Jacob Böhme, philosophischer Mystiker, gestorben am 17.11.1624

Bis zum 19.11.2017 ist noch in Dresden die Ausstellung über Jacob Böhme, den philosophischen Mystiker oder mystischen Philosophen (welche “Definitionen” passen schon bei ihm ?), zu betrachten.

Böhme, 1527 geboren, ist am 17.11.1624 in seiner Heimatstadt Görlitz gestorben.

Wer den Weg zu Ausstellung in Dresden nicht mehr “schafft”, der kann immerhin einige Hinweise zu Jacob Böhme und der Ausstellung hier lesen.

Heidegger und das Nazi „Recht“: Zu Martin Heideggers Mitarbeit in der Nazi „Kommission für Rechtsphilosophie“

Ein Hinweis von Christian Modehn am 3. 11. 2017

Die Pariser Tageszeitung „Le Monde“ (27.10.2017) bietet auf Seite 18 einen Beitrag der in Köln lehrenden Philosophin Sidonie Kellerer über Martin Heideggers Mitarbeit in der Nazi – „Kommission für die Rechtsphilosophie“. Der Titel des Beitrags „Heidegger hat niemals aufgehört, die Nazis (le nazisme) zu unterstützen“. Diese Kommission war integriert in die Nazi – „Akademie für deutsches Recht“. Führender Vertreter dieser Institution war Hans Frank, ein Jurist, der den Auftrag hatte, das bestehende Recht nach Vorgaben der Nazis umzubiegen.

Heidegger war Mitglied dieser Kommission für Rechtsphilosophie seit dem Frühling 1934. Hans Frank, der Nazi-Jurist, war Präsident dieser Kommission, schreibt Sidonie Kellerer. Frank wurde 1939 zudem Generalgouverneur für Polen, wo er die Ausrottung der Juden und der politischen Opposition organisierte; Frank hatte dort den Titel „der Schlächter von Polen“.

Unter Hans Frank arbeitete also Heidegger ab 1934 in der Kommission, bis Juli 1942 war Heidegger dort Mitglied. Dieses Datum, also bezogen auf die Mitgliedschaft in der Nazikommission für Rechtsphilosophie, hat jetzt die Philosophin Miriam Wildenauer von der Universität Heidelberg, herausgefunden. Sie arbeitete in den Archiven der „Akademie für deutsches Recht“, berichtet Sidonie Kellerer in Le Monde. Heidegger war also bis Juli 1942 Mitglied in dieser Nazi – Kommission. Er wusste, dass im Januar 1942 die „Endlösung“, also die totale Ausrottung der Juden, von den Nazis beschlossen wurde. Mit anderen Worten: Der Rücktritt Heideggers als Rektor der Universität Freiburg ist selbstverständlich kein Beleg für den Abschied Heideggers aus Nazi-Gruppierungen.

Noch muss weiter geforscht werden, warum die rechtsphilosophische Kommission von den Nazis eher verheimlicht wurde.“Die Protokolle der Sitzungen bleiben unauffindbar. Alfred Rosenberg spricht darüber kein Wort in seinem Tagebuch“, so le Monde.

Sidonie Kellerer schreibt: “Heidegger gab einen Beweis für seine große Gewandtheit, nach dem Krieg seine aktive Teilnahme im Nazi – Regime auszulöschen“…

Jedenfalls bietet das Buch “Heidegger und der Antisemitismus” aus dem Herder Verlag (2016) mit ausgewählten Auszügen (!) aus Briefen Martin Heideggers an seinen Bruder Fritz in den Nazi – Jahren keine Hinweise auf die Mitarbeit in der rechtsphilosophischen Kommission der Nazis. Auch sonst sucht man etwa den Namen Hans Frank in Studien zu Heidegger  und die Nazis aus dem deutschen Sprachraum, verfasst von Heidegger nahestehenden Philosophen,  vergeblich. Oder irre ich mich? Oder wurde die Beziehung Martin Heidegger – Hans Frank bisher (bewusst) verschwiegen?

Copyright: Christian Modehn

 

Werte sind nicht in jeder Hinsicht wertvoll – Über „Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur“.

Ein neues Buch von Wolfgang Ullrich

Von Christian Modehn am 2.11. 2017

Wir leben in einer Gesellschaft, die uns ständig mit dem Begriff „Werte“ konfrontiert: Von den Werten an der Börse über die Blutwerte, die einen Menschen, als gesund oder als krank gelten lassen. Hotels sollen wir bewerten und Restaurants, Filme und Autos: An alles „kleben“ wir Bewertungen. In solchem Tun sind meist unreflektiert unsere eigenen leitenden Werte (etwa Sauberkeit, Schnelligkeit usw.) als Kriterien aktiv. Und es gibt auch „wertvolle Menschen“, das sind etwa jene, die bevorzugt als Erste-Klasse-Patienten behandelt oder ständig zu (Staats-)Empfängen geladen werden mit anschließenden Buffets, die vom kulinarischen Angebot sehr wertvoll sind, aber für wertvolle Menschen selbstverständlich gratis serviert werden. Weiße, die in Deutschland geboren sind und sich oft als „typisch normale Deutsche“ verstehen, gelten vielen als wertvoll, wertvoller jedenfalls als „schwarze Flüchtlinge“ aus Mali und Eritrera oder gar Sintis. Hinter dieser Werte – Überzeugung verbirgt sich jedenfalls Rassismus, der öffentlich so nicht genannt wird. Deutsche oder Franzosen fühlen sich wertvoller als anatolische oder marokkanische „Gastarbeiter“. Diese werden bei Neueinstellungen oder Vermietungen von Sozialwohnungen meist zweitklassig, erst zum Schluss, also als weniger wertvoll, behandelt. Deutschland zuerst, la France d abord etc. Alle diese Wertigkeiten und auch indirekt gesetzte damit Unwertigkeiten sind bekannt. Sie werden offenbar einfach so hingenommen, als zu unseren „Grundwerten“ gehörig.

Vor diesem Hintergrund einer allgemeinen Werte – Inflation ist das neue Buch von Wolfgang Ullrich überaus anregend und sehr lesenswert und wichtig! Der Autor ist ja bestens bekannt durch seine zahlreichen Studien, die sich mit der Kunst und dem Kunst – Betrieb heute auseinander setzen.

Nun schlägt Wolfgang Ullrich vor, die heutige Liebe zu den Werten unter die Lupe zu nehmen. Dabei ist nicht nur eine philosophisch argumentierende Analyse heutiger Zustände in Gesellschaft, Staat, Kultur leitend, sondern durchaus auch ein politisches Interesse. Denn Ullrich diagnostiziert treffend eine Klassenspaltung zwischen Menschen, die die gängigen Werte leben können, und solchen, dies sind die Armen, die dies nicht können. Dadurch entstehen Ressentimente, Hass auf die wertvollen und intelligenteren Eliten. So beginnen Kulturkämpfe.

Dabei will Wolfgang Ullrich die Werte nicht pauschal verurteilen (S. 44), er schätzt durchaus eine Wertphilosophie, wie sie etwa von Max Scheler entworfen wurde. Dass dieser Philosoph in ziemlich aufgeblasen wirkenden (heute kaum lesbaren) Formulierungen schreibt, wird von Ullrich übersehen. Und als Kunsthistoriker zeigt dann der Philosoph Ullrich eine Brücke auf, die eine Wertethik mit der Kunst des Expressionismus verbindet, eine überaus anregende Erkenntnis! Denn der Künstler als Expressionist will sich selbst ausdrücken, er ist derjenige, der bestimmte innere Werte „umsetzt“, also praktisch zeigt. Er setzt dabei expressiv offenbar sein inneres Leben nach außen und behauptet dann: Ich bin als der Werte – Realisierer darin gerade auch expressiver Lebenskünstler. Und solches sagen diese Werte-Liebhaber gern, sie bekennen sich öffentlich zu ihren Werten. Sie sind in dem Sinne „Expressionisten“. Darum ist der Untertitel des Buches treffend: „Kritik an einer neuen Bekenntniskultur“!

Der Autor setzt seinen Focus auf die heutige weitest verbreitete Liebe zu den Werten, die Menschen mit einem gewissen materiellen Wohlstand praktizieren. Mit anderen Worten: Wer viel Geld hat, der hat auch Interesse, sich mit inneren Werten zu schmücken: Etwa dem Wert der Spendefreudigkeit zu entsprechen oder sich nur fair-trade mäßig zu ernähren oder alle Regeln des klimakorrekten Bauens für die eigene Villa zu respektieren: Wer auf diese Weise generös Werte vor – lebt, kann stolz sein auf seine dann gesellschaftlich geachtete ethische hohe Qualität. Was natürlich alles nur schöner Schein zu sein braucht. Wolfgang Ullrich zeichnet sich hier auch als Sprachschöpfer aus: Indem er diese, die als Begüterte ihre immateriellen Werte leben, die „Moralaristokraten“ (S. 90) oder den „Moral-Adel“ (S. 87, 143) nennt. Sie frönen förmlich der Lust, durch die „Umsetzung“ einiger Werte, die gerade en vogue sind, „Gewissens- Hedonisten“ (S. 66, 85) zu werden: Sie haben förmlich geilen Spaß, nach außen hin einige Werte zu zeigen, denn das macht diese Herrschaften im öffentlichen Medienbetrieb noch bedeutungsvoller.

Problematisch, wenn nicht gefährlich ist für die Gesellschaft dieser neue Moral-Adel, der sich seiner eigenen Werte nach außen hin erfreut: Denn es gibt auch in dieser Sicht eben „Moralproletarier“, jene verarmten Massen also, die aus Mangel an Geld die teuren Bioläden meiden müssen und eher von fairer Behandlung für sich selbst träumen als von faire trade. Also keine Werte demonstrieren können. In dieser Spannung zwischen Gewissenshedonisten bzw. Moraladel UND Moralproletariern sieht Ullrich nicht immer nur friedliche Auseinandersetzungen vorgezeichnet. Woran sollen sich Arme noch halten können in einem Staat, der nur Begüterte als entscheidende und wertvolle Menschen gelten lässt und die übrigen als Last betrachtet, etwa wenn die Automatisierung und der Einsatz von Robotern noch weiter fortschreitet und so bewusst überflüssige, also wertlose Menschen erzeugt werden.

Natürlich hat heute die Begeisterung für Werte auch sehr breite bürgerliche und kleinbürgerliche Kreise erfasst: Es ist ja so einfach, sich einen Wert als zentrale Lebensorientierung für heute und morgen auszusuchen, etwa die Lebensfreude und den Spaß oder die Bevorzugung bestimmter teurer Marken – Klamotten, die der gerade wertvollen Modefarbe blau entsprechen. Sehr interessant ist es, wenn Ullrich darauf aufmerksam macht, dass diese partielle Auswahl von bestimmten Werten zugleich eine Abweisung ist von globalen Ideen und Ideologien. Parteien und Kirchen als Organisationen umfassender Ideologien geraten in dieser auf einzelne Werte fixierten Gesellschaft in eine Krise: Die Kirchenlehre etwa ist viel zu umfassend, sie ist nicht auf einzelne Werte, die man schnell umsetzen kann, bezogen (S. 157). Insofern sind Kirchen außer Mode, sie sind in dem Sinne für viele wertlos geworden. Appelle der Kirchen, etwa die Familien-Werte hochzuhalten, wirken dann sehr obsolet.

Wolfgang Ullrich will also die „Werte entzaubern“ (S. 159). Denn Werte führen die Wertefreunde kaum zur Selbstkritik, es gibt ja bekanntlich keinen Raum für die Dialektik von Werten und Unwerten zum Beispiel. Wer nicht fair trade kauft, kauft also „Wertloses“? Das Wort Unwert hätte ich in dem Buch öfter kritisch reflektiert gelesen, angesichts der Nazi-Ideologie vom unwerten Leben. Ist die heutige, de facto vorhandene aber selten so bezeichnete Vorstellung vom überflüssigen Leben (der Handlanger und ungebildeten Arbeiter etwa) so weit von der Nazi –Ideologie entfernt?

Es wird nicht so recht deutlich, wie denn die vielen zum Teil widersprüchlichen Werte in einem Verhältnis der Bedeutung zueinander stehen: Ich kann z.B. leidenschaftlich Mülltrennen und damit ein gutes ökologisches Gewissen haben, aber gleichzeitig ständig in Flugzeugen sitzen und auf Kurzstrecken – Flüge nicht verzichten. Ich kann als Bauer Solaranlagen auf meinen Schweineställen errichten, also dann ein gutes ökologisches Gewissen haben und gleichzeitig nicht nur brutale Massentierhaltung betreiben, sondern mit der von meinen Schweinen erzeugten Gülle das Grundwasser verderben. Oder: Es gibt Manager, die so viel Wertempfinden haben und mal für eine Woche – förmlich als exotischer Urlaub – Obdachlose in den Heimen bekochen und bedienen, in der nächsten Woche aber schon knallhart „Rationalisierungen“ im Betrieb durchsetzen, also Entlassungen der überflüssigen und unbegabten Mitarbeiter…

Mit anderen Worten. Die Fixierung auf Werte führt nur sehr selten zu einem ethisch respektierten und respektablen Leben. Die Ethik von Kant war da klarer mit ihrem kategorischen Imperativ und der immer kritischen und korrigierenden Stimme des nicht tot zu schlagenden Gewissens. Selbst bei Mördern gibt es bekanntlich Reste von Gewissensbissen… Auch die Tugend-Ethik ist da deutlicher mit ihrer Abstufung von Kardinaltugenden und den anderen Tugend. Dass die Tugend – Ethik heute nicht mehr so wichtig erscheint, liegt vielleicht schlicht an dem eher verstaubt wirkenden Klang des Wortes Tugend. „Tugendhaftes Leben“, das klingt nach Robespierre oder Tante Olga, je nach dem. Aber wer das Buch über die Tugenden von André Comte Sponville (Paris) gelesen hat, ist nach wie vor von der Aktualität der zur Reflexion einladenden Tugend – Ethik überzeugt.

Wer das wichtige Buch von Wolfgang Ullrich zu einem zweifellos neuen Thema gelesen hat, weiß: Mit Werten leben und sich auf Werte – Realisierungen bekenntnismäßig und oft vollmundig berufen, das ist so einfach. Führt aber nicht den Menschen zu einem in sich stimmigen Leben. Das Buch lehrt uns also größte Vorsicht bei allen, die viel von Werten plaudern, die angeblich oder gut gemeint Werte vorleben und sich zu Werten bekennen.

Konservative bis reaktionäre Gruppen propagieren die abendländischen Werte. Konservative Christen werben für die Werte des Gehorsams und der sexuellen Enthaltsamkeit. Andere reden vom Wert der Heimat: Hinter diesen Werte – Beschwörungen verbergen sich oft nur Tendenzen politischer Vorherrschaft. Werte sind nur selten wertvoll, heißt meine Erkenntnis nach der Lektüre dieses wichtigen Buches.

COPYRIGHT: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Wolfgang Ullrich, Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur.  173 Seiten, Wagenbach Verlag Berlin, 2017. 18€

Pragmatisch leben oder mit dem Pragmatismus leben UND denken ?

Zum Oktober Heft (2017) des „Philosophie Magazin“

En Hinweis von Christian Modehn

Das neue Heft des „Philosophie Magazin“ möchte ich vor allem wegen der Beiträge zur Philosophie des Pragmatismus empfehlen. Diese lebendige aktuelle Philosophie (siehe Richard Rorty) ist in Deutschland noch zu wenig bekannt. Deswegen erspare ich mir weitere Hinweise auf selbstverständlich sonst noch lesenswerte Beiträge in dem Heft.

Der Titel dieser aus den USA stammenden Philosophie erinnert, oberflächlich betrachtet, an so genannte pragmatische Menschen und vor allem pragmatische PolitikerInnen, jenen Menschentypus also, der möglichst fern von jeder festen Weltanschauung lebt und handelt und „je nach dem“, also je nach Lage der Dinge, das vermeintlich Beste für sich oder die eigene Nation bzw. Partei „herausholen“ kann. Der Kenner pragmatischer Philosophie, Prof. Michael Hampe, Zürich, nennt etwa Kanzlerin Merkel in dem Zusammenhang: „Sie ist ideologiefrei, sie ist eine Problemlöserin, sie passt sich an die jeweilige Sachlage an…“ (S. 60).

Pragmatismus als Philosophie und vor allem auch als philosophische Haltung hat mit diesem schwankenden und beliebigen pragmatischen Denken nichts zu tun. Eben auch nichts mit Utilitarismus. “Auf Handlungskonsequenzen eines Begriffes zu achten, wie es die pragmatistischen Philosophen tun, ist nicht gleichzusetzen mit einer Ethik der Nutzenmaximierung“ (S. 63). Pragmatismus leidet in Deutschland immer noch an vielen Missverständnissen. Er ist kein banaler Utilitarismus.

Wer sich aber auf die Philosophie des Pragmatismus also einlässt, kann in seinem alltäglichen Leben viel mehr Klarheit (und damit Lebensorientierung) gewinnen jenseits von technokratischen Nützlichkeitserwägungen: Es geht um die Klarheit der jeweils im Leben verwendeten Begriffe im Blick auf ihre praktischen, lebensmäßigen  Bedeutungen.

Martin Duru erläutert in dem Heft die Geschichte des Pragmatismus. Der zündende Geistes-„Blitz“ kam Anfang der 1870er Jahre, als Charles Sanders Peirce und William James in Cambridge, Massachusetts, USA, erkannten: Bei Begriffen reicht nicht die spekulative Erhebung von Bedeutungen und Verflechtungen mit anderen Begriffen. Es kommt darauf an, die lebens-praktisch bedeutsamen Konsequenzen eines Begriffs zu erkennen. Um die Jahrhundertwende steht dann William James im Mittelpunkt dieser „philosophischen Schule“. Martin Ducu schreibt: „Es gilt für James zu prüfen, welches `Verhalten` eine Idee diktiert oder anregt“. Auch das religiöse Verhalten der Glaubenden wird bei James unter diesem Maßstab beurteilt: Wer begrifflich behauptet, an Gott zu glauben, ist erst glaubwürdig, wenn die Handlungen dieses Menschen seiner Glaubenstheorie entsprechen. Das Buch von James „Der Pragmatismus“ (1907) wird ein Bestseller. John Dewey führt nach dem Tod von James (1910) die Philosophie des Pragmatismus weiter. Dewey kümmert sich auch um pädagogische Konzepte: „Learning by doing“ ist eine seiner zentralen Forderungen. Er verlangt dringend die Belebung der demokratischen Lebensform, die inhaltlich viel mehr ist, als bloß an einer Wahl teilzunehmen. Demokratie als Leben fordert auf, immer weiter zu suchen und immer wieder zu neuen Lösungen zukommen….Philipp Felsch vertieft diese Gedanken: “Der Pragmatismus bevorzugt konkretes gegenüber abstraktem Wissen und betrachtet das Denken nicht als Selbstzweck, sondern als Instrument zur Verbesserung unserer irdischen Existenz, weshalb er metaphysischen Spekulationen skeptisch gegenübersteht – es sei denn, sie hätten praktische Konsequenzen für unser Leben.“ (S. 43). Michael Hampe, Professor für Philosophie in Zürich, ist einer der besten Kenner des Pragmatismus im deutschsprachigen Raum. Mit ihm bietet das „Philosophie Magazin“ ein sehr interessantes Interview. Er sieht die aktuellen politischen Dimensionen des Pragmatismus in der Abweisung der heute schon fast üblichen „Experto-Kratie“: Die höheren Klassen stützen sich auf Experten, um ihre Macht durchzusetzen. Die Bürger – für unwissend gehalten und unwissend gemacht – werden zu unmündigen Subjekten, im „Brexit“ wurde dies deutlich (S. 61).

Für religionsphilosophisch Interessierte ist nicht nur William James wichtig. Auf den entsprechenden Beitrag weist der Religionsphilosoph Thomas Rentsch hin, wenn er in seinem Buch „Gott“, erschienen im Walter de Gruyter Verlag (2005) auf Charles S. Peirce aufmerksam macht (s. 147 ff.): „Gott ist ein Wort der Alltagssprache. Gerade in seiner Vagheit erfüllt es den Zweck, eine unbedingte Hoffnungs- und Sinnperspektive für jedermann verständlich zu artikulieren“ (S. 148), so fasst Rentsch die Position von Peirce zusammen.

Man denke auch daran, dass der große, kürzlich verstorbene Karl- Otto Apel eine wichtige Studie zu Peirce (bei Suhrkamp) veröffentlicht hat. Schade eigentlich, dass das Heft „Philosophie Magazin“ zum Thema Pragmatismus nicht an Apel erinnert. Ein Apel-Sonderheft wäre sehr spannend! Weil er doch auch Habermas sehr viele Anregungen gegeben hat. Und dieses Thema bewegt nicht nur „innerphilosophische“ Kreise…

Man ist zudem gespannt, ob das „Philosophie Magazin“ einmal im Verbund mit dem gleichnamigen französischen „Vorbild“ das Thema „Populäre Philosophie“ aufgreift, das Thema wurde immerhin als ein (Rand)-Thema beim Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Philosophie“ im September 2017 in Berlin debattiert. Gehört das „Philosophie Magazin“ selbst zur Populärphilosophie? Dies wäre eine hübsche Frage auch an die LeserInnen…

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Philosophie ist immer auch praktisch, insofern verständlich für viele, insofern auch populär ?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Beim Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Philosophie“ in Berlin (24.9. – 27.9.2017) gab es am 26.9. auch ein Forum zum wichtigen Thema „Populäre Philosophie“. Es war nach meinem Eindruck gut besucht mit ca. 80 TeilnehmerInnen. Leider kam der wohl am meisten interessierende Philosoph, Prof. Michael Hampe, Zürich, nach meinem Eindruck viel zu wenig, auf dem Podium sitzend, zu Wort. Er hätte so viele Fragen zu seinem Buch „Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik“, Suhrkamp, 2014, beantworten können.

Deutlich wurde in der 90 Minuten dauernden Veranstaltung die Mühe, mit der die meisten hier versammelten, an Universitäten und Hochschulen lehrenden und forschenden Philosophinnen mit der Wirklichkeit und Möglichkeit einer populären Philosophie haben. Sie sind offenbar so stark eingebunden in die akademische Welt, dass sie die nun einmal notwendig gegebene Verwurzelung des Philosophierens, allen Philosophierens möchte ich sagen, nicht so deutlich sehen. Philosophieren ist als Praxis der Philosophen in die Alltagswelt, auch in die politische Welt, eingebunden. Dabei ist wohl jeder noch so schwierige philosophische Text („Kritik der reinen Vernunft“, „Phänomenologie des Geistes“, „Sein und Zeit“ usw.) “letztlich” aus praktischen, drängenden Lebens-Fragen entstanden! Diesen praktischen (populären ?) Ursprung aller Texte darf man überhaupt nicht verleugnen. Man muss sich nur fragen, warum diese alltäglichen Fragen dann in einer oft so schweren Zugänglichkeit erörtert wurden und beantwortet werden, siehe etwa einige der sich in ihrer Sprache esoterisch gebenden, aber “medial” hoch angesehenen französischen Philosophen heute. Dabei ist auffällig, dass es andererseits in Frankreich durchaus kein Schimpfwort ist, als populärer Philosoph zu gelten, man denke natürlich an Alain, vielleicht sogar an Albert Camus oder sicher auch an den vielseitigen und gut lesbaren Philosophen André Comte-Sponville.

Philosophie jedenfalls ist weltweit eine akademische Disziplin neben anderen geworden, und dabei sicher eine der, quantitativ gesehen, kleinen Disziplinen, nicht ganz so klein gemacht im Wissenschaftsbetrieb wie die Ethnologie, aber ähnlich. Philosophie in dieser sicher auch politisch gewollten Begrenzung kümmert sich trotzdem oder deswegen fast nur um sich selbst: Es wird also Zeit, nach allen Seiten Philosophien der Philosophien zu entwickeln. Dies wäre ein dringendes Themen der nächsten 100 philosophischen Promotionen! Man hat natürlich nichts dagegen, wenn zum 100. Mal Kant und Hegel hinsichtlich ihrer Transzendentalität oder Geschichtlichkeit verglichen werden und dazu nicht gerade preiswerte Bücher in kleiner Auflage publiziert werden. Keine Frage: Forschung muss sein. Genauso wichtig wäre es aber dann doch, populär, also nachvollziehbar, also verständlich für alle, für die etwas Nachdenklichen und für die etwas Gebildeten (wer ist schon vollständig nachdenklich und umfassend gebildet ?) zu schreiben und zeigen: Was ist die Aktivität unseres Geistes im Sich – Orientieren, im Fragen, im Zweifeln, im Hoffen, im Lieben, im Sterben usw. Diese philosophischen Fragen „brennen“ (hoffentlich noch) den Leuten im Herzen und im Kopf. Warum fordert eigentlich niemand einen verpflichtenden Philosophie Unterricht in den Schulen, wie in Frankreich (obwohl dort die Realität des Unterrichts oft betrüblich ist, weil man Philosophie dort paukt wie Physik). In jedem Fall: Die Frage ist dringend: Was ist praktisches Philosophieren mitten im Alltag? Und diese Fragen müssten natürlich unter den Menschen, den so genannten Nicht-Philosophen, die aber philosophisch gesehen selbstverständlich als Menschen eben doch auch Philosophen sind, gemeinsam mit den Fach- Philosophen diskutiert werden. Das passiert aber nicht. Ansatzweise wird in den (populären ?) philosophischen Zeitschriften wie „Philosophie Magazin“, „Der blaue Reiter“, “Hoheluft“ dieser Dialog gesucht. Es müsste vielleicht ein gewisser philosophischer Ortswechsel stattfinden: Philosophen sollten öfter raus aus der akademischen Welt der Seminare und Schreibzimmer, und rein in die Gesellschaft, etwa in die bestehenden und noch zu gründenden philosophischen Gesprächskreise und Salons. Oder in die Kunstgalerien oder in die politischen und ethischen Debattierclubs, die Flüchtlings-Initiativen, die antirassistischen Initiativen und so weiter. Da spielen sich die Fragen ab unter den „Bürgern aller Fakultäten“, also aller weltanschaulichen und politischen Orientierungen. So könnte ein philosophischer Beitrag entstehen gegen das polemisch sich darstellende Auseinanderfallen der Gesellschaft, die wir gegenwärtig erleben. Neue Fragen würden so entstehen, eine neue Sprache würde entstehen, der Geist könnte etwas sprühen. Die Berliner bzw. Potsdamer Philosophin Prof. Susan Neiman wurde im Tagesspiegel (vom 27. 9., Seite 22) mit der treffenden Worten, gesprochen während des Kongresses, zitiert: „Man hat (also die Philosophen, CM) die richtigen Ideen. Aber Gespräche werden nur untereinander geführt und in einer Sprache, die nur ein paar Leute erreicht“…Zwar sehnen sich alle nach Theorie, aber was wir anbieten, befriedigt nicht das Bedürfnis“.

Nach meinem Eindruck, ich hoffe, ich irre mich, hat die Presse (in Berlin) den großen philosophischen Kongress jetzt im September 2017 kaum wahrgenommen. Welcher Nicht- Philosoph lässt sich von einem sicher philosophisch wichtigen, aber nach außen hin esoterisch wirkenden Thema „Norm und Natur“ in ein Uni-Gebäude bewegen? Bei dem Thema, so das populäre Verständnis, geht es doch auch irgendwie um (angebliche) natürliche Geschlechter – Identiät, sagte mir ein Freund, der allerdings eine philosophische Vorbildung hat. Da geht es um die Unfähigkeit, Natur als Natur überhaupt zu erleben, weil eben alles längst zur Kultur gemacht ist, sagte mir ein anderer Freund, sicher treffend. Aber dieser abstrakte Titel! Er ist Ausdruck der akademischen Begrenztheit auf die Innenwelt akademischer Lehr-Philosophie. Will “man” wirklich unter sich bleiben?

An wird also ab sofort viel mehr diskutieren, dass Philosophie doch etwas Merkwürdiges, Besonderes, ja Einmaliges ist: Wissenschaft auch, aber eben nicht nur! Immer bezogen auf (politische) Lebenspraxis, sich thematisch dieser verdankend. Philosophie fällt aus dem Rahmen der üblichen Zuordnungen. Sie ist dann doch gebunden an die orientierenden Dimensionen des Lebens, nicht im Sinne des Rezepte – Verteilens, aber der Klärung, Erhellung, Differenzierung usw. Philosophie bringt Licht ins Leben, oder neue Dunkelheit als gewusste. Aber sie ist niemals „Glasperlenspiel“.

Mich haben für diese Gedanken die Ausführungen von Michael Hampe inspiriert. Und sein Buch „Die Lehren der Philosophie“ muss weiter diskutiert werden, vor allem das erste Kapitel. Denn es gibt keinen Zweifel: Philosophie ist immer  „auch“ nicht-doktrinäre Philosophie, wie Hampe treffend und  provozierend schreibt.

Wir kommen darauf auch in unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin zurück.

Copyright: Christian Modehn, Berlin.

Was tun? Wie können wir das Bessere und das Wertvolle tun in politischen Krisenzeiten?

Hinweise für ein Gespräch im religionsphilosophischen Salon am 15.9.2017

Von Christian Modehn

Der Titel des Buches der Philosophin Hilal Sezgin „Nichtstun ist keine Lösung“ hat uns zum heutigen Salon inspiriert, einige philosophische Hinweise zu diskutieren: Über das Tun, unser Tun, in einer radikal als Krise und Umbruch erfahrenen Gegenwart. Dabei wird jeder selbst entdecken, wo und wann und wie er sich im politischen Tun neu orientiert. Kriterium bleibt wohl immer: Mein Tun soll vor den Kriterien der allgemeinen Vernunft bestehen.

Eine Reflexion über unser Tun:

Was kann ich tun im Sinne der Verbesserung der Verhältnisse, denn darum geht es. Es soll besser werden, d.h. nicht Krieg geben, sondern Frieden. Nicht dumme Politiker, sondern reflektierte wollen wir wählen können. Und vor allem: Weil ich nie als einzelner und Isolierter lebe und denke: Was können wir gemeinsam tun im Sinne einer Verbesserung der Verhältnisse?

Was kann das Philosophieren da leisten?

Es ist sicher die aus dem Abstand geleistete Reflexion auf einige Begriffe wie TUN und Handeln, beide sehe ich jetzt mal noch als Einheit.

Dabei ist es philosophisch wichtig, bereits auf die Implikationen zu achten, die in meinem Tun immer schon indirekt, oft aber unreflektiert, mit enthalten sind. Dann nämlich ist das neue Handeln zugunsten des Besseren durch uns gar nicht mehr so fern und fremd. Neues und Besseres tun ist keine ferne Idee und unerreichbare Utopie. Mit einem Wort: Wenn wir handeln und immer schon handelten, dann wollen und wollten wir immer schon das Bessere. Wir müssen JETZT nun nur sehen, was denn in dieser Situation das Bessere ist! Das heißt: Wenn ich etwas tue, wenn ich mich um mich kümmere, meine Bildung, meinen Beruf, dann ist darin immer enthalten eine grundsätzliche Lebensbejahung. Ich will durch mein Tun leben! Und zwar möglichst gut leben und damit wohl auch besser als in meinem jetzigen Zustand, weniger krank,, gebildeter, kommunikativer. Selbst wenn ich das Gegenteil von all dem wähle, glaube ich noch, dass der Rückzug oder der Egoismus oder das Verharren auf einem ungebildeten Niveau für mich dann doch das “Beste” sein soll.

Mit anderen Worten: Ich entkomme in meinem Leben nicht und niemals der Praxis, gut und möglicherweise besser als in meinem jetzigen Zustand zu leben.

ABER: Das gute Leben hat für uns hier in Europa eine andere Bedeutung hinsichtlich des materiellen Wohlstandes als für einen armen Bauern in Brasilien. Er hat sehr berechtigte Wünsche, dass es ihm auch materiell besser geht. Bei uns hier ist der Wunsch nach materiell besserem Leben eher auch problematisch, gebunden an das unreflektierte Dogma des ständigen ökonomischen Wachstums… Fortschritt hat für den Bauern in Brasilien eine andere Bedeutung als für uns. Fortschritt ist für uns hier eher auch Askese, möglicherweise Verzicht, den aber alle leisten sollten, nicht nur die Rentner und prekär Beschäftigten.

Diese Hinweise sind also keineswegs als Bejahung der Wachstums – Ideologie zu verstehen. Das gute Leben ist mehr als das finanziell gute Leben.

Dabei ist aber auch eine weitere Implikation klar: Mein Leben kann ich nur gestalten in meinem Tun, wenn ich anerkenne: Alles, was ich tue, verdanke ich den anderen. Andere haben mich meine „Mutter“ – Sprache gelehrt; andere liefern das Getreide, andere sind bereit, mich zu informieren usw. Das heißt: Wenn ich also handle zu meinen Gunsten, bin ich immer schon eingebunden in ein Netz von anderen. Und das ist entscheidend: Ich kann mich also nur um mein gutes Leben kümmern, wenn ich mich auch gleichzeitig um die anderen kümmere und ihnen die gleichen Chancen einräume wie mir. Und das neue Tun zugunsten des Besseren kann nur in einer neuen Gemeinschaft gelingen.

Diese Implikationen zu erkennen, scheint mir fürs persönliche Philosophieren zentral zu sein.

Indem ich leben will, will ich auch, dass andere gut leben. Das heißt in meiner gesamten Alltags – Praxis ist indirekt der Wunsch nach einem guten und besseren, im Sinne des ethisch besseren Lebens, für alle enthalten. Aber das gute Leben ist jeweils weltweit inhaltlich abgestuft, das ist eine Form der Gerechtigkeit.

Aber was ist eigentlich Tun/Handeln?

Wir müssen erkennen, dass Tun und Erkennen, also Theorie, stets eine Einheit sind. Es ist nicht so: Hier erkenne ich sozusagen erst mal isoliert vom Tun am Schreibtisch etwas, widme mich also dem Geistvollen und der Theorie. Und dann trete ich aus der Studierstube hinaus und handle in einem eigenen, vom Erkennen, getrennten Vorgang. Diese falsche Vorstellung einer totalen Trennung von Theorie und Praxis fällt mir immer ein, wenn ich an die Parteitage der SED oder der KPDSU denke: Da hieß es: Wir müssen die Beschlüsse, also die angehoben theoretischen Erkenntnisse der Parteitage, nun in die Praxis umsetzen, also in der Außenwelt gegenüber der Innenwelt der Theorie realisieren. Grüner Tisch gegen Realität könnte man diese Konzeption nennen. Diese Praxis – Vorstellung herrscht immer noch vor. Sie ist falsch.

Alles menschliche Leben ist immer schon Tat. Darauf hat Heidegger in „Sein und Zeit“ hingewiesen: Er beginnt seine Analysen mit dem In-der-Welt-Sein des Menschen.

Wir sind jeweils als ein sich wissendes Ich entstanden aus einer ursprünglichen Tathandlung, darauf hat der Philosoph Fichte schon in seiner Wissenschaftslehre von 1794 hingewiesen. Ihm geht es um die Erkenntnis der innersten geistigen Struktur, wie der Geist erwacht, mein Geist, und wie er sich in der Gleichzeitigkeit als Ich weiß und als Ich bejaht, „setzt“, sagt Fichte. Der Mensch als jeweiliges Ich ist also Ergebnis eines Tuns. Geist und Tun sind also identisch.

FICHTE zeigt den Primat der Praxis vor der Theorie und spricht „von einer Subordination, Unterordnung, der Theorie unter das Praktische“.

„Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind (also immer schon handeln müssen, CM). Die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft“ (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 1794).

Der Mensch setzt sich selbst als vernünftiger Mensch, das Tun des Setzens ist mit dem Produkt, dem sich gesetzten Menschen, identisch: “Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins“ . Das Ich ist also zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und Tat sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer Tathandlung“. (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Hamburg, Meiner, 1997, S. 16). Ich bin also im tiefsten und wesentlichen immer tätig. Ich bin immer tätig, auch wenn ich nur nachdenke.

Wir müssen ein neues Verständnis fürs Reflektieren als Tun gewinnen: Dieses Reflektieren ist ein Präsentsein in der Gegenwart, es ist das Beobachten der Wirklichkeit, das lebendige und kritische Dasein in der Gegenwart. Denken ist Tun.

Erst, wenn es Handlungsmöglichkeiten gibt, das Bessere zu tun, sollten wir eingreifen. Es ist dies der Kairos, der richtige Augenblick, den es manchmal abzuwarten gibt. Ein Kairos mag später noch einmal wieder kommen, aber dann unter erschwerten Bedingungen für eine bessere Zukunft. Man denke etwa an die Abweisung der Klimaverträge durch die Trump – Regierung. Den verpassten Kairos zu reparieren ist mühevoll, manchmal unmöglich.

Auf dieses INNERE TUN gilt es zu achten:

In jedem Denken als Tun spielt auch eine Entscheidung hinein: Also die Reflexion ist dabei: Was will ich jetzt als im Augenblick Wichtiges tun? Erlebe in mir eine Art Aufruf: Was ist jetzt wichtig für mich? Ich stehe in einer Situation der Entscheidung. Und folge dann dem Üblichen, dem Eingespielten, dem Ritus, oder entscheide mich neu für was anderes.

Dieses innere Erleben und innere Reflektieren der Entscheidungssituation ist der Ursprung der Handlung und der Tat: Ich bin stets inmitten von Entscheidungen, die meisten alltäglichen aber „laufen“ förmlich nach Gewohnheit ab. Ich tue also immer etwas, und die Frage ist nur: Was ist das richtige Tun für mich und was ist in diesem Tun auch für die anderen, die Gesellschaft hilfreich und gut?

Dies ist die Frage, die im Übergang, im Zwischenraum der Entscheidung fürs Tun, für neues Tun, gestellt wird. Dies ist aber entschieden eine Frage, die auch nach einem Sollen fragt, was denn sein soll zumindest für eine Gruppe, im Grunde aber für die Welt der Menschen im ganzen. Denn alle Menschen sind als Menschen bekanntlich gleichberechtigt. Das Tun des Guten, vermittelt durch den kategorischen Imperativ oder durch eine abwägende Ethik, ist nötig. Aber es muss eben das Tun des Guten sein. Etwa die Entscheidung, viel weniger Fleisch zu essen, vegetarisch zu leben, dann gerate ich in ein neues Lebensmodell: Ich bin aus der Welt der Fleischkonsumenten in die Welt der Vegetarier eingetreten. Ich bin sozusagen ein Konvertit. Der Dialog ist die Mitte fürs Denken als Tun: Das Sich Aussprechen mit anderen, die Korrekturen, die gemeinsamen Verabredungen fürs Tun in der Gesellschaft sind Mittelpunkt des Tuns als Reflexion.

Wer meint, politisch absolut nichts zu tun und nicht einmal wählen geht, stärkt mit seinem Nichtstun die Rechten und Rechtsextremen. Denn diese militanten Leute gehen eben unbedingt zur Wahl und machen ihre Partei gegenüber demokratischen Parteien stark. Die Demokratie kann an der Faulheit der Demokraten zugrunde gehen.

Was also leistet das Philosophieren?

Es ist die Denkpraxis der Analyse, der Kritik, der Selbstkritik, es ist das Abstandnehmen von Selbstverständlichkeiten, es ist der Mut, Neues im Denken zu entdecken und diese Entdeckung nicht bloß als Theorie abzutun, sondern als Beginn einer Handlung und Tat, weil das Denken selbst schon Tat ist. Die konkrete Arbeit, etwa in der Kritik der Ökonomie, etwa gegen Steuertricks vorgehen im Rahmen von ATTAC: EU muss gegen Steuertricks von Facebook, Apple, Amazon und Co. vorgehen. Die philosophische Analyse öffnet Wege ins Tun, in andere Wissenschaften, in politische Praxis, wobei die Philosophie immer das Kriterium vorlegt: Ist das ethisch gut, was ich da tue. Das heißt: Das philosophische Denken verlässt niemals das geistvolle Leben.

2. Die antike und mittelalterliche Philosophie hat streng getrennt zwischen Theoría und Praxis. Theoria also als Kontemplation verstanden, die mit dem politischen Tun des Bürgers, und dies war damals Praxis, nichts zu tun hatte. Mit dem Göttlichen wird der Mensch vereint in der Theoria, der Kontemplation, nicht in der Praxis: Man bedenke den radikalen Unterschied etwa zur Weisheitslehre Jesu: Da wird von Jesus das Tun des Guten (Helfen, Speise geben, Kranke Besuchen, Nackte bekleiden usw.) als Praxis beschrieben, die mit Gott verbindet. Praxis also ist Gottesdienst. Heute bedeutet religiöse Praxis, sonntags zur Kirche zu gehen und zu beten, das heißt dann Gottesdienst, welch ein Unterschied zu Jesu Weisheit. Da wäre über jüdisches Denken und griechisches Denken, also über die Rolle der Theoria jeweils.

Wegen der Bindung an griechische Philosophie (und der Distanz von jüdischem Denken) hat sich die spätere Kirche von Jesu Weisheit distanziert und das kontemplative beschauliche Dasein der Mönche lange Zeit als den besseren Weg zu Gott gehalten, besser und gottgefälliger als den Weg der Laien, die in der Welt zu tun hatten. In der Reformation wurde diese Sicht aufgegeben.  In der Philosophie Geschichte hat Kant förmlich auch einen philosophischen Trost zu bieten für Menschen, die handeln, aber im Handeln zur Resignation, zur Hoffnungslosigkeit neigen, „weil mein kleines Handeln ja nichts nützt“, sagen viele.

Diese Frage im Hintergrund, beantwortet Kant in mehreren seiner Hauptschriften. Zusammengefasst:

Bei KANT wird dann Praxis als Tätigkeit verstanden, die eine Anwendung von Begriffen und Prinzipien bedeutet. Und diese Tätigkeit bezieht sich auf die sinnlich vermittelte Erfahrung, also auf die Außenwelt der Dinge und der Natur um uns herum.

Dieses Tun hat als Voraussetzung den freien Willen. Der Wille reagiert nicht passiv auf etwas, sondern er entscheidet sich frei etwas zu tun.

Aber dieses Tun ist geleitet von den allgemeinen moralischen Prinzipien. Ein Beispiel: Ich will jetzt Gutes tun, mich für eine Klinik der Armen engagieren z.B. Ich erkenne das in meinem moralischen Bewusstsein, dass ich das unbedingt tun soll, weil die Not um mich herum oder in der Ferne so groß ist.

Da ist es interessant, dass Kant dieses – selbstverständlich im Umfang immer begrenzte – Tun des Guten vor der Verzweiflung bewahrt, zu der einzelne, wenn er etwas Gutes tut, oft neigt: Es gibt Rückschläge, Widerwärtigkeiten, Erfolglosigkeiten usw…

Kant will gegen den sich einstellenden Defätismus vorgehen. Er will gegen die Verzweiflung vorgehen, die sich in der Praxis ergibt.

Er sieht durchaus, dass die christliche Religion da Hilfen bietet, indem sie sagt: Dein Tun wird gottwohlgefällig sein und letztlich dem Aufbau des Reiches Gottes beitragen. Dieser Gedanke, dass nichts gut Getanes vergeblich ist, tröstet religiöse Menschen.

Kant will aber die religiösen Inhalte in eine rationale Argumentation für alle (!), auch für Nicht – Christen, überführen, darum sagt er: Das Tun des Guten, das Entsprechen also dem moralischen Sittengesetz also, befördert „das höchste Gut“ der Menschheit, das ist sozusagen ein säkularisierter Begriff des christlichen Reiches Gottes. Habermas spricht davon, dass Kant, Hegel und Marx dabei noch den „Stachel des religiösen Erbes“ spüren lassen.

3.  Was führt uns ins TUN und was führt uns im Tun?

Da muss über den MUT gesprochen werden. Dabei ist zu erkennen, dass Mut eine zwiespältige Praxis ist. Mut kann Tugend und Untugend sein: Wer sein eigenes Leben gefährdet und einen Ertrinkenden rettet, ist mutig. Wer voller Stolz eine Bombe an seinen Körper legt und diese zündet und sich und andere tötet, ist zwar nach außen hin mutig, de facto aber ein Verbrecher. Tugendhaft mutig sind diejenigen, die immer noch Flüchtlinge auf Schlauchbooten im Mittelmeer retten, eher feige und einfallslos sind diejenigen Politiker, die ihre Nationen einmauern, die die verbrecherischen libyischen Machthaber um Hilfe bitten, doch die Flüchtlinge von unseren Wohlstandsinseln fernzuhalten.

Mut als Tugend hat also immer mit dem Schutz des Lebens und der Förderung anderer zu tun. Martin Seel sagt in seinem empfehlenswerten Buch „111 Tugenden, 111 Laster“, S. 178: „Mut ist eine Tugend von irritierender ethischer Neutralität“. (siehe das Beispiel des mutigen Verbrechers). „Mutig sind Personen, die bereit sind, unter bestimmten Umständen ihr eigenes Wohl aufs Spiel zu setzen oder zu gefährden… „Nur wer Angst verspürt, kann Angst überwinden“, also dann doch mutig eingreifen.

Mut ist auch die Tugend, etwas (neu) zu beginnen. Und die Tugend, das richtig Begonnene weiter zuführen. Mut ist die Tugend, sozusagen im Gegenwärtigen transzendierend auf das Bessere zu hoffen. Man muss kämpfen, weil alles andere unwürdig ist. Feiglinge sind meist unangenehme Typen.

Dem Mut gegenüber steht vor allem die Willensschwäche: Thomas von Aquin sagt, der Willensschwache halte sich nicht an seine eigene Erkenntnis, „er geht nachlässig mit den eigenen Erkenntnissen um“ (Seel, S 54). „Die Willensschwachen verlieren die Selbstbeherrschung, indem sie einer Verlockung nachgeben, die ihren eigenen generellen Vorsätzen direkt widerspricht“ (ebd.) Gute Vorsätze haben mit der Zukunft zu tun, aber die jetzige Gegenwart steht uns näher: Wer da in der Gegenwart genießt, vergisst die bessere Zukunft. „Ein bisschen Regression darf sein“, denken wir dann falsch und handeln falsch

Der Mut als Tugend als Engagement für das bessere Leben der andern und deswegen auch meines Lebens ist eine Art Dynamis, eine Art innerer Schwung, der das Leben begleitet. Mut ist die geistige Triebkraft im Handeln, also im Leben.

Was bedeutet das heute? Wo können wir noch mutig sein?

Mut die richtige Sprache sprechen. Nicht nachplappern. Die richtigen Analysen machen, die der Selbstkritik standhalten. Selbst reflektierend sprechen. Fakten als Fakten anerkennen. Mutig ist, wer als Abweichler auffallen. Mut ist, nicht allen Blödsinn etwa der Parteien als Parteimitglied noch mitzumachen, sondern eben auszusteigen. Das gilt selbstverständlich auch für religiöse hierarchische Machtorganisationen.

Mut ist als politische Tugend die Haltung des reflektierten Ungehorsams.

Was tun, wenn ich nichts mehr machen kann in offenbar ausweglosen Situationen? Eine schwere Frage religionsphilosophische und theologische Frage, die jeder und jede aufgrund seiner je eigenen Spiritualität beantworten kann.

Da gibt es etwa den in der Türkei gefangenen, aus Berlin stammenden Journalisten und Menschenrechts- Aktivisten Peter Steudtner. Er ist mit der evangelischen Gethsemane Gemeinde in Mitte verbunden.

Was können seine Freunde tun in dieser Situation der Gefangenschaft? Natürlich kann jeder individuell an ihn denken und versuchen, diese Gedanken ihm im Gefängnis irgendwie zu übermitteln.

Etwas anderes ist möglich im gemeinsamen Tun:

In der Gethsemanekirche wird regelmäßig Peter Steudtner in öffentlichen Gottesdiensten gebetet.

Was heißt da Beten und Bitten? Gott soll Peter Steudtner aus dem Gefängnis holen? Dies kann nicht das Ziel des Gebetes sein. was wäre dies für ein unvernünftiges Gottesbild. Wer an Gott glaubt, will doch nicht an einen unvernünftigen Gott glauben: Etwa: Gott soll Peter Steudtner retten, nicht aber die andere in der Türkei gefangene Menschenrechtsaktivisten, für die vielleicht niemand betet usw…

Das Gebet gilt den Betenden, den Versammelten: Sie wollen sich in der Gemeinschaft in einem Raum besonderer Art, einer Kirche, sammeln und sich stärken, Peter Steudtner niemals zu vergessen. Nicht das Elend in der Türkei zu vergessen, nicht das – geistige, politische – Elend der Welt zu vergessen. Die stärkende Kraft des Ritus ist nicht zu unterschätzen: Kerzen anzünden. Sprechen, Stammeln, Singen, einander die Hand reichen… und wissen, dass andere da sind, die die eigene Lebensauffassung teilen. Glauben diese Menschen, dass sich ihre geistige Energie, nennen wir dies Gebet, sich förmlich bündelt? Sich überträgt, dass sogar die betreffende Person diese Energie spürt? Davon sind manche überzeugt, auch wenn es dafür selbstverständlich keine Beweise gibt. Ich erinnere nur an die Widerstandskämpfer in der Nazizeit: Wenn diese Männer dann Briefe von ihren Frauen im Gefängnis erhielten, die versicherten: Ich denke an dich, war dies eine unglaubliche Stärkung, den eigenen Weg, wie auch immer, möglicherweise bis zur Hinrichtung, zu gehen, weil sie sich nicht nur in der Welt der Familie geborgen wussten, sondern in einem letzten Sinngrund, der größer ist als alle Gewalt und Politik.

Dass es sinnvoll ist, in solchen Situationen weiterzuhandeln, hat ja Kant gezeigt: Wir können in unserem Handeln, das sich immer in komplexen Zusammenhängen gestaltet, niemals alle einzelnen Wirkungen unseres so begrenzten Tuns voraussehen. Wir wissen nur, dass es Wirkungen gibt in jeglicher Aktivität, in jeglichem Sprechen… sicher auch in unserem philosophischen Salon….

Es gibt aber durchaus Situationen der Aussichtslosigkeit, wo sich der einzelne nur noch in seiner persönlichen Poesie, seinem Gebet, dem jeweiligen persönlichen Gott anvertrauen kann. Um aus dieser poetischen Praxis Energie für sein und unser Leben, auch für den Ungehorsam, den Widerstand, zu finden…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Literaturtipps zum Salon am 15.9.2017

Philipp Blom, Was auf dem Spiel steht. (Für eine neue Aufklärung unter den Prämissen des 21-. Jahrhunderts). Hanser Verlag 2017, 223 Seiten, 20 Euro.

Hilal Sezgin, Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs. Dumont Verlag, 2017, 159 Seiten, 14 Euro.

Martin ROTH: WIDERREDE. 2017, 96 Seiten, 9,95 Euro. Edition Evangelisches Gemeindeblatt: Auf der Spiegel Bestseller Liste! Mit großer Sorge beobachtete Martin Roth – bis Herbst 2016 Direktor des Victoria and Albert Museums in London – die aktuellen politischen Entwicklungen in Europa. Entsetzt über den Brexit verließ er seine Position als Museumsdirektor in Großbritannien und kehrte nach Deutschland zurück. Roth sah die politische Kultur und die Idee Europas in großer Gefahr – nicht nur, weil Politiker in seinen Augen die Politik allzu oft als bloße Machterhaltungsmaschinerie begriffen, sondern auch, weil die Bevölkerung den Politikern zu viel überließ… Martin Roth ist am 6.8. 2017 plötzlich gestorben…

Zur Philosophie über die Tugend des Mutes:

Sehr inspirierend ist das Buch über Tugenden und Werte des von mir schon oft empfohlenen französischen Philosophen André Comte – Sponville. „Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben“, RoRoRo, meine Ausgabe von 2001 kostete damals nur 8, 90 Euro. Zum Mut dort S. 59 bis 75.

Nach wie vor empfehlenswert das Buch des Frankfurter Philosophen Martin Seel, „111 Tugenden, 111 Laster“. S. Fischer Verlag, 2011, zum MUT S. 178 ff.

Zur Tugend des Ungehorsams: immer noch grundlegend:

Das Buch des Freundes von Montaigne, also von Etienne de La Boétie: Von der freiwilligen Knechtschaft, mehrere Ausgaben, etwa auch: Europäische Verlagsanstalt.

Henry David Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Viele Ausgaben.

 

“Nichtstun ist keine Lösung”

Eine Buchempfehlung von Christian Modehn am 3.9.2017

Die Philosophin und Journalistin Hilal Sezgin (geboren 1970 in Frankfurt am Main) hat ein wichtiges, gut lesbares Buch verfasst, das reflektierte Klarheit bringt zu der Frage: „Was tun?“ Und das, damit zusammenhängend, Kritik übt an der alltäglichen beliebten Ausrede: „Ich kann nichts politisch Wirksames tun durch mein Engagement“. Oder: „Die Welt ist so ungerecht, da hilft mein Tun zugunsten von mehr Gerechtigkeit nichts“.

Es ist das kritische, und das ist immer auch das selbstkritische Nachdenken, das sich gegen diese gängigen, dummen Sprüche wehrt. Grundsätzlich gilt: „Wenn wir das Gute nicht tun, wird das Schlechte überhand nehmen und uns in den Abgrund reißen“ (S. 13), schreibt die Autorin. „Das Gute“ gibt es als solches selbstverständlich in dieser abstrakten Allgemeinheit nicht, gemeint ist: Das Tun zugunsten konkreter politischer Gerechtigkeit; der Respekt vor der immer mehr zerstörten Natur; die Anerkennung, dass die Menschen im reichen Europa ihre Lebenshaltung ändern müssen, wenn sie glücklich sein wollen usw. „Das Schlechte“, ebenfalls in überschaubarere Strukturen übersetzt, kann dann bedeuten: Der ausbeuterische Welthandel zugunsten der reichen Länder; das Zulassen des Elends etwa in Afrika; die Ignoranz gegenüber dem Rassismus; die Gewöhnung an die unmoralische Tatsache, dass die Armen immer ärmer werden; die Angst, Flüchtlinge seien prinzipiell eine Bedrohung auch ökonomischer Art usw.

Hilal Sezgin präsentiert keine langen Listen von den vielen lebendigen Menschen, die aus dem resignativen Nichtstun herausgefunden haben. Sie argumentiert sehr freundlich, aber immer sehr überzeugend und nachdrücklich dafür: Du kannst noch handeln in dieser verrückten Welt: Wenn du dich selbst nicht überforderst; wenn du nicht der Illusion verfällst, die ganze Welt zu retten, sondern realistisch einen kleinen, dir typischen Bereich der Hilfe und des Nachdenkens aussuchst; und vor allem: Wenn du mit anderen zu handeln lernst.

Hilal Sezgin weist auf unbequeme Tatsachen hin: „Warum diffamieren wir Gutestun und diejenigen, die Gutes tun, so häufig?“ (S. 31), etwa so: „Der Gutmensch will sich doch nur noch vorne drängen“. Wir sollten im gemeinsamen Tun vor allem Konkurrenz – Denken überwinden. Nicht jeder muss das gleiche tun, der hilfsbereite Nachbar hat andere Fähigkeiten zu helfen als ich. Jeder und jede sollte aber entdecken: Wo sind meine eigenen Stärken und Möglichkeiten meiner mir denkbaren Hilfe. Und: Wer Ungewöhnliches, Störendes, Provokatives ausspricht, sollte erst mal gehört und ernst genommen werden.

Man lese etwa die Reflexionen Hilals zu den Menschen, die absolut nicht mehr helfen wollen, weil sie, so sagen sie gern, „einmal geholfen hatten und dabei schlechte Erfahrungen gemacht haben“ (S. 58). Wenn dieses Prinzip des „Einmal“ immer gelten würde, dürfte man nie mehr eine Kneipe betreten: Denn einmal wurden wir sicher schon sehr schlecht bedient. Die Autorin weist auf skandalöses Verhalten, auch von CDU Politikern, hin, die etwa angesichts so vieler Ertrunkener Flüchtlinge im Mittelmeer empfehlen: Man müsse nicht zu viel Rührung zulassen, und sich von diesen Fotos nicht erpressen lassen und eben auch mal wegschauen (S. 63).

Lesen wir auch die von der Autorin empfohlenen Bücher des Ökonomen Branko Milanovic (er hatte eine leitende Funktion in der Weltbank, ist also alles andere als ein Sozialist oder Kommunist…) „Es gibt einen Ortsbonus, d.h. die Geburt in einem reiche Land. Wer in einem armen Land zur Welt hat sozusagen eine „Ortsstrafe“ ( 79). Viele Menschen in den reichen Ländern handeln nach der ins Grausame verkehrten Formel der Goldenen Regel, die nun heißt: “Was du nicht willst, das man dir tu, das füg halt einem anderen zu“ (S. 78).

Sehr dringend erscheinen die Hinweise von Hilal Sezgin zu einer neuen Pflege und Kultur des VERZICHTS (82). Mit besonderer Aufmerksamkeit ist sicher das Kapitel zu lesen „Ethik als Verbundenheit“ (87 ff.)

Interessant sind die persönlichen Hinweise der Autorin: Ihr Leben als Veganerin oder etwa ihre Verbindung mit den Sufis, vor allem mit Hazrat Inayar Khan.

Insgesamt: Ein empfehlenswertes Buch, auch geeignet für Gruppengespräche.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.