Europadämmerung: Ein neues Buch von Ivan Krastev (Suhrkamp)

Hinweise zu einem wichtigen Buch des Politologen Ivan Krastev

Von Christian Modehn

Über die Krise der EU und die Krise Europas im ganzen sind in den letzten Monaten etliche Studien von Politologen erschienen. Jetzt liegt ein wichtiges, weil zu weiteren Diskussionen inspirierendes Buch des Politologen Ivan Krastev vor: „Europadämmerung“ ist der deutsche Titel (aus dem Suhrkamp Verlag). „After Europe“ der Titel des kurz zuvor in Philadelphia, USA, 2017 erschienen Buches.

Ivan Krastev wurde 1965 in Bulgarien geboren, er ist als international geschätzter Politologe u.a. Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, außerdem hat er am International Institute for Strategic Studies mit gearbeitet; er ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia usw… Er ist einer der führenden Politologen, von dessen Studien man sich weitere Übersetzungen wünscht!

Krastev trifft die Erfahrungen und die Gefühle sehr vieler Europäer, wenn er betont, dass die Desintegration der EU heute schon so weit fortgeschritten sei, „dass dies den Kontinent in Unordnung stürzen und zu globaler Bedeutungslosigkeit verdammen wird“ (17). „Der Traum eines freien und geeinten Europa dürfte ausgeträumt sein“ (ebd.). Selbst „das Überstehen“ (ebd.) dieser Krise wird nicht einfach sein. Die Gründe dafür zeigt er in seinem (leider zu knapp gehaltenen) Buch.

Krastev will allerdings nicht in die Ecke der oberflächlichen Euroskeptiker gestellt werden. Er „meditiert“ nur über etwas, was nun „wahrscheinlich bald geschehen wird“ (18). Seine entsprechenden Hinweise auf den Ersten Weltkrieg und auf dieses historische „déjà vu“ sind alles andere als ermutigend, gegenüber dem, „was denn bald geschehen wird“ …

Dabei sieht Krastev die wichtigste Ursache für den Zerfall der EU in „der Flüchtlingskrise“ (21). Und diese Krise, so führt er weiter aus, bedeutet: Die Bürger vertrauen nicht mehr ihren politischen Eliten, die Krastev „meritokratische Eliten“ (21) nennt, also solche, die aufgrund ihrer Kenntnisse und Kompetenzen und damit ihrer Verdienste (merito-kratisch) gewählt wurden, um als diese – auch intellektuellen Eliten – die Länder zu regieren und die EU zu prägen.

Die aktuelle Migration nach Europa nennt Krastev im Erleben der Europäer, aber sicher auch der Fliehenden, „eine Revolution“: Menschen aus den armen, einst kolonisierten Regionen der Welt, brechen auf wie in einem „Exodus“ nach Europa. „Für viele Verdammte dieser Erde ist es eine menschliche Notwendigkeit, die Grenzen zur Europäischen Union zu überqueren…“ (22) Es geht oft ums Überleben, und weil sich diese Elendssituation in Afrika nicht so schnell ändern wird, deswegen wird dieser Exodus auch dauern.

Wenn man diesen Aufbruch so vieler Menschen aus der Not eine neue und sicher so ungeahnte Revolution nennt, dann muss auch die alt vertraute europäische „Fähigkeit“ mitbedacht werden, dass die Revolution, wie so oft schon, „eine Gegenrevolution auslöst“ (22), eine Gegenrevolution derer, die um den Schutz ihres Besitzes bangen und sich national einschließen wollen. Und die über Macht, Medienmacht und Netzwerke verfügen.

Und Krastev ist so einfühlsam und voraus denkend, was diese ja zweifellos schon vorhandene Gegenrevolution betrifft, dass er zwei erschütternde “Träume“ nennt: „Heute träumt man von einer fernen Insel, auf die man unerwünschte Ausländer ohne die geringsten Gewissensbisse schicken könnte“ (21). Das heißt, der Traum der Nationalisten in Europa heute ist eigentlich eine gewisse Variante der früheren KZs der Nazis: Die Unerwünschten sind wegzubringen und abzuschließen und eines Tages auch abzuschießen… Krastev erinnert daran, dass schon 1994 treffend die Erkenntnis verbreitet wurde, dass der Turbokapitalismus „eine faschistische Neigung“ hervorbringt (47). Liberale und eigentlich sich tolerant nennende Gesellschaften „driften in die schlimmste Art von Identitätspolitik ab“ (48) Man will nur noch die gleichen, die „gebürtigen“ Deutschen bei sich haben. Anders gesagt: “Touristen anlocken und Migranten abweisen – das ist in Kurzfassung die von Europa erwünschte Weltordnung“ (24).

Im Exodus der Verarmten aus den alten Kolonialgebieten ist also in gewisser Weise eine „Wiederkehr der Dekolonisierung“ (33) gemeint: „Die Kolonisierten wandern aus und flüchten in die kolonialen Mutterländer“ (34). Leider wird der komplexe Niedergang der in die Selbständigkeit geratenen einstigen Kolonien nicht ausführlich genug beschrieben, nicht die Schuld und das Versagen Europas gegenüber diesen neuen Staaten, etwa in Afrika, benannt. Man könnte zeigen, wie in der (Wirtschafts-)Politik Europas gegenüber den selbständigen Staaten Afrikas immer noch ein rassistisch geprägtes Verhalten bestimmend war und ist. Was sich staatliche Entwicklungshilfe nennt, war und ist vorwiegend Wirtschaftshilfe für die Konzerne in Europa usw. All das fehlt in dem Buch von Krastev!

Der Autor bezieht sich auch auf die explizit reaktionären Ideologen, man denkt automatisch an Steve Bannon, USA, wenn er schreibt: “Für Reaktionäre sei die einzig gesunde Antwort auf die Apokalypse (in reaktionärer Sicht ist die Flüchtlingskrise eine Apokalypse), eben eine andere Apokalypse herbei zu führen und auf einen Neuanfang zu hoffen“ (22). Steve Bannon (er bestimmt nach wie vor das Denken von Mister Trump) hat ja bekanntlich die Idee eines großen reinigenden Krieges, einer großen Katastrophe mehrfach beschworen und gewünscht. Nebenbei: Solche destruktiven Nihilisten laufen vielfach bejubelt einfach so privilegiert herum…

Man sieht bei der Verwendung des Begriffs Apokalypse, wie aus dieser christlich-jüdischen Angst – Vorstellung religiös gefärbte politische Ziele weiterleben. Bis heute ist das äußerst schwierige und ohne kritischen, wissenschaftlichen Kommentar niemals als solches „so einfach mal“ zu lesende „Buch der Apokalypse des Johannes“ Bestand – Teil des offiziellen Neuen Testaments. Die Kirchen haben nicht den Mut, dieses verwirrende und verstörende Buch beiseite zu legen, eine offizielle Distanzierung täte gut, aber das ist ein anderes Thema. Die Kirchen sind zu feige sich von einem eigenen damals wie heute durchweg nur irritierenden Text zu lösen…

Jedenfalls stehen die sich liberal und demokratisch nennenden europäischen Staaten vor dem großen Widerspruch: Sie bekennen sich nach außen zu einer universalen Philosophie der Menschenrechte. Andererseits sollen die europäischen Bürger diese Rechte und ihren Wohlstand ungebrochen und unverändert, sondern eher noch wachsend (Wirtschaftswachstum!) genießen. Der Begriff Teilen und Verzichten und Gerechtigkeit sind in Europa Worte, die bestenfalls noch in einer spirituellen Sprache vorkommen. Nicht aber als Gestaltungsprinzipien für eine Welt, die noch ein Weilchen bestehen möchte. Das sagt Krastev so nicht, das ist mein ergänzender Kommentar. Aber der Autor sagt ganz klar: Entscheidend ist und bleibt für das Wohlergehen eines Menschen, WO er/sie geboren wird: Ob in Europa oder etwa in den Hungerländern Afrikas. Durch Google und Interet wissen fast alle Armen, d.h. die von Europa weithin arm Gemachten, wo sie noch halbwegs gut leben können: Eben in Europa.

Als Osteuropäer erklärt der auch in Bulgarien lebende Politologe Ivan Krastev, warum etwa Polen, Bulgarien, die Slowakei usw. keine (muslimischen) Flüchtlinge aufnehmen wollen. Die Fixierung aufs Nationale ist dort offenbar jetzt kaum zu überwinden. Polen war etwa vor dem 2. Weltkrieg eine multikulturelle Gesellschaft, aus Deutschen, Polen, Ukrainern, Juden usw. „Die Rückkehr zu ethnischer Vielfalt erscheint dort daher vielen als Rückfall in die schwierigen Zeiten zwischen den beiden Weltkriegen“ (59). Solche Hinweise sollen das Verstehen fördern, sicher gelten sie nicht als Entschuldigung für antieuropäisches und anti-humanes Agieren osteuropäischer Politiker. Aber auch westliche Staaten, etwa das wohlhabende und immer noch überwiegend katholische Österreich, sind ja auch heftig dabei, Flüchtlinge vom eigenen Land absolut fernzuhalten… Schließlich „kosten“ die Flüchtlinge auch einiges… Dabei muss doch der oberste Glaubenssatz des reichen Europa berücksichtigt werden: „Es gibt keine alternative Politik, es gibt keine Alternative zur Sparpolitik, dies ist „das Mantra Europas“ (83).

Das Buch von Ivan Krastev stärkt den kritischen Blick auf Europa heute. Gerade am Ende des leider nicht so umfangreichen Buches weist es Perspektiven auf, die doch etwas Mut machen, sich für Europa und die EU – auch in reformierter Gestalt – weiterhin einzusetzen. Die Kunst des Überlebens (auch der EU), so meint der Autor, ist die „Kunst der Improvisation“ (132).

Das besondere Interesse Krastevs gilt naheliegenderweise der Europa-Bindung der mittel- und osteuropäischen Staaten. Den meisten Menschen dort ist die eigene Nation jetzt wichtiger als die Verbundenheit mit der EU, dem Europa-Parlament, den universalen Menschenrechten usw. Der Autor will Verständnis wecken, nicht Entschuldigungen für den heftigen Nationalismus und Populismus dort vorbringen: Seit 1989 haben 2,5 Millionen Polen ihr Land verlassen; 3,5 Millionen Rumänien haben ihre Heimat verlassen, jeder zehnte Bulgare ist weggezogen. Diese Menschen wollen im Westen besser (materiell besser) leben, obwohl sie eigentlich westliche Werte (“Menschenrechte zuerst !”) gar nicht so schätzen. Sie wollen zuerst Geld verdienen. Die Zurückgebliebenen, die Alten, in Polen, Rumänien, Polen usw. fühlen sich verlassen, um so stärker wollen sie ihre (zahlenmäßig) schwächer werdenden Nationen stützen….

Wir müssen uns vor allem fragen, meint Krastev, wie wir (Demokraten) mit der Gefährlichkeit des Populismus umgehen sollen. Um ein „Besiegen“ des Populismus geht es Krastev nicht, ihm ist die „Versöhnung Europas als der höchsten Priorität“ (ebd) wichtig; diese Versöhnung schließt für ihn die – in meinem Sinne jedoch gefährliche – Bereitschaft ein, „Teil ihrer (der Populisten-) Politik und sogar einige ihrer Einstellungen (freier Handel ist nicht immer ein Win-Win-Spiel)“ zu übernehmen (132). Da würde man sich eine breitere Erläuterung des Autors wünschen. Allgemein philosophisch ist jedenfalls Krastevs Satz ganz am Ende seiner Studie nicht falsch: „Linear ist der Fortschritt nur in schlechten Geschichtsbüchern“(ebd).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Das Buch “Europadämmerung” von Ivan Krastev, ein “Essay”, ist 2017 im Suhrkamp Verlag erschienen. Es hat 144 Seiten und kostet 14 Euro.

Neues zur Erbsünde: Muss der christliche Glaube Angst machen?

Einige weiter führende Thesen von Christian Modehn am 20.7. 2017

Meinen zuerst veröffentlichten Beitrag, in der empfehlenswerten Zeitschrift Publik Forum, Heft 11/2017, lesen Sie hier mit einem weiteren Thesenpapier, das aus einer Diskussion hervor gegangen ist. Dass selbst Mitglieder des Augustinerordens heute wenigstens leise, aber deutliche Kritik an Augustins Erbsündenlehre äußern, lesen Sie bitte am Ende dieses Beitrags! Und sogar der treu-katholische Theologe und Historiker der frühen Kirche und der so genannten Kirchenväter, Pater Joseph Barbel, kritisiert den “kaum begreiflichen Eifer Augustins zur Widerlegung seines theologischen, die Freiheit verteidigenden Gegners, des Bischofs Julian von Eclanum”. Auch dazu mehr, siehe am Ende dieses Beitrags.

Die Diskussion über Sinn und Unsinn der christlichen Erbsünden-Lehre geht weiter, das zeigen die vielen Weiterlesen ⇘

Also sprach Nietzsche: Über das „schräge Denken“ des “Propheten”.

Über ein Sonderheft des „Philosophie Magazin“ (Berlin):
Also sprach Nietzsche

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 9.7.2017

Immer wieder Nietzsche also. Die Einführungen in sein Denken sind heute kaum noch zu überschauen. Liegt es daran, dass Nietzsche sehr oft erstaunlich gut und „eingängig“ schreiben konnte, aber dabei selten doch klar verständlich war? Dass man also bei jedem Nietzsche Zitat oder Aphorismus mit größter Vorsicht umgehen muss, ob denn der „tolle Satz“ im Ganzen des Denkens von Nietzsche noch „stimmt“? Und ob die Nietzsche Überzeugung überhaupt stimmt?

Das Interesse an Nietzsche hat heute sicherlich mit der expliziten oder der verschwiegenen Verbindung seines Denkens mit der alten rechtsextremen Ideologie und der „neuen Rechten“ („La nouvelle Droite“) zu tun und auch mit der postmodernen Ideologie, die da den philosophisch kaschierten Glauben verkündet, „alles ist elativ … und Wahrheit gibt es nicht“.

Darum ist es wohl am wichtigsten, in dem neuen Sonderheft über Nietzsche aus der Reihe des „Philosophie Magazins“ die Interviews zu dem politisch aktuellen Thema zuerst zu lesen.

So sagt gleich am Anfang des Heftes Rüdiger Safranski: „Nietzsche war sehr dezidiert kein Demokrat … Mehrheiten sind für ihn immer töricht“ (S. 18). Dann folgt ein Hinweis Safranskis, dass Mehrheiten (in Demokratien) eben auch irren können, er nennt das Beispiel im Nationalsozialismus, woraus Safranskis schließt: „Es schadet durchaus nicht, auch die radikale Alternative zum demokratischen Denken kennen zu lernen“ (ebd.) Dass es von Herrschern und Medien dumm gemachte Mehrheiten in Demokratien gibt, sieht Safranski nicht. Hätte er sehen können, wenn er die Trump – Wahl studiert hätte. Diese durch idiotische Propaganda dumm gemachten Mehrheiten sind aber meines Erachtens kein Grund, prinzipiell gegen Mehrheitsentscheidungen in einer Demokratie zu sein. Aber das nur am Rande. Befremdlich auch, dass Safranski meint, es habe, so wörtlich, „intelligente nationalsozialistische Philosophen“ (S. 20), wie etwa Alfred Baeumler, gegeben. Heidegger nennt Safranski nicht. Meint Safranski solche Philosophen, die mit der formalen philosophischen Logik, dem „Einmaleins“, gut klar kamen? Dann mag es zu Zeiten der Juden – Vernichtung durch die Nationalsozialisten vielleicht logisch korrekt denkende Nazi – Philosophen gegeben haben. Aber wenn Intelligenz auch Ethik umfasst, dann kann es definitiv keinen „intelligenten nationalsozialistischen Philosophen“ gegeben haben. Sie waren verirrte Ideologen, mehr nicht. Schade, dass solche Auslassungen Safranskis einfach im Interview (geführt wie die meisten Interviews im Heft von der Philosophin Catherine Newmark) unwidersprochen stehen bleiben.

Deutlich ist die Aussage des Philosophen Bernhard H.F. Taureck: „Die Mehrheit der Italo – und Germanofaschisten stand eindeutig auf der Seite Nietzsches“ (S. 105). Es faszinierte die Nazis, „das Nein Nietzsches zur Demokratie, seine Verachtung der Frauen, sein Ja zum Krieg und sein Votum für die Überschreitung des bisher bekannten Menschentypus… (S. 105). Nietzsche war einerseits gegen das Judentum als Träger universalistischer Werte. „Aber er bejahte die jüdische Bevölkerung Deutschlands, um aus ihr und den Germanen eine höhere Menschheit zu züchten“ (S. 107). Kann man sagen, diese Haltung sei nicht antisemitisch? Sie ist es, denke ich. Interessant ist der Hinweis Taurecks, dass etwa 150.000 deutsche Soldaten im 1. Weltkrieg Nietzsches „Zarathustra“ im Gepäck bei sich hatten, als eine Art Religionsersatz.

Wie die Philosophie des Transhumanismus (d.i. kurz gesagt: sehr langes Leben – 150 Jahre – für einige reiche Herrschaften als Lebensziel) mit Nietzsche zurecht kommt, kann man in dem Interview mit dem Transhumanismus – Philosophen Stefan Lorenz Sorgner nachlesen. Sorgner ist auch Mitbegründer des „Beyound Humanism“ – Netzwerkes! Er plädiert für einen „liberalen (was ist das?, CM) Umgang“ mit Technologie in der Hoffnung, durch den Schritt zum Trans- oder vielleicht Posthumanen die Wahrscheinlichkeit des guten Lebens zu erhöhen“ (S. 115). Es ist für mich unverständlich, dass solche Auslassungen vom Interviewer Sven Ortoli nicht unterbrochen werden, nicht nachgefragt wird, so wird ein Interview zur Propaganda, die mit Philosophie nichts mehr zu tun hat.

Der Nietzsche Spezialist Andreas Urs Sommer ist da kritischer: Nietzsche habe einen Hang zum Autoritären, betont er, ein konkretes politisches Programm habe er nicht vorgelegt, insgesamt nennt Sommer Nietzsches Denken wohl sehr treffend „schräg“ (S. 30). Er bezeichnet dann die Provokationen Nietzsches „in hohem Maße verdächtig – verdächtig im positiven Sinne“. Was im positiven Sinn „verdächtig“ denn bedeuten könnte, wird nicht erklärt.

Sehr interessant für mich ist das Interview mit dem Philosophen und Theologen Christoph Türcke über die „Tiefen – Psychologie“, die Nietzsche in seinem Werk ausbreitet: Ausgangspunkt sei, so Türcke, dass Nietzsche „den menschlichen Verstand bloß eine Art Wurmfortsatz der menschlichen Triebnatur auffasst, nicht als eigenständige Kraft“( S. 82). Sind solche Wurmfortsatz – Denker wie Nietzsche noch Philosophen?

Das Nietzsche Heft ist für solche, die bisher wenig von dem Propheten wissen, doch empfehlenswert, zumal auch einige treffende Nietzsche – Zitate versammelt sind. Und auch wird die Rolle von Nietzsches Schwester Elisabeth für die Philosophie durch Kerstin Decker sehr schön dargestellt und neu interpretiert. Auch Stefan Zweig kommt zu Wort und Thomas Mann, so wird zusammen mit der Daten – Übersicht eine inspirierende, Fragen weckende Broschüre veröffentlicht. Schade nur, dass die internationale Relevanz Nietzsches etwa in Italien oder Frankreich nicht dargestellt wird. Wird er etwa in Indien wahrgenommen oder im buddhistischen Kontext? Was denken Menschen in arm gemachten Regionen über ihn, der die Kleinen und Kranken und Armen verachtete? Ohne internationale Bezüge kann heute kein Philosophie – Heft mehr auskommen, denke ich.

Leider fehlt auch der für Nietzsche entscheidende Hass aufs Christentum als eigenes Thema. Es hätte die Rede sein müssen, wie sich dieser blinde Hass des Pfarrerssohnes mit seiner ganz offenen, lyrisch bewegten Zuneigung zu Jesus verträgt.

Es fehlt leider auch die Auseinandersetzung zu der Frage, in welcher Weise denn Nietzsche nun wirklich und ernsthaft als Philosoph angesprochen werden kann. Ist er nicht eher ein literarischer Prophet, etwa in seiner philosophisch wie auch empirisch völlig unbegründeten Verkündigung „Gott ist tot“. Dieses Bonmot geistert durch die Köpfe der Menschen, alle glauben es und keiner weiß, was dieses Predigt – Wort Nietzsches eigentlich bedeutet und ob es wahr ist: Welcher Gott ist denn tot???

Am schwerwiegendsten wohl: Es hätte meines Erachtens dem Heft sehr gut getan, auch Vittorio Hösle zu Wort kommen zu lassen, der ja bekanntlich in seiner Studie „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (Beck Verlag 2013) gezeigt hat: Nietzsche war philosophisch gesehen ein „Dilettant“, es gibt keine „Konsistenz“ seiner Aussagen (S. 185), Nietzsche „verdeckt in seinem einzigartigen Stil von verführerischer Schönheit den Mangel an Argumenten und Evidenzen“ (S. 186). „Schopenhauer war der einzige Philosoph, den Nietzsche neben den Vor – Sokratikern wirklich kannte“, sagt Hösle. (S. 188). Auch Hösle weist darauf hin, dass Nietzsche tatsächlich neue „Werttafeln“ aufstellte, als „Verkünder“ (S. 201). Zurecht sagt Hösle, „dass Nietzsche sich selbst mit seiner allgemeinen Leugnung der Wahrheitsfähigkeit der Menschen schädigt“ und sich „die eigenen Beine wegsprengt und geistig am Verbluten ist“ (S. 202 f.)

Über den Übermenschen wäre zu sprechen, diese maßlose Behauptung, die sich Philosophie nennt. Der Philosoph und Nietzsche Spezialist Volker Gerhardt hat recht, wenn er den bloßen Behauptungscharakter der Nietzsche Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen dadurch beiseite schiebt, wenn er sagt, dass wir uns heute ja nicht an frühere Leben in dieser ewigen Wiederkehr erinnern können. Wichtig dann die Schlußfolgerung: „Aus meiner Sicht liegt der größere Ernst im Bewusstsein der Einzigartigkeit der jetzt gegebenen Situation“. Man kann also sagen: Nietzsche Lehre von der ewigen Wiederkehr ist Predigt, ist Ideologie.

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Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Kunst im Kapitalismus: Sie “beschenkt” Milliardäre mit Transzendenzerfahrungen

Ein religionsphilosophisches Projekt: Ein Hinweis von Christian Modehn

Kapitalismus ist viel mehr als eine Wirtschaftsform. Kapitalismus ist die umfassende Welt, die alles bestimmende totale Lebensform, egal, ob diese Welt der einzelne nun bejaht oder nicht. Er muss darin (über)leben. Noch. Das ist eine Art von Terror: Kapitalismus macht auch alles Wahre zur Ware. Alle Werte zum Berechenbaren und Verfügbaren. Das ist bekannt und hinlänglich oft beschrieben und kritisiert worden. Leider haben alle diese Kritiken fast keine Wirkungen.

Auch Kunst, die heute so genannte groß gemachte Kunst der vom Kunst – Markt groß gemachten Künstler, ist Weiterlesen ⇘

Widerstand der Vernunft: Eine Philosophin sagt Nein zu Trump

Eine neue Publikation von Susan Neiman

Ein Hinweis von Christian Modehn

„PhilosophInnen schweigen zur Niederlage der Vernunft, die mit dem Beginn der Herrschaft von Donald Trump noch offenkundiger wird“. Dieser Vorwurf ist nicht mehr ganz berechtigt. Denn die US – amerikanische Philosophin Prof. Susan Neiman hat gerade jetzt, Anfang Juni 2017, ihr Manifest „Widerstand der Vernunft“ veröffentlicht. Darin zeigt sie, sehr deutlich auf tatsächliche Fakten bezogen (solche ein Wort „tatsächliche Fakten“ muss man jetzt bilden angesichts der von Herrschern gewünschten post-faktischen Fakten!): Die Vernunft, die philosophische, die es ebenso tatsächlich faktisch gibt gegen alle Einwürfe postmoderner Beliebigkeiten, vermag die Gefahren des permanenten politischen Geschwätzes Weiterlesen ⇘

Theologisch denken mit Marx. Über die lebendige Befreiungstheologie

Hinweise zu unserem religionsphilosophischen Salon am 26.5. 2017

Von Christian Modehn

Ein Vorwort: In unserem religionsphilosophischen Salon am 26.5. 2017 haben wir anlässlich des gleichzeitig stattfindenden Kirchentages in Berlin einige zentrale Aussagen des (jungen) Marx zur Religion diskutiert. Vor allem die bekannte Aussage von Marx: „Religion ist Opium des Volkes“. Uns leitet dabei die ganz normale philosophische Überzeugung, dass natürlich etliche philosophische Fragen und Provokationen von Marx auch heute unser Denken anregen und möglicherweise korrigieren können. So etwa die Frage: Wie ist auch theologische Denken und auch kirchliche Handeln von der nun einmal zweifelsfrei vorhandenen Situation der Klassengegensätze in den Staaten und Kulturen Europas z.B. bestimmt? Gibt es überhaupt noch ein Bewusstsein dafür, dass Theologie und kirchliches Handeln etwa in Europa und den USA nicht nur Weiterlesen ⇘

„Die Liebe ist bedroht“: Zum Philosophie Magazin Juni/Juli 2017.

Hinweise von Christian Modehn am 28. 5. 2017

Philosophie bezieht sich immer in gewisser Hinsicht auf das ganze Leben, die ganze Wirklichkeit. Alles kann – unter bestimmter Rücksicht – Thema der Philosophie sein. Das ist Chance und Problem für eine Zeitschrift, die alle zwei Monate als Magazin – lesefreundlich und mit Fotos ausgestattet – auf 98 Seiten Philosophie unters Volks bringen will und die Praxis der Philosophie, eben das Philosophieren (grundsätzliches Reflektieren), als Lebensform möglicherweise, vorschlägt.

Die Herausforderung für explizit an Philosophie Interessierte ist immer die: Sind die Beiträge dicht dran an „den“ Philosophien oder könnten sie genauso gut in einem explizit sozialwissenschaftlichen oder psychologischen Magazin stehen?

Diesmal also, bei aller Sympathie für das „Philosophie Magazin“, der Hinweis angesichts der Ausgabe Juni-Juli 2017. Ich habe z.B. nichts gegen Reportagen, die auf die schwierige (auch dramatische gesundheitspolitische) Situation privater und öffentlicher Toiletten in Indien hinweisen. Aber muss der „Kampf um den stillen Ort“ in Indien wirklich auf 7 Seiten in einem der Philosophie verpflichteten Magazin ausgebreitet werden? Das kann sich der französische Kooperationspartner „Philosophie Magazine“ (Paris) vielleicht leisten, weil dieses Blatt monatlich erscheint. Aus diesem französischen Heft stammt der Beitrag in der deutschen Ausgabe. Wenn schon die Kooperation mit Paris besteht: Warum bietet PHILO MAG keinen Beitrag über den doch philosophisch sehr Interessierten französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron: Warum keinen Bericht über die sehr angesehene Kulturzeitschrift ESPRIT (gegründet von Emmanuel Mounier, bekanntlich ein Philosoph)? Bei ESPRIT  arbeitete Macron mit! Oder: Warum nicht auch ein Text, förmlich zur Begleitung des Beuys Films, der jetzt im Juni 2017 gezeigt wird? Ein Philosophie Magazin sollte meines Erachtens aktuelle (Kultur)-Ereignisse unmittelbar vertiefen. Habe ich schon Beiträge zu einer Philosophie der Musik oder einen religionsphilosophischen Beitrag zur Säkularisierungsthese gelesen, gerade jetzt hört man angesichts des Kirchentages in Berlin: Diese Stadt sei gottlos? Was heißt das? Welche Götter verehren denn die angeblich Gottlosen? Sind die Gläubigen nicht auch in gewisser Hinsicht gottlos?

Trotz dieser Hinweise: Auch das Juni-Juli Heft 2017 verdient wieder Aufmerksamkeit: Dass der eher kommunistisch orientierte Philosoph Alain Badiou sehr viel Philosophisches, also aus der Liebe zur Weisheit gesprochen, zur LIEBE im allgemeinen sagen kann, mag einige überraschen. Mich überrascht nicht, dass Badiou sagt, dass “die Liebe im Kapitalismus bedroht ist”. Erstaunlicher ist seine Aussage, dass wir „durch die Liebe zum Absoluten gelangen“. Dann aber muss er als – braver Marxist ? – sofort gleich betonen: „Es geht nicht um ein Absolutes im christlichen Sinn“. Was wäre denn das Absolute im offenbar für ihn nur einförmig denkbaren „christlichen Sinn“? Ist denn die Weisheitserkenntnis der Bibel: „Gott ist die Liebe“, für Philosophen so undenkbar oder gar so peinlich in einer „kritischen Umgebung“, dass man sich philosophisch dieses Themas nicht annehmen kann?

Es sind wie schon oft vor allem die Interviews, die das Philosophie Magazin lesenswert machen. Hervorragend das Gespräch mit der Schriftstellerin Silvia Bovenschen und dem Philosophen Alexander García Düttmann, wo man spürt: Da sprechen Menschen ehrlich, reflektiert wie persönlich. Wahrhaftig. Das bewegt, nicht nur zum weiteren Nachdenken! Auch zur Debatte über das Werk des Ethnologen Claude Lévi-Strauss lädt das Heft ein, und zwar im Umfeld der aktuellen Debatte über die „Barbaren“ und damit über den Kulturrelativismus. Wolfram Eilenberger berichtet über das – schon oft  – dargestellte Liebesverhältnis von Hannah Arendt und Martin Heidegger. Ich würde mir wünschen, dass in einem zweiten Teil das – wieder einmal heftige – Buch von Emmanuel Faye diskutiert wird, das kürzlich in Paris erschien: „Extermination Nazi und Déstruction de la pensée“. Darin wird behauptet, Hannah Arendts Denken habe sich, noch nach 1945 von ihrem alten Liebhaber (und dann sehr bekannten NSDAP-Mitglied) Martin Heidegger philosophisch beeinflussen und bestimmen lassen. Das so jetzt wieder allseits so hoch gelobte Werk von Hannah Arendt käme dann ein bisschen sehr ins Wanken. Da wären Diskussionen „spannend“.

 

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