Benedikt XVI. – oberster Lehrmeister des Politischen

Papst Benedikt XVI. als oberster Lehrmeister des Politischen

Von Christian Modehn

Wir haben im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon im Rahmen der philosophisch notwendigen Kritik der Religionen und Kirchen auf die politischen Ansprüche der Päpste, besonders Benedikt XVI., immer wieder hingewiesen und diese andauernden heftigen päpstlichen Weisungen gegenüber Staat und Gesellschaft dokumentiert und erläutert. Das neue Buch von Marco Politi, einem der renommiertesten „Vatikanologen“ mit dem Titel „Benedikt. Krise eines Pontifikats“ (Rotbuch Verlag, Berlin, Dezember 2012) bietet auch zu dem Thema wichtige Hinweise. Marco Politi, Journalist bei „La Repubblica“ und „Il Fatto Qutidiano“, bestätigt unsere eigenen bisherigen Dokumentationen. Wir weisen nur auf einige zentrale Aussagen aus dem 14. Kapitel („Der Prediger und die Wüste“) seines – sehr umfangreichen, sehr präzisen empfehlenswerten – Buches hin.

Benedikt XVI. ist davon überzeugt, dass er als Papst, d.h. als Stellvertreter Christi auf Erden und als Nachfolger Petri, die Vollmacht hat, die gesamte Politik weltweit zu belehren, „was die nicht verhandelbaren Prinzipien (der Politik) sind“. Das klingt zunächst interessant, könnte man doch denken, dass sich der Papst zu einem leidenschaftlichen Verteidiger der Menschenrechte (zu denen auch die Gewissensfreiheit gehört) aufschwingt und sich sozusagen an vorderster Front gegen Diskriminierung und Ungleichbehandlung bestimmter Menschen usw. aufstellt.  Aber Marco Politi belehrt uns eines besseren: Der Papst duldet als individuelle Freiheit nur den freien Ausdruck des „gebildeten christlichen Gewissens“ (S. 465), also des Gewissens, das sich von der christlichen Lehre prägen lässt. Aber wer verbreitet die authentische christliche Lehre? Es ist einzig der Papst als das oberste Lehramt. Gewissensfreiheit gibt es also nur für die päpstlich geprägten Gewissen. Noch als Chef der obersten Glaubensbehörde veröffentliche Joseph Ratzinger im Jahr 2002 eine „lehrmäßige Note“, also einen alle Katholiken orientierenden, wenn nicht bindenden Text zum Verhalten der Gläubigen in der Politik. Darin heißt es, ich zitiere aus dem Buch von Marco Politi (464 f.): “Es ist keinem Gläubigen gestattet, sich auf das Prinzip des Pluralismus und der Autonomie der Laien in der Politik zu berufen, um Lösungen zu begünstigen, die den Schutz der grundlegenden ethischen Forderungen für das Gemeinwohl der Gesellschaft kompromittieren oder schwächen“. Übersetzt könnte man sagen: „Liebe Politiker, hört auf Rom, den Vatikan, wenn ihr politische Entscheidungen trefft“. In den USA wurden tatsächlich in den letzten Jahren katholische Politiker exkommuniziert, die allzu sehr dem eigenen und nicht dem päpstlichen Gewissen folgten, etwa in Fragen des Schwangerschaftsabbruches. Ultramontanismus nannte man im 19. Jahrhundert diese entfremdende Denkungsart: „Zuerst der Papst, dann mein Gewissen“.

So wird also die faktische Autonomie und die faktische Gewissensfreiheit der (politisch handelnden) Katholiken zurückgewiesen. Katholiken müssen die „grundlegenden ethischen Forderungen“  über ihren persönlichen Gewissensspruch stellen. Der Bischof von Rom ist nicht nur ein spiritueller Lehrer, er ist als Nachfolger des heiligen Petrus auch der einzig berufene Interpret des Naturrechts. Denn dort sind die „grundlegenden ethischen Forderungen“ konkretisiert. Der Papst müsste sich konsequenterweise eigentlich auch des Titels „Oberster Naturrechtslehrer“ bedienen. Immer ist von Naturrecht in päpstlichen Stellungnahmen zu lesen, sehr selten von Menschenrechten: Warum das so ist? Menschenrechte entwickeln sich, sind mit dem Leben verbunden, sind um soziale Dimensionen etwa zu ergänzen. Hingegen ist „das“ Naturrecht im päpstlichen Sinne, auch in der konkreten inhaltlichen Prägung,  etwas UNWANDELBARES und EWIGES, es ist etwas Starres und Unhistorisches. Denn das Naturrecht geht letztlich, so wörtlich „auf den Schöpfer zurück“ (S: 485). Mit „Schöpfer“ ist der Gott gemeint, so, wie ihn die klassische vatikanische Theologie deutet: Als unwandelbarer Herr und Meister von moralischen Prinzipien. „Mit dieser Formulierung wird ein gleichberechtigter Dialog mit Atheisten und Agnostikern ein gewagtes, wenn nicht unmögliches Unterfangen“, so Politi (S. 485). Und was können Buddhisten und Hinduisten mit diesem Gott der Katholiken anfangen, der das Naturrecht erlässt und aus päpstlichen Munde universal für alle und immer und ewig verbreitet? Auch diese (rhetorische) Frage stellt Politi.

Der Papst und der Vatikan haben, das ist evident, mit ihrer total objektivistischen und unhistorischen Naturrechtslehre den Anschluss verloren an die moderne Philosophie (seit Kant): Diese entwickelt ethische Orientierung und Normen einzig aus der autonomen, kritischen Vernunft …  und eben nicht aus theologisch fixierten Überzeugungen … Diese Ignoranz gegenüber dem lebendigen Wandel führt sicher sehr viele nachdenkliche Menschen zur Distanz von dieser eher versteinert erscheinenden Kirchen -, d.h. Naturrechtslehre.

Mit dieser rigiden und ahistorischen (selbst theologisch längst umstrittenen) Ideologie will der Papst seine Urangst überwinden, die panische Angst vor dem Relativismus. Nichts ist für Benedikt schlimmer, als wenn relativistisch, d.h. mit historischem und hermeneutischen Wissen die vorgeblich ewigen vatikanischen Lehren befragt werden. Dann könnte man ja auch bestimmte Bibelsprüche relativistisch deuten, etwa die Begründung des Papsttums oder den Ausschluß der Frauen vom Priesteramt, dann aber würde sozusagen das ganze vatikanische System zusammenbrechen. Aus ureigenen, auf Machterhalt bedachten Motiven muss der Papst also Verfechter des rigiden, ahistorischen Naturrechts bleiben. Relativismus würde seine eigene Existenz als Papst und seines Hofes (=curia) gefährden.

Marco Politi weist zu recht darauf hin, dass nur von dieser völlig in sich abgeschlossenen Naturrechts – Ideologie aus der Kampf des Papstes gegen den ethischen Pluralismus der Moderne zu verstehen ist. Die von konservativ bis fundamentalistisch geprägten Katholiken heiß bekämpfte und äußerst polemisch attackierte so genannte Homoehe (jetzt etwa in aller Schärfe in Frankreich) ist nur ein Beleg dafür, zu welcher Mobilisierung diese uralte Naturrechts – Ideologie in der Lage ist. Die Homoehe, so der pauschale Vorwurf, würde „die“ Familie destabilisieren. Um dieser Naturrechts – Ideologie willen hat der Vatikan übrigens auch über viele Jahre zu Berlusconi gehalten. Dem Papst und seinen Mitarbeitern war das private Leben wie das politisch wie ökonomisch verantwortungslose Verhalten Berlusconis schlicht egal. Warum? Weil Berlusconi den italienischen Bischöfen und dem Vatikan signalisierte: “Von meiner Seite hat der Vatikan nichts zu befürchten“ (S. 463). Damit meinte er: Die Finanzierung katholischer Schulen durch den Staat und die Steuerprivilegien der katholischen Kirche bleiben unter Berlusconi erhalten. ABER, das ist entscheidend, Berlusconi verspricht, gegen die Homoehe vorzugehen, gegen das Gesetz über Patientenverfügungen usw. Kardinal Bertone, die so genannte Nummer 2 im Vatikan, freute sich deswegen auch zu betonen, wie der Vatikan Berlusconi „zu Dank verpflichtet ist, weil diese Regierung im Rahmen befriedeter Beziehungen stets die Interessen der Kirche (!) berücksichtigt hat“ (s. 463). Der Vatikan löste sich aus der ultra- freundschaftlichen Beziehung mit dem Katholiken Berlusconi erst im Herbst 2011: Da hatte dieser unsägliche Machtpolitiker insgesamt und nahezu überall jegliche Akzeptanz verloren. Auffällig ist: Der Vatikan unterstützt selbst auch heute höchst umstrittene und belastete, wenn nicht kriminelle Politiker, wenn sie denn nur „die Interessen der Kirche berücksichtigen“, wie Kardinal Bertone so präzise sagt.

Die Debatte um den Einfluss der rigiden Naturrechtslehre à la Vatikan bzw. Ratzinger wird aktuell noch einmal deutlich in der Ansprache des Papstes anlässlich der Weihnachtswünsche für die Kurie am 21. Dezember 2012, wir beziehen uns hier auf den französischen Text, den „La Croix“ (Paris) druckte. Darin nimmt Benedikt XVI. direkt Bezug auf eine Abhandlung des Groß- Rabbiners von Frankreich, Gilles Bernheim. Der Papst sucht sich sozusagen ökumenischen Beistand von  prominenter orthodoxer jüdischer Seite: Wer würde es da schon wagen zu widersprechen? In schärfsten Worten polemisiert er – darin mit dem Großrabbiner einer Meinung – gegen die Auflösung „der Familie“ durch die Homoehe und die Gender Philosophie, die er übrigens bei Simone de Beauvoir festmacht. Der Papst ist sich, als angeblich so brillanter und so viel gerühmter hoch gebildeter Theologe, nicht zu schade, die  biblische Schöpfungsgeschichte wortwörtlich normativ zu deuten: „Als Mann und Frau schuf er (Gott) die Menschen (Gen. 1, 27) heißt es da: Aus diesem beschreibenden Faktum wird beim Papst gefolgert: Nur Mann und Frau können eine Familie bilden. Nur in dieser Dualität, so Benedikt und Bernheim, sei „der“ Mensch authentisch. „Die (Hetero) Familie“, so wörtlich Benedikt und Bernheim, „ist eine Realität, die schon im voraus durch die Schöpfung etabliert wurde“. Die Heteroehe ist sozusagen eine Idee Gottes, die mit der Schöpfung ad aeternum verbunden ist. Konsequent heißt es weiter: Wer diese Tatsachen der Schöpfung leugnet, „der leugnet auch Gott selbst – und der Mensch wird degradiert“. Wer die Homofamilie lebt oder befürwortet, wird in dieser Sicht förmlich zum Unmenschen. „Nur wer Gott verteidigt, verteidigt das menschliche Sein“, heißt es in der „friedlichen“ Weihnachtsansprache an den päpstlichen Hof. Merkwürdig ist, wie stark diese Form der starren Bibelinterpretation und des objektivistischen Naturrechts jegliche Bezugnahme etwa auf die Jesus – Gestalt verschwinden lässt.

Schon lange nicht mehr waren derartig maßlose Worte anlässlich einer fundamentalistischen Bibellektüre aus päpstlichem Mund zu hören. Der Vatikan, so prachtvoll barock er sich auch mit allem Pomp und Glorienschein geben mag, ist längst ein Getto geworden, das sich in starren Prinzipen einmauert und kein Interesse hat an einem Dialog, der Streit und Auseinandersetzung ist unter gleichberechtigten Partnern. „Die Stimme der Wahrheit hat immer recht…“, sie braucht keinen wirklichen Dialog. Zeichen der Ermunterung und Symbole der Hoffnung für diese so vielfältige, pluralistische Menschheit sind vom Papst trotz so vieler Worte, Weisungen und Mahnungen kaum mehr zu erwarten. Das ist die – manchen noch traurig stimmende Weihnachtsbotschaft, die dieser Tage im Vatikan verbreitet wird. Neu ist dies für einige dies vielleicht noch deprimierende Botschaft nicht. Die Schärfe des Tons wundert sogar die Freunde des religionsphilosophischen Salons. Katholische Medien sprechen bezeichnenderweise von einem aktuellen „Kulturkampf“, etwa in Frankreich anlässlich der heftigsten Debatten um die Homoehe (vgl. Christ in der Gegenwart, Heft 52, 2012, Seite 578). Kulturkampf aber ist nichts als Krieg, ausgelöst durch eine rigide Haltung des Papstes, die in der Moderne nur das Böse sehen will. Der Papst meint allen Ernstes, diese Moderne sei gottverlassen und der (heilige) Geist habe sie verlassen. Kann eine Vorstellung von Gott eigentlich noch kleinlicher werden?

Marco Politi, „Benedikt. Krise eines Pontifikats“. Rotbuch Verlag Berlin, 2012, 539 Seiten, 19, 99 Euro. Wir empfehlen dieses preiswerte Buch dringend.

copyright: christian modehn

 

Von Herodes bis Hoppenstedt: Das umfassendste Buch über Weihnachten. Von Frank Kürschner – Pelkmann

Von Herodes bis Hoppenstedt

Ein inspirierendes Werk über Weihnachten….lesbar immer, auch zu Ostern.

Von Christian Modehn

So viel Weihnachten war noch nie. Jedenfalls nicht in der Gestalt eines theologischen Buches über das populärste aller christlichen Feste. Der Hamburger Journalist und Autor Frank Kürschner – Pelkmann (Hamburg) hat in diesen Tagen ein wahrliches Meisterwerk vorgelegt: „Auf den Spuren der Weihnachtsgeschichte“ nennt er viel zu bescheiden sein 696 Seiten starkes Opus mit insgesamt 1.814 Belegen aus Wissenschaft und Forschung. Aber keine Angst, das Buch ist kein langatmiges Werk von Spezialisten für Spezialisten, es erschließt sich jedem „theologischen Laien“ … und es macht geradewegs Spaß, die schätzungsweise 50 Kapitel zu lesen: Der (Haupt -) Titel sagt schon alles: “Von Herodes bis Hoppenstedt“. Herodes kennen wir irgendwie, den Statthalter, und den Hoppenstedts sind wir (fast) alle schon im Fernsehen begegnet: In dem Film von Loriot über das eher missratene, etwas katastrophische Weihnachtsfest … eben bei Familie Hoppenstedt. So breit ist das Spektrum des Buches, weil die Rezeption des Weihnachtsfestes so unendlich ist … bis heute. Weiterlesen ⇘

“Life of Pi” – “Schiffbruch mit Tiger”: Aus einem Interview mit Yann Martel

Wenn der Tiger das Leben rettet

Oder: Wie “das Böse” mit Vernunft besiegt werden kann

Von Christian Modehn.

Dieser Beitrag erschien in kürzerer Fassung schon 2003 in “Publik-Forum”, nach einem Interview “Christian Modehn befragt Yann Martel”. Weil viele Freunde des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons nachfragten, bieten wir den Text (nicht veraltet!) zum Nachlesen, auch anläßlich des Films des “Starregisseurs” Ang Lee (Taiwan) mit dem Titel “Life of Pi”, Start in Deutschland 26.12. 2012.

Auf hoher See ist er allein. Mit seinem Rettungsboot treibt er irgendwo verloren auf dem Pazifik hin und her: Pi Patel, ein sechszehnjähriger Junge aus Indien, hat bei einem Schiffbruch seine Familie verloren. Auch fast alle Tiere  sind dabei umgekommen. Sie sollten auf dem Dampfer seines Vaters, eines Zoo-Direktors in Pondicherry, Indien, nach Kanada transportiert werden. Jetzt hat Pi nur noch seine kleinen Rationen fürs Überleben – und neben sich einen Tiger. Ihn nennt Pi respektvoll Richard Parker. Er hat überlebt, weil er sich an einem Orang Utan satt fressen konnte; auch der Affe hatte noch das Desaster überstanden.

Nun muß Pi ständig damit rechnen, dass der bengalische Tiger, 450 kg schwer, auch über ihn herfällt. Sie sitzen schließlich im gleichen Boot.

“Schiffbruch mit Tiger” heißt der mit dem angesehenen Booker Preis (London) 2002 ausgezeichnete Roman eines bislang eher unbekannten Autors: Yann Martel (49), aus Montréal, Kanada, erzählt nicht nur in bewegenden Worten die Geschichte eines grossen Abenteuers. Er schildert nicht nur voller Spannung den verzweifelten Überlebenskampf eines verlorenen Menschen. Er geht vor allem der Frage nach: Wie kann ein Mensch, ja, wie kann die Menschheit insgesamt, überleben im Angesicht mörderischer, unberechenbarer, wilder Gefährdungen.

Pi ist ein gebildeter, nachdenklicher junger Mann: Den Tiger im Zustand menschlicher Selbstüberschätzung ins Meer zu schleudern oder auch zu töten, scheidet für ihn aus: Das Tier ist körperlich überlegen. So gilt es für Pi, sich zu arrangieren und mit der Macht des Geistes und der Vernunft, den Tiger zu bändigen. Und davon handelt der Roman ausführlich: Wie sich die menschliche Dominanz ausbauen lässt; wie das Tier, sozusagen gewaltfrei, z.B. mit der Trillerpfeife schikaniert und eingeschüchtert werden kann. “Es kommt darauf an: Das Tier muss es vermerken: Der Mensch achtet sehr darauf , dass seine Grenze nicht verletzt wird”. Mit Vernunft und List kann Pi schließlich den ewigen Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden unterbrechen.

Aber Yann Martel nennt eine weitere Bedingungen: “Ich (Pi) hätte aufgegeben – hätte sich nicht in meinem Herzen eine Stimme bemerkbar gemacht. Die Stimme sagte: Ich sterbe nicht. Solange Gott bei mir ist, sterbe ich nicht”.

Pi ist ein spirituell interessierter junger Mann; für ihn ist die Mystik des Hinduismus, Christentums und des Islam gleichermaßen wichtig. Das ist wichtig: Er ist eine „multireligiöse“ Gestalt, darin sehr zeitgemäß, gibt es doch immer mehr Menschen, die sich aus der exklusiven Bindung an eine (herkömmlich- vertraute) Konfession befreien und „Mischformen“ religiösen Bewusstseins für sich selbst suchen und dann „hybrid“ leben. Darauf weisen immer wieder auch TheologInnen hin, wie etwa Manuela Kalsky, Amsterdam, Spezialistin für “multireligiöse Bindungen”.

Nur in dieser spirituellen Kraft, kann sich Pi trotz aller Angst und Verzweiflung durchringen, “dass das wilde Tier am Leben bleibt”. Eine Entscheidung, die ihm später selbst die letzte Energie zum Überleben auf hoher See geben wird: Denn hätte er nicht das Tier bei sich, um das er sich letztlich kümmern muss, der Lebenswille hätte ihn in den Stunden tiefster Ohnmacht längst verlassen: Ein Dampfer fährt nämlich ungerührt an den Schiffbrüchigen vorbei…In dem Moment ist Pi dem Ende nahe, und dann sieht er den hilflosen Tiger vor sich: “Ich liebe dich, Richard Parker. Wärest du in diesem Augenblick nicht hier, ich wüsste nicht, was ich tun würde. Ich glaube, dass ich nicht weiter könnte. Die Hoffnungslosigkeit wäre mein Tod. Gib nicht auf, Richard Parker, gib nicht auf”

Und gegen Ende seines Romans lässt Yann Martel seinen Protagonisten Pi zum Tiger sagen: “Richard Parker, ich danke dir, dass du mir das Leben gerettet hast”. Verkehrte Verhältnisse,  könnte man denken: Nicht das Töten des gefährlichen Feindes rettet den bedrohten Menschen, sondern das Lebenlassen des “anderen”. Nicht tierische Gewalt, sondern menschliche Vernunft führt beide zur Rettung.

Yann Martel hat natürlich keinen philosophischen Traktat geschrieben, obwohl er selbst philosophisch sehr interessiert ist. Er hat einen gut lesbaren ( und gut übersetzten) Roman geschrieben, selbstverständlich mit einem aktuellen Bezug,  angesichts der kriegerischen Gewalt, angesichts der dauernden Gefahren von “Fressen und Gefressenwerden”. Kein Wunder, dass sich bisher allein im englischen Sprachraum mehr als eine halbe Million Leser auf diese Irrfahrt übers Meer mit einem Tiger eingelassen haben. Sie haben dabei die Kunst des Überlebens entdeckt – in der Kraft der Vernunft!

Sie haben aber dabei auch einen Autor kennen gelernt, der “die Idee des Friedens” auf seine Weise praktisch versteht: “Ich lebe eher kärglich und sparsam, ich wohne nie allein, sondern immer in Wohngemeinschaften mit anderen; ich kaufe vor allem Second-Hand-Klamotten; ich habe kein Auto. Wichtiger ist noch, dass ich mich regelmässig ehrenamtlich engagiere: In Montréal besuche ich einmal pro Woche ein Hospiz für Sterbende, ich versuche, diesen Menschen nahe zu sein. Konsumverzicht und Ehrenamt sind für mich zwei revolutionäre Ideen in einer kapitalistischen Welt, bei der sich alles nur um den Profit und die Macht des Stärkeren dreht”.

Mit Verwunderung nehmen die Leser zur Kenntnis, dass sich der jetzt in allen grossen Sprachen übersetzte Autor öffentlich zum christlichen Glauben bekennt. Er ist in einer religiös desinteressierten, “skeptischen Familie” von Diplomaten großgeworden. In Montréal wird Martels Bekenntnis zum Christentum wie eine kleine Sensation behandelt. Denn in dieser Metropole hat die Kirche seit 40 Jahren jegliche Reputation verloren, sie hat alle institutionelle Macht nach der “révolution tranquille” um 1960 aufgeben müssen.  Aber gerade diese schwache, machtlose Kirche von Montréal fasziniert offenbar Yann Martel, etwa die römisch-katholische Pfarr-Gemeinde St. Pierre – Apotre, in der ausschließlich Homosexuelle die Gemeinde bilden und vorbehaltlos als solche angenommen werden und das Gemeindeleben und die Gottesdienste tatsächlich bestimmen.

“Mein Buch  hat mit dem Frieden zu tun”, sagt Yann Martel, “immer wenn wir Brücken bauen zwischen der Mehrheit und den “anderen”, wenn die Vernunft stärker ist als Hass, kommen wir der Harmonie, dem friedlichen Zusammenleben,  näher”.

Yann Martel, Schiffbruch mit Tiger. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf – Allié. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 382 Seiten. 19, 90 EURO.

PS.: Inzwischen hat Yann Martel zugegeben, dass einige  Ideen zu seinem Roman von Moacyr Scliar. einem brasilianischen Autor, stammen. Aber er empfindet,  so sagt Scliar,  die Nachahmung als ein Kompliment…

COPYRIGHT: Christian Modehn, religionsphilosophischer Salon.

Zum Welttag der Philosophie 2012: Der urbane Blick

Der urbane Blick – eine (Lese -) Empfehlung

Anlässlich des Welttages der Philosophie am 15. November 2012

Von Christian Modehn

Zum 10. Mal wird der „Welttag der Philosophie“ am 15. November 2012 gefeiert.

Der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ bietet – im Unterschied zu früheren Jahren – an dem Feiertag selbst keine eigene Veranstaltung an. Am Samstag, 1. Dezember, findet hingegen ein ausführlicher „Nachmittags – Salon“ (ab 14 Uhr) in der Galerie Fantom, Hektorstr. 9, statt.

Wir wollen vom Salon aus jedoch auf einen Lektüretipp nicht verzichten. Und zwar bezeichnenderweise aus einer „Ecke“, in der explizit philosophische Reflexionen nicht unbedingt erwartet werden.

Die sehr beachtliche und empfehlenswerte Zeitschrift „Kunstforum International“ (Red. in Ruppichteroth) bietet in ihrer Ausgabe vom Oktober 2012 elf Beiträge zum Thema „Der urbane Blick“; in den Aufsätzen geht es immer wieder auch um eine philosophisch – phänomenologische Annäherung an die Stadt. Die Veröffentlichung dieser insgesamt empfehlenswerten Beiträge zeigt einmal mehr, dass Philosophie in allen Bereichen des Lebens, der Kultur, der Kunst, des Sozialen und Politischen lebt und nur der Explikation bedarf. Das zeigt die „Attraktivität“ des philosophierenden Denkens…

Inspirierend ist der Beitrag des Humangeographen  Prof. Jürgen Hasse (Uni Frankfurt/M.) über die „Stadt als Gefühlsraum“. Hasse weist damit auf einen bislang eher vernachlässigten Aspekt der Stadt – Philosophie hin, auf das schwierige Erforschen des Atmosphärischen einer Stadt. Es geht um das ganzheitliche, leibliche Erfahren des Stadtraumes: „Atmosphären SIND in ihrer Wirklichkeit, wenn auch in anderer Weise als Dinge. Sie sind anders lokalisiert als ein Haus im Häusermeer der Stadt. Sie umweben einen Ort, hüllen ihn ein und machen ihn zu einem situativ besonderen Ort.“ (S. 134).  Diesem Erleben des Atmosphärischen begrifflich nachvollziehbar auf die Spur zu kommen, ist das Verdienst dieses Beitrags, der sich immer wieder auf den Philosophen Hermann Schmitz („Neue Phänomenologie“) bezieht. Auch in einem „praktischen Interesse“ wichtig sind die Beschreibungen von „10 sinnlich erlebbaren Atmospären der Stadt“ (Baukultur, Gerüche, Licht und Schatten  usw.). Der leider viel zu früh verstorbene Philosoph Heinz Paetzold bietet einen auch für philosophierende „Laien“ äußerst inspirierenden Beitrag zur Phänomenologie des Flanierens, eine freie, subjektive Methode der langsam – gehenden, „ziellosen“ Stadt – Erkundung, die ja bekanntlich auch der Berliner Flaneur Franz Hessel praktizierte. Flanieren, so Paetzold, ist oft auch ein Abenteuer in der Konfrontation mit dem Fremden in der Stadt, es ist ein Sich stellen der „exotischen Andersheit“. Bei der flanierenden Stadterschließung bleibt die Distanz gewahrt, es kommt zu keinen unmittelbaren Verpflichtungen zwischen Flaneur und Beobachtetem.  Auch die Arbeiten von M. de Certeau und Z. Bauman werden in dem Beitrag fruchtbar gemacht.

Hier liegen Impulse für eine längst fällige praktisch – philosophisch – phänomenologische Stadt – Erkundung/Beobachtung. Der Religionsphilosophische Salon arbeitet an dem Thema, gerade auch im Interesse der Spurensuche nach „Transzendenz“ im Gefüge der Stadt Berlin. Nach der Lektüre der Beiträge im „Kunstforum International“ fragen sich auch theologisch Interessierte, wie fern etwa kirchliches Leben, in großstädtischen Gemeinden, diesem hier eröffneten Spektrum urbaner Verhältnisse ist.

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Tomas Halik: Nachtgedanken eines Beichtvaters

Die Nacktheit des Glaubens: Tomas Halik und die Nachtgedanken eines Beichtvaters

Er sagt, dass junge Menschen heute in einer postoptimistischen Zeit leben. Und hofft, dass aus Glaubenden Suchende werden. Fragen an den Prager Theologen, Philosophen, Soziologen … und Skeptiker Tomás Halík

Von Christian Modehn

Aus aktuellem Anlass wurde am 4.8. 2015 ein weiterer Beitrag über Tomas Halik hier publiziert über sein Nein zu Veranstaltungen anläßlich der “Gay Pride” in seiner Prager St. Salvator Kirche. Lesen Sie den aktuellen Beitrag und klicken Sie hier.

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Hier das Interview von 2012:

Herr Halík, Ihr neuestes Buch heißt »Nachtgedanken eines Beichtvaters«. Hat ein Beichtvater besondere Erkenntnisse?

Tomás Halík: Einmal in der Woche, meist mehrere Stunden lang, kommen Menschen zu mir zum Beichtgespräch oder zur geistlichen Beratung. Wenn ich dann spätabends zu Hause bin, bedenke ich noch einmal, was diese Menschen spüren. Dabei zeigt sich eine Art Trend: Vor allem junge Menschen haben nur sehr wenig Vertrauen in das Leben, auch wenig Vertrauen in Institutionen wie die Kirchen. Die meisten leben in einer »postoptimistischen Zeit«. Die großen Versprechen der Moderne, etwa »immer mehr Fortschritt«, gelten für sie nicht mehr. Sie können sich nicht mehr auf einen Fundus von Vertrauen beziehen. Es herrscht eine tiefe geistige Krise. Die Unterhaltungsindustrie bestimmt und verändert fast alle Lebensbereiche, selbst die Politik und die Religion. Kommerzielle Unterhaltung ist eine Droge! Diese Welt habe ich in meiner Perspektive als Beichtvater vor Augen, der die Seele der Menschen kennenlernt. Mein neues Buch ist also alles andere als ein dogmatischer Traktat übers Beichten.

Wenn der Optimismus vorbei ist – wofür treten Sie persönlich dann ein?

Halík:Ich wehre mich gegen den religiösen Optimismus, der da meint: Der liebe Gott wird schon alles zum Guten wenden; wir müssen nur fleißig beten, dann gibt es das, was wir bei Gott »bestellen«. Das ist Magie! In Tschechien gibt es den Satz: »Optimistisch ist nur ein Mensch, dem die Informationen fehlen.« Für mich ist entscheidend, die Krise, etwa den Mangel an authentischem Glauben, wirklich auszuhalten und nicht in Illusionen zu fliehen. Wir sollten das biblische Paradox annehmen: Nur durch das Kreuz und den Tod ergibt sich Neues, ein Sieg der Hoffnung.

Auch im Blick auf die Entwicklung der katholischen Kirche und der Theologie gibt es wenig Grund, optimistisch zu sein?

Halík: Meines Erachtens liegt das Christentum in Europa auf dem Sterbebett. Ich frage Pfarrer in meiner Heimat manchmal: »Welche Kirche haben wir in fünfzig Jahren?« Höre ich die Antworten, dann habe ich oft das Gefühl, dass ich mich in der Familie eines Schwerkranken befinde, wo eine stille Übereinkunft gilt, dass über diese Krankheit nicht gesprochen werden darf. In diversen kirchlichen Milieus hatte ich sogar das Gefühl, als sei ich in das Theaterstück »Geschlossene Gesellschaft« von Jean-Paul Sartre geraten. Im Theater versteht der Zuschauer ja nach einer gewissen Zeit, dass alle Akteure tot sind, obwohl sie so tun, als ob nichts geschehen sei. Ein tschechischer Priester hat die katholische Kirche einmal mit einer Mühle verglichen, die zwar noch klappert, jedoch nicht mehr mahlt.

Gilt das auch über Tschechien hinaus?

Halík: Es gibt in Europa eine große Müdigkeit unter den Christen, ich spreche gern von der »Müdigkeit am Mittag«: Der Morgen – im Bild gesprochen: die frühe Geschichte des Christentums – liegt hinter uns; die »Zeit der Reife«, also der Nachmittag, wie der Psychiater Carl Gustav Jung einmal sagte, steht bevor. Jetzt aber herrscht die Müdigkeit des Mittags. Diese Krisenzeit gilt es anzunehmen. Nur so kann die neue Zeit religiöser, mystischer Tiefe kommen.

Was bedeutet für Sie der Glaube?

Halík: Der Glaube ist keine Ideologie, keine billige Lehre, durch die wir irgendwie Sicherheit finden. Glauben ist das Ausgesetztsein dem Geheimnis Gottes gegenüber, ist – anspruchsvoll – Teilhabe am Leben Gottes. Mit dem Geheimnis zu leben, das schlage ich zum Beispiel auch »Atheisten« als Lebensmaxime vor.

Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich daraus?

Halík: Für mich gibt es heute nicht mehr die alte Grenzziehung zwischen den Glaubenden und den Nichtglaubenden. Beide können sehr selbstzufrieden in ihrer Position erstarren. Wichtiger ist, dass Gläubige wie Atheisten ihre Selbstzufriedenheit aufgeben und Suchende werden. Und mit den Suchenden Geduld haben! Ich selbst bin ein Suchender, ein geborener Skeptiker. Zum Glauben fand ich, weil ich konsequent skeptisch sein wollte und eben auch an meinem Zweifeln zweifelte. Ich will immer mehr die Tiefe des Glaubens erfahren, sozusagen »zum Grunde gehen«, und dann meine Erfahrungen mit anderen teilen – im gemeinsamen Suchen. Für mich ist entscheidend der von Paulus stammende Begriff der »Kenosis«, der Entäußerung und des Leerwerdens. Das ist das Gegenteil von Hochmut, Macht und Gewalt.

Hat diese Entäußerung auch eine aktuelle Bedeutung?

Halík: Ja. Gerade fand die Wallfahrt zum Heiligen Rock nach Trier statt. Dort habe ich kürzlich gesagt: Kann denn der Heilige Rock, bei aller Hochachtung vor dieser Reliquie, heute noch ein Symbol der Kirche sein? Der Rock blieb doch in den Händen der Soldaten. Jesus ist nackt gestorben. Ist also nicht die Nacktheit Christi als Bild der Kirche viel treffender? Der nackte Christus – das ist Ausdruck der Entäußerung. Manchmal scheint es mir, dass Gott die katholische Kirche – angesichts der Missbrauchsfälle etwa – der Schmach vor den Augen der Welt preisgegeben hat auch als Strafe für all ihren Triumphalismus in der vergangenen wie jüngsten Geschichte. Es ist die Strafe für den Mangel an Bereitwilligkeit oder auch für die Unfähigkeit, mit allen Konsequenzen demütig zuzugeben, dass die Kirche eine »Gemeinschaft von Pilgern« ist, dass sie unterwegs ist und nicht am Ziel und sie keine »triumphierende Kirche« spielen darf.

Sie sprechen in Ihrem Buch von dem »bescheidenen, dem kleinen Glauben«. Gibt es von hier eine Verbindung zu den Atheisten?

Halík: Durchaus, denn wenn jemand praktisch zeigt, dass er die anderen als Brüder und Schwestern behandelt, dann folgt er – unbewusst – der Überzeugung, dass alle Menschen Kinder eines göttlichen »Vaters« sind. Wer die Lebensqualität dieser Erde bewahren will, der nimmt indirekt auch den Schöpfer an. Im Handeln zeigt sich also ein verschwiegener Glaube. Er ist schon in der Person verwurzelt, er ist nur noch nicht auf der bewussten Ebene formuliert. Darum verstehe ich mich mit diesen »Ungläubigen« gut und weniger gut mit einigen Christen, die nur viele Worte machen. Es gibt also eine neue Grenze zwischen Suchenden und Festgefahrenen. Eine bestimmte Art atheistischer Kritik kann eine Verbündete des Glaubens sein. Sie kann den Glauben von infantilen religiösen Vorstellungen befreien.

In Ihrem Buch kritisieren Sie ausdrücklich den enthusiastischen Glauben charismatischer Kreise.

Halík:Der Glaube sollte nicht zu einer schlichten Emotion werden. Glauben ist ein ernsthaftes Ringen mit dem Geheimnis, vor dem man oft sprachlos bleibt. Gott wohnt im unzugänglichen Licht! Wir sind immer mit dem Schweigen Gottes konfrontiert. Diese »Nacht des Glaubens« möchte ich respektieren. In unserer Universitätskirche in Prag versuchen wir dem zu entsprechen. Hier kommen sehr unterschiedliche Menschen zusammen. Mein Motto ist: »Alle sind eingeladen, niemand wird gezwungen.« Wir freuen uns, dass in den zwanzig Jahren meiner Tätigkeit dort rund tausend Menschen getauft wurden. Diese offene Gemeinde ist für viele eine Art Zuhause, weil wir auch anspruchsvolle Meditationen oder Kunstausstellungen anbieten.

Wie dringend sind Reformen in der katholischen Kirche?

Halík: Die katholische Kirche muss sich immer reformieren. Sie sollte zudem Pluralität in den eigenen Reihen zulassen. Die frühe Kirche war ja in ihrer Organisationsstruktur, Theologie und Liturgie weit bunter als das heutige Christentum. Eine völlige Einheit der Kirche war niemals und wird wohl nie eine historische Tatsache sein. Über all die Themen, die die Kirchenvolksbewegung Wir sind Kirche vorbringt, sollte ruhig und sachlich diskutiert werden. Das schreibe ich auch in meinem Buch. Ich denke, dass diese Gruppen in mancherlei Hinsicht schließlich doch recht haben. Aber ich wende mich entschieden gegen die Vorstellung, die ich allerdings nicht allen Vertretern dieser Bewegung unterstelle, dass sich durch eine Demokratisierung und Liberalisierung der Strukturen, der Disziplin und etlicher Punkte der Moraldoktrin der katholischen Kirche ein neuer Frühling des Christentums einstellen könnte. Aber auch den Traditionalisten gegenüber habe ich meine Vorbehalte: Sie wollen in eine vormoderne Zeit zurück und suchen sich aus dem Ganzen des Glaubens aus, was ihnen gefällt. Damit sind sie häretisch. Glauben aber ist keine bequeme Gewissheit.

Sind das Perspektiven, die aus Ihrer Sicht angesichts des 50. Jahrestages des Zweiten Vatikanischen Konzils im Herbst bedeutsam sein können?

Halík: Durchaus, man denke an die festlichen Worte, mit denen das Konzilsdokument »Über die Kirche in der Welt von heute« beginnt: dass eben »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen unserer Zeit auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Kirche« sind. Diese Worte klingen fast wie ein Ehe-Gelöbnis: Die katholische Kirche gelobt dem modernen Menschen Liebe, Achtung und Treue in guten wie in schlechten Zeiten. Ist sie ihrem Versprechen jedoch treu geblieben? Kann sie heute mit gutem Gewissen eine »Goldene Hochzeit« mit der modernen Gesellschaft feiern? Auf der anderen Seite muss man allerdings auch nüchtern fragen: War für den modernen Menschen eine solche »Ehe« überhaupt je begehrenswert? COPYRIGHT: PUBLIK – FORUM. Wir weisen ausdrücklich empfehlend auf diese Zeitschrift hin. www.publik-forum.de

Lesetipp: Tomás Halík: Nachtgedanken eines Beichtvaters – Glaube in Zeiten der Ungewissheit. Herder Verlag. 320 Seiten. 16,99 €

PS. am 6.6.2012:  Wir erlauben uns, aus aktuellem Anlaß im Vatikan,  ein Zitat aus dem neuen Buch von  Prof. Dr. Tomás Halik (Prag),  “Nachtgedanken eines Beichtvaters” (geschrieben 2005, auf Deutsch 2012, Herder) , wieder zu geben. Auf Seite 293 schreibt Tomás Halik:  “Unsere Zeit ist eine Zeit der Erschütterungen…So ist eines der großen Paradoxa, die wir derzeit durchleben … wohl darin begründet, dass gerade derjenige Bereich der (römischen) Kirche, der diese weiterhin für eine =feste Burg= hält, meiner Meinung nach wie ein auf Sand errichtetes Gebäude zusammenstürzen wird”.

Tugenden und Laster: Eine philosophische Revue

Müßiggang ist aller Liebe Anfang

Wenn Tugenden zu Lastern werden – und umgekehrt.   Christian Modehn im Gespräch mit dem Philosophen Martin Seel

Wollen Sie an einer philosophischen Revue teilnehmen? Dabei können Sie ganz schön erschüttert werden. Denn im Laufe der Revue werden Tugenden zu Lastern und umgekehrt. Der Philosoph Martin Seel (Universität Frankfurt am Main) zeigt überzeugend, wie fließend die Übergänge sind zwischen gutem und bösem Verhalten. »111 Tugenden – 111 Laster« heißt sein neuestes Buch. Es stellt keineswegs 111 Tugenden den 111 Lastern gegenüber. Vielmehr sind die 111 menschlichen Charakterbilder in sich doppeldeutig: Eine Tugend kann zum Laster werden und ein Laster zur Tugend.

Herr Seel, verwischen Sie in Ihrem Buch nicht das klare Bild, das bisher ein tugendhaftes beziehungsweise ein verabscheuungswürdiges, ein lasterhaftes Leben auszeichnete?

Martin Seel: Auch nach der Lektüre meines Buches bleibt es dabei, dass Tugenden ein gutes und gerechtes Leben fördern und Laster ein solches Leben behindern und im Extremfall zerstören. Jedoch führt das Buch vor, dass in den meisten der menschlichen Charaktereigenschaften, die wir auf den ersten Blick als Laster verbuchen, durchaus auch Energien der Tugend stecken und entsprechend, dass in den menschlichen Tugenden häufig auch Kräfte des Lasters wirksam sind. Das heißt: Tugenden sind heikle Balancen, die oft nur mit Mühe gehalten werden können – aber die Mühe ist es wert.

Zum Beispiel: Warum kann das hoch gelobte Mitgefühl auch lasterhaft, also schädlich sein, für den Mitfühlenden wie für die Betroffenen?

Martin Seel: Wir alle kennen das Phänomen des falschen Mitleids. Aber auch dort, wo wir nicht nur ein geheucheltes, sondern ein echtes Mitgefühl für die Lage anderer Personen aufbringen, kann es vorkommen, dass wir die anderen durch unsere Empathie erdrücken: Wir glauben, besser als diese selbst zu wissen, wie es ihnen ergeht, und maßen uns an, deren Leben in unsere Hand zu nehmen. Zugleich kann übersteigertes Mitgefühl auch denen schaden, die es zeigen. Dies geschieht, wenn sie vor lauter Anteilnahme das Gespür für ihr eigenes Wohlergehen verlieren, was ihnen früher oder später die Kraft und die Fähigkeit zu aufrichtiger Anteilnahme raubt.

Oder denken wir an die Tugend der Frömmigkeit. Warum kann sie ins Lasterhafte »umkippen«?

Martin Seel: Wie immer man Frömmigkeit im Einzelnen versteht, ob als eine religiöse Haltung oder auch nur eine Haltung der »Weltfrömmigkeit« (die von jener gar nicht immer so leicht zu unterscheiden ist) – ihre Formen kippen ins Lasterhafte um, wenn der Glaube der Frommen zu einem starren, dogmatischen und darum intoleranten Glauben wird, der keinen anderen neben sich duldet. Insofern ist aller Fanatismus fehlgeleitete Frömmigkeit.

Nehmen wir eine relativ milde Form des Lasters, etwa die Faulheit. Kann denn aus Faulheit eine tugendhafte Haltung werden?

Martin Seel: Aber sicher. Das ethische Lob der Faulheit ist ja durch die Jahrhunderte hinweg immer wieder gesungen worden. Nicht weil Faulheit in jeder Hinsicht wohltuend und sozialverträglich wäre, aber doch, weil in ihr manchmal ein Geist des Widerstands gegen falsche eigene Erwartungen und maßlose gesellschaftliche Zumutungen steckt, der durchaus heilsam sein kann. In der richtigen Dosis erweist sich Faulheit als eine Form des Müßiggangs. Und entgegen anderslautenden Gerüchten ist Müßiggang nicht aller Laster, sondern aller Liebe Anfang.

Könnte man es ethisch rechtfertigen: Wer nie untreu war, weiß nicht, was Treue ist? Also sollte man sich eine gewisse »Dosis« Untreue gönnen?

Martin Seel: Ich würde vorsichtiger sagen: Wer den Zweifel an der Treue nicht kennt, kennt den Sinn der Treue nicht. Der Zweifel, auf den es hier ankommt, betrifft die Frage, ob die Person oder Sache, der ich treu bin, es wirklich wert ist, dass ich es bin. Sich dies fragen zu können ist selbst ein Zeichen der Fähigkeit zur Treue.

Ein hundertprozentig heiliger Mensch ist also philosophisch gesehen nichts als ein frommer Wunsch?

Wenn wir mit der Figur des Heiligen, wie es in der Moralphilosophie und Moraltheologie immer wieder geschehen ist, das Ideal einer Person verbinden, die sich vollkommen sicher auf der Seite des Guten bewegt, weil diese den Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Selbstsorge und Sorge für andere, zwischen den Forderungen des Tages und denen über den Tag hinaus (usw.) überhaupt nicht kennt, dann handelt es sich nicht einmal um einen frommen Wunsch, sondern einfach um eine unsinnige Vorstellung. Denn moralisch zu sein heißt gerade, den Widerstreit zwischen unterschiedlichen Anforderungen und Erwartungen ohne Bedauern anzunehmen – ohne den Irrglauben, man könne ein für alle Mal auf der richtigen Seite sein. Die wirklichen Menschen übrigens, die in religiösen Traditionen als »Heilige« verehrt werden, haben sich diesen Irrglauben kaum zuschulden kommen lassen.

Der Revolutionär Robespierre etwa wollte »nur tugendhaft« sein. Ist er gerade deswegen zum Massenmörder geworden?

Martin Seel: Unter anderem deswegen würde ich sagen. Moralischer Rigorismus ist gerade politisch gefährlich. Er verletzt das menschliche Maß eben dadurch, dass er sich einbildet, im Besitz der einzig wahren Deutung dieses Maßes zu sein. Auch hier gilt: Die reine Illusion ist immer eine Illusion der Reinheit.

Gibt es denn für Sie ein Laster, das niemals die Möglichkeit hat, sich positiv zur Tugend zu entwickeln?

Martin Seel: Ja, zumindest ein Laster bildet in meinem Buch eine Ausnahme von der Ambivalenz-Regel: die Grausamkeit. Grausam sind Personen oder Institutionen, die bereit sind oder es in Kauf nehmen, die leibliche und seelische Integrität von Personen ohne Rücksicht auf ihr Wohlergehen zu verletzen. In dieser Einstellung steckt nicht der geringste Keim einer Orientierung am Guten.

Es kommt in Ihrer Tugend-Philosophie darauf an, die Übergänge wahrzunehmen, wenn zum Beispiel aus der authentischen Freundlichkeit das Bloß-freundlich-Tun wird?

Martin Seel: Überall in der menschlichen Lebensführung kommt es auf die feinen Unterschiede an – so auch hier. Wobei nicht einmal das bloße Freundlich-Tun ganz zu verachten ist, etwa, wenn wir an die »professionelle« Freundlichkeit von Schalterbeamten oder Kassiererinnen denken.

Sie wenden sich gegen die definitive Abgeschlossenheit einer bestimmten Lebenshaltung. Könnte man sagen: Sie wollen das Leben flüssiger machen? »So bin ich und so bleib ich auf ewig«: Dieser Spruch hat dann wenig Sinn?

Martin Seel: »Das Leben« flüssiger machen zu wollen wäre wohl allzu vermessen. Außerdem erscheint es den meisten von uns ohnehin als einerseits zu flüssig (und flüchtig) und andererseits zu festgelegt (und beengend). Der Prozess der Lebensführung aber kann so gestaltet werden, dass in ihm eine Offenheit für die Ungewissheiten und Instabilitäten des Lebensvollzugs zum Ausdruck kommt. Nur dank dieser Offenheit ist so etwas wie ein über einzelne glückliche Augenblicke hinaus gelingendes Leben möglich.

Sie nennen Ihr Buch »eine philosophische Revue«: Das heißt, die Leserinnen und Leser können mit der Lektüre irgendwo beginnen, zum Beispiel bei der »Coolness«. Dann werden sie lesen, dass Coolness durchaus eine Mischung aus Gleichmut, Lässigkeit und Gewitztheit ist. Aber dann schreiben Sie auch: Coolness, »diese wohltemperierte Leidenschaft, lässt sich auf Dauer im wirklichen Leben nicht durchhalten«. Hoffen Sie darauf, dass durch Erkenntnis eine neue Einstellung zur Coolness, vielleicht zum Leben insgesamt, gelingt?

Martin Seel: Das Argument an der Stelle, auf die Sie sich beziehen, besagt, dass ein Leben lang durchgehaltene Coolness zur bloßen Fassade verkommen müsste: »Nur brüchige Coolnes ist cool«, lautet deshalb in dieser Sache das paradoxe Fazit. Wer das akzeptiert, verleiht seiner Lebenseinstellung einen bestimmten Akzent. Die Sache der Tugenden und Laster ist aber zu komplex, als dass man im Nachdenken über eine von ihnen sogleich die ganze Einstellung zum Leben neu konfigurieren könnte. Dies aber kann man ohnehin durch Nachdenken allein gar nicht bewerkstelligen. Erfahrung und Übung, und mit ihnen Enttäuschung und Überraschung, sind die unumgänglichen Begleiter einer wirksamen ethischen Reflexion.

Meinen Sie also, dass philosophische Besinnung und Kritik einen therapeutischen Charakter haben kann?

Martin Seel: Ja, durchaus: vor allem deshalb, weil es sich um Selbsttherapie handelt, die ihre Basis in einsamer oder gemeinsamer Selbstverständigung hat.

Sind denn Tugenden aus Ihrer Sicht lernbar? Und wenn ja, wer sollte Tugenden lehren?

Martin Seel: Hier möchte ich paradox sagen: Sie sind lernbar, aber nicht lehrbar. Dies folgt aus dem, was ich eben gesagt habe: Die Ausbildung von Tugenden und auch Laster ist wesentlich eine Sache der individuellen Selbstformung, die im günstigen Fall von beständigen Lernprozessen begleitet wird. Das bedeutet freilich weder, dass man den eigenen Charakter insgesamt in Regie nehmen könnte, noch, dass man nicht auf die Hilfe und das Beispiel anderer angewiesen wäre. Dennoch bleibt der Gedanke eines Tugendlehrers ein hölzernes Eisen. Die Fähigkeit, im eigenen Handeln diverse Tugenden zu beweisen, hat nicht die Verfassung eines Expertenwissens, das in feinen Dosen an die Laien weitergegeben werden könnte. Denn es gibt hier weder Laien noch Experten. Wohl aber gibt es Menschen, die anderen durch Erziehung, Anleitung, Imagination und Animation auf die Sprünge helfen können, indem sie veranschaulichen oder vormachen, wie es trotz allem möglich ist, sich selbst und den anderen einigermaßen gerecht zu werden.

Sollten heute Philosophen bestimmte Tugenden in den Mittelpunkt stellen, wenn nicht fördern? Etwa Gerechtigkeit, Engagement, Solidarität?

Martin Seel: Dies sind wichtige und unbedingt zu stärkende soziale Tugenden, über denen aber auch die stärker individualethischen Tugenden nicht vergessen werden sollten, wie beispielsweise Humor, Selbstachtung und Selbstvertrauen. Denn ohne diese werden jene nicht umsichtig wirksam werden können. Außerdem ist zu beachten, dass gerade die primär sozialen Tugenden in einer Gesellschaft wie der unseren nicht allein individuelle, sondern zugleich institutionelle Werte bezeichnen: Ohne gerechte Institutionen beispielsweise bleibt das individuelle Bemühen um Gerechtigkeit immer auch ohnmächtig. Daher hat die Förderung von Tugenden von vornherein eine politische Dimension.

Wie können Philosophen die verschiedenen Formen der Gier, etwa in der Finanzwelt, analysieren und kritisieren?

Martin Seel: Gerade an diesem Beispiel zeigt sich die eben erwähnte politische Dimension der Rede von Tugenden und Lastern. Das Problem der Finanzmärkte und ihrer Regulierung liegt ja nicht in erster Linie an der persönlichen Gier der Akteure, die auf dem Parkett der Börsen zugange sind. Es liegt vor allem an den systembedingten Imperativen, denen die Finanzindustrie gehorcht, und ihrer Indifferenz gegenüber den Entwicklungen der Realwirtschaft. Hier gegenzusteuern – und damit auch die Spielräume individueller Gier zu verringern – ist eine eminent politische Aufgabe, die zudem nur im internationalen Maßstab angegangen werden kann.

Warum brauchen wir eine neue Tugendlehre? Reicht im Alltag nicht der kategorische Imperativ Immanuel Kants als Orientierung völlig aus, der mich mahnt, immer zu prüfen, ob meine Lebensmaxime allgemeines Gesetz für alle werden kann?

Martin Seel: Der kategorische Imperativ oder andere Formen eines Instrumentalisierungsverbots im Verhalten der Menschen untereinander reichen allein deshalb nicht aus, weil sie angesichts konkreter Situationen viel zu wenig aussagen können. Und weil sie nicht in der Lage sind, der Möglichkeit von normativen Konflikten gerecht zu werden. Eine moderne Tugendlehre erinnert demgegenüber an die praktische Auslegung allgemeiner moralischer und rechtlicher Grundsätze, wie sie in der Gestalt einer Pluralität von Tugenden und Lastern in unserem alltäglichen Leben wirksam ist – und dort auch immer wieder verhandelt wird. Denn das ist der Sinn der Tugenden: Denen, die sich um ihren Besitz bemühen, eine Deutung ihres Lebens zu geben, die es ihnen erlaubt, ihr Dasein in Selbstachtung und in mit anderen geteilter Selbstbestimmung zu vollbringen.

Buchhinweis: Martin Seel. 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue.

S. Fischer. Frankfurt am Main. 288 Seiten. 18,95 €

Dieser Beitrag erschien zuerst im April 2012 in der empfehlenswerten Zeitschrift Publik Forum.

Hinweis am 2.1.2019: Über das neue (2018) Buch von Martin Seel “Nichtrechthabenwollen” klicken Sie hier.

Coypright: christian modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

Philosophie des Osterfestes: Abschied von den Definitionen

Wesentliches lässt sich nicht definieren

Ein philosophische Meditation (nicht nur) zu Ostern

Von Christian Modehn

Lässt sich ein für alle mal definieren, was Leben / leben ist? Die äußerst anregende neue philosophische Zeitschrift HOHE LUFT (Hamburg) bietet in ihrer 2. Ausgabe (2012) auf Seite 8f. eine „Miniatur“  über das „Leben“. Diese „Miniatur“ von Tobias Hürter inspiriert zu großem/weiten  Denken: Der Autor schreibt: „Was also ist Leben? Die Frage ist ein Klassiker. Es gibt unüberschaubar viele Antworten. Der amerikanische Biologe Radu Popa begann vor einigen Jahren, die Definitionen von Leben zu sammeln und hörte bei 300 auf zu zählen…“

Natürlich spricht nichts dagegen, Leben immer wieder definieren zu wollen, also möglichst viel Klarheit zu finden und Grenzen zu ziehen, was Leben ist und Leben nicht ist. Aber das Thema, das Objekt der Abgrenzung, und das ist ja De – finieren, Abgrenzen, lässt sich niemals endgültig umgrenzen. Denn das setzte voraus, dass man sozusagen denkerisch das Leben umgreifen kann; in den Griff bekommen kann, Grenzen ziehen kann. Aber IM Leben sind wir schon immer, wir können nicht aus diesem Im  – Leben  – Sein heraustreten und es selbst, überschauend, in den Blick nehmen. So bleibt das Leben für uns selbst immer endgültig un – definierbar.

Das undefinierbare, hingegen durchaus annähernd immer neu umschreibbare Leben ist nicht das einzige Phänomen, das die menschliche Vernunft niemals endgültig „fassen“ , also definieren kann.

Wir erinnern an das Sein, IN dem wir uns immer schon bewegen, und das umfassender ist als wir selbst. Jeder, der nur einmal Martin Heidegger gelesen hat, weiß das.

Ähnlich ist es wohl mit Licht, mit Geist, mit Seele. Wissen wir definitiv, was LIEBE ist? Wissen wir, wer der / die Geliebte ist? Kämen wir auf den Gedanken, den / die Geliebten zu definieren?

Daraus folgt: Das Wesentliche, das menschliches Dasein und Welt überhaupt strukturiert, ist nicht definierbar, nicht endgültig greifbar. Es entzieht sich dem herrschenden Anspruch der Vernunft.

Ähnlich ist es wohl mit der Frage nach Gott. Wer Gott – in Dogmen – definieren will, hat nichts von Gott verstanden. Gott lässt sich immer nur annähernd und relativ umschreiben. Und immer neu annähernd aussagen. Die Krise der Kirchen kommt auch daher, dass sie zu viel (!) von Gott wissen wollen. Es immer eine Hierarchie, die dieses Sonderwissen beansprucht und ihr All – Wissen mit Macht durchsetzt.

Abschied nehmen vom endgültig – Überzeugtsein, vom Glauben, endgültige Definitionen zu haben: das ist auch mit Ostern der Fall. Da wird in christlichen Traditionen bezeugt, dass irgendwie der Tod überwunden wurde durch Jesus von Nazareth. Wie genau? Das wird in den biblischen Texten gerade nicht gesagt. Kann nicht gesagt werden, denn auch der Tod ist wohl nicht zu definieren, weil niemand den Tod überschaut. Wir stehen immer nur VOR dem Tod, nicht schon hinter ihm. Ist die Auferstehung Jesu Christi, so allgemein gesagt, also Blödsinn, bloß weil sie nicht zu definieren ist? Wohl kaum. Wenn bestimmte Menschen erleben, dass etwas Außergewöhnliches geschieht (vorausgesetzt diese Menschen sind nicht spinös und irre), dann kann man das Erlebte ruhig doch mal stehen lassen. In dem Bewusstsein: Wesentliches lässt sich nicht definieren. Unser Wissen und damit auch unser Leben bleibt immer im Offenen, Suchenden, in der Schwebe. Menschliches Leben ist wesentlich immer von vorläufigem Wissen geprägt. Dieses Vorläufige wird nie  durchschaut werden, darin irrt aller Wissenschafts – Optimismus.

Wir leben immer im Vorläufigen. Das wäre eine philosophische “Definition” des Osterfestes. Wer im Vorläufigen lebt, will nicht herrschen, kann nicht definitiv bestimmen. Und er zögert immer, wenn er einmal bestimmen muss…Er will hören auf das, was das Dasein ist.

copyright:christian modehn, berlin.