Die Stoa und die digitale Welt: “Einfach abschalten”

Mit Seneca die Herrschaft der digitalen Welt einschränken

Von Christian Modehn

Er hat sich, wie viele Millionen anderer Menschen, ganz in die digitale Welt der „Bildschirme“ hineinbegeben und sich von ihr abhängig gemacht; jetzt lebt er mit der Familie den „Internet – Sabbat“, um sich aus der totalen Bindung an Laptops, Handys, E book- readers und Tablet PCs zu befreien. William Powers, Schriftsteller und Journalist  (u.a. The New York Times, The Atlantic) plädiert in seinem neuen Buch „Einfach abschalten“ (Goldmann Verlag 2011) dafür, gelegentlich Abstand zu nehmen von der digitalen Welt. Die permanent propagierte Verheißung, je mehr man vernetzt sei, um besser sei das Leben, hat sich für ihn als haltlos und gefährlich erwiesen. „Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird der Preis dieses Lebens auf die Dauer die Vorteile übertreffen. Die Lösung liegt eher darin, sich eine neue Weltsicht anzueignen, durch die wir zu einer bedachteren, überlegteren Lebensweise kommen…Wann immer ich einen Zwischenraum zwischen mir und meinem Bildschirm eröffne, geschieht etwas Gutes“  (S. 287).

William Powers weiß genau, wovon er spricht: Die permanente Erreichbarkeit, das damit gegebene Dauer –Gerede/Geschreibe über Banales und allzu Privates, der dauernde Zwang, emails zu checken, am Wochenende, in jedem Hotel, bei jedem Urlaub, hat auch ihn eingeschränkt, sie hat ihm beinahe die Seele geraubt.  Jetzt weiß er: Die digitale Welt macht das Leben eindimensional, es bildet sich die Unfähigkeit, „unsere Gedanken zu verlangsamen und zu konzentrieren“ (S. 23). Der total digitale Mensch wird abhängig von Einreden von außen, von den Sprüchen der anderen, der Werbung, der Propaganda. Die Pflege und die Achtsamkeit auf die eigene, „nur meine“ innere Welt, das leibhaftige Interesse am anderen, an der Familie, deb Freunden,  geht verloren. „Das eigene Innenleben wird immer beliebiger, fremdbestimmt durch das, was andere sagen“ (S. 162).  William Powers berichtet, wie in Finnland sich Menschen bereits rituell  aus der Allmacht des Digitalen befreien, indem sie öffentlich den Handy- Weitwurf praktizieren, „eine symbolische geistige Befreiung vom unterdrückenden Joch ständiger Erreichbarkeit“ (S. 100).

Philosophen und philosophisch Interessierte nehmen es mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis, dass der kompetente Nutzer der digitalen Welt und ihr nun heftiger Kritiker sich auf „therapeutische Ansätze“ von Philosophen beruft.  Etw auf Seneca, den Meister der stoischen Philosophie, er lebte vor 2000 Jahren. Seine Erkenntnisse hält Powers für aktuell und hilfreich. Er weist zurecht die dumme Klischeevorstellung zurück, die Stoa sei eine banale Lehre von der Duldsamkeit. Im Gegenteil, Powers zeigt, wie auch die Menschen in der antiken Welt auf ihre Weise bereits von Stress geplagt waren, von permanentem Lärm in den Großstädten, von den Herausforderungen, im weiten Römischen Reich zu reisen, Bücher zu kaufen, Briefe „in alle Welt“ zu schreiben. Der Philosoph Seneca wird sozusagen zu einem Zeitgenossen/Leidensgenossen von uns. „Eines seiner häufigsten Themen ist die Gefahr, anderen, der breiten Masse, zu erlauben, zu viel Einfluß auf das eigenen Denken auszuüben“. (s 161). Alles kommt darauf an, „in sich selbst zu ruhen, auf sein eigenes Gespür und auf die eigenen Gedanken zu vertrauen“. Die Ruhelosigkeit ist für Seneca eines der schlimmsten Übel. Und vor allem der Wahn, in einem tatsächlich immer (zu) kurzen Leben „alles“ erleben zu wollen. „Berechne deine Lebenszeit. So viel passt gar nicht hinein“, schreibt Seneca (S. 165). Oder das stressige Viel – Lesen sollte konkreter werden, wenn man sich für einen Tag einen wichtigen Satz als eine Art Weisheit des Tages aussucht und ihn dann meditierend bedenkt. (S. 166).

William Powers will nicht die digitale Welt in Grund und Boden verdammen. Sie ist und bleibt hilfreich, ist unverzichtbar. Aber alles kommt darauf an zu erkennen: Die digitale Welt ist nur EINE Welt von vielen anderen. Und es gibt wichtigere „Welten“: Nämlich “die Sorge um sich selbst”, wie der Philosoph Michel Foucault einmal sagte.

William Powers, Einfach abschalten. Goldmann Verlag 2011, 350 Seiten, 9,99 Euro.

copyright: christian modehn

 

 

 

111 Tugenden und Laster. Eine philosophische Revue

Ein philosophisches Buch zum Weiter – Denken. Ein Begleiter für das ganze Jahr:

Martin Seel, „111 Tugenden und 111 Laster“.
Eine philosophische Revue.

Aus der großen Fülle philosophischer Einführungen ragt jetzt ein Buch ganz wunderbar hervor: Der in Frankfurt/M. lehrende Philosoph Martin Seel, einigen schon bekannt, etwa durch seine Studien „Paradoxien der Erfüllung“, hat nun ein neues Buch vorgelegt, das alle interessieren, ja begeistern kann (im Sinne von inspirieren), die auf dem Weg des kritischen Reflektierens sind. Und das sollten und könnten ja alle Menschen sein….
Dass Martin Seel sein Buch durchaus auch unterhaltsam meint, zeigt schon der Untertitel an: „Eine philosophische Revue“. Tatsächlich präsentiert er in seiner Revue in 111 kürzeren oder längeren „Auftritten“ (Kapiteln) 111 Tugenden, also für den Menschen positive Lebenseinstellungen bzw. „Dispositionen“ (wie Mitgefühl, Besonnenheit) und dazwischen gemischt, aber doch inhaltlich verbunden, Laster bzw. Untugenden (wie Aberglaube, Fanatismus).
Der Clou dieser positiv wie negativ besetzten Revue ist, dass alle Werte und alle Tugenden auch – ohne die vernünftige Mitte gelebt – in Untugenden umkippen können, aus Mut kann schnell „Übermut, Tollkühnheit, Draufgängertum werden“, (S. 179). Ebenso haben Untugenden und Laster auch positive Aspekte. Mit einer Ausnahme meint Martin Seel: Im Laster der Grausamkeit gibt es keinerlei noch positiv zu verstehenden Entwicklungslinien. Auf die Ambivalenz aller anderen Tugenden und Laster hingewiesen zu werden, bringt den Leser, die Leserin, sehr zu recht ins Schleudern und dann ins weitere Nachdenken, das zu einem Neu – Verständnis führen kann. So ist etwa die Faulheit (Seite 69ff) sicher eine milde Form des Lasters: „Faulheit kann aber ein Mangel an Selbstsorge sein“, andererseits kann sie auch den „ausgelassenen Genuss des Daseins“ signalisieren. Faulheit kann ein Mittel sein, sich vom destruktiven Zwang der Selbststeigerung zu befreien, wie es schon Theodor W. Adorno (S. 71) andeutete. Faulheit als Müßiggang verstanden kann sogar „aller Liebe Anfang“ sein, schreibt Martin Seel (ebd).
Wer an der Revue teilgenommen hat oder immer wieder beinahe beliebig wieder einsteigt, kann dann auf gut 40 Seiten sozusagen die innere Struktur der einzelnen Auftritte erkunden, also in das innere Leben der Tugenden hineinschauen, so, wie es Philosophen in der langen Geschichte gedeutet haben. Diese Seiten, etwas anspruchsvoller, handeln etwa von den Kardinaltugenden, das sind ja nicht jene, die etwa katholische Kardinäle haben (sollten), sondern die von lateinischen Worte CARDO herstammen und die alles entscheidenden Angelpunkte meinen, also in dem Falle unentbehrliche Tugenden, ohne die ein menschliches Leben kein menschliches Leben ist (Weisheit, Besonnenheit, Mut und Gerechtigkeit). Außerdem zeigt Martin Seel sehr schön, dass kein Mensch alle Tugenden in seiner Person vereint leben kann, ja, dass kein Mensch also „nur“ tugendhaft sein kann. Immer gibt es im Einzelleben diese Melange aus Tugend und Laster, natürlich auch bei den so genannten Heiligen der Kirche, wobei den Frommen stets von offizieller Seite vorenthalten wird, wo denn die Laster dieses Heiligen waren. Erst Journalisten kümmern sich darum und weisen etwa auf die Scharlatanerie des heiligen Pater Pio (Süditalien) hin, aber dies nur als Beispiel des Rezensenten.
Insgesamt empfehlen wir nachdrücklich das neue Buch von Martin Seel, es kann hoffentlich einen Durchbruch bewirken im Verstehen, dass Philosophie populär ist und dass dieses Thema nicht von einem ständig in allen Medien herum gereichten Star reserviert sein kann.
Hoffentlich kann man bald die 10. usw. Auflage dieses Buches melden und eine Herausgabe als sehr preiswertes Taschenbuch!
Copyright: christian modehn, religionsphilosophischer Salon.
Martin Seel, „111 Tugenden und 111 Laster“.
Eine philosophische Revue. S. fischer verlag 2011, 285 Seiten.18,95 Euro

WDR 5 brachte am 13.1.2012 ein Gespräch mit Martin Seel:

Zur Buchmesse: Island: Wer glaubt da noch an Feen?

Die Buchmesse in Frankfurt am Main hat als Schwerpunktthema in diesem Jahr: ISLAND. Über diesen Link können Sie zu einem Interview mit der ISLAND Spezialistin Marie Krüger Berlin, kommen. Das Interview wurde in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM gedruckt. Wir weisen gern darauf hin, dass im Verlag Publik-Forum Probeexemplare der alle 14 Tage erscheinenden Zeitschrift bestellt werden können.

Das Interview mit Marie Krüger:

http://www.publik-forum.de/spiritualitaet-lebenskunst/artikel/ich-glaube-nicht-an-feen-20532

Ein Weg in die Heiterkeit? Beim Lesen des “Feldweg” von Martin Heidegger

Ein Weg in die Heiterkeit?
Beim Lesen von „Der Feldweg“ von Martin Heidegger

Am 26. Juli 2011 haben wir in unserem „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon“ den wohl kürzesten Text Martin Heideggers „Der Feldweg“ gelesen und interpretiert, unterstützt und beraten von dem Heidegger Spezialisten Michael Braun, Berlin.

Ein Teilnehmer schickt uns einige persönlichen Beobachtungen und Reflexionen.

„Der Feldweg“ (1948 geschrieben) weckt den Eindruck, als würde er sich in einer leichten, schnell zugänglichen Lektüre erschließen.
Tatsächlich nimmt Heidegger in einfachen Worten den Leser mit auf seinen seit Jugendzeiten vertrauten Spaziergang gleich hinter dem Schloss von Messkirch.

Einzelne Worte erscheinen merk – würdig: „der Feldweg half“, eine „hohe Eiche grüßt“: Die Natur wird nicht als fremdes Gegenüber erlebt, sie steht im Gespräch mit dem nachdenklichen Menschen. Natur und Mensch können noch „kommunizieren“.

Es ist ein „karges Land“, durch den der Feldweg führt. Ist diese Kargheit bereits Metapher für das karge Leben insgesamt? Heidegger spricht später, in den Holzwegen“, von der „dürftigen Zeit“ der Seins – Vergessenheit.

Welche Worte in dem Text gelten unmittelbar als solche in einem noch vordergründigen Verständnis, welche müssen „tiefer“ verstanden werden?

Kann man einer ersten, „schlichen“ Lektüre vertrauen? Dann erzeugt die meditierende Lektüre des Feldweges eine gewisse Geborgenheit, eine Sehnsucht nach Verwurzelung, einen Wunsch, wesentlich zu leben, achtsam zu sein auf die Natur, den Wechsel der Jahreszeiten, die Erinnerung zu pflegen, den göttlichen Gott zu suchen (von ihm spricht Heidegger im Verweis auf Meister Eckart).

Darüber hinaus wird der Leser in tiefere, zum Teil schockierende Fragen „geschleudert“: Heidegger spricht von Wanderungen, auf denen „alle Ufer zurückbleiben“. Oder: „Wachsen heißt, der Weite des Himmels sich öffnen und zugleich in das Dunkel der Erde wurzeln“. In einer Heimat verwurzelt sein, d.h. die konkrete Endlichkeit in einem zugewiesenen Lebensraum annehmen, UND: in die Weite des Himmels sich öffnen, also eine eigene Form des Transzendierens über alles Begrenzte leben.

In dieser Verbundenheit mit Immanenz und Transzendenz wird das „Einfache“ erlebt. Da stellt sich besinnliches Denken ein, wird die Herrschaft des Rechnens und Verfügens und Machens unterbrochen. In der technischen Welt, so Heidegger, denken die Menschen, der Lärm der Apparate sei die „Stimme Gottes“. Die Technik, absolut genommen, kann das Göttliche ersetzen und verdrängen.

Auf den Feldweg wird der Denkende befreit von den Üblichkeiten der herrschenden Kultur. Das Gehen auf diesem eher unspektakulären Weg kann eine letzte Heiterkeit fördern. „Die wissende Heiterkeit ist ein Tor zum Ewigen“. Das heißt: Dieser philosophische Text ist keine „abstrakte Abhandlung“, viele Menschen halten ja Philosophie irrtümlich für „abstrakte Abhandlungen“. Nein: „Der Feldweg“ erschließt Lebensmöglichkeiten, er IST Philosophie für ein „besseres“, eigentliches Leben. Und dieses Leben ist voller Fraglichkeit, die ausgehalten werden soll: „Spricht die Seele? Spricht die Welt? Spricht Gott?“. Danach zu fragen und zu suchen ALS Dasein ist, wenn man so will, der Auftrag des Feldweges als des Daseins – Weges. Philosophieren kann also eine Lebenshaltung sein, daran lag ja den antiken und spätantiken Philosophen sehr viel.

Wir empfehlen anschließend an den „Feldweg“ den Vortrag „Gelassenheit“ ( 1955) zu lesen, auch dieser Text ist als Einzelausgabe preiswert im Neske Verlag erschienen.
copyright: christian modehn, berlin.

Der Papst: Oberster Bischof und Staatschef. Zu einem neuen Buch von Corrado Augias

Der folgende Text ist eine “etwas längere Fassung” eines Beitrags für NDR INFO am 10.7. 2011.

Buchbesprechung:
Die Geheimnisse des Vatikan
Von Christian Modehn

In einigen Wochen, Ende September, wird Papst Benedikt XVI. Berlin, Erfurt und Freiburg im Breisgau besuchen. Dabei wird eine Frage viel zu selten diskutiert: In welcher Funktion unternimmt eigentlich der Papst seine so genannten „apostolischen Reisen“, die er auch gern „Pilgerfahrten“ nennt. Wann tritt der Papst als spirituelles, geistliches Oberhaupt der katholischen Kirche auf? Und wann äußert er sich als ein Politiker von höchstem Rang, nämlich als Repräsentant des „Heiligen Stuhls“ in Rom, dem der Staat Vatikanstadt untersteht. Ist der Papst also in erster Linie Theologe und Seelsorger oder doch mehr Diplomat und Politiker? Auf diese Fragen gibt ein neues Buch Antwort, es hat den Titel: „Die Geheimnisse des Vatikan”

Mit seinem Buch „Die Geheimnisse des Vatikan“ will der italienische Journalist Corrado Augias keine finsteren Schauergeschichten verbreiten. Entscheidend ist der Untertitel „Eine andere Geschichte der Papststadt“. Der vielseitig gebildete Autor bietet einen gründlichen Einblick in die Geschichte Roms und der Vatikanstadt. Aber immer sind seine Beschreibungen der Renaissance Paläste oder der barocken Prunk – Kirchen von der zentralen Frage geleitet: Wie äußerte sich dort politischer Einfluss und geistliche Macht der Päpste? Seit dem frühen Mittelalter hatte das Papsttum ein doppeltes Gesicht: Der Bischof von Rom wollte als maßgebliches Staatsoberhaupt in allen ethischen Fragen das Leben aller Menschen weltweit bestimmen; gleichzeitig wollten die Päpste auch als die fürsorglich agierenden Hirten der Gläubigen erscheinen.

Die Pointe dieses umfangreichen Buches ist: Jeder Papst verhält sich je nach Situation einmal als geistliches Oberhaupt, ein anderes Mal als hochrangiger Politiker und Diplomat. Wehren Päpste das Priestertum der Frauen in der Kirche ab, sprechen sie als theologische Lehrmeister. Wollen sie, etwa in den Gremien der Vereinten Nationen, die Geburtenkontrolle verbieten, dann sprechen sie als Staatsmänner. Welche der beiden Funktionen ein Papst in den Vordergrund stellt, wird einzig von dem Kalkül geleitet: Was fördert die kirchliche Macht im Vatikan und was bringt die katholische Kirche voran? Diese Überlegungen waren maßgeblich für den Umgang Papst Pius XII. mit der Nazi Diktatur in Deutschland. Auch heute denken Kirchenfürsten in Kategorien der Überlegenheit und Unterordnung: Der Autor zitiert Erzbischof Rino Fisichella, er organisiert jetzt in päpstlichem Auftrag die „Neuevangelisierung Europas“:

„Der Staat muss Einmischungen der Kirche aufgreifen. Die Kirche hingegen, die sich auf höhere Prinzipien beruft, kann niemals Einmischungen des Staates akzeptieren“.

Dieses gar nicht so demokratische Denkmuster bestimmte über viele Jahrzehnte den Umgang des Vatikans mit den pädophilen Verbrechen durch Priester und Ordensleute, das Motto war: „Unsere Angelegenheiten regeln wir heimlich selbst“. Der Autor erinnert auch an die Verschleierungstaktiken vatikanischer Behörden bei der Aufklärung von Verbrechen im Umfeld der Schweizer Garde im Mai 1998. Augias schreibt:

„Drei Stunden nach dem Mord und noch vor den Ermittlungen, den Verhören usw. verbreitet der Vatikan bereits seine offizielle Version des Tat – Hergangs, so soll jeder Zweifel im Keim erstickt werden: Schuldig soll einzig der Vizekorporal Cédric Tornay sein. Weitere Hintergründe sollen nicht ermittelt werden“.

Das Buch „Die Geheimnisse des Vatikans“ liest sich fast wie ein Krimi, wenn man mit Schicksal der 15 jährigen Emanuela Orlandi konfrontiert wird, der Tochter einer Familie mit vatikanischer Staatsangehörigkeit. Das Mädchen wurde 1983 in Rom entführt. Der Vatikan hat die Ermittlungen des italienischen Staates massiv behindert und sogar terroristische Hintergründe herbeigeredet. Dem Vatikan war es äußerst peinlich, vermutet der Autor mit vielen anderen Beobachtern, öffentlich einzugestehen, dass das Mädchen von einem Priester missbraucht und anschließend ermordet wurde. Augias schreibt:

Diese Beispiele demonstrieren: Es gibt von vatikanischer Seite nicht die geringste Unterstützung bei polizeilichen Ermittlungen, keine Reaktion oder aber absolute Zurückhaltung bei Anfragen der Justiz.

Auch weitere „Geheimnisse“ werden in dem Buch dargestellt: Kein Außenstehender darf z.B. wissen, wie viele Milliarden Euro der italienische Staat jährlich dem Vatikan aufgrund des Konkordates überweist. Kein Journalist hat je erfahren, wie viele kriminelle Transaktionen über die Konten der Vatikanbank abgewickelt wurden.
Darum kann „Die andere Geschichte der Papststadt“ keine Sympathiewerbung für den institutionell verfassten Katholizismus sein. Der Autor lässt seine Enttäuschung über diese Zustände gelegentlich durchblicken. Er erwähnt aber auch die wenigen Katholiken, die den armen, den machtlosen Jesus nicht ganz vergessen haben; er findet diese kritischen Katholiken in den römischen Basisgemeinden und bei Mitgliedern einzelner Ordensgemeinschaften. Im ganzen gesehen aber kann Augias keine Verbindung mehr erkennen zwischen den machtgierigen Herren des Vatikans und der Gestalt, vom dem diese klerikalen Politiker so oft sprechen, von Jesus Christus.
Auch Benedikt XVI. wird sich in Deutschland als liebvoll lächelnder oberster Hirte zeigen … und als gewiefter Diplomat. Dass er im Deutschen Bundestag reden wird, hängt damit zusammen, dass er als „Völkerrechtliches Subjekt“ der Heilige Staat IST, der den Staat Vatikanstadt mit 500 Bürgern, leitet. Es spricht also im Bundestag ein Staatschef! In Lexika wird diese einmalige rechtliche Konstruktion (nirgendwo sonst IST eine lebende Person ein völkerrechtliches Subjekt!) des Heiligen Stuhls und der Vatikanstadt als „absolutistische Monarchie“ beschrieben. Wer also dem geistlichen Oberhaupt, dem Papst folgen will, folgt also gleichzeitig auch einem absolutistischen Herrscher. Er folgt einer Person, die ihm zugleich religiöse Weisungen und politische Vorschriften vorlegt, also etwa an die Gottheit Jesu zu glauben und die absolute Zurückweisung der Geburtenkontrolle zu akzeptieren. Es ist diese Doppelrolle, die heute demokratisch gesinnte Menschen nicht gerade zu Fans des Papsttums macht.

Corrado Augias, Die Geheimnisse des Vatikan. Eine andere Geschichte der Papststadt.
Aus dem Italienischen von Sabine Heymann. Verlag C.H. Beck, München 2011, 496 Seiten, 22,95 Euro.

Können Philosophen Revolutionen auslösen? Hinweise zu einem Salonabend.

Gibt es Revolutionen, die von Philosophen in Gang gesetzt werden?

Einige Hinweise zum Thema unseres Salons am 24. 6. 2011 um 19.00 in der Galerie Phantom, Hektorstr. 

Die Frage „Gibt es Revolutionen, die von Philosophen ausgelöst werden?“ mag weit her geholt erscheinen und im Streit der Historiker unterzugehen.

Dennoch hat diese Frage eine Bedeutung: Nicht nur anlässlich des neuen Buches von Philipp Blom „Böse Philosophen“. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, erschienen im Hanser Verlag 2011.

Die Frage lässt uns nicht los: Welche praktische Bedeutung, politische Wirkung, hat Philosophie? Hat kritisches Denken die Kraft, so viele geistige Energien zu mobilisieren, dass eine Revolution im Sinne einer grundlegenden Veränderung zugunsten der Menschenrechte möglich wäre?

Ein Hinweis zu dem Salon in Paris, in dem u.a. d Holbach und Diderot „Stammgäste“ waren: Das Buch von Blom bezieht sich tatsächlich auf das regelmäßige Diskutieren, Lesen, Essen und Trinken, im Hause Baron d Holbach in Paris um 1760. Einer der wichtigsten Gesprächspartner dort war der Philosoph Denis Diderot. Sie diskutierten die Entwürfe einer neuen Gesellschaft: Ohne Hierarchie, ohne die damals unerträgliche Allmacht und Gewalt der Katholischen Kirche; sie dachten an eine Welt der Solidarität, des Respekts, aber auch der Lust, der Befreiung des einzelnen zu seiner auch körperlich gelebten Lust. Bei aller Unterschiedlichkeit der Salon – Teilnehmer war deren Philosophie anti – metaphysisch, anti – kirchlich und stark gebunden an die Auffassung: Das materielle, auch das leibliche Leben ist die Basis für alles Erkennen überhaupt. Über den Streit mit Rousseau wäre eigens zu diskutieren.
Interessant wäre es, die Frage zu erörtern: Kann dies die philosophische Basis für eine Weltveränderung sein? Oder: Ist im menschlichen Bereich alles Materielle immer schon in geistige Strukturen „eingelassen“? Sind wir über den Körper – Geist Dualismus hinaus?

Interessant wäre es, die Frage zu erörtern: Hätte die Kirche damals auch nur einen Funken Offenheit gezeigt und Sinn für Vernunft, hätte dann zumindest die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Diderots anders ausgesehe? Freilich, solche Fragen sind eher müßig…

In jedem Fall hat der Salon um Baron Holbach und Diderot in größter persönlicher Bedrohtheit existiert, immer mussten diese Freigeister Angst vor Verhaftungen, letztlich vor der Todesstrafe haben. Trotzdem (oder gerade deswegen?) haben sie mit einer unglaublichen Intensität an dem umfangreichen Werk der ENZYKLOPÄDIE gearbeitet, die dann doch noch vor der Revolution erscheinen konnte, eine Art Lexikon, das deutlich genug kritische Hinweise zu Gesellschaft und Kritik bietet.
Dieser Salon war ein Ort der „radikalen Aufklärung“. Gleichheit ohne Hierarchie – hieß das Ideal.
Die Revolutionäre von 1789 bis 1795 hatten diesen Mut nicht. Robespierre z.B. förderte den Kult des höchsten Wesens, weil er nicht glaubte, dass die radikale Aufklärung auch als Atheismus politisch hilfreich sein kann.
Gilt diese Auffassung noch heute? Wie tief ist das Misstrauen in die ethische Qualität von Atheisten? In den USA haben Atheisten z.B. nicht die geringste Chance, Präsident zu werden…
Was bedeutet das ethische Prinzip der „radikalen Aufklärung“: „Tu, was für dich und die Allgemeinheit gut ist. Vermeide, was dir und anderen schadet“?
Zur Frage der praktischen Wirkung, der revolutionären Bedeutung, der Philosophie: Das ist aktueller denn je: Alle Zeichen deuten darauf hin, dass die gegenwärtige ökonomische (und damit auch eine erstarrte Form politischer) Ordnung in der gegebenen Verfasstheit keine Zukunft hat und haben darf, angesichts der tiefen Ungleichheit, die da erzeugt wird. Wo sind die Denker des Umbruchs, der Erneuerung von Demokratie? Diese „revolutionären Subjekte“ – gibt es die? Sind es die jungen Leute in Madrid (Occupy) und anderswo, die das gegenwärtige ökonomische System korrigieren wollen? Welche Rolle spielen dabei die Religionen?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Friedrich Wilhelm Graf und die römische Kirche

Im Juli 2009 veröffentlichte PUBLIK FORUM ein Interview von mir mit Prof. Friedrich Wilhelm Graf, dem bekannten protestantischen Theologen von der Universität München. Inzwischen hat Friedrich Wilhelm Graf das viel beachtete Buch „Kirchendämmerung“ (becksche Reihe 2011) veröffentlicht, ein anregendes theologisches Buch, in einer Deutlichkeit geschrieben, wie sie heute selten noch Theologen wagen. Auch wenn wir mit einzelnen Aussagen nicht einverstanden sind, etwa zur optimistischen Einschätzung des „freien Marktes“ oder der Prognose, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Volkskirche würden sich nicht ändern, so können wir das Buch „Kirchendämmerung“ ausdrücklich allen empfehlen, die über die Zukunft der etablierten Kirche in Deutschland nachdenken. Grafs Plädoyer für eine von der Vernunft “kontrollierte” Theologie wird philosophisch Interessierte ohnehin erfreuen.
In dem Buch „Kirchendämmerung“ wird von der römischen Kirche eher am Rande gesprochen, deswegen bieten wir hier noch einmal das Interview vom Juli 2009, es hat unseres Erachtens nichts an Aktualität verloren.

»Jesus-Nachfolge ist nicht der Weg des Papstes«
Über den Papst wird der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf (München) befragt
Von Christian Modehn

Herr Graf, seit Beginn seines Pontifikats betont Benedikt XVI. die römisch-katholische Identität. Ist das eine Kampfansage an den Protestantismus?

Friedrich Wilhelm Graf: Man kann nur dankbar sein, dass der Papst das spezifisch Katholische – jedenfalls so, wie er es versteht – prägnant formuliert. Denn es ist immer besser, wenn man es mit Leuten zu tun hat, die genau wissen, wer sie sind und was sie wollen. Für Benedikt ist die Ökumene mit den Protestanten sehr viel weniger wichtig als die Verständigung mit den orthodoxen Kirchen. Denn er täuscht sich nicht darüber, dass die Situation in Deutschland, wo beide Kirchen jeweils ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, im europäischen Vergleich die Ausnahme ist.

Warum ist dem Papst die Annäherung an die Orthodoxie so wichtig?

Graf: Wenn wir Benedikts Aussagen oder denen des zuständigen Kardinals, Walter Kasper, folgen, dann fällt auf, dass sie regelmäßig die große Nähe der jeweiligen Amtsverständnisse betonen. Wie der Katholizismus kennt die Orthodoxie eine steile Amtstheologie. Ebenso betonen beide die Autorität der Kirche als Institution. So weit die Gemeinsamkeiten. Doch dann muss man genauer hinschauen. Zum einen hat die Orthodoxie in sich große Unterschiede. Viele orthodoxe Kirchen sind so etwas wie Ethno-Religionen, die das Christentum in einem engen nationalen Kontext auslegen und deren Symbolsprachen den Anspruch dokumentieren, Trägerinnen der nationalen Seele zu sein. Zum anderen haben die orthodoxen Kirchen keine eigenen Aufklärungstraditionen. Das macht sie in Fragen von Menschenrechten, Menschenwürde, Demokratie zu äußerst heiklen Dialogpartnern.

Bei diesen Punkten gäbe es zum Protestantismus größere Nähe. Trotzdem zeigt der Papst den Protestanten die kalte Schulter. Warum?

Graf: Der Papst weiß, dass sich die Kernanliegen der Reformation nicht in den Katholizismus übertragen lassen: das Priestertum aller Gläubigen, die starke Betonung der Weltlichkeit des Glaubens, die Unterscheidung von Religion und Politik. Außerdem braucht der Protestantismus keinen Papst. Insofern kann man es Benedikt nicht übelnehmen, dass er am Gespräch mit den Protestanten kein großes Interesse hat.

Aber muss man deswegen den protestantischen Kirchen das Kirchesein absprechen?

Graf: Zum Glück muss ja niemand seine eigene Identität von der Bestätigung durch andere abhängig machen. Denn die Sache ist klar: Nach Maßgabe der römisch-katholischen Kirchenlehre sind protestantische Kirchen nicht im gleichen Sinne Kirche wie die katholische. Die katholische Kirche hat im Zuge der Modernisierung ihre Machtansprüche immer deutlicher betont, sie hat immer steilere Amtstheologien entwickelt und die Priester den Laien deutlich vorgeordnet. Das alles liegt dem Protestantismus fern. Mit dieser Differenz kann man aber konstruktiv umgehen. Es ist niemandem damit gedient, sie einfach zu leugnen.

Ist diese starke Betonung des Amtes und der Hierarchie der Versuch, die Kirche als eine Art Gegenwelt zur Moderne zu etablieren?

Graf: Man kann sagen, dass sich die römisch-katholische Kirche seit 200 Jahren als Gegeninstitution zum Prozess der Modernisierung versteht. Deshalb hat sie im 19. Jahrhundert die Autorität des Papstes gestärkt, deshalb hat sie zunehmend auf einen römischen Zentralismus gesetzt. Was wir bei Benedikt XVI. erleben, ist die logische Fortsetzung einer in sich konsequenten Kirchenpolitik: einer Politik, die man als Identitätspolitik beschreiben könnte, als Pflege der eigenen Corporate Identity. Unter den Bedingungen eines zunehmenden Pluralismus ist das plausibel.

Viele Katholiken in Deutschland sehen das anders. Unter Berufung auf das Zweite Vatikanische Konzil mahnen sie an, dass die römische Kirche sehr wohl lernfähig sein kann und dass es einen durchaus anderen Katholizismus gibt als denjenigen, den der Papst mit Macht in seiner Kirche durchzusetzen versucht.

Graf: Nun ja, er ist eben der Papst, und das müssen auch reformorientierte und liberale Katholiken in irgendeiner Weise akzeptieren. Aber wie dem auch sei: Über die Deutung des Zweiten Vatikanums kann man trefflich streiten. Die meisten Dokumente des Konzils sind Kompromisstexte, die man nach der einen wie nach der anderen Richtung hin lesen kann. Ich persönlich sehe nicht, dass der amtierende Papst die Ideale des Zweiten Vatikanums verraten hätte. Wenn man bei den Tatsachen bleiben will, muss man gestehen, dass viele seiner Aussagen durch das Konzil gedeckt sind. Das ist das eine. Und was die Lernfähigkeit der katholischen Kirche angeht, so muss man sehen, dass der Papst keineswegs lernunwillig ist. Denken Sie nur an seine Symbolpolitik: Da verzichtet er etwa auf den altehrwürdigen Titel »Patriarch des Abendlandes«. Das kann eine Demutsgeste, es kann aber auch eine Herrschaftsgeste sein. Tatsache aber ist: Es hat sich etwas geändert. Insofern würde ich bestreiten, dass die römische Kirche nicht lernbereit ist. Sie verändert sich permanent. Es ist nur nicht immer ganz leicht zu sagen, was die Zeichen, die sie dabei setzt, bedeuten.

Die katholische Kirche ist eine Weltkirche. Ist den Katholiken – sagen wir in Brasilien oder Korea – die von Benedikt XVI. propagierte katholische Identität überhaupt vermittelbar? Wie sollen die Menschen dort mit Ratzingers enger Verbindung von Griechentum und Evangelium klarkommen?

Graf: Da spielen Sie nun auf sein Lieblingsthema an: Glaube und Vernunft. Und Sie spielen an auf seine Regensburger Rede. Aber auch hier müssen wir genau hinschauen. In der Tat behauptet der Papst, die einzig legitime Form des Christentums sei diejenige, in der es sich mit dem griechischen Denken verbunden und darin seine Glaubenswahrheit formuliert hat. Das freilich ist eine radikale Absage an neue protestantische Christentümer, die überall auf der Welt enorme Erfolge erzielen und in Lateinamerika den traditionellen Volkskatholizismus aushöhlen. Benedikts Reaktion darauf ist: Wir müssen das Katholische schärfer profilieren, dann wissen die Leute, warum sie besser bei uns sind als bei den anderen.

Steckt dahinter aber nicht auch ein elitärer Machtanspruch: dass nämlich der Klerus durch seine philosophische Bildung als Führungselite der Kirche legitimiert ist?

Graf: Aber natürlich. Es wäre ganz naiv zu meinen, dass die Symbole der Religion nichts mit Macht zu tun hätten. Religiöse Symbole sind Kommunikationsmedien, in denen Ordnungsstrukturen thematisiert werden. Insofern hängen Macht und Religion eng zusammen, und es besteht überhaupt kein Zweifel, dass Benedikt XVI. einen extrem steilen normativen Machtanspruch erhebt: Er weiß besser als alle anderen, was die wahren Ordnungen des Zusammenlebens sind, er weiß besser, was Wahrheit ist. Denken Sie nur an seine Äußerungen zur Naturrechtslehre oder an seine Formulierung von der »Diktatur des Relativismus«. Was wäre denn der Gegenpol? Doch wohl ein Absolutismus. Man könnte das sicher auch differenzierter formulieren, aber im Kern läuft es auf eine starke Betonung der normativen Deutungskompetenzen des Papstes als Institution hinaus.

Gegen kirchliche Machtansprüche beriefen sich die Reformatoren auf das Evangelium als höchste Autorität. In der Theologie von Benedikt XVI. kommt die Heilige Schrift aber eher am Rande vor.

Graf: Fairerweise muss man sagen, dass der Heilige Vater ein Jesusbuch angekündigt hat, das in Kürze erscheinen soll. Vielleicht sollte man dieses Buch abwarten. Aber eines ist ganz klar: Eine tat- und herzbetonte Frömmigkeit der Jesus-Nachfolge ist ganz bestimmt nicht der Weg dieses Papstes.

Friedrich Wilhelm Graf geboren 1948, ist Ordinarius für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München. Der Beitrag erschien in Publik Forum. Zeitschrift Kritischer Christen