf eine große Lesehalle an der Friedrichstraße, also eine große öffentliche Bibliothek mit dem Schwerpunkt Theologie und Religionen: Bis heute gibt es in Berlin keine große öffentliche und international gestaltete, selbstverständlich dann aber ökumenische theologische Bibliothek. Ich habe dies schon oft eine Schande genannt, angesichts der Unsummen, die den Kirchen heute auch in Berlin zur Verfügung stehen. Eine “multikultirelle Metropole Berlin” ohne eine “multireligiöse Spezialbibliothek” großzügigerweise und uneigennützig finanziert von den Kirchen? Das ist nur ein Traum hier in Berlin.

Sonnenschein war unermüdlich tätig, auch kirchenkritische Worte waren seine Sache: Unvergessen sein immer wieder zitiertes und treffendes Urteil über den Berliner Katholizismus der Zwanziger Jahre „Der Katholizismus in Berlin ist verdammt kleinstädtisch“. Schade eigentlich, dass bis heute kein großer Regisseur über diesen ungewöhnlichen Dr. Sonnenschein einen Film gedreht hat…

Wo also waren die Christen und Theologen in den goldenen Zwanzigern in Berlin? Sie lebten – angeblich – behütet in ihrem eigenen Getto. Man denke daran, dass sich für überzeugte Katholiken – und das waren damals nicht wenige – in den zwanziger Jahren eigentlich der ganze Alltag und die ganze Freizeit in der Pfarrgemeinde abspielte! Dazu habe ich zahllose Zeugnisse aus der eigenen nahen Verwandtschaft gehört, etwa am Beispiel der Gemeinde St. Sebastian in Gesundbrunnen. Es waren kirchliche Parallelwelten zur großen Kulturen der zwanziger Jahre. Und wenn es dann dort in all den Clubs und Tanzlokalen usw. sehr freizügig zuging, dann waren klerikale Moral-Standpauken sofort zu vernehmen. Dass noch niemand eine Mentalitätsgeschichte der katholischen (und in geringerem Umfang wohl auch evangelischen) Gemeindegettos damals (und heute!) geschrieben hat, ist ein Mangel!

Paul Tillich bewegte sich in dieser großen und schillernden Welt der zwanziger Jahre. Kann man sich vorstellen, dass auch Romano Guardini im Berlin der Zwanziger Jahre manchmal tanzen ging? Dass er die Berliner Cafés der Literaten betrat?  Inkulturation (also lebendiger Austausch von Glaube und Kultur) ist ein Stichwort der heutigen Theologie, und es wird oft nur auf Afrika und Asien bezogen. Verwurzelung des religiösen, des christlichen Glaubens in der vielfältigen Kultur im Berlin der Zwanziger Jahre – hat es dies gegeben? Ich wage begründet zu sagen: Von Ausnahmen abgesehen, sicher nicht. Getto war der oberste (UN)wert damals…

Man darf gespannt sein, wie in der TV Serie „Babylon-Berlin“ Religionen und Kirchen „vorkommen“.

Wahrscheinlich wären Philosophen heute am ehesten in der Lage, etwa vom Standpunkt einer epikuräischen Philosophie aus, nach der permanenten Suche nach Luststeigerung im heutigen Berlin zu fragen. Und Soziologen werden feststellen, dass in Berlin mehr Menschen an Wochenenden sich in Clubs vielfältigster Orientierung aufhalten und in den Kinos und Theater- und Opernhäuser als in Kirchen zum Gottesdienst. Gilt also doch „Babylon (ist) Berlin“? Vielleicht nicht, wenn man sich den Perspektiven des jungen Theologen Paul Tillich anschließt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Für eine erste gesamtökumenische Enzyklika: Ein Plädoyer von Pfarrer Manfred Richter, Berlin.

Die Fragen stellte Christian Modehn. Veröffentlicht am 2. Oktober 2017

Ende Oktober 2017 geht die „Dekade“ zu Ende, in der die Menschen nicht nur in Deutschland eingeladen wurden, der Reformation zu gedenken. In den Zusammenhang passt als kritischer Impuls sehr gut Ihre neue, umfangreiche und gut von den Quellen her belegte Studie, die Sie im Untertitel zurückhaltend „“Essay zum Ökumenismus“ nennen. Darin fordern Sie eine „Erste Gesamtökumenische Enzyklika“, also ein Lehrschreiben, das von allen christlichen Kirchen verfasst und unterzeichnet wird und in den je eigenen Gemeinden verbreitet werden kann. Was sollte der wesentliche Inhalt einer solchen, geradezu sensationellen ökumenischen Enzyklika sein?

   Das Faktum selbst sollte die erste Botschaft sein: Es gibt Aussagen unseres Glaubens, die wir von nun an gemeinsam aussprechen wollen, weil wir sie teilen. Diese „gesamtökumenische“ Enzyklika, also ein Lehr-Rundschreiben oberster kirchlicher Repräsentanten (etwa der konfessionellen Weltbünde, des ÖRK und des Vatikan) gemeinsam, sollte die Bereitschaft kundtun, das ernst zunehmen und umzusetzen, was bislang alle Kirchen als ihren Willen schon erklärt haben: vertiefte Gemeinschaft zu leben in Wort und Tat, soweit keine gewissensmäßigen Hindernisse mehr im Wege stehen. Das ist gerade bei den grundlegenden Fragen der Fall: Wir sprechen das gleiche Vaterunser, bekennen das gleiche Glaubensbekenntnis, haben die gleiche Heilige Schrift und wissen alle, was das höchste Gebot ist: die Gottes- und die Nächstenliebe.

Nun liegen seit vielen Jahren viele theologische Studien vor, die den tatsächlich schon gegebenen Konsens der bisher getrennten Kirchen beschreiben. Warum folgen die Kirchenleitungen, vor allem die römische Kirche, nicht diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen? Ist es Ignoranz oder verbissener klerikaler Machterhalt?

   Der hier von Ihnen genannte Konsens, der in den strittigen Hauptfragen im Weltrat der Kirchen gemeinsam mit Rom weltweit und auch besonders in Deutschland gefunden wurde, besagt in der Tat, dass dieses Wort von einst: „Wir verwerfen die falsche Lehre …“, nämlich der jeweils anderen, so heute zwischen unseren Kirchen nicht mehr gilt. Überall hat sich das Bewusstsein verändert, durch Einsicht in eigene Versündigungen und unverantwortliche Verweigerungen untereinander; durch theologische Aufklärung und nicht zuletzt durch die Erfahrung der Herausforderungen der Zeit, besonders der verbrecherischen Regime der Nationalsozialisten und Bolschewiken – Hier entstand die Una-Sancta-Bewegung:„Wir glauben an die Eine Heilige Kirche“ in den Gefängnissen und Kriegsgefangenenlagern.. Sicher gibt es nicht wenig Mentalität „klerikaler Machterhaltung“, wie Sie sagen – das muss jede Kirche bei sich selber prüfen. Doch müssen auch die Gewissen geachtet werden, denen diese neueren Einsichten noch fremd sind, nachdem in den Kirchen fünf Jahrhunderte lang die gegenseitige Verurteilung gepredigt wurde. Und ängstlichere Gemüter, auch in Leitungsgremien, die sich an alte Auslegungen überlieferter Formeln gebunden sehen, statt sie geistbewegt neu zu denken, müssen gewonnen werden. Es soll nicht zu neuen Spaltungen kommen.

Was wäre der neue Aspekt und der neue Inhalt einer ersten gesamtökumenischen Enzyklika?

   Aufgrund des wechselseitigen Sich-Kennenlernens in nun mehr als hundert Jahren ökumenischer Bewegung zwischen den Kirchen der Protestanten und der Orthodoxen, und seit mehr als 50 Jahren auch mit der römisch-katholischen Kirche ist ein grundlegendes Vertrauen zwischen den einstigen Feinden gewachsen. Man versteht besser, wie und warum die anderen auf andere Weise glauben – und dass wir oft Gleiches oder Ähnliches meinen, wenn auch in anderen Worten oder Strukturen und Gebräuchen. Und man fängt an, zu erkennen, dass es dabei, wie schon im Neuen Testament selber und in der Kirchengeschichte immer, Unterschiede gab und geben darf, wie überall in menschlichen Kulturen. Daher kann jetzt, meine ich, ein gemeinsames Wort gewagt werden, welches das ausspricht: Tausend Jahre Feindschaft zwischen Christen im „Westen“ und „Osten“ der Christenheit ist genug, und 500 Jahre Feindschaft innerhalb der „lateinischen“ Kirche des „Westens“ sind genug: Alle einstigen Reformationsansätze blieben unvollendet. So müssen wir öffentlich bekennen, dass wir gemeinsam an das „aggiornamento“(die erneuernde Anpassung) des Christentums für sein drittes Jahrtausend herangehen müssen. Das muss eine Botschaft an die Gläubigen nach „Innen“ sein, um die Widerstände aus Gewohnheit zu überwinden. Sie muss aber ebenso nach „Aussen“gerichtet sein: wie soll sonst die christliche Versöhnungsbotschaft in einer Welt voller Machtkonflikte zwischen Religionen und Ideologien glaubwürdig sein? Daher sollte ein Schwerpunkt liegen bei der im Kern für Christen gemeinsamen sozialethischen Botschaft zu den so missachteten Menschenrechten und zur Bewahrung der bereits in hohem Masse bedrohten Schöpfung.

Warum sind Ihrer Meinung nach immer noch theologische Dokumente, Papiere, Studien, Enzykliken überhaupt notwendig, um die Einheit der Christen zu fördern?

Der Streit der Konfessionen wurde durch Theologien und ihre Ausformulierungen in Recht setzenden Dokumenten ausgefochten, welche jeweils die „Anderen“ ausgrenzten, verurteilten oder gar der Hinrichtung preisgeben. Daher muss diesen Theologien und ihren Dokumenten, wenn sie sich absolut setzen, der Giftzahn gezogen werden. Sie müssen auf den Status von Teil-Ansichten zurückgeführt werden, die einer umfassenderen Wahrheit und einer tiefer gegründeten christlichen Praxis dienlich werden müssen.  

Was verstehen Sie unter der Einheit der Christen und der Kirchen?

   Eine bunte Vielfalt lebendig gelebter christlicher Traditionen, die sich wechselseitig bereichern und jeweils selbst relativieren im Blick auf die vielen anderen Möglichkeiten, die christliche Botschaft – das Evangelium – zu leben, und das heißt eben: „Katholisch“ im Ursprungssinne dieses Wortes zu denken und zu glauben, zu beten und zu handeln. Daher sollten unsere Kirchen zunächst eine gemeinsame Stimme finden und kundtun, verständnisvoll miteinander lernend weitergehen in dem, was wir den „konzilaren Prozess“ nennen, um eine neue Form zu finden. Damit ihre großartige universale, eben ihre „katholische“ Gemeinschaft als Kirche auch sichtbar werde – als die gemeinsame geistliche Heimat der Vielen Verschiedenen, die auf dem Wege sind.

 Nun ist die heutige konfessionelle “Landschaft” unter den Christen sehr vielfältig: Man denke etwa an die vielen auch unter sich sehr gegnerischen Pfingstkirchen und an die vielen evangelikalen Bewegungen: Hat dann die Arbeit an der Einheit der Christen noch einen realistischen Bezug?

   Es kostete seit je viel Mühe, den Starrsinn und die Machtanmaßungen geistlicher Führer zu bändigen, großer Theologen oder Päpste ebenso wie von Lokalheroen oder Gurus. Nur die konsequente Einforderung der Selbstrelativierung im Angesicht Gottes und des Nächsten und das unumgehbare Liebesgebot, also die ethische Verantwortlichkeit, werden helfen, Wege zum Miteinander ausfindig zu machen, bei Anerkennung legitimer Unterscheidungen oder Besonderheiten. Der „Weltrat der Kirchen“ (Genf) ist geradezu das Labor dazu. Die Forderung einer uniformen Rechtssetzung für eine künftige Gestalt der Weltchristenheit ist abzulösen zugunsten der Suche nach Formen einer Anerkennung bereits gelebter oder möglicher Gemeinschaft auch recht verschiedener Traditionen auf der Basis von Heiliger Schrift, Credo und Vaterunser – dies, so meine ich, durchaus in neuer Gestalt im Weltmassstab. Ein gesamtchristliches Weltforum ist überfällig.

Was treibt Sie seit Jahrzehnten so an, dass Sie immer leidenschaftlich die versöhnte Verschiedenheit der Christen, also die Versöhnung und die Einheit, fördern und fordern? Ist dieses Engagement auch auf die politische Zerrissenheit der Welt bezogen?

   Meine Taufe war römisch-katholisch. Christ wurde ich, nach gutem Religionsunterricht (einschließlich Augustinus!) lutherisch; meine Wendung zur Theologie verdanke ich Romano Guardini, dem römisch-katholischen Kulturwissenschaftler und Vorkämpfer der Ökumene in NS – Zeiten. Meine Ordination verpflichtete mich der Una Sancta, für die ich in Württemberg und dann in Berlin, hier in einer Kirche der (protestantischen) Union tätig wurde, wo wir bereits in einer einzigen großen und „vielfarbigen“ (Eph. 3, 10) christlichen Gemeinschaft jeglicher Couleur leben. Wie könnte es also anders sein, als für „eine“ Stimme und auch „eine Gestalt“ der Kirche zu kämpfen, damit sie endlich in ihrer welt – bewegenden Botschaft glaubwürdig würde? Erst so, meine ich, könnte sie selbsternannten Potentaten und hasswütigen Predigern zeigen, was Sache ist. „Warten wir nicht länger“, so könnte ich einen Wahlslogan zitieren. Ich sage: Ergreifen wir den „kairós“: Den 31. Oktober 2017 als gottgegebene Gelegenheit, über den Schatten zu springen !

Copyright: Pfarrer Manfred Richter, Berlin.

Die umfangreiche Studie Manfred Richters hat den Titel: „Oh sancta simplicitas. Über Wahrheit, die aus der Geschichte kommt. Ein Essay zum Ökumenismus“. 426 Seiten, 2017, Siedlce.

Pragmatisch leben oder mit dem Pragmatismus leben UND denken ?

Zum Oktober Heft (2017) des „Philosophie Magazin“

En Hinweis von Christian Modehn

Das neue Heft des „Philosophie Magazin“ möchte ich vor allem wegen der Beiträge zur Philosophie des Pragmatismus empfehlen. Diese lebendige aktuelle Philosophie (siehe Richard Rorty) ist in Deutschland noch zu wenig bekannt. Deswegen erspare ich mir weitere Hinweise auf selbstverständlich sonst noch lesenswerte Beiträge in dem Heft.

Der Titel dieser aus den USA stammenden Philosophie erinnert, oberflächlich betrachtet, an so genannte pragmatische Menschen und vor allem pragmatische PolitikerInnen, jenen Menschentypus also, der möglichst fern von jeder festen Weltanschauung lebt und handelt und „je nach dem“, also je nach Lage der Dinge, das vermeintlich Beste für sich oder die eigene Nation bzw. Partei „herausholen“ kann. Der Kenner pragmatischer Philosophie, Prof. Michael Hampe, Zürich, nennt etwa Kanzlerin Merkel in dem Zusammenhang: „Sie ist ideologiefrei, sie ist eine Problemlöserin, sie passt sich an die jeweilige Sachlage an…“ (S. 60).

Pragmatismus als Philosophie und vor allem auch als philosophische Haltung hat mit diesem schwankenden und beliebigen pragmatischen Denken nichts zu tun. Eben auch nichts mit Utilitarismus. “Auf Handlungskonsequenzen eines Begriffes zu achten, wie es die pragmatistischen Philosophen tun, ist nicht gleichzusetzen mit einer Ethik der Nutzenmaximierung“ (S. 63). Pragmatismus leidet in Deutschland immer noch an vielen Missverständnissen. Er ist kein banaler Utilitarismus.

Wer sich aber auf die Philosophie des Pragmatismus also einlässt, kann in seinem alltäglichen Leben viel mehr Klarheit (und damit Lebensorientierung) gewinnen jenseits von technokratischen Nützlichkeitserwägungen: Es geht um die Klarheit der jeweils im Leben verwendeten Begriffe im Blick auf ihre praktischen, lebensmäßigen  Bedeutungen.

Martin Duru erläutert in dem Heft die Geschichte des Pragmatismus. Der zündende Geistes-„Blitz“ kam Anfang der 1870er Jahre, als Charles Sanders Peirce und William James in Cambridge, Massachusetts, USA, erkannten: Bei Begriffen reicht nicht die spekulative Erhebung von Bedeutungen und Verflechtungen mit anderen Begriffen. Es kommt darauf an, die lebens-praktisch bedeutsamen Konsequenzen eines Begriffs zu erkennen. Um die Jahrhundertwende steht dann William James im Mittelpunkt dieser „philosophischen Schule“. Martin Ducu schreibt: „Es gilt für James zu prüfen, welches `Verhalten` eine Idee diktiert oder anregt“. Auch das religiöse Verhalten der Glaubenden wird bei James unter diesem Maßstab beurteilt: Wer begrifflich behauptet, an Gott zu glauben, ist erst glaubwürdig, wenn die Handlungen dieses Menschen seiner Glaubenstheorie entsprechen. Das Buch von James „Der Pragmatismus“ (1907) wird ein Bestseller. John Dewey führt nach dem Tod von James (1910) die Philosophie des Pragmatismus weiter. Dewey kümmert sich auch um pädagogische Konzepte: „Learning by doing“ ist eine seiner zentralen Forderungen. Er verlangt dringend die Belebung der demokratischen Lebensform, die inhaltlich viel mehr ist, als bloß an einer Wahl teilzunehmen. Demokratie als Leben fordert auf, immer weiter zu suchen und immer wieder zu neuen Lösungen zukommen….Philipp Felsch vertieft diese Gedanken: “Der Pragmatismus bevorzugt konkretes gegenüber abstraktem Wissen und betrachtet das Denken nicht als Selbstzweck, sondern als Instrument zur Verbesserung unserer irdischen Existenz, weshalb er metaphysischen Spekulationen skeptisch gegenübersteht – es sei denn, sie hätten praktische Konsequenzen für unser Leben.“ (S. 43). Michael Hampe, Professor für Philosophie in Zürich, ist einer der besten Kenner des Pragmatismus im deutschsprachigen Raum. Mit ihm bietet das „Philosophie Magazin“ ein sehr interessantes Interview. Er sieht die aktuellen politischen Dimensionen des Pragmatismus in der Abweisung der heute schon fast üblichen „Experto-Kratie“: Die höheren Klassen stützen sich auf Experten, um ihre Macht durchzusetzen. Die Bürger – für unwissend gehalten und unwissend gemacht – werden zu unmündigen Subjekten, im „Brexit“ wurde dies deutlich (S. 61).

Für religionsphilosophisch Interessierte ist nicht nur William James wichtig. Auf den entsprechenden Beitrag weist der Religionsphilosoph Thomas Rentsch hin, wenn er in seinem Buch „Gott“, erschienen im Walter de Gruyter Verlag (2005) auf Charles S. Peirce aufmerksam macht (s. 147 ff.): „Gott ist ein Wort der Alltagssprache. Gerade in seiner Vagheit erfüllt es den Zweck, eine unbedingte Hoffnungs- und Sinnperspektive für jedermann verständlich zu artikulieren“ (S. 148), so fasst Rentsch die Position von Peirce zusammen.

Man denke auch daran, dass der große, kürzlich verstorbene Karl- Otto Apel eine wichtige Studie zu Peirce (bei Suhrkamp) veröffentlicht hat. Schade eigentlich, dass das Heft „Philosophie Magazin“ zum Thema Pragmatismus nicht an Apel erinnert. Ein Apel-Sonderheft wäre sehr spannend! Weil er doch auch Habermas sehr viele Anregungen gegeben hat. Und dieses Thema bewegt nicht nur „innerphilosophische“ Kreise…

Man ist zudem gespannt, ob das „Philosophie Magazin“ einmal im Verbund mit dem gleichnamigen französischen „Vorbild“ das Thema „Populäre Philosophie“ aufgreift, das Thema wurde immerhin als ein (Rand)-Thema beim Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Philosophie“ im September 2017 in Berlin debattiert. Gehört das „Philosophie Magazin“ selbst zur Populärphilosophie? Dies wäre eine hübsche Frage auch an die LeserInnen…

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Philosophie ist immer auch praktisch, insofern verständlich für viele, insofern auch populär ?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Beim Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Philosophie“ in Berlin (24.9. – 27.9.2017) gab es am 26.9. auch ein Forum zum wichtigen Thema „Populäre Philosophie“. Es war nach meinem Eindruck gut besucht mit ca. 80 TeilnehmerInnen. Leider kam der wohl am meisten interessierende Philosoph, Prof. Michael Hampe, Zürich, nach meinem Eindruck viel zu wenig, auf dem Podium sitzend, zu Wort. Er hätte so viele Fragen zu seinem Buch „Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik“, Suhrkamp, 2014, beantworten können.

Deutlich wurde in der 90 Minuten dauernden Veranstaltung die Mühe, mit der die meisten hier versammelten, an Universitäten und Hochschulen lehrenden und forschenden Philosophinnen mit der Wirklichkeit und Möglichkeit einer populären Philosophie haben. Sie sind offenbar so stark eingebunden in die akademische Welt, dass sie die nun einmal notwendig gegebene Verwurzelung des Philosophierens, allen Philosophierens möchte ich sagen, nicht so deutlich sehen. Philosophieren ist als Praxis der Philosophen in die Alltagswelt, auch in die politische Welt, eingebunden. Dabei ist wohl jeder noch so schwierige philosophische Text („Kritik der reinen Vernunft“, „Phänomenologie des Geistes“, „Sein und Zeit“ usw.) “letztlich” aus praktischen, drängenden Lebens-Fragen entstanden! Diesen praktischen (populären ?) Ursprung aller Texte darf man überhaupt nicht verleugnen. Man muss sich nur fragen, warum diese alltäglichen Fragen dann in einer oft so schweren Zugänglichkeit erörtert wurden und beantwortet werden, siehe etwa einige der sich in ihrer Sprache esoterisch gebenden, aber “medial” hoch angesehenen französischen Philosophen heute. Dabei ist auffällig, dass es andererseits in Frankreich durchaus kein Schimpfwort ist, als populärer Philosoph zu gelten, man denke natürlich an Alain, vielleicht sogar an Albert Camus oder sicher auch an den vielseitigen und gut lesbaren Philosophen André Comte-Sponville.

Philosophie jedenfalls ist weltweit eine akademische Disziplin neben anderen geworden, und dabei sicher eine der, quantitativ gesehen, kleinen Disziplinen, nicht ganz so klein gemacht im Wissenschaftsbetrieb wie die Ethnologie, aber ähnlich. Philosophie in dieser sicher auch politisch gewollten Begrenzung kümmert sich trotzdem oder deswegen fast nur um sich selbst: Es wird also Zeit, nach allen Seiten Philosophien der Philosophien zu entwickeln. Dies wäre ein dringendes Themen der nächsten 100 philosophischen Promotionen! Man hat natürlich nichts dagegen, wenn zum 100. Mal Kant und Hegel hinsichtlich ihrer Transzendentalität oder Geschichtlichkeit verglichen werden und dazu nicht gerade preiswerte Bücher in kleiner Auflage publiziert werden. Keine Frage: Forschung muss sein. Genauso wichtig wäre es aber dann doch, populär, also nachvollziehbar, also verständlich für alle, für die etwas Nachdenklichen und für die etwas Gebildeten (wer ist schon vollständig nachdenklich und umfassend gebildet ?) zu schreiben und zeigen: Was ist die Aktivität unseres Geistes im Sich – Orientieren, im Fragen, im Zweifeln, im Hoffen, im Lieben, im Sterben usw. Diese philosophischen Fragen „brennen“ (hoffentlich noch) den Leuten im Herzen und im Kopf. Warum fordert eigentlich niemand einen verpflichtenden Philosophie Unterricht in den Schulen, wie in Frankreich (obwohl dort die Realität des Unterrichts oft betrüblich ist, weil man Philosophie dort paukt wie Physik). In jedem Fall: Die Frage ist dringend: Was ist praktisches Philosophieren mitten im Alltag? Und diese Fragen müssten natürlich unter den Menschen, den so genannten Nicht-Philosophen, die aber philosophisch gesehen selbstverständlich als Menschen eben doch auch Philosophen sind, gemeinsam mit den Fach- Philosophen diskutiert werden. Das passiert aber nicht. Ansatzweise wird in den (populären ?) philosophischen Zeitschriften wie „Philosophie Magazin“, „Der blaue Reiter“, “Hoheluft“ dieser Dialog gesucht. Es müsste vielleicht ein gewisser philosophischer Ortswechsel stattfinden: Philosophen sollten öfter raus aus der akademischen Welt der Seminare und Schreibzimmer, und rein in die Gesellschaft, etwa in die bestehenden und noch zu gründenden philosophischen Gesprächskreise und Salons. Oder in die Kunstgalerien oder in die politischen und ethischen Debattierclubs, die Flüchtlings-Initiativen, die antirassistischen Initiativen und so weiter. Da spielen sich die Fragen ab unter den „Bürgern aller Fakultäten“, also aller weltanschaulichen und politischen Orientierungen. So könnte ein philosophischer Beitrag entstehen gegen das polemisch sich darstellende Auseinanderfallen der Gesellschaft, die wir gegenwärtig erleben. Neue Fragen würden so entstehen, eine neue Sprache würde entstehen, der Geist könnte etwas sprühen. Die Berliner bzw. Potsdamer Philosophin Prof. Susan Neiman wurde im Tagesspiegel (vom 27. 9., Seite 22) mit der treffenden Worten, gesprochen während des Kongresses, zitiert: „Man hat (also die Philosophen, CM) die richtigen Ideen. Aber Gespräche werden nur untereinander geführt und in einer Sprache, die nur ein paar Leute erreicht“…Zwar sehnen sich alle nach Theorie, aber was wir anbieten, befriedigt nicht das Bedürfnis“.

Nach meinem Eindruck, ich hoffe, ich irre mich, hat die Presse (in Berlin) den großen philosophischen Kongress jetzt im September 2017 kaum wahrgenommen. Welcher Nicht- Philosoph lässt sich von einem sicher philosophisch wichtigen, aber nach außen hin esoterisch wirkenden Thema „Norm und Natur“ in ein Uni-Gebäude bewegen? Bei dem Thema, so das populäre Verständnis, geht es doch auch irgendwie um (angebliche) natürliche Geschlechter – Identiät, sagte mir ein Freund, der allerdings eine philosophische Vorbildung hat. Da geht es um die Unfähigkeit, Natur als Natur überhaupt zu erleben, weil eben alles längst zur Kultur gemacht ist, sagte mir ein anderer Freund, sicher treffend. Aber dieser abstrakte Titel! Er ist Ausdruck der akademischen Begrenztheit auf die Innenwelt akademischer Lehr-Philosophie. Will “man” wirklich unter sich bleiben?

An wird also ab sofort viel mehr diskutieren, dass Philosophie doch etwas Merkwürdiges, Besonderes, ja Einmaliges ist: Wissenschaft auch, aber eben nicht nur! Immer bezogen auf (politische) Lebenspraxis, sich thematisch dieser verdankend. Philosophie fällt aus dem Rahmen der üblichen Zuordnungen. Sie ist dann doch gebunden an die orientierenden Dimensionen des Lebens, nicht im Sinne des Rezepte – Verteilens, aber der Klärung, Erhellung, Differenzierung usw. Philosophie bringt Licht ins Leben, oder neue Dunkelheit als gewusste. Aber sie ist niemals „Glasperlenspiel“.

Mich haben für diese Gedanken die Ausführungen von Michael Hampe inspiriert. Und sein Buch „Die Lehren der Philosophie“ muss weiter diskutiert werden, vor allem das erste Kapitel. Denn es gibt keinen Zweifel: Philosophie ist immer  „auch“ nicht-doktrinäre Philosophie, wie Hampe treffend und  provozierend schreibt.

Wir kommen darauf auch in unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin zurück.

Copyright: Christian Modehn, Berlin.

Wenn Gott schwarz wäre…Ein Buchhinweis

Wenn ein katholischer Pfarrer aus der „Demokratischen Republik Kongo“ von Rassisten aus München vertrieben wird

Ein Buchhinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 25.9.2017

So schlimm ist es bereits gekommen: Rassisten gelingt es, mit ihren Attacken einen katholischen Priester aus seiner Gemeinde in München – Zorneding (9.000 Einwohner) zu vertreiben: Über die Ereignisse berichtete 2016 sogar das ERSTE in den Tagesthemen. Nun hat der betroffene Pfarrer und habilitierte Philosoph Olivier Ndjimbi-Tshiende eine Art Rückblick auf die Ereignisse in München – Zorneding geschrieben und dabei die Chance genutzt, auch einige seiner theologischen Überzeugungen vorzutragen unter dem Titel „Und wenn Gott schwarz wäre…“

Im September 2012 wird Pfarrer Olivier, wie er allgemein wohl genannt wird, in Zorneding in sein Amt eingeführt. Nicht allen gefällt die Anwesenheit dieses afrikanischen Geistlichen im so gut katholischen, aber eben weiß – blau bayerischen Bayern. Vor allem die Ortsvorsitzende der CSU im Kreisverband Zorneding Sylvia Boher, eine promovierte Politologin, beginnt im Oktober 2015 in ihrem Parteiblättchen gegen Flüchtlinge einerseits zu hetzen und Pfarrer Olivier zu attackieren: Er hat sich erlaubt, die humane Geste in der frühen Flüchtlingspolitik von Angela Merkel öffentlich zu loben und richtig zu finden. Die AFD unterstützt die Äußerungen der CSU Frau (S. 25). Der 2. führende CSU Mann dort, Johann Haindl, nennt den Pfarrer „unseren Neger“ (S. 23).

Aus dieser Polemik der CDU Ortsvorsitzenden entwickeln sich heftige verbale Attacken gegen Pfarrer Olivier, bis hin zu unsäglichen Beleidigungen und Drohungen, die um Leib und Leben fürchten lassen. Anonyme Morddrohungen werden abgeschickt, später wird ein Rentner zu 10 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt: Er hatte gedroht, den Pfarrer während der Messe zu ermorden. Aber in Zorneding ist die Bevölkerung keineswegs geschlossen aufseiten des attackierten Opfers. „Die Leute machen ihn und seinen Pfarrgemeinderat dafür verantwortlich, dass der ganze Aufruhr um den Text der CSU Frau Boher solche weiten Kreise zieht“ (s. 34). Und das Ergebnis? Das Opfer, der afrikanische Priester, soll schuld sein am öffentlichen Streit über Flüchtlinge und „den Neger – Priester“. Pfarrer Olivier will in diesem widerlichen Milieu nicht weiter leben und arbeiten: Am 6. März 2016 kündigt er seine Abreise aus Zorneding an. Heute arbeitet der Theologe und Philosoph an der katholischen Universität Eichstätt über Flucht und Migration.

Offen bleiben in dem Buch zu den Zornedinger Ereignissen einige Fragen: Wie stark war die Unterstützung der Pfarrer Kollegen für ihren afrikanischen „Mitbruder“? Wie stark war von Anfang die Unterstützung des Münchner Kardinals Marx? Hat er dazu Stellung genommen? Wie hat sich die Parteiführung der CSU in München zu dem rassistischen Skandal verhalten? Warum wagt man es nicht in der Kirchenverwaltung des Erzbistums München, Pfarrer Olivier eine andere Stellung als Pfarrer zu geben, wenn er denn das noch will. Offenbar sind Christen in Deutschland oft nur in der Lage, Geld für Afrika zu spenden, für die armen Heidenkinder, wie man früher sagte. Aber sie sind nicht bereit, sich darüber zu freuen, dass nun aus Afrika selbst ein kompetenter Theologe seine spezielle Sicht des Glaubens erläutert. Diese Leute in Zorneding und anderswo haben offenbar wenig Interesse am Dialog, am Fragen, am Neues Entdecken. Ich hätte mir noch sehr viel mehr harte Fakten in dem Buch gewünscht. Aber offenbar ist der Autor so betrübt, dass er die Zusammenhänge rassistischer Überzeugungen von Katholiken über die CSU bis zur AFD nicht weiter ausführlich freilegen will. Angesichts der Bundestagswahlergebnisse in Bayern wäre darüber erneut zu sprechen.

Pfarrer Olivier ist so höflich, dass er seine eigenen theologischen Vorschläge zur Reform der Katholischen Kirche sehr vorsichtig formuliert. Der 2. Teil des Buches, also ca. 140 Seiten, handelt davon. Es geht um die “ewigen” katholischen Reformthemen, wie Abschaffung des Pflichtzölibates, Zulassung von Frauen zum Priestertum, mehr Barmherzigkeit, und auch dies ist wichtig für den Autor: Weniger Dogmen in einer Kirche, die tausend und einen Lehrsatz kennt und predigt.

Dies sind alles Themen, die in der europäisch dominierten Theologie seit Jahrzehnten – ohne Erfolg selbstverständlich – vorgeschlagen werden. Denn gäbe es nicht den Pflichtzölibat, bräuchte kein polnischer, indischer oder nigerianischer Priester in Deutschland die Lücken stopfen, die der Priestermangel in Deutschland und ganz Europa erzeugt. Und Pfarrer Olivier hätte von vornherein, seiner Ausbildung angemessen hierzulande die afrikanischen Formen des Christentums erklären können….

Bei dem Titel des Buches „und wenn Gott schwarz wäre“ erwartet der Leser zudem auch Hinweise zu afrikanischen Theologien und Spiritualitäten, etwa Berichte über die Inkulturation des Glaubens in den afrikanischen Kulturen. Über die Rolle des Tanzes in der katholischen Eucharistiefeier. Oder Hinweise zu den unterschiedlichen Strömungen afrikanischer Philosophien. Oder Hinweise zu dem von Rom verbotenen Ritus der „Messe von Kinshasa und Zaire“. Oder Stellungnahmen zur heftigen und in Europa als absurd empfundenen Abweisung von gelebter Homosexualität durch die allermeisten katholischen und evangelischen Bischöfe in Afrika. Das Buch „und wenn Gott schwarz wäre“ hinterlässt den Leser also nach großen Erwartungen bei dem Titel sehr ratlos. Das muss bei allem Respekt fürs Leiden Pfarrer Oliviers in Zorneding gesagt werden. Wenn Gott schwarz wäre: Würden dann die weißen Europäer den schwarzen Gott verehren? Jesus von Nazareth, geboren in Kinshasa, warum eigentlich nicht? Aber welchen Sinn haben überhaupt, philosophisch betrachtet, Farbzuweisungen zur geheimnisvollen Wirklichkeit Gottes? Unseres Erachtens gar keinen. Gott und das Göttliche haben keine Farbe und kein Geschlecht. Zentral bleibt die jesuanische Botschaft von der prinzipiellen gleichen Werthaftigkeit aller Menschen! Dies ist die Mitte des Glaubens, auch die politische. Sie passt nur all jenen Christen nicht, die sich als Europäer und CSU Mitglieder für etwas Besseres halten. Und das bedeutet: Vom Christentum haben diese Herrschaft eigentlich nichts verstanden, trotz der Predigten, Wallfahrten, Messen usw., die seit 1000 Jahren im Land der Bayern und anderswo gefeiert werden. Sind alle diese kirchlichen Veranstaltungen wirkungslos geblieben? Manchmal möchte ich das glauben.

In jedem Fall würde ich mir wünschen, wenn Pfarrer Olivier die Kraft fände, die oben genannten Themen zur Inkulturation des Christentums und des Katholizismus in Afrika oder wenigstens rund um den Kongo in einem weiteren Buch zu besprechen. Klar ist, dass uns Lesern hier dann auch die Frage dringend bewegt, wie es denn weiter geht mit der Diktatur in der „Demokratischen Republik Kongo“? Wann wird sie von wem vertrieben und verschwinden? Welche Europäer profitieren von den vielen Diktaturen in Afrika? Braucht Europa das elende Afrika für den eigenen Profit? Diese Fragen sind endlos. Sie werden selbst von aufgeschlossenen Politikern in Europa kaum noch gestellt. Und selten von Kirchenleuten, die es eigentlich wissen (müssten). Zurecht kritisiert Pfarrer Olivier,so wörtlich, die Prunksucht einiger Bischöfe hierzulande. Interessant wären seine Schilderungen, wie denn afrikanische katholische Bischöfe leben? Wie diese dann wahrscheinlich eher armen Bischöfe die Prunksucht ihrer so netten Bischofskollegen in Deutschland erleben? Denken sie dann vielleicht zu recht an Klassenunterschiede in der einen, angeblich so brüderlichen Kirche. Heiße Themen, an die sich niemand heranwagt. Weil die armen Bischöfe, wenn sie denn relativ, auf ihre Bevölkerung bezogen, tatsächlich arm sind, die paar Euros brauchen, die ihnen die Prunkbischöfe mit ihrem Milliardenhaushalt in Deutschland zuwerfen. Und man fragt sich zum Schluss, was die einst kolonisierten und misshandelten Völker Afrikas eigentlich an die Religion, also das Christentum, ihrer gar nicht so lieben Kolonialherren damals wie heute innerlich und spirituell bindet.

Olivier Ndjimbi – Tshiende, „Und wenn Gott schwarz wäre…“ Gütersloher Verlagshaus, 2017. 17,99 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Was tun? Wie können wir das Bessere und das Wertvolle tun in politischen Krisenzeiten?

Hinweise für ein Gespräch im religionsphilosophischen Salon am 15.9.2017

Von Christian Modehn

Der Titel des Buches der Philosophin Hilal Sezgin „Nichtstun ist keine Lösung“ hat uns zum heutigen Salon inspiriert, einige philosophische Hinweise zu diskutieren: Über das Tun, unser Tun, in einer radikal als Krise und Umbruch erfahrenen Gegenwart. Dabei wird jeder selbst entdecken, wo und wann und wie er sich im politischen Tun neu orientiert. Kriterium bleibt wohl immer: Mein Tun soll vor den Kriterien der allgemeinen Vernunft bestehen.

Eine Reflexion über unser Tun:

Was kann ich tun im Sinne der Verbesserung der Verhältnisse, denn darum geht es. Es soll besser werden, d.h. nicht Krieg geben, sondern Frieden. Nicht dumme Politiker, sondern reflektierte wollen wir wählen können. Und vor allem: Weil ich nie als einzelner und Isolierter lebe und denke: Was können wir gemeinsam tun im Sinne einer Verbesserung der Verhältnisse?

Was kann das Philosophieren da leisten?

Es ist sicher die aus dem Abstand geleistete Reflexion auf einige Begriffe wie TUN und Handeln, beide sehe ich jetzt mal noch als Einheit.

Dabei ist es philosophisch wichtig, bereits auf die Implikationen zu achten, die in meinem Tun immer schon indirekt, oft aber unreflektiert, mit enthalten sind. Dann nämlich ist das neue Handeln zugunsten des Besseren durch uns gar nicht mehr so fern und fremd. Neues und Besseres tun ist keine ferne Idee und unerreichbare Utopie. Mit einem Wort: Wenn wir handeln und immer schon handelten, dann wollen und wollten wir immer schon das Bessere. Wir müssen JETZT nun nur sehen, was denn in dieser Situation das Bessere ist! Das heißt: Wenn ich etwas tue, wenn ich mich um mich kümmere, meine Bildung, meinen Beruf, dann ist darin immer enthalten eine grundsätzliche Lebensbejahung. Ich will durch mein Tun leben! Und zwar möglichst gut leben und damit wohl auch besser als in meinem jetzigen Zustand, weniger krank,, gebildeter, kommunikativer. Selbst wenn ich das Gegenteil von all dem wähle, glaube ich noch, dass der Rückzug oder der Egoismus oder das Verharren auf einem ungebildeten Niveau für mich dann doch das “Beste” sein soll.

Mit anderen Worten: Ich entkomme in meinem Leben nicht und niemals der Praxis, gut und möglicherweise besser als in meinem jetzigen Zustand zu leben.

ABER: Das gute Leben hat für uns hier in Europa eine andere Bedeutung hinsichtlich des materiellen Wohlstandes als für einen armen Bauern in Brasilien. Er hat sehr berechtigte Wünsche, dass es ihm auch materiell besser geht. Bei uns hier ist der Wunsch nach materiell besserem Leben eher auch problematisch, gebunden an das unreflektierte Dogma des ständigen ökonomischen Wachstums… Fortschritt hat für den Bauern in Brasilien eine andere Bedeutung als für uns. Fortschritt ist für uns hier eher auch Askese, möglicherweise Verzicht, den aber alle leisten sollten, nicht nur die Rentner und prekär Beschäftigten.

Diese Hinweise sind also keineswegs als Bejahung der Wachstums – Ideologie zu verstehen. Das gute Leben ist mehr als das finanziell gute Leben.

Dabei ist aber auch eine weitere Implikation klar: Mein Leben kann ich nur gestalten in meinem Tun, wenn ich anerkenne: Alles, was ich tue, verdanke ich den anderen. Andere haben mich meine „Mutter“ – Sprache gelehrt; andere liefern das Getreide, andere sind bereit, mich zu informieren usw. Das heißt: Wenn ich also handle zu meinen Gunsten, bin ich immer schon eingebunden in ein Netz von anderen. Und das ist entscheidend: Ich kann mich also nur um mein gutes Leben kümmern, wenn ich mich auch gleichzeitig um die anderen kümmere und ihnen die gleichen Chancen einräume wie mir. Und das neue Tun zugunsten des Besseren kann nur in einer neuen Gemeinschaft gelingen.

Diese Implikationen zu erkennen, scheint mir fürs persönliche Philosophieren zentral zu sein.

Indem ich leben will, will ich auch, dass andere gut leben. Das heißt in meiner gesamten Alltags – Praxis ist indirekt der Wunsch nach einem guten und besseren, im Sinne des ethisch besseren Lebens, für alle enthalten. Aber das gute Leben ist jeweils weltweit inhaltlich abgestuft, das ist eine Form der Gerechtigkeit.

Aber was ist eigentlich Tun/Handeln?

Wir müssen erkennen, dass Tun und Erkennen, also Theorie, stets eine Einheit sind. Es ist nicht so: Hier erkenne ich sozusagen erst mal isoliert vom Tun am Schreibtisch etwas, widme mich also dem Geistvollen und der Theorie. Und dann trete ich aus der Studierstube hinaus und handle in einem eigenen, vom Erkennen, getrennten Vorgang. Diese falsche Vorstellung einer totalen Trennung von Theorie und Praxis fällt mir immer ein, wenn ich an die Parteitage der SED oder der KPDSU denke: Da hieß es: Wir müssen die Beschlüsse, also die angehoben theoretischen Erkenntnisse der Parteitage, nun in die Praxis umsetzen, also in der Außenwelt gegenüber der Innenwelt der Theorie realisieren. Grüner Tisch gegen Realität könnte man diese Konzeption nennen. Diese Praxis – Vorstellung herrscht immer noch vor. Sie ist falsch.

Alles menschliche Leben ist immer schon Tat. Darauf hat Heidegger in „Sein und Zeit“ hingewiesen: Er beginnt seine Analysen mit dem In-der-Welt-Sein des Menschen.

Wir sind jeweils als ein sich wissendes Ich entstanden aus einer ursprünglichen Tathandlung, darauf hat der Philosoph Fichte schon in seiner Wissenschaftslehre von 1794 hingewiesen. Ihm geht es um die Erkenntnis der innersten geistigen Struktur, wie der Geist erwacht, mein Geist, und wie er sich in der Gleichzeitigkeit als Ich weiß und als Ich bejaht, „setzt“, sagt Fichte. Der Mensch als jeweiliges Ich ist also Ergebnis eines Tuns. Geist und Tun sind also identisch.

FICHTE zeigt den Primat der Praxis vor der Theorie und spricht „von einer Subordination, Unterordnung, der Theorie unter das Praktische“.

„Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind (also immer schon handeln müssen, CM). Die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft“ (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 1794).

Der Mensch setzt sich selbst als vernünftiger Mensch, das Tun des Setzens ist mit dem Produkt, dem sich gesetzten Menschen, identisch: “Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins“ . Das Ich ist also zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und Tat sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer Tathandlung“. (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Hamburg, Meiner, 1997, S. 16). Ich bin also im tiefsten und wesentlichen immer tätig. Ich bin immer tätig, auch wenn ich nur nachdenke.

Wir müssen ein neues Verständnis fürs Reflektieren als Tun gewinnen: Dieses Reflektieren ist ein Präsentsein in der Gegenwart, es ist das Beobachten der Wirklichkeit, das lebendige und kritische Dasein in der Gegenwart. Denken ist Tun.

Erst, wenn es Handlungsmöglichkeiten gibt, das Bessere zu tun, sollten wir eingreifen. Es ist dies der Kairos, der richtige Augenblick, den es manchmal abzuwarten gibt. Ein Kairos mag später noch einmal wieder kommen, aber dann unter erschwerten Bedingungen für eine bessere Zukunft. Man denke etwa an die Abweisung der Klimaverträge durch die Trump – Regierung. Den verpassten Kairos zu reparieren ist mühevoll, manchmal unmöglich.

Auf dieses INNERE TUN gilt es zu achten:

In jedem Denken als Tun spielt auch eine Entscheidung hinein: Also die Reflexion ist dabei: Was will ich jetzt als im Augenblick Wichtiges tun? Erlebe in mir eine Art Aufruf: Was ist jetzt wichtig für mich? Ich stehe in einer Situation der Entscheidung. Und folge dann dem Üblichen, dem Eingespielten, dem Ritus, oder entscheide mich neu für was anderes.

Dieses innere Erleben und innere Reflektieren der Entscheidungssituation ist der Ursprung der Handlung und der Tat: Ich bin stets inmitten von Entscheidungen, die meisten alltäglichen aber „laufen“ förmlich nach Gewohnheit ab. Ich tue also immer etwas, und die Frage ist nur: Was ist das richtige Tun für mich und was ist in diesem Tun auch für die anderen, die Gesellschaft hilfreich und gut?

Dies ist die Frage, die im Übergang, im Zwischenraum der Entscheidung fürs Tun, für neues Tun, gestellt wird. Dies ist aber entschieden eine Frage, die auch nach einem Sollen fragt, was denn sein soll zumindest für eine Gruppe, im Grunde aber für die Welt der Menschen im ganzen. Denn alle Menschen sind als Menschen bekanntlich gleichberechtigt. Das Tun des Guten, vermittelt durch den kategorischen Imperativ oder durch eine abwägende Ethik, ist nötig. Aber es muss eben das Tun des Guten sein. Etwa die Entscheidung, viel weniger Fleisch zu essen, vegetarisch zu leben, dann gerate ich in ein neues Lebensmodell: Ich bin aus der Welt der Fleischkonsumenten in die Welt der Vegetarier eingetreten. Ich bin sozusagen ein Konvertit. Der Dialog ist die Mitte fürs Denken als Tun: Das Sich Aussprechen mit anderen, die Korrekturen, die gemeinsamen Verabredungen fürs Tun in der Gesellschaft sind Mittelpunkt des Tuns als Reflexion.

Wer meint, politisch absolut nichts zu tun und nicht einmal wählen geht, stärkt mit seinem Nichtstun die Rechten und Rechtsextremen. Denn diese militanten Leute gehen eben unbedingt zur Wahl und machen ihre Partei gegenüber demokratischen Parteien stark. Die Demokratie kann an der Faulheit der Demokraten zugrunde gehen.

Was also leistet das Philosophieren?

Es ist die Denkpraxis der Analyse, der Kritik, der Selbstkritik, es ist das Abstandnehmen von Selbstverständlichkeiten, es ist der Mut, Neues im Denken zu entdecken und diese Entdeckung nicht bloß als Theorie abzutun, sondern als Beginn einer Handlung und Tat, weil das Denken selbst schon Tat ist. Die konkrete Arbeit, etwa in der Kritik der Ökonomie, etwa gegen Steuertricks vorgehen im Rahmen von ATTAC: EU muss gegen Steuertricks von Facebook, Apple, Amazon und Co. vorgehen. Die philosophische Analyse öffnet Wege ins Tun, in andere Wissenschaften, in politische Praxis, wobei die Philosophie immer das Kriterium vorlegt: Ist das ethisch gut, was ich da tue. Das heißt: Das philosophische Denken verlässt niemals das geistvolle Leben.

2. Die antike und mittelalterliche Philosophie hat streng getrennt zwischen Theoría und Praxis. Theoria also als Kontemplation verstanden, die mit dem politischen Tun des Bürgers, und dies war damals Praxis, nichts zu tun hatte. Mit dem Göttlichen wird der Mensch vereint in der Theoria, der Kontemplation, nicht in der Praxis: Man bedenke den radikalen Unterschied etwa zur Weisheitslehre Jesu: Da wird von Jesus das Tun des Guten (Helfen, Speise geben, Kranke Besuchen, Nackte bekleiden usw.) als Praxis beschrieben, die mit Gott verbindet. Praxis also ist Gottesdienst. Heute bedeutet religiöse Praxis, sonntags zur Kirche zu gehen und zu beten, das heißt dann Gottesdienst, welch ein Unterschied zu Jesu Weisheit. Da wäre über jüdisches Denken und griechisches Denken, also über die Rolle der Theoria jeweils.

Wegen der Bindung an griechische Philosophie (und der Distanz von jüdischem Denken) hat sich die spätere Kirche von Jesu Weisheit distanziert und das kontemplative beschauliche Dasein der Mönche lange Zeit als den besseren Weg zu Gott gehalten, besser und gottgefälliger als den Weg der Laien, die in der Welt zu tun hatten. In der Reformation wurde diese Sicht aufgegeben.  In der Philosophie Geschichte hat Kant förmlich auch einen philosophischen Trost zu bieten für Menschen, die handeln, aber im Handeln zur Resignation, zur Hoffnungslosigkeit neigen, „weil mein kleines Handeln ja nichts nützt“, sagen viele.

Diese Frage im Hintergrund, beantwortet Kant in mehreren seiner Hauptschriften. Zusammengefasst:

Bei KANT wird dann Praxis als Tätigkeit verstanden, die eine Anwendung von Begriffen und Prinzipien bedeutet. Und diese Tätigkeit bezieht sich auf die sinnlich vermittelte Erfahrung, also auf die Außenwelt der Dinge und der Natur um uns herum.

Dieses Tun hat als Voraussetzung den freien Willen. Der Wille reagiert nicht passiv auf etwas, sondern er entscheidet sich frei etwas zu tun.

Aber dieses Tun ist geleitet von den allgemeinen moralischen Prinzipien. Ein Beispiel: Ich will jetzt Gutes tun, mich für eine Klinik der Armen engagieren z.B. Ich erkenne das in meinem moralischen Bewusstsein, dass ich das unbedingt tun soll, weil die Not um mich herum oder in der Ferne so groß ist.

Da ist es interessant, dass Kant dieses – selbstverständlich im Umfang immer begrenzte – Tun des Guten vor der Verzweiflung bewahrt, zu der einzelne, wenn er etwas Gutes tut, oft neigt: Es gibt Rückschläge, Widerwärtigkeiten, Erfolglosigkeiten usw…

Kant will gegen den sich einstellenden Defätismus vorgehen. Er will gegen die Verzweiflung vorgehen, die sich in der Praxis ergibt.

Er sieht durchaus, dass die christliche Religion da Hilfen bietet, indem sie sagt: Dein Tun wird gottwohlgefällig sein und letztlich dem Aufbau des Reiches Gottes beitragen. Dieser Gedanke, dass nichts gut Getanes vergeblich ist, tröstet religiöse Menschen.

Kant will aber die religiösen Inhalte in eine rationale Argumentation für alle (!), auch für Nicht – Christen, überführen, darum sagt er: Das Tun des Guten, das Entsprechen also dem moralischen Sittengesetz also, befördert „das höchste Gut“ der Menschheit, das ist sozusagen ein säkularisierter Begriff des christlichen Reiches Gottes. Habermas spricht davon, dass Kant, Hegel und Marx dabei noch den „Stachel des religiösen Erbes“ spüren lassen.

3.  Was führt uns ins TUN und was führt uns im Tun?

Da muss über den MUT gesprochen werden. Dabei ist zu erkennen, dass Mut eine zwiespältige Praxis ist. Mut kann Tugend und Untugend sein: Wer sein eigenes Leben gefährdet und einen Ertrinkenden rettet, ist mutig. Wer voller Stolz eine Bombe an seinen Körper legt und diese zündet und sich und andere tötet, ist zwar nach außen hin mutig, de facto aber ein Verbrecher. Tugendhaft mutig sind diejenigen, die immer noch Flüchtlinge auf Schlauchbooten im Mittelmeer retten, eher feige und einfallslos sind diejenigen Politiker, die ihre Nationen einmauern, die die verbrecherischen libyischen Machthaber um Hilfe bitten, doch die Flüchtlinge von unseren Wohlstandsinseln fernzuhalten.

Mut als Tugend hat also immer mit dem Schutz des Lebens und der Förderung anderer zu tun. Martin Seel sagt in seinem empfehlenswerten Buch „111 Tugenden, 111 Laster“, S. 178: „Mut ist eine Tugend von irritierender ethischer Neutralität“. (siehe das Beispiel des mutigen Verbrechers). „Mutig sind Personen, die bereit sind, unter bestimmten Umständen ihr eigenes Wohl aufs Spiel zu setzen oder zu gefährden… „Nur wer Angst verspürt, kann Angst überwinden“, also dann doch mutig eingreifen.

Mut ist auch die Tugend, etwas (neu) zu beginnen. Und die Tugend, das richtig Begonnene weiter zuführen. Mut ist die Tugend, sozusagen im Gegenwärtigen transzendierend auf das Bessere zu hoffen. Man muss kämpfen, weil alles andere unwürdig ist. Feiglinge sind meist unangenehme Typen.

Dem Mut gegenüber steht vor allem die Willensschwäche: Thomas von Aquin sagt, der Willensschwache halte sich nicht an seine eigene Erkenntnis, „er geht nachlässig mit den eigenen Erkenntnissen um“ (Seel, S 54). „Die Willensschwachen verlieren die Selbstbeherrschung, indem sie einer Verlockung nachgeben, die ihren eigenen generellen Vorsätzen direkt widerspricht“ (ebd.) Gute Vorsätze haben mit der Zukunft zu tun, aber die jetzige Gegenwart steht uns näher: Wer da in der Gegenwart genießt, vergisst die bessere Zukunft. „Ein bisschen Regression darf sein“, denken wir dann falsch und handeln falsch

Der Mut als Tugend als Engagement für das bessere Leben der andern und deswegen auch meines Lebens ist eine Art Dynamis, eine Art innerer Schwung, der das Leben begleitet. Mut ist die geistige Triebkraft im Handeln, also im Leben.

Was bedeutet das heute? Wo können wir noch mutig sein?

Mut die richtige Sprache sprechen. Nicht nachplappern. Die richtigen Analysen machen, die der Selbstkritik standhalten. Selbst reflektierend sprechen. Fakten als Fakten anerkennen. Mutig ist, wer als Abweichler auffallen. Mut ist, nicht allen Blödsinn etwa der Parteien als Parteimitglied noch mitzumachen, sondern eben auszusteigen. Das gilt selbstverständlich auch für religiöse hierarchische Machtorganisationen.

Mut ist als politische Tugend die Haltung des reflektierten Ungehorsams.

Was tun, wenn ich nichts mehr machen kann in offenbar ausweglosen Situationen? Eine schwere Frage religionsphilosophische und theologische Frage, die jeder und jede aufgrund seiner je eigenen Spiritualität beantworten kann.

Da gibt es etwa den in der Türkei gefangenen, aus Berlin stammenden Journalisten und Menschenrechts- Aktivisten Peter Steudtner. Er ist mit der evangelischen Gethsemane Gemeinde in Mitte verbunden.

Was können seine Freunde tun in dieser Situation der Gefangenschaft? Natürlich kann jeder individuell an ihn denken und versuchen, diese Gedanken ihm im Gefängnis irgendwie zu übermitteln.

Etwas anderes ist möglich im gemeinsamen Tun:

In der Gethsemanekirche wird regelmäßig Peter Steudtner in öffentlichen Gottesdiensten gebetet.

Was heißt da Beten und Bitten? Gott soll Peter Steudtner aus dem Gefängnis holen? Dies kann nicht das Ziel des Gebetes sein. was wäre dies für ein unvernünftiges Gottesbild. Wer an Gott glaubt, will doch nicht an einen unvernünftigen Gott glauben: Etwa: Gott soll Peter Steudtner retten, nicht aber die andere in der Türkei gefangene Menschenrechtsaktivisten, für die vielleicht niemand betet usw…

Das Gebet gilt den Betenden, den Versammelten: Sie wollen sich in der Gemeinschaft in einem Raum besonderer Art, einer Kirche, sammeln und sich stärken, Peter Steudtner niemals zu vergessen. Nicht das Elend in der Türkei zu vergessen, nicht das – geistige, politische – Elend der Welt zu vergessen. Die stärkende Kraft des Ritus ist nicht zu unterschätzen: Kerzen anzünden. Sprechen, Stammeln, Singen, einander die Hand reichen… und wissen, dass andere da sind, die die eigene Lebensauffassung teilen. Glauben diese Menschen, dass sich ihre geistige Energie, nennen wir dies Gebet, sich förmlich bündelt? Sich überträgt, dass sogar die betreffende Person diese Energie spürt? Davon sind manche überzeugt, auch wenn es dafür selbstverständlich keine Beweise gibt. Ich erinnere nur an die Widerstandskämpfer in der Nazizeit: Wenn diese Männer dann Briefe von ihren Frauen im Gefängnis erhielten, die versicherten: Ich denke an dich, war dies eine unglaubliche Stärkung, den eigenen Weg, wie auch immer, möglicherweise bis zur Hinrichtung, zu gehen, weil sie sich nicht nur in der Welt der Familie geborgen wussten, sondern in einem letzten Sinngrund, der größer ist als alle Gewalt und Politik.

Dass es sinnvoll ist, in solchen Situationen weiterzuhandeln, hat ja Kant gezeigt: Wir können in unserem Handeln, das sich immer in komplexen Zusammenhängen gestaltet, niemals alle einzelnen Wirkungen unseres so begrenzten Tuns voraussehen. Wir wissen nur, dass es Wirkungen gibt in jeglicher Aktivität, in jeglichem Sprechen… sicher auch in unserem philosophischen Salon….

Es gibt aber durchaus Situationen der Aussichtslosigkeit, wo sich der einzelne nur noch in seiner persönlichen Poesie, seinem Gebet, dem jeweiligen persönlichen Gott anvertrauen kann. Um aus dieser poetischen Praxis Energie für sein und unser Leben, auch für den Ungehorsam, den Widerstand, zu finden…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Literaturtipps zum Salon am 15.9.2017

Philipp Blom, Was auf dem Spiel steht. (Für eine neue Aufklärung unter den Prämissen des 21-. Jahrhunderts). Hanser Verlag 2017, 223 Seiten, 20 Euro.

Hilal Sezgin, Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs. Dumont Verlag, 2017, 159 Seiten, 14 Euro.

Martin ROTH: WIDERREDE. 2017, 96 Seiten, 9,95 Euro. Edition Evangelisches Gemeindeblatt: Auf der Spiegel Bestseller Liste! Mit großer Sorge beobachtete Martin Roth – bis Herbst 2016 Direktor des Victoria and Albert Museums in London – die aktuellen politischen Entwicklungen in Europa. Entsetzt über den Brexit verließ er seine Position als Museumsdirektor in Großbritannien und kehrte nach Deutschland zurück. Roth sah die politische Kultur und die Idee Europas in großer Gefahr – nicht nur, weil Politiker in seinen Augen die Politik allzu oft als bloße Machterhaltungsmaschinerie begriffen, sondern auch, weil die Bevölkerung den Politikern zu viel überließ… Martin Roth ist am 6.8. 2017 plötzlich gestorben…

Zur Philosophie über die Tugend des Mutes:

Sehr inspirierend ist das Buch über Tugenden und Werte des von mir schon oft empfohlenen französischen Philosophen André Comte – Sponville. „Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben“, RoRoRo, meine Ausgabe von 2001 kostete damals nur 8, 90 Euro. Zum Mut dort S. 59 bis 75.

Nach wie vor empfehlenswert das Buch des Frankfurter Philosophen Martin Seel, „111 Tugenden, 111 Laster“. S. Fischer Verlag, 2011, zum MUT S. 178 ff.

Zur Tugend des Ungehorsams: immer noch grundlegend:

Das Buch des Freundes von Montaigne, also von Etienne de La Boétie: Von der freiwilligen Knechtschaft, mehrere Ausgaben, etwa auch: Europäische Verlagsanstalt.

Henry David Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Viele Ausgaben.

 

“Nichtstun ist keine Lösung”

Eine Buchempfehlung von Christian Modehn am 3.9.2017

Die Philosophin und Journalistin Hilal Sezgin (geboren 1970 in Frankfurt am Main) hat ein wichtiges, gut lesbares Buch verfasst, das reflektierte Klarheit bringt zu der Frage: „Was tun?“ Und das, damit zusammenhängend, Kritik übt an der alltäglichen beliebten Ausrede: „Ich kann nichts politisch Wirksames tun durch mein Engagement“. Oder: „Die Welt ist so ungerecht, da hilft mein Tun zugunsten von mehr Gerechtigkeit nichts“.

Es ist das kritische, und das ist immer auch das selbstkritische Nachdenken, das sich gegen diese gängigen, dummen Sprüche wehrt. Grundsätzlich gilt: „Wenn wir das Gute nicht tun, wird das Schlechte überhand nehmen und uns in den Abgrund reißen“ (S. 13), schreibt die Autorin. „Das Gute“ gibt es als solches selbstverständlich in dieser abstrakten Allgemeinheit nicht, gemeint ist: Das Tun zugunsten konkreter politischer Gerechtigkeit; der Respekt vor der immer mehr zerstörten Natur; die Anerkennung, dass die Menschen im reichen Europa ihre Lebenshaltung ändern müssen, wenn sie glücklich sein wollen usw. „Das Schlechte“, ebenfalls in überschaubarere Strukturen übersetzt, kann dann bedeuten: Der ausbeuterische Welthandel zugunsten der reichen Länder; das Zulassen des Elends etwa in Afrika; die Ignoranz gegenüber dem Rassismus; die Gewöhnung an die unmoralische Tatsache, dass die Armen immer ärmer werden; die Angst, Flüchtlinge seien prinzipiell eine Bedrohung auch ökonomischer Art usw.

Hilal Sezgin präsentiert keine langen Listen von den vielen lebendigen Menschen, die aus dem resignativen Nichtstun herausgefunden haben. Sie argumentiert sehr freundlich, aber immer sehr überzeugend und nachdrücklich dafür: Du kannst noch handeln in dieser verrückten Welt: Wenn du dich selbst nicht überforderst; wenn du nicht der Illusion verfällst, die ganze Welt zu retten, sondern realistisch einen kleinen, dir typischen Bereich der Hilfe und des Nachdenkens aussuchst; und vor allem: Wenn du mit anderen zu handeln lernst.

Hilal Sezgin weist auf unbequeme Tatsachen hin: „Warum diffamieren wir Gutestun und diejenigen, die Gutes tun, so häufig?“ (S. 31), etwa so: „Der Gutmensch will sich doch nur noch vorne drängen“. Wir sollten im gemeinsamen Tun vor allem Konkurrenz – Denken überwinden. Nicht jeder muss das gleiche tun, der hilfsbereite Nachbar hat andere Fähigkeiten zu helfen als ich. Jeder und jede sollte aber entdecken: Wo sind meine eigenen Stärken und Möglichkeiten meiner mir denkbaren Hilfe. Und: Wer Ungewöhnliches, Störendes, Provokatives ausspricht, sollte erst mal gehört und ernst genommen werden.

Man lese etwa die Reflexionen Hilals zu den Menschen, die absolut nicht mehr helfen wollen, weil sie, so sagen sie gern, „einmal geholfen hatten und dabei schlechte Erfahrungen gemacht haben“ (S. 58). Wenn dieses Prinzip des „Einmal“ immer gelten würde, dürfte man nie mehr eine Kneipe betreten: Denn einmal wurden wir sicher schon sehr schlecht bedient. Die Autorin weist auf skandalöses Verhalten, auch von CDU Politikern, hin, die etwa angesichts so vieler Ertrunkener Flüchtlinge im Mittelmeer empfehlen: Man müsse nicht zu viel Rührung zulassen, und sich von diesen Fotos nicht erpressen lassen und eben auch mal wegschauen (S. 63).

Lesen wir auch die von der Autorin empfohlenen Bücher des Ökonomen Branko Milanovic (er hatte eine leitende Funktion in der Weltbank, ist also alles andere als ein Sozialist oder Kommunist…) „Es gibt einen Ortsbonus, d.h. die Geburt in einem reiche Land. Wer in einem armen Land zur Welt hat sozusagen eine „Ortsstrafe“ ( 79). Viele Menschen in den reichen Ländern handeln nach der ins Grausame verkehrten Formel der Goldenen Regel, die nun heißt: “Was du nicht willst, das man dir tu, das füg halt einem anderen zu“ (S. 78).

Sehr dringend erscheinen die Hinweise von Hilal Sezgin zu einer neuen Pflege und Kultur des VERZICHTS (82). Mit besonderer Aufmerksamkeit ist sicher das Kapitel zu lesen „Ethik als Verbundenheit“ (87 ff.)

Interessant sind die persönlichen Hinweise der Autorin: Ihr Leben als Veganerin oder etwa ihre Verbindung mit den Sufis, vor allem mit Hazrat Inayar Khan.

Insgesamt: Ein empfehlenswertes Buch, auch geeignet für Gruppengespräche.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.