Wolfgang Ullrich: “Werte muss man sich leisten können”.

Wolfgang Ullrich war in unserem reigionsphilosophischen Salonam 26.1.2018 unser Gast. Er hat am 3.1.2018 in der NZZ einen Beitrag über Werte veröffentlicht, der in gewisser Weise viele Aspekte seines Buches “Wahre Meistewerte” (Wagenbach Verlag) zusammenfasst. Lesen Sie bitte über den Link diesen wichtigen Text … und danach sicher das Buch. CM.

Woher kommt das Neue?

Das Februar Heft des Philosophie Magazins

Ein Hinweis von Christian Modehn

In einer Zeit politischer Stagnation in Deutschland, also der Abwehr, qualitativ Neues als das Bessere, d.h. das Gerechtere politisch zu gestalten, ist die Reflexion auf das Neue in unserem Leben vielleicht ein Impuls, mindestens weiterzudenken… Wir leben bekanntlich in einer Epoche des Stillstands und des Verdrängens von Neuem, sozial Besseren,  in der das politische Dogma von Frau Merkel „Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten“ offenbar ungebrochen durchgesetzt werden soll.

Das „Philosophie Magazin“, dieses alle zwei Monate erscheinende, 100 Seiten starke Heft, hat seit Jahresbeginn eine neue Chefredakteurin, Svenja Flaßpöhler. Da lag es nahe, einmal nach Ansätzen für eine Philosophie des Neuen zu fragen. Diesem Thema sind etliche Beiträge gewidmet.

Ich hätte mir gewünscht, anstelle des uns ohnehin ständig in allen Medien begleitenden Interviews mit Reinhold Messner sehr viel mehr zu lesen von dem jungen Philosophen Christian Neuhäuser zu seinem uns bedrängenden Thema „Sich gegen Armut einzusetzen, ist eine Bürgerpflicht“. Richtig, es ist aber auch eine Staatspflicht, falls die herrschenden Parteien mit einem C und einem S (=sozial) im Titel es ernst meinen in ihrer Verantwortung für alle Menschen, die sich in unserem Land aufhalten.

Sehr schön, dass auch einmal ein Philosoph eingeladen wurde,  eine Reportage zu schreiben: Hartmut Rosa (Jena) berichtet ausführlich von seiner Studienfahrt nach China, ein gelungener und schön geschriebener Essay, der die natürlich immer nur partiell wahrnehmbaren kommunistisch – kapitalistischen Realitäten in China heute spiegelt. Ich würde mir solche Reportagen von Philosophen regelmäßig wünschen: Warum nicht auch als Stadt – bzw. Städte-Erkundung, es muss ja nicht immer die Distanz des Flaneurs vorherrschen.

Zum Hauptthema. Sehr inspirierend die Gegenüberstellung kontroverser Meinungen etwa zu den Fragen „Gibt es überhaupt etwas Neues?“ oder „Ist das Neue immer das Gute?“. Bekannt ist sicher ist die Meinung von David Edgerton, dass etliche aktuelle technische Innovationen schon zu Beginn des 20. Jahrhundert gedacht und z. T. entwickelt wurden. Edgerton beklagt zurecht, dass die Welt des Neuen heute fast immer neue technische Welt heißt und dadurch zu „eindimensionalen Vorstellungen von der Zukunft“ führt. Dass der Zufall eine große Rolle in der Naturwissenschaft spielt, wenn sie nach Neuem sucht, betont Hans Jörg Rheinberger. Naturwissenschaftler wollen Bedingungen schaffen, dass „der Zufall wirksam werden kann“. Die Liebe, wenn nicht die Sucht nach Neuem fördert die Mode – Industrie, ob nun für arme Massen gemacht oder als Einzelstück für Menschen mit exklusiven Ansprüchen. In der Mode, auch dieses Thema wird im Heft angesprochen, ist wohl die „Neophilie“, von der Sloterdijk spricht, also die (krankhafte ?) Liebe zu allem Neuen entscheidend. Im Interview mit dem Philosophen Markus Gabriel betont der Unternehmer Frank Thelen, der besonders in junge Technologie – Unternehmen investiert: Angesichts der nicht mehr zu stoppenden Entwicklung immer neuer, hochintelligenter Roboter werden sehr bald äußerst viele Menschen arbeitslos werden: „Das bedeutet, dass wir in den nächsten 10 Jahren krasse ethische Entscheidungen zu treffen haben“. Was er mit „krass“ meint, wird im Interview versäumt durch Nachfrage zu erläutern. Thelen fährt dann fort: „ Das bedeutet aber auch, dass wir uns als Menschheit neu erfinden müssen. Dazu benötigen wir zum Beispiel ein bedingungsloses Grundeinkommen“ (Seite 62). Die neue lange Freizeit, in die dann wohl bald die bisher Tätigen gestürzt werden, zu gestalten, wäre auch ein philosophisch – praktisches Thema für angehende Philosophen etwa, die dann in Gesprächskreisen zu sinnvollen Diskussionen mit den von Robotern Freigesetzen einladen. Ob dabei Roboter den Wein und das Wasser in diesen Runden servieren, wird man sehen.

Merkwürdig abrupt und in sich stehend, d.h. nicht weiter befragt, ist das höchst verstörende Bekenntnis des Unternehmers Frank Thelen „Die Diktatur ist viel besser als Demokratie“ (S. 63, Spalte 3). Was soll dieser wahnwitzige Satz, ist meine kommentierende Frage, selbst wenn Thelen diesen Satz dann kurz erläutert, dass in China, (einer Diktatur, CM), „alles ganz schnell geht, weil man das einfach durchsetzen kann“, so Thelen. Kommt es also vor allem darauf an, „alles (also wohl auch alles ökonomisch viel Profit Bringende) schnell durchzusetzen”? Zum Schluss dieses Statements mildert Thelen sein Bekenntnis etwas ab, in dem utopischen Wunsch, dass es doch gute Diktatoren geben sollte. Ist das alles vielleicht nur Ironie? Der Textlage entsprechend sicher nicht! Der Philosoph Markus Gabriel (Bonn) hält ultra-kurz, aber treffend dagegen: „Einen benevolenten Diktator gibt es nicht“. An dem Punkt ist es wieder bedauerlich, dass nicht weiter nachgefragt wurde. Jedenfalls ist es für mich ein ziemliches Problem, von einem offenbar erfolgreichen Unternehmer zu lesen „Die Diktatur ist viel besser als die Demokratie“, um neue Technologien durchzusetzen.

Dass mich persönlich die Art und der Inhalt stören, wie einige Philosophen und Psychologen –auch in den Heften von Philosophie Magazin – mit der Gottesfrage umgehen, gehört zur philosophischen Debatte, selbstverständlich. Da wird doch nun im vorliegenden Heft im Ernst gefragt, ob sich der Psychologe Steven Pinker „im Alter von 13 Jahren zum Atheismus konvertiert habe?“ (Seite 69). Kann man sich im Alter von 13 Jahren bewusst und reflektiert, das ist ja wohl Konversion, für den Atheismus entscheiden?  Und Herr Pinker antwortet schlicht und ergreifend nur: „Ja“. Danach erläutert er noch die Religion als eine „biologische Notwendigkeit“, eine Behauptung, die auch einfach so stehenbleibt… Die Spuren des Göttlichen, Gottes, der Transzendenz, in unserer nun einmal postsäkularen Gesellschaft zu suchen, in den heutigen Philosophien, aber auch in der heutigen Kunst, Musik, Poesie, in der politischen Aktion usw. wäre ein Thema für viele Hefte des Philosophie Magazin. Denn bekanntlich lebt Philosophieren als lebendiger Vollzug von Philosophie nicht nur dort, wo Philosophie draufsteht. Dieses Thema nun mit einer neuen Chefredakteurin aufzugreifen, wäre etwas Neues für das Philosophie – Magazin.

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Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin!

Marx ohne Marxismus. Und Jesus ohne Kirchen?

Ein Hinweis von Christian Modehn im „Marx Jahr 2018“: .

Es ist nicht nur eine Art philosophischer Spekulation, Jesus von Nazareth als den (angeblichen) Begründer etwa der katholischen Kirche bzw. des Christentums zu deuten im Vergleich mit der üblichen Vorstellung: Karl Marx sei der Begründer “des“ Marxismus bzw. der Marxismen: Leninismus, Trotzkismus, Stalinismus mit Ulbricht, dann Honecker, Mielke und Co: Sie alle beriefen sich ja „irgendwie“ (notgedrungen) auf Marx. Am 5.2.2018 wurde unten noch ein Hinweis auf die Forschungen des Marx – Spezialisten Gerd Koenen zum selben Thema publiziert.

Jesus von Nazareth hat nichts Schriftliches hinterlassen. Es ist bekanntermaßen nicht einfach, aus den vier Evangelien – Texten (verfasst etwa 40 Jahre nach Jesu Tod) einen historischen Jesus zu rekonstrieren. Aber ein Profil und eine Sammlung ursprünglicher Worte und Taten Jesu zeigen sich doch. Auch das ist klar für eine historisch – kritische Bibelwissenschaft! Aber: Das ist der Unterschied zu Karl Marx, dessen Schriften einer unmittelbaren Lektüre eines jeden zur Verfügung stehen, ohne Rücksichtnahme auf entstellende Deutungen der Marxisten, Stalinisten etc. Meine These ist also – hermeneutisch etwas ungewöhnlich – den unmittelbaren Blick zu üben, also ohne die übliche “Brille” der dogmatischen Marxisten und dogmatischen Kirchen – Deuter Marx und Jesus zu sehen. Um so wieder einen frischen, lebendigen Blick auf das Originelle im Denken wiederzuerlangen. Dogmatische katholische Theologie auch an den Universitäten vollzieht sich ja immer mit der “Brille” des Verstehens, die die Kirchenführung den Theologen aufsetzt. Wer sich von dieser “Brille” befreit, wird bestraft, siehe Küng, Boff, Schillebeeckx usw…

Zur Erinnerung: Jesus von Nazareth wurde von der Gemeinde post mortem zum gott-menschlichen Christus erklärt. Allen voran und zuerst publizistisch wirksam geschah dies in den „Paulus – Briefen“ seit dem Jahre 50, verfasst von dem Apostel Paulus, der ja bekanntlich den historischen Jesus von Nazareth gar nicht erlebt hatte. Paulus ist insofern einer der wichtigsten Begründer des kirchlichen Christentums als einer eigenständigen Religion. Andere Theologien der frühen Kirche, etwa die Evangelisten, kamen später hinzu, in dem Bemühen, aus Jesus von Nazareth den Kirchengründer mit einer dogmatischen und hierarchischen Kirchenstruktur zu machen.

Dieses Phänomen ist wichtig und bedenkenswert: Wie aus Jesus von Nazareth als einer radikalen, prophetischen Gestalt, die noch eine, wie sich später herausstellte, irrtümliche Annahme zum Weltende hatte, wie also aus einer nur schwer greifbaren, schon gar nicht kirchen-gründerfreundlichen Gestalt eine überragende welthistorische religiöse Figur wurde. Aus bestimmten religionspolitischen und machtpolitischen Prämissen wurde Jesus also zur „Gründergestalt“ von Institutionen. Diese Gestalt wurde dann im Laufe von 2000 Jahren zu einer gottmenschlichen Gestalt der vielfältigsten Interpretationen in mehreren hundert christlichen Kirchen.

Warum sage ich das alles? Ähnlich ist es auch Karl Marx ergangen. Auch er dachte gar nicht so systematisch und auch er dachte nicht an eine Weltordnung „Marxismus“ genannt unter Führung einer autoritären, also nicht-demokratischen Partei, wie dies jetzt Gareth Stedman Jones in seiner großen Marx-Studie zeigt. Auch er wurde als “göttliche” Figur in den kommunistischen Staaten ausgestellt und aufgestellt. Von ihm durfte man nicht zu viel wissen, als braver Sozialist, siehe etwa die Unterdrückung der Frühschriften von Marx im Kommunismus…Auch der historische Jesus von Nazareth wurde als Herausforderung an die Kirchen-Führer erlebt. Die “Ketzer – Geschichte” ist ein Beweis für die Unfähigkeit, den historischen Jesus als Anspruch und Kritik zuzulassen.

Und hier könnte auch an einen Vergleich von Paulus mit Friedrich Engels erinnert werden: Er formte nach dem Tode seines Freundes Karl Marx aus dessen vielen Texten und Fragmenten eine relativ geschlossene Ideologie. Also kann man wohl sagen: Ohne Engels hätte es wohl keinen Marxismus gegeben, so wie es ohne Paulus keine Kirche gäbe.

Und dann haben alle die vielen Marx Nachfolger sich ihren Marx geformt. So wie alle Jesus-Nachfolger sich ihren Jesus formten. Was hat etwa der Jesus des Franz von Assisi mit dem Jesus des Papstes Innozens III. oder des Papstes Bonifaz VIII. zu tun? Gar nichts. Was haben die Mormonen oder die Zeugen Jehovas mit Jesus von Nazareth zu tun? Was hat der nordkoreanische Diktator mit Marx zu tun? Oder Ceausescu mit Marx? Was haben der heilig gesprochene Franco – Freund José de Balaguer und sein Opus Dei mit Jesus von Nazareth zu tun? Sie berufen sich auf ihn. Sie bekennen sich verbal zu ihm. So, wie es der Orden der Legionäre Christi praktiziert, der als superreicher “Millionärs-Orden” mit dem armen Jesus von Nazareth nicht so viel zu tun hat.

So werden im Laufe der Geschichte eigentlich respektable Gestalten wie Jesus oder Marx verfälscht. Man macht aus ihnen, was „man“ will, d.h. was die jeweiligen Herrscher und ihre Ideologen wollen.

Und die Frage ist: Kann es heute noch eine Rückkehr geben zu dem armen Propheten Jesus von Nazareth und dem leidenschaftlich an der Befreiung der Unterrückten interessierten Denker Karl Marx? Wenn das möglich wäre: Was wäre dann ein Bekenntnis zu diesem Marx ohne den meist verbrecherischen Marxismus/Stalinismus usw. Und was wäre ein Bekenntnis zu dem armen Propheten Jesus von Nazareth jenseits der machtvollen Konfessionen und ihren Dogmen, Klerikern, Palästen, Bürokratien, Kirchensteuern usw.? Und: Wie würde also ein Marx-Gedenken 2018 aussehen? Wie würde ein frischer Marx ohne Marxismus 2018 aussehen?

Früher, etwa ab 1965, gab es große Debatten (in der so genannten “Paulus – Gesellschaft”) von mehr oder weniger dogmatischen Theologen mit mehr oder weniger dogmatischen Marxisten, also etwa Rahner, Metz, Moltmann auf der einen Seite gegen Garaudy, Gardavsky, Lombardo Radice, Ernst Fischer usw. auf der kommunistischen Seite. Diese Gegenüberstellung zweier machtvoller Weltanschauungen ist total überholt.

Heute könnte man etwa einen Jesus ohne Kirche mit einem Marx ohne Marxisten/Marxismus (Leninismus etc.) konfrontieren. Das würde eine gewisse, nicht nur intellektuelle Bewegung wach – rufen. Und Neues im Denken (und Handeln ?) bescheren.

Ergänzung am 5.2.2018: Im Zusammenhag unserer durchaus spekulativen Parallele “Jesus – Marx”, bzw. “Kirche – Marxismus” (Kommunismus im Plural), ist es interessant, dass der Historiker und Marx – Spezialist Gerd Koenen in einem Interview mit der Beilage der ZEIT, genannt „Christ und Welt”, in einem Interview, publiziert am 1.2.2018, betont: Aus den Schriften von Marx wurden nach seinem Tod „Gründungsdokumente einer neuen politischen Bewegung“ gemacht; dabei arbeitete Engels als eine Art Nachlassverwalter von Marx. Karl Marx wäre nie auf die Idee gekommen, eine Art unfehlbarer Lehrer zu sein, als der er dann in den kommunistischen Staaten galt. Er hatte etwas dagegen, wenn sich Menschen „Marxisten“ nannten. Marx schätzte die ständige (Selbst-) Kritik über alles. Er war gegen Dogmen. „Er bekämpfte alle Versuche, seine Lehren katechetisch auszumünzen“, so Koenen.

Es ist im MARX- JAHR 2018 eine große Chance, den undogmatischen, man möchte sagen: kommunismuskritischen Karl Marx herauszustellen. Er ist ein origineller, leidenschaftlicher humanistischer Denker, der für die Armen eintritt und Gerechtigkeit durchsetzen will. Über die Verwandtschaft dieses ethischen Denkens mit dem Denken und der Praxis des authentischen historischen Jesus von Nazareth ist weiter zu forschen. Die Parallelen jedenfalls können kaum geleugnet werden.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Reimarus: Mit Vernunft die Bibel lesen. Erinnerung zum 250. Todestag des Philosophen und Sprachwissenschaftlers

Ein wichtiger Anlass zum Weiter – Denken: Am 1. März vor 250 Jahren ist der Philosoph und Sprachwissenschaftler Hermann Samuel REIMARUS in Hamburg gestorben (geboren wurde er am 22.12. 1694 in Hamburg). Nach seinem Tod fand man die religionskritische Schrift “APOLOGIE oder Schutzbrief für die vernünftigen Verehrer Gottes”. Diesen umfangreichen Text veröffentlichte Reimaus zu Lebzeiten nicht bzw. er wagte es nicht, diesen, das gesamte System der Kirche erschütternden Text zu publizieren. Es sind Studien zur vernunftgeleiteten Kritik an der Bibel. Lessing veröffentlichte dann “Gott sei Dank” Teile dieses Buch, auch noch unter Pseudonym. Für Reimarus (und für Lessing) steht im Mittelpunkt das religiöse Bekenntnis der freien Entscheidung des einzelnen  unabhängig von amtskirchlicher Autorität und offizieller Bibeldeutung. Der Einfluss von Reimarus reicht weit (wohl bis zu Bultmann) und zu allen Kirchen, die sich liberal-theologisch orientieren bzw. “freisinnig” nennen.

Reimarus bleibt ein Lehrmeister für alle sich auch jetzt immer stärker ausbreitenden fundamentalistischen, evangelikalen und pfingstlerischen Kirchen und monotheistischen Religionen, die noch immer, aller Vernunft widersprechend, an einer “wortwörtlichen” Deutung der Bibel (“der heiligen Texte”) festhalten.

Ob Reimarus überhaupt dem Namen nach in muslimischen Kreisen der Koran – Deutungen bekannt ist, wäre zu untersuchen.

Hermann Samuel Reimarus war keineswegs “nur” Wissenschaftler und Philosoph. Er war sozial engagiert, 1765 gründete er die “Patritoische Gesellschaft” , sie bemühte sich um Reformen in der Gesellschaft, 1788 wurde die “Allgemeine Armenanstalt” erreichtet, eine Art “bürgerliche Selbsthilfe”, die als Vorbild für weitere Projekte gilt.

Diktatoren werden von Deutschland und Europa unterstützt

„Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert“:

Über das Buch „Diktatoren als Türsteher Europas”. Von Christian Jakob und Simone Schlindwein (Ch. Links Verlag, Berlin)

Ein Hinweis von Christian Modehn

Für unseren religionsphilosophischen Salon ist das Studium und die Verteidigung der universal geltenden Menschenrechte ein Schwerpunkt. Dieses Thema führt in die Politik, in politische Stellungnahmen und selbstverständlich zur Kritik der Politik(er), auch in Europa. Zu unserem Thema gehört die Warnung vor einem Ende der offenen, der demokratischen Gesellschaft in Europa. Die Trauer über diesen kulturellen und humanen Niedergang ist die bestimmende „Melodie“ dieser Überlegungen. Oder, wenig poetisch gesagt: Wie Europa, wie Deutschland, seine Seele verkauft. Oder: Wie “demokratische” Politiker in Europa und Deutschland Vernunft und Menschlichkeit aus ihrem Denken streichen…

Bevor auf einige zentrale Aspekte des wichtigen Buches „Diktatoren als Türsteher Europas“ hingewiesen wird: einige Überlegungen zur Einstimmu.

1. Die rigide Abwehr von Flüchtlingen bestimmt längst alles Denken und Tun der meisten Politiker in Europa, auch in Deutschland. Die „Willkommenskultur“ war nur eine Art momentaner „Ausrutscher“ einer irritierten, sich menschenfreundlich gebenden Kanzlerin. Nur kurzfristig zeigte sie sich Flüchtlings-freundlich. Seitdem rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien in fast allen Ländern Europas ihren Hass gegen Fremde und Flüchtlinge in der Öffentlichkeit einpeitschen und diffuse Ängste erzeugen sowie den etablierten Parteien Stimmen „wegnehmen“, folgen auch sehr viele demokratisch sich nennende Politiker den Parolen der Populisten und Rechtsextremen. Sie wollen ihre eigenen Parteien retten und stark machen, die politische demokratische Kultur zu retten ist hingegen vielleicht erst der zweite Gesichtspunkt…Politiker demokratischer Parteien lassen sich förmlich die Handlungsanweisungen aus den Kreisen der Populisten geben. Sie vertrauen nicht mehr auf die Kraft der Vernunft und der Argumente zugunsten umfassender Humanität. Sie halten die Bürger für so blöd, als könnten differenziertere Argumente schon gar nicht mehr verstehen. So werden demokratische Politiker selbst zu populistischen Akteuren. Sie machen ihre demokratische Arbeit der Flüchtlingsabwehr nur etwas elegant und diplomatisch – versteckt und in tausend bürokratischen Bestimmungen oft nicht so schnell durchschaubar.

2. Es ist jedenfalls evident und bedarf überhaupt keines Beweises mehr: Europa schottet sich ab, es baut rings um den Kontinent nicht nur Mauern, sondern errichtet tötende Schutzzäune und fördert die Abwehr der Flüchtlinge schon im unmittelbaren Umfeld Afrikas. Der Nachbarkontinent Afrika ist in dieser paranoiden Sicht Europas zur Ansammlung feindseliger Elemente geworden, die es wie die Pest fernzuhalten gilt. Trumps Mauerbau an der mexikanischen Grenze und seine Vertreibung der in den USA lebenden Flüchtlinge etwa aus El Salvador ist nur eine Variante europäischer Ängste und Identitäts-Sehnsüchte. Die rassistischen Ausfälle zu Beginn von 2018 dieses Politikers der USA sind nur ein Beleg, welche Mentalität sich hinter der Ausländer – und Flüchtlingspolitik oft verbirgt.

Was haben doch BRD Politiker einst über den Spruch des SED Führers Walter Ulbricht gelacht, als er 1961 noch sagte: „Niemand hat die Absicht eine Mauer (in Berlin) zu bauen“. Jetzt sind demokratische Politiker in ihrem angstbestimmten Denken selbst die besten und größten Mauer-Bauer und Stacheldraht Spezialisten geworden. Sie folgen also ihrem großen „Vorbild“ Walter Ulbricht. Er ist einer der ihren. Nur darf man nicht vergessen: Die eingemauerte DDR ist 28 Jahre später (1989) implodiert und zusammengebrochen. Wird dies mit dem eingemauerten demokratischen Europa auch passieren? Wohin würde dann dieser Zusammenbruch des eingemauerten Europa führen? Wahrscheinlich in Richtung eines dann expliziten Faschismus der „besseren“ Menschen, der „wertvollen und weißen Rasse“?

3. Diese Überlegungen sind Teil der Überlegungen vieler Menschen, die der umfassenden und prinzipiellen Humanität verpflichtet sind sowie der sich so mühsam und abstrampelnden, von Spenden lebenden Solidaritäts-Vereine und Assoziationen, die ziemlich hilflos, weil politisch schwach, an der Seite der Flüchtlinge stehen: Sie stehen diesen flüchtenden Menschen bei, nicht weil alle Flüchtlinge automatisch Heilige sind, sondern weil sich in der Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge die Humanität zeigt, die ja Europa gern in Sonntagsreden beschwört. Und die viele populistische Politiker etwa in der CSU auch gern als „abendländische“ oder gar anmaßend als „ihre“ christliche Gesinnung hoch jubeln.

4. Wer sich mit den grundlegenden Fakten vertraut machen will, und das sollten sehr viele, was heute Europa ins kulturelle und ethische Abrutschen bringt, sollte das neue Buch der Politologen und Journalisten Christian Jakob und Simone Schlindwein lesen: Nun liegt es schon in der 3. Auflage vor, offenbar haben alle Abgeordneten des Bundestages und alle Landtagsabgeordneten und alle Bürgermeister dieses Buch gekauft und werden es lesen. Bei der AFD wird es wahrscheinlich „verschlungen“…

Lassen wir diese Utopie der Vernunft: Dieses Buch ist eine sehr gründliche Studie, objektiv in der Sprache, nicht so zuspitzend wie mein Kommentar. Das Buch enthält ca. 240 Seiten TEXT und fast 40 Seiten klein gedruckte Quellenangaben. Eine Meisterleistung der Recherche, eine Ehre für diese Journalisten. Aber die Autoren sind klar und deutlich in ihrer elementaren Erkenntnis, die evident ist und die niemand ignorieren darf, der bei Verstand ist: Europas Politiker bedienen sich der übelsten Diktatoren in Afrika, dies tun die Europäer, nur um ihre eigene rigide Abwehr der Flüchtlinge aus Afrika zum Erfolg zu bringen.

5. Es sind etwa die Diktatoren in Eritrea und Sudan, sowie die Regime in Libyen und Ägypten, die zu den besten Helfern europäischer Flüchtlingspolitik ausersehen sind; diese brutalen Herrschaften werden für ihre mörderische Abwehr von afrikanischen Flüchtlingen von Europa reichlich belohnt, mit Millionen Euros, mit Waffenhilfe, die sich diplomatisch geschickt als Entwicklungshilfe tarnt. Bundesentwicklungsminister Müller etwa reiste nach 20 Jahren diplomatischer Verachtung für dieses Regime nach Asmara, Eritrea und sagte: „Wir Deutsche können Eritrea unterstützen, den Exodus der Jugend zu stoppen“ (S. 34). Als würde die Jugend aus Eritrea aus Langeweile nach Europa ausweichen, und nicht, um dem widerwärtigen diktatorischen Regime zu entkommen. Natürlich fügte Müller die Floskel an, Eritrea „möge die Menschenrechtslage verbessern“ (ebd).

Wichtig ist die Darstellung, wie Spanien durch den Beitritt zum Schengener Abkommen 1991 die spanischen Enklaven auf algerischem Boden Ceuta und Melilla zu Festungen ausbaute und die Freizügigkeit beendete. „Verbaut wurde in dem Zaun rund um Melilla und Ceura Klingendraht des Typs Concertina 22, gedacht zum Schutz von Atomkraftwerken, Munitionslagern und Flughäfen. Im Abstand von 38 Millimeter sind daran scharfe Klingen angebracht; 22 Millimeter lang, 15 Millimeter hoch“ (41). Man braucht einige Nerven, um die weitere objektive Darstellung dieser Abwehr Europas vor den Afrikanern weiter zu lesen: Viele Afrikaner haben sich in den Klingen verfangen, wer springt, verfängt sich in Drahtseilen usw. Als es 2013 im spanischen Parlament eine Debatte darüber gab, entschied der sehr katholische Ministerpräsident Rajoy: „Die Klingen bleiben“ (42).

6. Das Buch ist systematisch gegliedert: In einer Dokumentation über die Schließung der Grenzen (zu Afrika) werden so genannte „Vorbilder“ für Europas Politiker genannt, darunter sehr erhellend die unmenschliche Flüchtlingspolitik des Staates Israel (89 ff). 45.000 Flüchtlinge, meist aus Eritrea, halten sich in dem jüdischen Staat auf. Weil Abschiebungen nach Eritrea aus humaner Einsicht nicht möglich sind, entscheidet sich Israel, massiven Druck auf die Flüchtlinge auszuüben, dass sie in andere Länder ausreisen. Sie werden in Flugzeuge gesetzt und praktisch zu Staatenlosen ohne Pässe gemacht, werden also ausgeflogen und landen dann wie „Nichtse“ in Gefängnissen etwa in Ruanda oder Uganda. Es war ja die von Nazis verfolgte Jüdin Hannah Arendt, die das grausame Schicksal der staatenlosen jüdischen Flüchtlinge etwa in den USA beklagte. Nun setzt Israel diese Politik fort. Als Belohung für die Aufnahme gestrandeter staatenloser eriträischer Flüchtlinge belohnt Israel die aufnehmenden Staaten. “Nach Informationen von Militärangehörigen beider Armeen profitieren Ruanda und Uganda seither von Trainings ihre Spezialeinheiten an Drohnen und hoch auflösenden Kameras aus Israel… Der Waffenexport nach Afrika hat 2014 um 40 Prozent zugenommen“ (98). Es gibt also einen Handel angesichts der abgeschobenen Flüchtlinge. Menschen werden zur Ware. Dies ist nur ein Beispiel für die globale Tendenz, dass zu den großen Gewinnern in der „Flüchtlingskrise“ auch die westlichen Waffenhändler sind. Netanjahu, der Präsident, hat übrigens die Abschiebungen aus Israel keineswegs bestritten, als er so scheinbar gutmütig erklärte: “Diese Menschen sind arbeit suchende Migranten. Es sind gesunde junge Männer, das sind keine Flüchtlinge“ (99). Jetzt sitzen diese jungen Männer schutzlos in Gefängnissen fremder Staaten. Dabei sind die meisten Flüchtlinge in Israel keineswegs die immer angeblich bedrohlichen Muslime, sondern Christen aus Eritrea. Aber selbst diese will der jüdische Staat nicht aufnehmen oder gar „integrieren“…

7. Das 3. Kapitel in dem Buch widmet sich dem Menschenhandel als dem Milliardengeschäft, es handelt also vom Schlepperwesen. Aber indem die europäische Politik die kriminellen Schlepper ausrotten will, möchte sie vor allem auch die Flüchtlinge von Europa fernhalten. Auf den Gedanken, eine humane Form der Einreise von Bedrohten und Schutzsuchenden zu gestalten, kommen nur wenige Politiker.

8. Sehr lesenswert sind die Hinweise zu der im ganzen gesehen durchaus humanen Flüchtlingspolitik des bettelarmen Staates UGANDA (S. 116 ff). „Das kleine Land in Ostafrika hat eine der weltweit liberalsten Flüchtlingspolitiken. Rund 1,3 Millionen Menschen suchen derzeit Schutz in Uganda…Mittlerweile steht in dem kleinen Land, das selbst nur 39 Millionen Einwohner zählt, das größte Flüchtlingslager der Welt“ (116). Das Bruttonationaleinkommen in Uganda betrug 2014 tatsächlich nur 660 US Dollar, zum Vergleich: Deutschland hatte 2014 ein Bruttonationaleinkommen von 47.640 US Dollar. Das „bettelarme“ Deutschland aber ist total überfordert…

9. Besonders perfide ist die europäische Flüchtlingsabwehr in der Zusammenarbeit mit dem Wüstenstaat Niger: Dort hat die EU usw. Militär und Polizei technisch so gut ausgestattet, dass die Flüchtlingsbusse von Agadez aus auf den eher befestigten Hauptstraßen abgefangen werden. Aus Angst, dass der Weg durch die Wüste nach Libyen also versperrt ist, nutzen die Schlepper – Busse nun Nebenwege, die oft keine Wasserstellen kennen. Etliche Menschen sind in der Wüste verdurstet wegen der durch Europa forcierten Kontrolle der Hauptstraße. Merkel war im Oktober 2016 in dem ultraarmen Staat Niger und „hatte dem Land umfassende Hilfe gegen illegale Migration angekündigt“ (132). Die Autoren verwenden in dem Zusammenhang wieder ihren Begriff „Türsteher“, der an die Willkür etwa der Wächter vor den Berliner Nacht – Clubs erinnert: Dort entscheiden die Türsteher, wer nach langem Warten den Club betreten darf und wer abgewiesen wird. Die Türsteher in Afrika haben hingegen die Aufgabe, prinzipiell alle Bewerber abzuwehren und zwar mit Gewalt. „Albert Chaibou, Journalist aus Niger und Gründer einer Migranten-Notruf-Hotline“ klagt: Unser Land ist im Dienst Europas zum Friedhof verkommen“ (133).

Die weiteren Kapitel präsentieren die Härte, mit der FRONTEX durchgreift, sehr traurig zu lesen: “Das Mittelmeer: Sterben, wo andere Urlaub machen“ (207 ff).

10. Das Buch muss von jedem Leser gründlich durchgearbeitet werden. Ein Studienbuch für Gesprächskreise! Sehr gut gelungen ist das „Faszit: Europas Träume, Afrikas Träume“ (251 bis 262). Dieses Schlusskapitel könnte auch am Anfang gelesen werden, zur Einstimmung, es allein schon lohnt aufgrund der treffenden Zusammenfassung den Kauf dieses Buches. „Einem Land wie Niger, wo Menschen verhungern, Kinder chronisch unterernährt sind und nicht zur Schule gehen, einen Hightech-Zaun (gegen Flüchtlinge) zu schenken, das ist so, als ob man einem nackten frierenden Kind nur eine Mütze schenkt“ (260). Es ist eine zynische europäische Politik, die einzig das absolut egoistische und absolut nationalistische und damit kriegerische Interesse hat, keine Fremden, keine Flüchtlinge, erst recht keine Afrikaner, nach Europa zu lassen; diese oft von so genannten Christen und so genannten Christ-Sozialen oder Sozial -Demokraten gestaltete Politik bedient sich der ärmsten Staaten und deren oft korrupter Herrscher bzw. Diktatoren und überschüttet diese mit Geld, bloß damit Europa als die hübsche WohlstandsInsel und Idylle bleiben kann. Die Autoren bringen es noch einmal auf den Punkt: “Von geschützten Grenzen und der Öffnung der Märkte träumt die EU. Von geschützten Märkten und offenen Grenzen träumt Afrika. Solange dieses Interessendilemma nicht gelöst ist, wird es keine echte Partnerschaft geben“ (261). Und keinen Frieden.

Der Kampf gegen Terroristen fixiert das gesamte europäische Denken und lässt es erstarren. Die Versagen in der europäischen Terroristen-Abwehr werden kaum eingestanden, statt dessen wird der pauschale Verdacht gegen „die“ Afrikaner ungestüm verbreitet…

Das empfehlenswerte Buch: Christian Jakob und Simone Schlindwein, Diktatoren als Türsteher Europas. Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert. Erschienen im Ch. Links Verlag, Berlin 2018, 317 Seiten, 18 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Ein Hinweis zum Schluss:

Als religionsphilosophischer Salon gilt unser Interesse der Gegenwart der Religion und Kirchen im politischen Zusammenhang. In dem Buch ist von Kirchen und Religionen auch als Förderern der Menschenrechte in Afrika erstaunlich sehr wenig die Rede. Ich könnte mir wünschen, dass dieses Thema einmal bei einer weiteren Auflage erwähnt wird. Tatsache ist ja, dass die allermeisten helfenden NGOs säkularen Ursprungs sind. Haben sich religiöse Organisationen aus dem Zusammenhang verabschiedet. Sind die Bischöfe nur noch Sonntagsredner? Konkret: Was sagen und tun (die zahlenmäßig schwachen) christlichen Kreise und muslimischen Organisation etwa heute in Niger für oder gegen die neue „Türsteher-Funktion“ ihres Staates?

„Fragen geben Halt im Leben“: Zur Theologie der Remonstranten

Das Jahresthema der protestantischen Remonstranten Kirche in Holland.

Ein Hinweis zum neuen Buch von Koen Holtzapffel (Rotterdam) mit dem Titel „Houvast“ („Halt“)

Von Christian Modehn

 

Die Bibel ist kein Kompendium, in dem endgültige Antworten zu finden sind. Diese Erkenntnis breitet der Remonstranten – Theologe und Pastor in Rotterdam Koen Holtzapffel in seinem neuen Buch aus, es hat den Titel „Houvast aan de vraagzijde van het bestaan“ („Haltfinden an der Fragedimension der Existenz“). „Ich nehme Abstand von dem Vorschlag („suggestie“), dass die gläubigen Menschen sozusagen auf der Antwortseite des Daseins stehen und die Nicht-Gläubigen auf der Seite des Fragens… Das will ich überwinden und sowieso den bekannten Unterschied zwischen Glauben und Unglauben“.

Diese hierzulande hoch interessante Position muss erläutert werden: Der christliche Glaube ist keine Bindung des einzelnen an vorgegebene Dogmen aus alten Zeiten. Die Kirchengemeinden (der freisinnigen, theologisch liberalen) Remonstranten sind Orte, in denen der einzelne seinen eigenen Glauben entdecken, als einen solchen leben kann … und mit anderen besprechen und vertiefen kann.

Die leitende Maxime heißt: Wer Halt sucht in seinem Leben, sollte sich nicht festklammern an Ideologien und offizielle Wahrheiten. Er (oder sie) sollte das Fragen aushalten, die eigenen Fragen! Natürlich zeigen sich dann Antworten. Aber diese rufen nur wieder weitere Fragen hervor: Das ist das Leben des Geistes. Und diese Lebendigkeit des Geistes ist sicher das einzige, was Halt gibt und fest ist in unserem Leben: Getragen sein, belebt sein, von der ewigen Fragebewegung des Geistes und von den immer relativen Antworten, die zu neuen, aber wieder nur vorläufigen Antworten leiten: Das ist die Größe des Menschen, auch des religiösen Menschen.

Klar ist auch, dass ein Leben in dieser Fragebewegung nicht immer bequem ist. Deswegen klammern sich so viele voller Angst dann doch an vorläufige Antworten und erklären das Vorläufige zum Endgültigen. Und dann beginnt – fundamentalistisch – der Streit um die einzige Wahrheit, diese kann nur jemand behaupten, der irgendwann in der Fragebewegung stehen und stecken bleibt. Und mit der einzigen Wahrheit (in Religionen, Nationen, Kulturen usw.) zieht die kriegerische Haltung in die Gesellschaft ein. Das erleben wir heute global. Das heißt ja nicht, dass es einige wenige universale humane Antworten der Vernunft gibt, die für alle Menschen und alle Staaten gelten: Dies sind die für alle Menschen geltenden Menschenrechte, aber auch diese Menschenrechte entwickeln sich durch Fragebewegungen stets weiter. Der Kategorische Imperativ von Kant ja nicht entdeckt, sondern nur formuliert, gehört auch dazu. 

Die Remonstranten sind wahrscheinlich die einzige christliche Kirche, in der das Fragen heilig ist; weil das Fragen das Leben des Geistes (und der Seele) selbst ist und der Geist (und die Seele) nun heilig sind; was bedeutet, dass das Leben als leibliches, aber immer doch notwendigerweise Geist geprägtes leibliches und materielles Leben auch heilig ist.  

Es ist für mich eine gute Entscheidung, dass die Remonstranten in Holland das für sie immer übliche Jahresthema diesmal, für 2018, der Frage als einem – auch spirituellen, religiösen Vollzug – alle Aufmerksamkeit widmen. Bei dem „Tag der Beratung“ miteinander („Beraadsdag“) am 10. März 2018 in Hengelo geht es auch um das Thema: Wie kann das Fragen tatsächlich Halt, vielleicht einen ersehnten letzten und tiefsten Halt bieten? Es ist wohl so, meint Koen Holtzapffel, dass zu der Fragebewegung auch ein Vertrauen gehört, ein Vertrauen, dass in der Fragebewegung ein möglicher Sinn sich für mich erschließen kann. Dieser tragende Lebenssinn, dieser Halt, erschließt sich, so der Autor,  gerade dann, wenn alle Bilder Gottes, die man als den Lebenssinn deutete, verschwinden und nach diesem (persönlichen) „Bildersturm“, wie Holtzapffel sagt (S. 120) eigentlich nur Leere bleibt. „Man kann es Leere nennen, aber dann vielleicht als eine wohlltuende Leere, als Flüstern einer sanften Brise, die man genießen kann als Schönheit einer leeren Landschaft“ (ebd.) Der Autor zitiert dann zustimmend den Philosophen Cornelis Verhoeven (1928 – 2001): „Gerade in der Frage besteht Gott und nirgendwo anders. Gottes Existenz wird in der Frage förmlich festgehalten“. Und Koen Holtzapffel beschließt sein sehr inspirierendes Buch: „Leere ist leer, aber sie schafft auch einen mystischen Raum, ohne einen vorstellbaren und voraussagbaren Gott.  

Aber ein Gott, von dem man nie etwas bemerkt, wird irrelevant. Bisweilen gibt sich mein Gott doch gründlich zu erkennen, lässt sich verstehen mit Herz und Seele. In Liebe und Licht, in Friede und Anteilnahme für einander. Auch in dem Menschen Jesus gibt er sich zu erkennen. Wo Nächstenliebe und (erotische) Liebe ist, da ist Gott: Ubi caritas et amor, Deus ibi est“ (S. 122)

In einem Beitrag für die Monatszeitschrift ADREM  vom Juni 2017 sagt Holtzapffel: „Ich hoffe, das unsere Gemeinden Orte sind, wo über Lebensfragen nachgedacht wird. Als Pastor (Prediger) habe ich keine direkten Antworten, aber ich sehe mich als jemanden, der den Frageprozess beobachtet. Und ich sehe mich als jemanden, der die Lebensfrage hinter den Fragen entdecken kann und auch mit der Tradition verbindet… Aus der großen soziologischen Untersuchung „God in Nederland“ geht jetzt hervor, dass sehr viele Menschen meinen, dass die Sinnfragen nicht mehr in der Kirche behandelt werden. Bei uns Remonstranten ist das anders, da haben diese Fragen ihren Raum“.   Und er nennt über die Remonstranten Gemeinden hinaus in dem Buch mehrere, in ganz Holland bekannte Beispiele: Etwa das Kulturzentrum de  „Rode Hoed“  in Amsterdam oder das „Uytenbogaertcentrum“ in Den Haag, das der Theologe und Philosoph Johan Goud aufgebaut hat.

Houvast. Aan de vraagzijde van het bestaan”. Von Koen Holtzapffel. 144 Seiten. ISBN 978 90 211 4491 7). Dieses Buch ist im August 2017 erschienen im Verlag Meinema, Utrecht.

 

 

 

 

 

Das Heilige ist umgezogen: Zur Situation der Kirchen und des Glaubens in den Niederlanden heute

Zur Situation der Kirchen und des Glaubens in den Niederlanden heute

Ein Hinweis von Christian Modehn

Ich denke manchmal, die religiöse Situation in Holland entspricht auch der dortigen Landschaft, den weiten, flachen Ebenen, auf denen sich Erde, Wolken und Himmel berühren und manchmal verschmelzen, wenn denn der Blick freigegeben ist und nicht – wie in der Randstad heute so oft – von Häusern und Fabriken, Autobahnen und Schnellzügen verstellt wird  Es gibt aber, von alters her möchte ich sagen, in den Niederlanden eine besondere Transzendenz, die man die horizontale Transzendenz nennen könnte. Und das macht die Religionsgeschichte der Niederlande auch für religionsphilosophisch Interessierte so wichtig: In Holland ist der religiöse Blick nicht zuerst nach oben, in die Höhen möglicher Hierarchien gerichtet, sondern in die Weite der Erde, in der es um den Menschen geht und die individuell so vielfältigen Formen des Transzendierens mitten im Leben, in der Menschlichkeit, der Kunst, der Stille. Es ist damit das klare Licht, das die Niederländer (und ihre Freundelieben), die hellen Fenster in den Kathedralen und Kirchen, da ist nichts schummrig, vom Weihrauch verdüstert…

Dieses Transzendieren in die Weite kann eine geistige Bewegung sein, die eher selten bei einem transzendenten Ziel, etwa beim Göttlichen oder bei Gott, ankommt. Wer wird diese Perspektiven nicht entdecken, schon in den vielen wunderbaren Gemälden aus dem 17. und 18. Jahrhundert? Sie präsentieren leibhaftige Individuen (!)  mit einer eigenen Geschichte, aber normale Menschen, sehr selten Heilige. Es ist die Freude am Menschen, am Mitmenschen, die diese Transzendenz auszeichnet.

Daran muss ich denken, wenn ich die neueste Statistik zur Kirchenbindung der Niederländer lese: Da zeigt sich wieder ein Abschied von der vertikalen Transzendenz: Konkret: Im Jahre 2015 waren noch 11,7 Prozent aller Holländer Mitglieder der römisch –katholischen Kirche. Zum Vergleich: Im Jahre 1960 waren es 35 Prozent, im Jahr 2006 noch 16 Prozent.

Heute sind noch 8,6 Prozent Mitglieder der Protestantischen Kirche der Niederlande (PKN genannt, ein Zusammenschluss großer reformierter, calvinistischer Kirchen und der Lutheraner). Zum Vergleich: 1966 waren es 25 Prozent und 2006 noch 14 Prozent. Gewachsen bzw. zahlenmäßig stabil geblieben sind sehr kleine evangelische Kirchen, streng calvinistische und evangelikal – pfingstlerische Gemeinden. Dieser Exodus aus den Kirchen hat mindestens auch soziale Nachteile: Orte der Kommunikation verschwinden, gerade die Gezelligheid ist Niederländern so wichtig.  Gemeinden sind, das sagte doch der Theologe Schleiermacher, sollten Orte des geselligen Miteinanders sein, in aller Vielfalt natürlich, nicht nur als Treffpunkte biederer Kleinbürgerlichkeit, wie in Deutschland jetzt….

Der Philosoph Taede A. Smedes hat in seinem neuesten Buch „God iets of niets“ („Gott etwas oder nichts“) diesen Weg der einst großen Kirchen in die Minderheiten-Positionen bewertet: „Besonders junge Menschen haben nichts mehr mit der Römisch – katholischen und der PKN Kirche zu tun. Die Kirchen haben damit auch definitiv keine Bedeutung mehr in unserem Zusammenleben“ (S. 49). Aber das heißt ja nicht, dass damit jegliches spirituelle Interesse verloren gegangen ist. Aber die dogmatisch starren Kirchen mit ihrer gewissen amtlichen Bürokratie wirken auf heutige Niederländer einfach befremdlich, man erwartet von diesen Kirchen offenbar eher sehr selten noch Orientierung im Leben. Beim Katholizismus spielt die konservative Wende (vom polnischen Papst immer unterstützt) durch reaktionäre Bischöfe (Gijsen und co) seit 1971 sicher eine große Rolle, dass so viele Holländer der römischen Kirche den Rücken gekehrt haben. Soziologen sprechen also bereits von einem „nach – christlichen Land“, Taede A. Smedes nennt diese Bewertung „revolutionär“ (S. 50). Auch die Leiter der neuesten Untersuchung „God in Nederland“ nennen diese Situation neu, als „ohne histroisches Vorbild“ („zonder precedent“).

Unter allen europäischen Ländern werden die Kirchen in den Niederlanden sicherlich am gründlichsten (und schon am längsten) von Religionssoziologen erforscht. Die umfassenden Studien „God in Nederland“ begannen 1966, seit der Zeit wird alle 10 Jahre ein ausführliches Ergebnis der repräsentativen Umfragen veröffentlicht, 2016 erschien wieder im Verlag Ten Have ( Utrecht) die neueste Studie, sozusagen zum 50 jährigen Jubiläum, diesmal auch mit Interviews mit Vertretern der unterschiedlichen Glaubensorientierungen. Es ist schade, dass dieser Band nicht ins Deutsche übersetzt wurde. So wie es ein ziemlicher Skandal ist, dass sich keine Akademie der Kirchen in Deutschland mit der Entwicklung in Holland befasst: Was da passiert, passiert bald auch hier…

Der Trend hat sich fortgesetzt: Die Mitglieder der Kirchen verlassen sozusagen scharenweise ihre Kirchengemeinden, indem sie einfach den jährlich geforderten freiwilligen Kirchenbeitrag nicht mehr zahlen. Sie gelten damit in der Sprache der Religionssoziologen als „außerkirchlich“, und diese Beschreibung der spirituellen Befindlichkeit bedeutet in Holland eben nicht automatisch „atheistisch“ oder ungläubig. Zur Gruppe der „Außerkirchlichen“ gehören „ungebunden gläubige“ und auch „ungebunden spirituelle“. Allerdings verstehen sich 41 % der „Außerkirchlichen“ als „säkular“, was einer atheistischen Orientierung schon nahe kommt. Aber der Kirchenferne ist in Holland eben anders als in der ehemaligen DDR oder in Tschechien!

Bemerkenswert ist auch, wenn man die Glaubensinhalte der Kirchenmitglieder betrachtet: Als Theisten, also als Gläubige an einen persönlichen Gott, bezeichnen sich 51 Prozent der Mitglieder der vereinigten protestantischen Kirche PKN, 34 % sagen, sie würden an „etwas Höheres“ glauben. Allerdings nennen sich nur 17 Prozent der Katholiken theistisch, hingegen sagen 46 %, sie würden nur an eine höhere Macht oder „etwas über uns“ glauben, 30 Prozent der Katholiken nennen sich Agnostiker. Es ist überraschend, dass sogar 7 Prozent der Katholiken, also der zahlenden Mitglieder der römischen Kirche in Holland, sich „Atheisten“ nennen (vgl. dazu Smedes, S. 51). Der Kommentar von Taede Smedes, (ein angesehener Religionsphilosoph übrigens, der auch lange Zeit im Studienzentrum des Dominikanerordens in Holland mitarbeitete) ist sehr klar:“ Heute scheint in den Niederlanden der theistische Gottesglaube seine längste Zeit schon hinter sich zu haben. In 50 Jahren ist der Theismus immer marginaler geworden, auch unter Gläubigen“ (S. 62).

Zu den Teilnehmern am Sonntagsgottesdienst unter Katholiken: 2003 nahmen bei 4,5 Millionen Katholiken 385.000 Gläubige an der Sonntagsmesse teil; 2015 sind es bei 3,88 Millionen Katholiken noch 186.000, also etwa 5 Prozent sind regelmäßige Teilnehmer der Messe. Diese sehr geringe Anzahl so genannter „praktizierender“ Katholiken hat sicher einen Grund: Die Zahl der Pfarrgemeinden wird – wie in Deutschland und überall in Europa – immer mehr reduziert, aus dem einfachen Grund einer klerikalen Kiche: es fehlen die Priester, ohne die in römischer Sicht einfach „nichts Wesentliche“ geht. Also: 2003 gab es in Holland noch 1.525 Pfarreien, 2015 waren nur noch 726, also nur noch die Hälfte. (Quelle: http://www.ru.nl/kaski/onderzoek/cijfers-rooms/virtuele_map/kerkgebouwen_en/ ). Meine These ist: Der absolute Klerikalismus der römischen Kirche verursacht den Exodus der  -nachdenklichen – Gläubigen aus dieser Kirche. Ein Ende dieses Exodus ist in Holland und in Europa nicht absehbar, trotz aller aus Indien oder Nigeria eingeflogener Priester nach Holland oder Deutschland…Diese sind wie im Mittelalter die Leutpriester, die Herren, die die Messe lesen können, jetzt auf Holländisch, was kaum ein Holländer versteht…

Die Abwendung der Holländer von den klassischen Gottesbildern, sehr persönlicher Art und oft in einer schlichten Lehre verbreitet, ist ja auch theologisch und religionsphilosophisch gesehen von Vorteil. Die Menschen in den Kirchen haben sich spirituell weiterentwickelt, nur die kirchlichen Lehren und Dogmen sind in der Entwicklung nicht mit gegangen, so kam es zur unüberbrückbaren Differenz von persönlichem Glauben und offizieller Lehre. Nebenbei: Nur die protestantische Kirche der Remonstranten ist mit der religiösen Entwicklung der Menschen mit gegangen, sie sagt ausdrücklich „Der Glaube beginnt bei dir“ und sie respektiert diese persönliche Glaubensentwicklung … bis dahin, dass sie als Kirche selbst die Bindung an offizielle Dogmen eher gering schätzt und auf das wesentliche reduziert hat.

Viele “Außer-Kirchliche” haben auch keine esoterische Überzeugungen wie Astrologie oder new-age, das war noch vor 20 Jahren stärker. Heute verstehen sich diese Menschen vor allem als Fragende und Zweifler, Suchende, unterwegs zu einem tragenden Lebenssinn. Aber immer unter der Voraussetzung: Spiritualität und Religion bestimme ich! Religion ist absolut Privatsache. Die religiöse Orientierung ist zudem fließend geworden. Es gibt Katholiken, die sich gleichzeitig als Buddhisten verstehen…

Aufgeschlossene christliche Theologen können den Abschied von einer oberflächlichen Kirchen – Bindung sogar gut verstehen. Sie wissen: Nur die freie persönliche Entscheidung für Gott und eine Kirchengemeinde ist wertvoll. Vor allem evangelischen Gemeinden lassen sich nicht entmutigen und gestalten in neuer Form und mit neuen Inhalten kirchliches Leben. So wird die protestantische Kirche der Remonstranten in den kommenden Wochen einige Gemeinden ausdrücklich als offener Ort präsentieren und Menschen einladen, die am Zustand dieser Welt zweifeln und verzweifeln und gemeinsam, in kleinen Gruppen, nach einem Sinn im Leben fragen. Typisch für den religiösen Umbruch in Holland ist auch, dass regelmäßig ein Monat der Spiritualität und auch ein Monat der Philosophie veranstaltet werden. Ein großer einflussreicher Fernsehsender nennt sich Evangelischer Rundfunk. Fernsehbeiträge etwa zur Leidensgeschichte Jesu erleben am Gründonnerstag einen absoluten Rekord der Einschaltquoten. Pilgerfahrten werden immer beliebter, die Gastfreundschaft in den wenigen verbliebenen Klöstern wird gern angenommen. Das Verschwinden der Klöster ist schon vom Kommunikativen und Spirituellen her betrachtet ein großer Verlust: In 20 Jahren wird es vielleicht noch fünf Klöster geben. Die Orden sterben aus, nur wenige sind in der Lage, interessierte Laien mit der Fortführung der einst (klerikal bestimmten) Traditionen zu beauftragen. Auch diese Entwicklung wird in Holland genau studiert und auch veröffentlicht, etwa in dem religionssoziologischen Studienzentrum KASKI an der Radbout Universität in Nijmegen: http://www.ru.nl/kaski/onderzoek/cijfers-rooms/

Man könnte sagen: Das Heilige ist heute in Holland sozusagen umgezogen. Gott wird auch in der Kultur, in der Kunst, der Musik, der Natur gesucht. Ein Benediktinerpater sagte mir: „Wer sich Atheist nennt, stellt oft die besten religiösen Fragen“.

Wichtige Literaturhinweise:

„God in Nederland“. Herausgegeben von Ton Bernts und Joantine Berghuijs. Ten Have Uitgeverij, Utrecht, 2016, 222 Seiten, 20 Euro.

Taede A. Smedes, „God iets of Niets“. (Gott – Etwas oder Nichts). De postseculiere maatschappij tussen Geloof en ongeloof. 2. Auflage 2016, Amsterdam University Press, 312 Seiten, 19,95 Euro.

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