Einfach glauben. Wenn Menschen wieder Wesentliches spüren wollen

Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon wird auch gelegentlich die Frage nach konkreten Glaubensvollzügen gestellt. Unser Vorschlag, der sich einer “liberalen theologischen Tradition” verpflichtet weiß und deswegen philosophisch nachvollziehbar, mindestens aber argumentativ “für alle” befragbar ist, plädiert für ein Konzept mit dem Titel: EINFACH GLAUBEN.

So hieß auch eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn  am 2. Januar 2011 im NDR (Reihe Glaubenssachen). Oft wurden wir gefragt, ob dieser Text noch nachzulesen ist. Deswegen, ein gutes Jahr nach der Sendung, hier eine Möglichlichkeit anhand des Textes weiterzudenken und vielleich auch zu entdecken, dass Glauben – trotz aller dogmatischen Einsprüche – eigentlich “einfach”   ist. Die Form des Manuskripts entspricht der im Hörfunk üblichen Gestalt.

 

 

 

Glaubenssachen

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Sonntag, 2. Januar 2011, 08.40 Uhr

Einfach glauben
Wenn Menschen wieder Wesentliches spüren wollen
Von Christian Modehn

Redaktion: Bernward Kalbhenn, Norddeutscher Rundfunk, Religion und Gesellschaft

– Unkorrigiertes Manuskript –

Zur Verfügung gestellt vom NDR

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1. Sprecher:

Meinen Schulfreund Karl hatte ich einige Jahre aus den Augen verloren. In einem Café traf ich ihn kürzlich wieder. Mittlerweile ist er erfolgreicher Bauingenieur. Neben seinem Espresso hatte er ein dickes Buch ausgebreitet, dem seine ganze Aufmerksamkeit galt. Gleich nach der Begrüßung wollte Karl, typisch für ihn, das „Allerneueste“ mitteilen: „Ich bin vor einem halben Jahr katholisch geworden, habe mich taufen lassen“, berichtete er, „und nun lese ich ein Kompendium des ganzen Glaubens“. Er zeigte mir, nicht ohne Stolz, sein Buch – den „Katechismus der Katholischen Kirche“. Dies sei seine „Gebrauchsanweisung für den Glauben“; auf Seite 134 hatte er ein paar Zeilen unterstrichen:

2. Sprecher:

Die Erbsünde „ist eine Sünde, die durch Fortpflanzung an die ganze Menschheit weiter-geben wird. (…) Sie ist eine Sünde, die man ‚miterhalten‘, nicht aber begangen hat, (sie ist) ein Zustand, keine Tat“.

1. Sprecher:

Ich muss gestehen, dass mir diese Zeilen einen leichten Schock versetzten. So soll es also gewesen sein? Als sich meine Eltern liebten, „sich fortpflanzten“, wie es im katholischen Katechismus recht prosaisch heißt, haben sie also die Erbsünde an mich weitergegeben. Aber wurde uns denn nicht im Religionsunterricht eingeschärft: Sündigen kann man nur in einer freien Entscheidung? Und nun gibt es eine Sünde als Zustand? Ein Ungeborener soll bereits sündig sein? Ist ein Glaubenskompendium hilfreich, wenn der Leser irritiert wird oder an der Lehre zweifelt?

Karl nahm mein Erstaunen gar nicht wahr. Voller Begeisterung erzählte er gleich weiter, dass er bis zur Taufe ein ganzes Jahr lang an Glaubensunterweisungen teilgenommen habe, Konvertiten–Unterricht genannt. Die gesamte katholische Lehre hätte er noch gar nicht durchgearbeitet, wie er sagte. Aber mit diesem Katechismus könne er sich ja selbst in alle Einzelheiten vertiefen. Im Vorwort zu seinem „Glaubenskompendium“ hatte Papst Johannes Paul II. geschrieben:

2. Sprecher:

Dieser Katechismus „ist eine Darlegung des Glaubens der Kirche“ (…) Ich erkenne ihn als gültiges und legitimes Werkzeug (…) an, ferner als sichere Norm für die Lehre des Glaubens“.

1. Sprecher:

Und während mein Schulfreund Karl weiterplauderte, seine „Gebrauchsanweisung“ fest im Griff, fragte ich mich, wer denn eigentlich gern Gebrauchsanweisungen liest. Und: Ist Glauben so schwer zu lernen und mühsam zu verstehen? Kann man nicht auch „einfach glauben?“, ohne dickes Buch oder Lehrgebäude?

Alle christlichen Kirchen sind bestrebt, in umfangreichen Büchern den „ganzen Glauben“ darzustellen. Auch die Reformatoren Luther und Calvin hatten den Ehrgeiz, ihre protestan-tische Theologie einprägsam zu verbreiten, etwa im „Augsburger Bekenntnis“ oder im „Heidelberger Katechismus“. Der Titel dieser klassischen Glaubensbücher bezieht sich auf das altgriechische Verb katechein;  es bedeutet wörtlich übersetzt „von oben herab tönen, ergötzen, bezaubern“. Diese  ursprüngliche Bedeutung hatten die Menschen im 8. Jahrhundert wohl längst vergessen, als die ersten umfassenden Katechismen in den Klöstern geschrieben wurden. Dabei ist die ursprüngliche griechische Wortbedeutung durchaus treffend: Denn diese Lehrbücher wurden von oben herab, von Päpsten, Bischöfen und Theologen den Laien, dem Volk, vorgesetzt, als geistliche Nahrung, wie es hieß. Ob die Laien von diesen Büchern immer  bezaubert oder gar ergötzt wurden, ist fraglich angesichts der nüchternen, trockenen Theologensprache. Ich erinnere mich noch an den Katechismus aus den fünfziger Jahren, der mit einer abstrakten Frage begann:

2. Sprecher:

Wozu sind wir auf Erden?

1. Sprecher:

Die Antwort konnte man gleich darunter lesen:

2. Sprecher:

Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und einst ewig bei ihm zu leben.

1. Sprecher:

Als Kinder mussten wir ganze Seiten dieses Frage- und Antwort- „Spiels“, wie wir damals sagten, auswendig lernen. Der Katechismus umfasste 248 Fragen. Die letzte Frage bewegte uns Kinder am meisten, denn sie erzeugte einen gewissen Schauer:

2. Sprecher:

Was wird am Jüngsten Tag mit der sichtbaren Welt geschehen?

1. Sprecher:

„Sie wird verwandelt und neu gestaltet werden“, riefen wir dann mutig dem Pfarrer zu. Wer zehn weitere Fragen korrekt  beantworten konnte, erhielt einen Bonbon. Dieser Katechis-mus wurde damals auch in der DDR verbreitet. Viele der dortigen Atheisten hat er wohl kaum zum Glauben bewegt. Denn dieses Buch setzte Gott schlicht und einfach als real existierend voraus. Heute bieten Katechismen wenigstens Hinweise, wo und wie denn die göttliche Wirklichkeit im Alltag des Lebens zu ahnen, zu spüren und möglicherweise zu finden sei. Über alle Zeiten hinweg aber ist den Katechismen eine Überzeugung gemein-sam:

2. Sprecher:

Der christliche Glaube ist ein Lehrsystem. Evangelische wie katholische Katechismen be-ginnen auch heute noch, systematisch gegliedert, bei Gott selbst, bei „Gott Vater“. Inner-halb der sogenannten Trinität, der Dreifaltigkeit, führen sie dann die Leser weiter zu Jesus Christus, dem ewigen Logos, „das menschgewordene Wort Gottes“, und schließlich zum Heiligen Geist; im Anschluss daran wird das Wesen der Kirche abgehandelt.

1. Sprecher:

Vom Himmel hoch kommend landet der Leser schließlich nach hunderten von Seiten bei den irdischen, auch den ethischen Fragen. Der Evangelische Erwachsenenkatechismus aus dem Jahre 1977 breitet diese Lehre auf 1.356 Seiten aus. Die aktuelle Ausgabe, noch keine zwei Monate auf dem Markt und als „Kursbuch des Glaubens“ angepriesen, umfasst nur noch 1.020 Seiten. Katholiken könnten da fast eifersüchtig werden; denn die römische Glaubensbehörde hat für ihren offiziellen Katechismus nur 816 Seiten zustande gebracht. Dabei erscheint doch der katholische Glaube schon aufgrund der Heiligenverehrung, des Papsttums und der sieben Sakramente sehr viel inhaltsreicher.

Wie auch immer: Diese Bücher hinterlassen den Eindruck: Ein Mensch ist erst dann ein wahrer Christ, wenn er die 800 oder 1000 Seiten studiert, also diese „Gebrauchsan-weisung“ durchgearbeitet hat, wie mein Schulfreund Karl betonte. Aber, wie gesagt, wer liest schon gern Gebrauchsanweisungen? Natürlich kann es gelegentlich reizvoll sein, bestimmte Phänomene der christlichen Lehre genauer kennenzulernen; etwa der Frage nachzugehen, welche Rolle Christus, der Sohn Gottes, „der ewige Logos“, wie es heißt, im Ganzen der himmlischen Dreifaltigkeit spielt. Im Katholischen Katechismus aus dem Jahr 1993 heißt es dazu im Paragraphen 254:

2. Sprecher:

„Die Trinität ist eine.  Die drei göttlichen Personen beziehen sich aufeinander. Weil die reale Verschiedenheit der Personen die göttliche Einheit nicht zerteilt, liegt sie einzig in den gegenseitigen Beziehungen“.

1. Sprecher:

Solche Sätze pflegte mein Vater gern mit einem lauten „Aha“ zu kommentieren, um dann sofort von etwas anderem zu sprechen, etwa von der Sozialpolitik. Ihn ärgerte zudem, dass ein modernes Glaubensbuch, der so genannte Holländische Katechismus aus dem Jahr 1966, verfasst in einer modernen Alltagssprache, von der offiziellen Kirche abgelehnt und bekämpft wurde.

Weil Katechismen immer den Eindruck erwecken, der christliche Glaube sei eine Art in sich geschlossener Weltanschauung, die auf alle grundlegenden, religiösen und ethischen Fragen eine endgültige Antwort weiß, haben auch Theologen zu allen Zeiten unter diesem „System–Christentum“ gelitten und Auswege aufgezeigt. Schon der große Augustinus, selbst Verfasser zahlreicher voluminöser Glaubensbücher, erkannte die Notwendigkeit, den Glauben „auf den Punkt“ zu bringen. Er schrieb den viel zitierten lateinischen Satz:

2. Sprecher:

„Dílige et quod vis fac“. Wörtlich übersetzt: Liebe und tu, was du willst.“

1. Sprecher:

Als Augustinus diese Worte im Jahr 407 niederschieb, hatte er seine von erotischen Liebes-abenteuern geprägte Jugendphase längst hinter sich gelassen. Als Bischof von Hippo in Nordafrika, bezog er sich in seinem Spruch nicht auf den Eros, sondern auf die Liebe als Caritas, auf die tätige Nächstenliebe. Ausführlich und ein wenig paraphrasierend müsste man übersetzen:

2. Sprecher:

Übe dich in der Nächstenliebe, erst dann kannst du frei dein Leben gestalten.

1. Sprecher:

Erstaunlich, dass dieser viel gerühmte „Kirchenvater“ den Kern des Glaubens in einer sehr praktischen Lebenshaltung sah. Darin folgte er den Weisungen der frühen Kirche. Für den Apostel Paulus ist die Nächstenliebe das Höchste und alles Entscheidende. Und der Ver-fasser des 1. Johannesbriefes schreibt:

2. Sprecher:

Wir Glaubende wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben gekommen sind, weil wir die Geschwister lieben. Wer nicht liebt, der bleibt im Tod, hat also mit Gott keine Verbindung.

1. Sprecher:

Die frühe Kirche hatte auch Interesse, den inneren, den religiösen Kern des Glaubens, die Theorie, wenn man so will, in wenigen Worten zusammenzufassen. Dabei hat sie durchaus die unterschiedlich geprägten religiösen und kulturellen Milieus ernst genommen. Gegen-über gebildeten sogenannten Heiden-Christen, vor allem den Philosophen in Athen, betonte der Apostel Paulus:

2. Sprecher:

Gott ist nicht fern von einem jeden Menschen. Denn in Gott leben wir, in ihm bewegen wir uns und sind wir. Tatsächlich, wir sind von göttlichem Geschlecht.

1. Sprecher:

Einer der bedeutenden katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Rahner, war von den zahlreichen kurz gefassten Bekenntnissen der ersten Christen beeindruckt. Sein Plädoyer: Wenn heute viele Christen den Wald vor Bäumen nicht mehr sehen, also an-gesichts der Überfülle von Lehren und Dogmen das Wesentliche des Glaubens nicht mehr wahrnehmen, dann sollten „Kurzformeln des Glaubens“ geschrieben werden, prägnante Verse, die alles Entscheidende griffig sagen, ohne dabei zu oberflächlichen Werbeslogans zu verkommen. Bei dieser Suche nach dem Wesen des Christentums wusste sich Rahner verbunden mit einer breiten theologischen Tradition. So wollte zum Beispiel der protestantische Theologe Adolf von Harnack, Professor an der Berliner Humboldt Universität, das „Zentrum des Glaubens“ in den Mittelpunkt stellen. Sein Buch „Das Wesen des Christentums“ erschien im Jahr 1900 und fand sehr viel Aufmerksamkeit. Darin heißt es:

2. Sprecher:

Wesentlich ist der Glaube an Gott, den wir uns in etwa wie einen guten Vater vorstellen können; wesentlich ist der unendliche Wert eines jeden Menschen und damit zusammen-hängend die Nächstenliebe. Jesus lehrt uns, in diesem Geist die Welt gerecht zu gestalten.

1. Sprecher:

Diese Erkenntnis bewegt bis heute viele Menschen, Fromme und weniger Fromme. Und sie wissen sich dabei ganz eng mit dem Initiator des Christentums verbunden, mit Jesus von Nazareth. Eigentlich sollte die ständige Bindung an die Lehren und Weisungen Jesu für Christen selbstverständlich sein. Aber die hochkomplex gewordene Kirchenlehre hat die Gestalt Jesu oft eher verdeckt als lebendig erscheinen lassen. Wie viele Synodenbeschlüsse oder Enzykliken nehmen denn auf Jesus ausdrücklich Bezug, auf die Berg-predigt zum Beispiel oder auf seine Mahnungen, nicht zu herrschen und arm zu leben, sich nicht Meister nennen zu lassen, sondern der Diener aller zu sein? Bezeichnenderweise haben alle großen Reformatoren, wie Franziskus von Assisi oder Martin Luther, immer wieder Jesus als das kritische Gegenüber zu einer sich machtvoll gebärdenden Kirche eingeklagt. In diesem Sinne schreibt der Theologieprofessor Gottfried Bachl aus Salzburg in seinem Buch „Der schwierige Jesus“:

2. Sprecher:

Alle beachtenswerten Stimmen der Tradition laden mich ein, mich unmittelbar und haut-nah an Jesus zu halten, keine anderen Prinzipien gelten zu lassen. Woher sollte man denn sonst auch wissen, dass man angesichts der bunten religiösen Vielfalt im Christentum tatsächlich auf seinem, also auf Jesu Weg sich befindet?

1. Sprecher:

Allerdings: Eindeutige und historisch sichere Informationen über diesen Jesus von Nazareth sind eher mühsam zu haben. Die vier Evangelien aus dem Neuen Testament sind Predigten und Bekenntnisse, keine Lebensbeschreibungen; eine umfassende, objektiv korrekte Biographie Jesu kann es aufgrund der Quellenlage nicht geben. Dennoch gibt es keinen Zweifel, dass die entscheidende Mitte der Lehre Jesu, sozusagen das „Unverwechselbare“, genau festgelegt werden kann.

2. Sprecher:

In seiner Bergpredigt lobt Jesus die Friedfertigen sowie die Menschen, die nach Gerechtig-keit streben. Auch jene werden seliggepriesen, die barmherzig sind und authentisch leben wollen, also ein „reines Herz“ haben. In anderen Erzählungen empfiehlt Jesus nach-drücklich, niemals über andere Menschen zu richten, sondern auch „den Balken im eigenen Auge zu sehen“. Er wendet sich mit aller Liebe den Armen und Ausgestoßenen zu, integriert sie in die Gemeinschaft; er warnt vor aller Scheinheiligkeit und mahnt die religiösen Führer, niemals zu herrschen, sondern zu dienen. Allein auf das metanoein, das Umdenken komme es an, auf die Umstellung bisher üblicher Werte.

1. Sprecher:

Diese von Jesus inspirierte Lebensweisheit wird von Theologen heute gern der „einfache Glaube“ genannt. Mit dem Wort „einfach“ möchten sie sich abgrenzen von allen komplizierten Glaubenslehren. Auch Philosophen sprechen jetzt nachdrücklich davon, etwa der weltweit geschätzte Italiener Gianni Vattimo. Er setzt sich in seinem Buch mit dem Titel „Glauben–Philosophieren“ von den ausgefeilten, manchmal allwissend erscheinenden Traditionen des Christentums ab. Für ihn kommt es auf einen im guten Sinne „reduzierten“, also einen bescheidenen Basis-Glauben an. Es ist schon fast ein Trend, wenn Philosophen wie Theologen betonen:

2. Sprecher:

Menschen können authentisch und wahrhaftig glauben, wenn sie sich den Lebensweis-heiten Jesu anschließen.

1. Sprecher:

Einfach, im Sinne von „schlicht“ oder „leicht realisierbar“, ist dieser elementare Glaube nicht. Denn wer kann auf Dauer der Weisung folgen, immer wieder zu verzeihen? Wer kann seinen Geist so frei machen von Aggressionen, dass er selbst seinen Feind lieben kann? Wer kann von sich sagen, dass er sein Herz nicht doch an den schnöden Mammon, das Geld, bindet? Dieser einfache Glaube Jesu wirkt wie eine dauernde Einladung, nicht stehen zu bleiben, nicht existentiell zu stagnieren, sondern das Ziel menschlicher Reife anzustreben. Eine Herausforderung, die nur gelingen kann, wenn sich die Menschen von einem tragenden Grund, von einer unendlichen göttlichen Liebe, geborgen wissen. Der einfache Glaube kommt ohne Mystik nicht aus.

In der langen Geschichte der christlichen Mystik wurde dieser „bergende Lebensgrund“ auch „göttlicher Funke“ im Menschen genannt, Meister Eckart sprach im 13. Jahrhundert davon, später Angelus Silesius, auch Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte. Dieser gött-liche Bereich im Menschen ist die lebendige Quelle  des elementaren, des einfachen Glaubens. Wer dieses „göttlichen Bereichs“ inne werde, der sei auf dem besten Weg, ein Glaubender zu werden, meinte z.B. Thomas Merton, ein katholischer spiritueller Autor aus Amerika. Er war von dieser Idee ganz begeistert:

2. Sprecher:

Im innersten Kern unseres Wesens gibt es einen Punkt, klein wie ein Nichts, an den Sünde und Illusion nicht zu rühren vermögen. Er ist der Punkt der lauteren Wahrheit. Nie können wir über diesen göttlichen „Funken“ verfügen, er ist der Punkt der Herrlichkeit Gottes in uns. Er ist in unser innerstes Wesen geschrieben. Er steckt in jedem Menschen. Deswegen gibt es Milliarden solcher Lichtpunkte. Sie können Dunkelheit und Grausamkeit des Lebens verscheuchen.

1. Sprecher:

Angesichts einer unübersichtlichen und vielfach bedrohten Welt suchen Menschen nach festen Eckpunkten, nach einer elementaren Weisheit, die im praktischen Leben wie auf der spirituellen Suche Orientierung zu geben vermag. Vor einigen Wochen erschien in den Niederlanden ein Buch, das diesen Interessen entgegenkommt. Es umfasst nur 140 Seiten. Kunstdrucke mit Werken von Caravaggio bis Chagall sollen zur Meditation anregen. Anstelle von Belehrungen wird von menschlichen Tugenden erzählt, etwa vom Mitgefühl, der Gerechtigkeit, der Annahme seiner selbst. „Katechismus des Mitgefühls“ heißt dieses Buch, das einige kleinere protestantische Kirchen gemeinsam herausgegeben haben. Es hat im säkularisierten Holland sehr viel Interesse gefunden. Die Autoren schreiben:

2. Sprecher:

Wer sich vom Mitgefühl für andere leiten lässt, erkennt auch sein eignes Leben. Wer sich in andere hineindenkt, wer die Unbekannten, die Fremden, lieben lernt: Erlebt die ganze Weite der Schöpfung Gottes und lernt sie lieben. Dann kann der Glaube beginnen, elementar und einfach. Dann kann Gott als eine mystische Kraft entdeckt werden.

Literaturhinweise:

Gottfried Bachl, Der schwierige Jesus. Tyrolia Verlag, Innsbruck – Wien. 1996, 112 Seiten.

Catechismus van de compassie (Katechismus des Mitgefühls). Von Christiane Berkvens –Stevelinck und Ad Alblas, Skandalon Verlag in Vught, Niederlande, mit einer DVD von Karen Amstrong. 140 Seiten, 2010.

Thomas Merton, Zeiten der Stille. Herder Verlag, 1992. 155 Seiten.

Albert Schweitzer, Das Christentum und die Weltreligionen. Becksche Reihe, München, 1992. 124 Seiten.

Gianni Vattimo, „Glauben, Philosophieren“. Reclam Verlag, Stuttgart, 1997. 121 Seiten.

 

 

Die Stoa und die digitale Welt: “Einfach abschalten”

Mit Seneca die Herrschaft der digitalen Welt einschränken

Von Christian Modehn

Er hat sich, wie viele Millionen anderer Menschen, ganz in die digitale Welt der „Bildschirme“ hineinbegeben und sich von ihr abhängig gemacht; jetzt lebt er mit der Familie den „Internet – Sabbat“, um sich aus der totalen Bindung an Laptops, Handys, E book- readers und Tablet PCs zu befreien. William Powers, Schriftsteller und Journalist  (u.a. The New York Times, The Atlantic) plädiert in seinem neuen Buch „Einfach abschalten“ (Goldmann Verlag 2011) dafür, gelegentlich Abstand zu nehmen von der digitalen Welt. Die permanent propagierte Verheißung, je mehr man vernetzt sei, um besser sei das Leben, hat sich für ihn als haltlos und gefährlich erwiesen. „Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird der Preis dieses Lebens auf die Dauer die Vorteile übertreffen. Die Lösung liegt eher darin, sich eine neue Weltsicht anzueignen, durch die wir zu einer bedachteren, überlegteren Lebensweise kommen…Wann immer ich einen Zwischenraum zwischen mir und meinem Bildschirm eröffne, geschieht etwas Gutes“  (S. 287).

William Powers weiß genau, wovon er spricht: Die permanente Erreichbarkeit, das damit gegebene Dauer –Gerede/Geschreibe über Banales und allzu Privates, der dauernde Zwang, emails zu checken, am Wochenende, in jedem Hotel, bei jedem Urlaub, hat auch ihn eingeschränkt, sie hat ihm beinahe die Seele geraubt.  Jetzt weiß er: Die digitale Welt macht das Leben eindimensional, es bildet sich die Unfähigkeit, „unsere Gedanken zu verlangsamen und zu konzentrieren“ (S. 23). Der total digitale Mensch wird abhängig von Einreden von außen, von den Sprüchen der anderen, der Werbung, der Propaganda. Die Pflege und die Achtsamkeit auf die eigene, „nur meine“ innere Welt, das leibhaftige Interesse am anderen, an der Familie, deb Freunden,  geht verloren. „Das eigene Innenleben wird immer beliebiger, fremdbestimmt durch das, was andere sagen“ (S. 162).  William Powers berichtet, wie in Finnland sich Menschen bereits rituell  aus der Allmacht des Digitalen befreien, indem sie öffentlich den Handy- Weitwurf praktizieren, „eine symbolische geistige Befreiung vom unterdrückenden Joch ständiger Erreichbarkeit“ (S. 100).

Philosophen und philosophisch Interessierte nehmen es mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis, dass der kompetente Nutzer der digitalen Welt und ihr nun heftiger Kritiker sich auf „therapeutische Ansätze“ von Philosophen beruft.  Etw auf Seneca, den Meister der stoischen Philosophie, er lebte vor 2000 Jahren. Seine Erkenntnisse hält Powers für aktuell und hilfreich. Er weist zurecht die dumme Klischeevorstellung zurück, die Stoa sei eine banale Lehre von der Duldsamkeit. Im Gegenteil, Powers zeigt, wie auch die Menschen in der antiken Welt auf ihre Weise bereits von Stress geplagt waren, von permanentem Lärm in den Großstädten, von den Herausforderungen, im weiten Römischen Reich zu reisen, Bücher zu kaufen, Briefe „in alle Welt“ zu schreiben. Der Philosoph Seneca wird sozusagen zu einem Zeitgenossen/Leidensgenossen von uns. „Eines seiner häufigsten Themen ist die Gefahr, anderen, der breiten Masse, zu erlauben, zu viel Einfluß auf das eigenen Denken auszuüben“. (s 161). Alles kommt darauf an, „in sich selbst zu ruhen, auf sein eigenes Gespür und auf die eigenen Gedanken zu vertrauen“. Die Ruhelosigkeit ist für Seneca eines der schlimmsten Übel. Und vor allem der Wahn, in einem tatsächlich immer (zu) kurzen Leben „alles“ erleben zu wollen. „Berechne deine Lebenszeit. So viel passt gar nicht hinein“, schreibt Seneca (S. 165). Oder das stressige Viel – Lesen sollte konkreter werden, wenn man sich für einen Tag einen wichtigen Satz als eine Art Weisheit des Tages aussucht und ihn dann meditierend bedenkt. (S. 166).

William Powers will nicht die digitale Welt in Grund und Boden verdammen. Sie ist und bleibt hilfreich, ist unverzichtbar. Aber alles kommt darauf an zu erkennen: Die digitale Welt ist nur EINE Welt von vielen anderen. Und es gibt wichtigere „Welten“: Nämlich “die Sorge um sich selbst”, wie der Philosoph Michel Foucault einmal sagte.

William Powers, Einfach abschalten. Goldmann Verlag 2011, 350 Seiten, 9,99 Euro.

copyright: christian modehn

 

 

 

111 Tugenden und Laster. Eine philosophische Revue

Ein philosophisches Buch zum Weiter – Denken. Ein Begleiter für das ganze Jahr:

Martin Seel, „111 Tugenden und 111 Laster“.
Eine philosophische Revue.

Aus der großen Fülle philosophischer Einführungen ragt jetzt ein Buch ganz wunderbar hervor: Der in Frankfurt/M. lehrende Philosoph Martin Seel, einigen schon bekannt, etwa durch seine Studien „Paradoxien der Erfüllung“, hat nun ein neues Buch vorgelegt, das alle interessieren, ja begeistern kann (im Sinne von inspirieren), die auf dem Weg des kritischen Reflektierens sind. Und das sollten und könnten ja alle Menschen sein….
Dass Martin Seel sein Buch durchaus auch unterhaltsam meint, zeigt schon der Untertitel an: „Eine philosophische Revue“. Tatsächlich präsentiert er in seiner Revue in 111 kürzeren oder längeren „Auftritten“ (Kapiteln) 111 Tugenden, also für den Menschen positive Lebenseinstellungen bzw. „Dispositionen“ (wie Mitgefühl, Besonnenheit) und dazwischen gemischt, aber doch inhaltlich verbunden, Laster bzw. Untugenden (wie Aberglaube, Fanatismus).
Der Clou dieser positiv wie negativ besetzten Revue ist, dass alle Werte und alle Tugenden auch – ohne die vernünftige Mitte gelebt – in Untugenden umkippen können, aus Mut kann schnell „Übermut, Tollkühnheit, Draufgängertum werden“, (S. 179). Ebenso haben Untugenden und Laster auch positive Aspekte. Mit einer Ausnahme meint Martin Seel: Im Laster der Grausamkeit gibt es keinerlei noch positiv zu verstehenden Entwicklungslinien. Auf die Ambivalenz aller anderen Tugenden und Laster hingewiesen zu werden, bringt den Leser, die Leserin, sehr zu recht ins Schleudern und dann ins weitere Nachdenken, das zu einem Neu – Verständnis führen kann. So ist etwa die Faulheit (Seite 69ff) sicher eine milde Form des Lasters: „Faulheit kann aber ein Mangel an Selbstsorge sein“, andererseits kann sie auch den „ausgelassenen Genuss des Daseins“ signalisieren. Faulheit kann ein Mittel sein, sich vom destruktiven Zwang der Selbststeigerung zu befreien, wie es schon Theodor W. Adorno (S. 71) andeutete. Faulheit als Müßiggang verstanden kann sogar „aller Liebe Anfang“ sein, schreibt Martin Seel (ebd).
Wer an der Revue teilgenommen hat oder immer wieder beinahe beliebig wieder einsteigt, kann dann auf gut 40 Seiten sozusagen die innere Struktur der einzelnen Auftritte erkunden, also in das innere Leben der Tugenden hineinschauen, so, wie es Philosophen in der langen Geschichte gedeutet haben. Diese Seiten, etwas anspruchsvoller, handeln etwa von den Kardinaltugenden, das sind ja nicht jene, die etwa katholische Kardinäle haben (sollten), sondern die von lateinischen Worte CARDO herstammen und die alles entscheidenden Angelpunkte meinen, also in dem Falle unentbehrliche Tugenden, ohne die ein menschliches Leben kein menschliches Leben ist (Weisheit, Besonnenheit, Mut und Gerechtigkeit). Außerdem zeigt Martin Seel sehr schön, dass kein Mensch alle Tugenden in seiner Person vereint leben kann, ja, dass kein Mensch also „nur“ tugendhaft sein kann. Immer gibt es im Einzelleben diese Melange aus Tugend und Laster, natürlich auch bei den so genannten Heiligen der Kirche, wobei den Frommen stets von offizieller Seite vorenthalten wird, wo denn die Laster dieses Heiligen waren. Erst Journalisten kümmern sich darum und weisen etwa auf die Scharlatanerie des heiligen Pater Pio (Süditalien) hin, aber dies nur als Beispiel des Rezensenten.
Insgesamt empfehlen wir nachdrücklich das neue Buch von Martin Seel, es kann hoffentlich einen Durchbruch bewirken im Verstehen, dass Philosophie populär ist und dass dieses Thema nicht von einem ständig in allen Medien herum gereichten Star reserviert sein kann.
Hoffentlich kann man bald die 10. usw. Auflage dieses Buches melden und eine Herausgabe als sehr preiswertes Taschenbuch!
Copyright: christian modehn, religionsphilosophischer Salon.
Martin Seel, „111 Tugenden und 111 Laster“.
Eine philosophische Revue. S. fischer verlag 2011, 285 Seiten.18,95 Euro

WDR 5 brachte am 13.1.2012 ein Gespräch mit Martin Seel:

Zur Buchmesse: Island: Wer glaubt da noch an Feen?

Die Buchmesse in Frankfurt am Main hat als Schwerpunktthema in diesem Jahr: ISLAND. Über diesen Link können Sie zu einem Interview mit der ISLAND Spezialistin Marie Krüger Berlin, kommen. Das Interview wurde in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM gedruckt. Wir weisen gern darauf hin, dass im Verlag Publik-Forum Probeexemplare der alle 14 Tage erscheinenden Zeitschrift bestellt werden können.

Das Interview mit Marie Krüger:

http://www.publik-forum.de/spiritualitaet-lebenskunst/artikel/ich-glaube-nicht-an-feen-20532

Ein Weg in die Heiterkeit? Beim Lesen des “Feldweg” von Martin Heidegger

Ein Weg in die Heiterkeit?
Beim Lesen von „Der Feldweg“ von Martin Heidegger

Am 26. Juli 2011 haben wir in unserem „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon“ den wohl kürzesten Text Martin Heideggers „Der Feldweg“ gelesen und interpretiert, unterstützt und beraten von dem Heidegger Spezialisten Michael Braun, Berlin.

Ein Teilnehmer schickt uns einige persönlichen Beobachtungen und Reflexionen.

„Der Feldweg“ (1948 geschrieben) weckt den Eindruck, als würde er sich in einer leichten, schnell zugänglichen Lektüre erschließen.
Tatsächlich nimmt Heidegger in einfachen Worten den Leser mit auf seinen seit Jugendzeiten vertrauten Spaziergang gleich hinter dem Schloss von Messkirch.

Einzelne Worte erscheinen merk – würdig: „der Feldweg half“, eine „hohe Eiche grüßt“: Die Natur wird nicht als fremdes Gegenüber erlebt, sie steht im Gespräch mit dem nachdenklichen Menschen. Natur und Mensch können noch „kommunizieren“.

Es ist ein „karges Land“, durch den der Feldweg führt. Ist diese Kargheit bereits Metapher für das karge Leben insgesamt? Heidegger spricht später, in den Holzwegen“, von der „dürftigen Zeit“ der Seins – Vergessenheit.

Welche Worte in dem Text gelten unmittelbar als solche in einem noch vordergründigen Verständnis, welche müssen „tiefer“ verstanden werden?

Kann man einer ersten, „schlichen“ Lektüre vertrauen? Dann erzeugt die meditierende Lektüre des Feldweges eine gewisse Geborgenheit, eine Sehnsucht nach Verwurzelung, einen Wunsch, wesentlich zu leben, achtsam zu sein auf die Natur, den Wechsel der Jahreszeiten, die Erinnerung zu pflegen, den göttlichen Gott zu suchen (von ihm spricht Heidegger im Verweis auf Meister Eckart).

Darüber hinaus wird der Leser in tiefere, zum Teil schockierende Fragen „geschleudert“: Heidegger spricht von Wanderungen, auf denen „alle Ufer zurückbleiben“. Oder: „Wachsen heißt, der Weite des Himmels sich öffnen und zugleich in das Dunkel der Erde wurzeln“. In einer Heimat verwurzelt sein, d.h. die konkrete Endlichkeit in einem zugewiesenen Lebensraum annehmen, UND: in die Weite des Himmels sich öffnen, also eine eigene Form des Transzendierens über alles Begrenzte leben.

In dieser Verbundenheit mit Immanenz und Transzendenz wird das „Einfache“ erlebt. Da stellt sich besinnliches Denken ein, wird die Herrschaft des Rechnens und Verfügens und Machens unterbrochen. In der technischen Welt, so Heidegger, denken die Menschen, der Lärm der Apparate sei die „Stimme Gottes“. Die Technik, absolut genommen, kann das Göttliche ersetzen und verdrängen.

Auf den Feldweg wird der Denkende befreit von den Üblichkeiten der herrschenden Kultur. Das Gehen auf diesem eher unspektakulären Weg kann eine letzte Heiterkeit fördern. „Die wissende Heiterkeit ist ein Tor zum Ewigen“. Das heißt: Dieser philosophische Text ist keine „abstrakte Abhandlung“, viele Menschen halten ja Philosophie irrtümlich für „abstrakte Abhandlungen“. Nein: „Der Feldweg“ erschließt Lebensmöglichkeiten, er IST Philosophie für ein „besseres“, eigentliches Leben. Und dieses Leben ist voller Fraglichkeit, die ausgehalten werden soll: „Spricht die Seele? Spricht die Welt? Spricht Gott?“. Danach zu fragen und zu suchen ALS Dasein ist, wenn man so will, der Auftrag des Feldweges als des Daseins – Weges. Philosophieren kann also eine Lebenshaltung sein, daran lag ja den antiken und spätantiken Philosophen sehr viel.

Wir empfehlen anschließend an den „Feldweg“ den Vortrag „Gelassenheit“ ( 1955) zu lesen, auch dieser Text ist als Einzelausgabe preiswert im Neske Verlag erschienen.
copyright: christian modehn, berlin.

Der Papst: Oberster Bischof und Staatschef. Zu einem neuen Buch von Corrado Augias

Der folgende Text ist eine “etwas längere Fassung” eines Beitrags für NDR INFO am 10.7. 2011.

Buchbesprechung:
Die Geheimnisse des Vatikan
Von Christian Modehn

In einigen Wochen, Ende September, wird Papst Benedikt XVI. Berlin, Erfurt und Freiburg im Breisgau besuchen. Dabei wird eine Frage viel zu selten diskutiert: In welcher Funktion unternimmt eigentlich der Papst seine so genannten „apostolischen Reisen“, die er auch gern „Pilgerfahrten“ nennt. Wann tritt der Papst als spirituelles, geistliches Oberhaupt der katholischen Kirche auf? Und wann äußert er sich als ein Politiker von höchstem Rang, nämlich als Repräsentant des „Heiligen Stuhls“ in Rom, dem der Staat Vatikanstadt untersteht. Ist der Papst also in erster Linie Theologe und Seelsorger oder doch mehr Diplomat und Politiker? Auf diese Fragen gibt ein neues Buch Antwort, es hat den Titel: „Die Geheimnisse des Vatikan”

Mit seinem Buch „Die Geheimnisse des Vatikan“ will der italienische Journalist Corrado Augias keine finsteren Schauergeschichten verbreiten. Entscheidend ist der Untertitel „Eine andere Geschichte der Papststadt“. Der vielseitig gebildete Autor bietet einen gründlichen Einblick in die Geschichte Roms und der Vatikanstadt. Aber immer sind seine Beschreibungen der Renaissance Paläste oder der barocken Prunk – Kirchen von der zentralen Frage geleitet: Wie äußerte sich dort politischer Einfluss und geistliche Macht der Päpste? Seit dem frühen Mittelalter hatte das Papsttum ein doppeltes Gesicht: Der Bischof von Rom wollte als maßgebliches Staatsoberhaupt in allen ethischen Fragen das Leben aller Menschen weltweit bestimmen; gleichzeitig wollten die Päpste auch als die fürsorglich agierenden Hirten der Gläubigen erscheinen.

Die Pointe dieses umfangreichen Buches ist: Jeder Papst verhält sich je nach Situation einmal als geistliches Oberhaupt, ein anderes Mal als hochrangiger Politiker und Diplomat. Wehren Päpste das Priestertum der Frauen in der Kirche ab, sprechen sie als theologische Lehrmeister. Wollen sie, etwa in den Gremien der Vereinten Nationen, die Geburtenkontrolle verbieten, dann sprechen sie als Staatsmänner. Welche der beiden Funktionen ein Papst in den Vordergrund stellt, wird einzig von dem Kalkül geleitet: Was fördert die kirchliche Macht im Vatikan und was bringt die katholische Kirche voran? Diese Überlegungen waren maßgeblich für den Umgang Papst Pius XII. mit der Nazi Diktatur in Deutschland. Auch heute denken Kirchenfürsten in Kategorien der Überlegenheit und Unterordnung: Der Autor zitiert Erzbischof Rino Fisichella, er organisiert jetzt in päpstlichem Auftrag die „Neuevangelisierung Europas“:

„Der Staat muss Einmischungen der Kirche aufgreifen. Die Kirche hingegen, die sich auf höhere Prinzipien beruft, kann niemals Einmischungen des Staates akzeptieren“.

Dieses gar nicht so demokratische Denkmuster bestimmte über viele Jahrzehnte den Umgang des Vatikans mit den pädophilen Verbrechen durch Priester und Ordensleute, das Motto war: „Unsere Angelegenheiten regeln wir heimlich selbst“. Der Autor erinnert auch an die Verschleierungstaktiken vatikanischer Behörden bei der Aufklärung von Verbrechen im Umfeld der Schweizer Garde im Mai 1998. Augias schreibt:

„Drei Stunden nach dem Mord und noch vor den Ermittlungen, den Verhören usw. verbreitet der Vatikan bereits seine offizielle Version des Tat – Hergangs, so soll jeder Zweifel im Keim erstickt werden: Schuldig soll einzig der Vizekorporal Cédric Tornay sein. Weitere Hintergründe sollen nicht ermittelt werden“.

Das Buch „Die Geheimnisse des Vatikans“ liest sich fast wie ein Krimi, wenn man mit Schicksal der 15 jährigen Emanuela Orlandi konfrontiert wird, der Tochter einer Familie mit vatikanischer Staatsangehörigkeit. Das Mädchen wurde 1983 in Rom entführt. Der Vatikan hat die Ermittlungen des italienischen Staates massiv behindert und sogar terroristische Hintergründe herbeigeredet. Dem Vatikan war es äußerst peinlich, vermutet der Autor mit vielen anderen Beobachtern, öffentlich einzugestehen, dass das Mädchen von einem Priester missbraucht und anschließend ermordet wurde. Augias schreibt:

Diese Beispiele demonstrieren: Es gibt von vatikanischer Seite nicht die geringste Unterstützung bei polizeilichen Ermittlungen, keine Reaktion oder aber absolute Zurückhaltung bei Anfragen der Justiz.

Auch weitere „Geheimnisse“ werden in dem Buch dargestellt: Kein Außenstehender darf z.B. wissen, wie viele Milliarden Euro der italienische Staat jährlich dem Vatikan aufgrund des Konkordates überweist. Kein Journalist hat je erfahren, wie viele kriminelle Transaktionen über die Konten der Vatikanbank abgewickelt wurden.
Darum kann „Die andere Geschichte der Papststadt“ keine Sympathiewerbung für den institutionell verfassten Katholizismus sein. Der Autor lässt seine Enttäuschung über diese Zustände gelegentlich durchblicken. Er erwähnt aber auch die wenigen Katholiken, die den armen, den machtlosen Jesus nicht ganz vergessen haben; er findet diese kritischen Katholiken in den römischen Basisgemeinden und bei Mitgliedern einzelner Ordensgemeinschaften. Im ganzen gesehen aber kann Augias keine Verbindung mehr erkennen zwischen den machtgierigen Herren des Vatikans und der Gestalt, vom dem diese klerikalen Politiker so oft sprechen, von Jesus Christus.
Auch Benedikt XVI. wird sich in Deutschland als liebvoll lächelnder oberster Hirte zeigen … und als gewiefter Diplomat. Dass er im Deutschen Bundestag reden wird, hängt damit zusammen, dass er als „Völkerrechtliches Subjekt“ der Heilige Staat IST, der den Staat Vatikanstadt mit 500 Bürgern, leitet. Es spricht also im Bundestag ein Staatschef! In Lexika wird diese einmalige rechtliche Konstruktion (nirgendwo sonst IST eine lebende Person ein völkerrechtliches Subjekt!) des Heiligen Stuhls und der Vatikanstadt als „absolutistische Monarchie“ beschrieben. Wer also dem geistlichen Oberhaupt, dem Papst folgen will, folgt also gleichzeitig auch einem absolutistischen Herrscher. Er folgt einer Person, die ihm zugleich religiöse Weisungen und politische Vorschriften vorlegt, also etwa an die Gottheit Jesu zu glauben und die absolute Zurückweisung der Geburtenkontrolle zu akzeptieren. Es ist diese Doppelrolle, die heute demokratisch gesinnte Menschen nicht gerade zu Fans des Papsttums macht.

Corrado Augias, Die Geheimnisse des Vatikan. Eine andere Geschichte der Papststadt.
Aus dem Italienischen von Sabine Heymann. Verlag C.H. Beck, München 2011, 496 Seiten, 22,95 Euro.

Friedrich Wilhelm Graf und die römische Kirche

Im Juli 2009 veröffentlichte PUBLIK FORUM ein Interview von mir mit Prof. Friedrich Wilhelm Graf, dem bekannten protestantischen Theologen von der Universität München. Inzwischen hat Friedrich Wilhelm Graf das viel beachtete Buch „Kirchendämmerung“ (becksche Reihe 2011) veröffentlicht, ein anregendes theologisches Buch, in einer Deutlichkeit geschrieben, wie sie heute selten noch Theologen wagen. Auch wenn wir mit einzelnen Aussagen nicht einverstanden sind, etwa zur optimistischen Einschätzung des „freien Marktes“ oder der Prognose, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Volkskirche würden sich nicht ändern, so können wir das Buch „Kirchendämmerung“ ausdrücklich allen empfehlen, die über die Zukunft der etablierten Kirche in Deutschland nachdenken. Grafs Plädoyer für eine von der Vernunft “kontrollierte” Theologie wird philosophisch Interessierte ohnehin erfreuen.
In dem Buch „Kirchendämmerung“ wird von der römischen Kirche eher am Rande gesprochen, deswegen bieten wir hier noch einmal das Interview vom Juli 2009, es hat unseres Erachtens nichts an Aktualität verloren.

»Jesus-Nachfolge ist nicht der Weg des Papstes«
Über den Papst wird der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf (München) befragt
Von Christian Modehn

Herr Graf, seit Beginn seines Pontifikats betont Benedikt XVI. die römisch-katholische Identität. Ist das eine Kampfansage an den Protestantismus?

Friedrich Wilhelm Graf: Man kann nur dankbar sein, dass der Papst das spezifisch Katholische – jedenfalls so, wie er es versteht – prägnant formuliert. Denn es ist immer besser, wenn man es mit Leuten zu tun hat, die genau wissen, wer sie sind und was sie wollen. Für Benedikt ist die Ökumene mit den Protestanten sehr viel weniger wichtig als die Verständigung mit den orthodoxen Kirchen. Denn er täuscht sich nicht darüber, dass die Situation in Deutschland, wo beide Kirchen jeweils ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, im europäischen Vergleich die Ausnahme ist.

Warum ist dem Papst die Annäherung an die Orthodoxie so wichtig?

Graf: Wenn wir Benedikts Aussagen oder denen des zuständigen Kardinals, Walter Kasper, folgen, dann fällt auf, dass sie regelmäßig die große Nähe der jeweiligen Amtsverständnisse betonen. Wie der Katholizismus kennt die Orthodoxie eine steile Amtstheologie. Ebenso betonen beide die Autorität der Kirche als Institution. So weit die Gemeinsamkeiten. Doch dann muss man genauer hinschauen. Zum einen hat die Orthodoxie in sich große Unterschiede. Viele orthodoxe Kirchen sind so etwas wie Ethno-Religionen, die das Christentum in einem engen nationalen Kontext auslegen und deren Symbolsprachen den Anspruch dokumentieren, Trägerinnen der nationalen Seele zu sein. Zum anderen haben die orthodoxen Kirchen keine eigenen Aufklärungstraditionen. Das macht sie in Fragen von Menschenrechten, Menschenwürde, Demokratie zu äußerst heiklen Dialogpartnern.

Bei diesen Punkten gäbe es zum Protestantismus größere Nähe. Trotzdem zeigt der Papst den Protestanten die kalte Schulter. Warum?

Graf: Der Papst weiß, dass sich die Kernanliegen der Reformation nicht in den Katholizismus übertragen lassen: das Priestertum aller Gläubigen, die starke Betonung der Weltlichkeit des Glaubens, die Unterscheidung von Religion und Politik. Außerdem braucht der Protestantismus keinen Papst. Insofern kann man es Benedikt nicht übelnehmen, dass er am Gespräch mit den Protestanten kein großes Interesse hat.

Aber muss man deswegen den protestantischen Kirchen das Kirchesein absprechen?

Graf: Zum Glück muss ja niemand seine eigene Identität von der Bestätigung durch andere abhängig machen. Denn die Sache ist klar: Nach Maßgabe der römisch-katholischen Kirchenlehre sind protestantische Kirchen nicht im gleichen Sinne Kirche wie die katholische. Die katholische Kirche hat im Zuge der Modernisierung ihre Machtansprüche immer deutlicher betont, sie hat immer steilere Amtstheologien entwickelt und die Priester den Laien deutlich vorgeordnet. Das alles liegt dem Protestantismus fern. Mit dieser Differenz kann man aber konstruktiv umgehen. Es ist niemandem damit gedient, sie einfach zu leugnen.

Ist diese starke Betonung des Amtes und der Hierarchie der Versuch, die Kirche als eine Art Gegenwelt zur Moderne zu etablieren?

Graf: Man kann sagen, dass sich die römisch-katholische Kirche seit 200 Jahren als Gegeninstitution zum Prozess der Modernisierung versteht. Deshalb hat sie im 19. Jahrhundert die Autorität des Papstes gestärkt, deshalb hat sie zunehmend auf einen römischen Zentralismus gesetzt. Was wir bei Benedikt XVI. erleben, ist die logische Fortsetzung einer in sich konsequenten Kirchenpolitik: einer Politik, die man als Identitätspolitik beschreiben könnte, als Pflege der eigenen Corporate Identity. Unter den Bedingungen eines zunehmenden Pluralismus ist das plausibel.

Viele Katholiken in Deutschland sehen das anders. Unter Berufung auf das Zweite Vatikanische Konzil mahnen sie an, dass die römische Kirche sehr wohl lernfähig sein kann und dass es einen durchaus anderen Katholizismus gibt als denjenigen, den der Papst mit Macht in seiner Kirche durchzusetzen versucht.

Graf: Nun ja, er ist eben der Papst, und das müssen auch reformorientierte und liberale Katholiken in irgendeiner Weise akzeptieren. Aber wie dem auch sei: Über die Deutung des Zweiten Vatikanums kann man trefflich streiten. Die meisten Dokumente des Konzils sind Kompromisstexte, die man nach der einen wie nach der anderen Richtung hin lesen kann. Ich persönlich sehe nicht, dass der amtierende Papst die Ideale des Zweiten Vatikanums verraten hätte. Wenn man bei den Tatsachen bleiben will, muss man gestehen, dass viele seiner Aussagen durch das Konzil gedeckt sind. Das ist das eine. Und was die Lernfähigkeit der katholischen Kirche angeht, so muss man sehen, dass der Papst keineswegs lernunwillig ist. Denken Sie nur an seine Symbolpolitik: Da verzichtet er etwa auf den altehrwürdigen Titel »Patriarch des Abendlandes«. Das kann eine Demutsgeste, es kann aber auch eine Herrschaftsgeste sein. Tatsache aber ist: Es hat sich etwas geändert. Insofern würde ich bestreiten, dass die römische Kirche nicht lernbereit ist. Sie verändert sich permanent. Es ist nur nicht immer ganz leicht zu sagen, was die Zeichen, die sie dabei setzt, bedeuten.

Die katholische Kirche ist eine Weltkirche. Ist den Katholiken – sagen wir in Brasilien oder Korea – die von Benedikt XVI. propagierte katholische Identität überhaupt vermittelbar? Wie sollen die Menschen dort mit Ratzingers enger Verbindung von Griechentum und Evangelium klarkommen?

Graf: Da spielen Sie nun auf sein Lieblingsthema an: Glaube und Vernunft. Und Sie spielen an auf seine Regensburger Rede. Aber auch hier müssen wir genau hinschauen. In der Tat behauptet der Papst, die einzig legitime Form des Christentums sei diejenige, in der es sich mit dem griechischen Denken verbunden und darin seine Glaubenswahrheit formuliert hat. Das freilich ist eine radikale Absage an neue protestantische Christentümer, die überall auf der Welt enorme Erfolge erzielen und in Lateinamerika den traditionellen Volkskatholizismus aushöhlen. Benedikts Reaktion darauf ist: Wir müssen das Katholische schärfer profilieren, dann wissen die Leute, warum sie besser bei uns sind als bei den anderen.

Steckt dahinter aber nicht auch ein elitärer Machtanspruch: dass nämlich der Klerus durch seine philosophische Bildung als Führungselite der Kirche legitimiert ist?

Graf: Aber natürlich. Es wäre ganz naiv zu meinen, dass die Symbole der Religion nichts mit Macht zu tun hätten. Religiöse Symbole sind Kommunikationsmedien, in denen Ordnungsstrukturen thematisiert werden. Insofern hängen Macht und Religion eng zusammen, und es besteht überhaupt kein Zweifel, dass Benedikt XVI. einen extrem steilen normativen Machtanspruch erhebt: Er weiß besser als alle anderen, was die wahren Ordnungen des Zusammenlebens sind, er weiß besser, was Wahrheit ist. Denken Sie nur an seine Äußerungen zur Naturrechtslehre oder an seine Formulierung von der »Diktatur des Relativismus«. Was wäre denn der Gegenpol? Doch wohl ein Absolutismus. Man könnte das sicher auch differenzierter formulieren, aber im Kern läuft es auf eine starke Betonung der normativen Deutungskompetenzen des Papstes als Institution hinaus.

Gegen kirchliche Machtansprüche beriefen sich die Reformatoren auf das Evangelium als höchste Autorität. In der Theologie von Benedikt XVI. kommt die Heilige Schrift aber eher am Rande vor.

Graf: Fairerweise muss man sagen, dass der Heilige Vater ein Jesusbuch angekündigt hat, das in Kürze erscheinen soll. Vielleicht sollte man dieses Buch abwarten. Aber eines ist ganz klar: Eine tat- und herzbetonte Frömmigkeit der Jesus-Nachfolge ist ganz bestimmt nicht der Weg dieses Papstes.

Friedrich Wilhelm Graf geboren 1948, ist Ordinarius für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München. Der Beitrag erschien in Publik Forum. Zeitschrift Kritischer Christen