Freundschaft – eine Tugend oder eine “Fügung des Himmels” (Montaigne) ?

Freundschaft – eine Tugend oder „eine Fügung des Himmels“ (Montaigne) (1)

Hinweise zu einer Lebensform

Von Christian Modehn

– Diese Überlegungen gehören zur Vorbereitung für einen privaten Gesprächskreis zum Thema Freundschaft im Dezember 2014. –

Es gibt auch heute, so hören wir und lesen wir, offenbar viele Beziehungen, die sich Freundschaft nennen. Wir leben also gar nicht in einer anonymen Gesellschaft der Einsamen, sondern in einer Welt der Freunde? Oder will man glänzen, wenn man eine halbwegs „berühmte“ Person öffentlich seinen Freund, seine Freundin, nennt. Viele eher flüchtige „Bekannte“ werden plötzlich, wenn es denn zu etwas nützt, Freunde genannt. „Amigo“ war und ist ja in gewissen politischen Kreisen, auch in Deutschland, ein gängiger Begriff. Der Amigo ist der Bundesgenosse in einem System wechselseitiger Bereicherung. Sind etwa bestimmte Lobbyisten die neuen Amigos? Also die charmanten und so furchtbar freundlichen versteckten Propagandisten und Betrüger? In der romanischen Sprachwelt wird man auch als Unbekannter schnell als „Cher ami“ angeschrieben. Auch die obersten Mafia-Bosse nennen sich nicht nur Brüder, sondern tatsächlich Freunde. Freunde im gemeinsamen Verbrechen.

Aber, wo sind die wahren Freunde? Gibt es sie, diese Menschen, denen ich mich vorbehaltlos anvertrauen kann, die mich stützen und die ich stütze, fraglos und selbstverständlich? Gibt es sie, diese Menschen, mit denen man das Leben teilt, die das ethische und spirituelle Wachstum für einander fördern? Menschen, mit denen man das Angenehme gern erlebt, Menschen, auf die man sich freut und die ich kritisiere und die mich kritisieren, allein, damit wir weiterkommen auf dem Weg menschlichen Reifens? Man lese einmal die Bücher 8 und 9 in der „Nikomachischen Ethik“ von Aristoteles (384-322 v.Chr.), also die Kapitel über die „wahren Freundschaft“. Da werden die genannten Aspekte von Freundschaft weiter differenziert entwickelt. Das gemeinsame Leben in der Nähe wird dabei als besonders wichtig beschrieben, in der nahen Verbundenheit mit dem Freund lernt man voneinander, man wird mit einander vertraug, ja: man wird einander ähnlich…

Gibt es heute noch (wahre) Freunde und Freundinnen? Nicht solche Personen, die als Freunde sozusagen aufoktroyiert werden in religiösen Gemeinden, Sekten oder politischen Gruppen, in denen die Führer das Sagen haben und aus allen Individuen mit deren eigenem Profil sozusagen „maßgeschneiderte“, flexibel agierende und gehorchende „Freunde“ (Objekte) machen?

Oder sind die so genannten „Bekannten“, wie wir jene 100 oder oft nur 10 Leute nennen, die wir irgendwie auf der Straße mal wieder- erkennen, deren Namen man vielleicht weiß oder ahnt, mit denen man den langweiligen small talk pflegt, sind diese Bekannten (manche sprechen gar von „befreundeten Bekannten“) gar die neuen Freunde? Wie tief ist das Verständnis von „wahrer“ Freundschaft gesunken, wenn man flüchtige Bekanntschaften nun wie Freunde einschätzt?

Die Beziehung zu Bekannten schließt aber auch die Möglichkeit ein, dass aus guten Bekannten mit viel Geduld und Sympathie auch gute Freunde werden können. Aber eben „können“, wenn der Aufbau einer Freundschaft „gelingt“, ist ein mühsamer Weg erst einmal abgeschlossen und der mühsame Weg gemeinsamer Freundschaft kann beginnen. Voraussetzung aller Freundschaft ist – auch unter Heterosexuellen –stets eine erotische Dimension, eine auch ästhetische Begeisterung für die individuelle Ausstrahlung des /der anderen. Ohne Erotik (Erotik wird hier von Sexualität – in der Liebesbeziehung – unterschieden) keine Freundschaft.

Philosophie und der lebendige Vollzug der Philosophie, also das eigene Philosophieren, enthält in der Selbstbeschreibung und dem Selbstverständnis, wie sonst kaum eine andere kulturelle Praxis, das Wort Philos, Freund. Insofern ist es nahe liegend, dass Philosophie das Thema Freundschaft zu einem Thema, wenn nicht zu einem Schwerpunkt machen sollte. Trotz etlicher, aber eher entlegener philosophischer Studien haben wir den Eindruck, dass Freundschaft heute leider nicht im Mittelpunkt der akademischen Philosophie an der Universität steht. Liegt das daran, dass akademische Philosophie sehr viel Angst hat, möglicherweise als „Lebenshilfe“ zu erscheinen? Aber ist nicht Philosophie als Philosophieren immer elementar Lebenserhellung und damit Lebenshilfe? Die dreibändige „Enzyklopädie Philosophie“, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2010, hat zum Beispiel keinen eigenen lexikalischen Beitrag zum Thema Freundschaft! Auch das von uns immer wieder sehr empfohlene Buch „111 Tugenden, 111 Laster“ von Martin Seel (Fischer Verlag, 2011) enthält leider kein Stichwort zur Tugend Freundschaft, sondern nur den (aber auch sehr lesenwerten Beitrag !) zum Thema „Freundlichkeit“ (S. 18 f.) Wobei die gelebte Freundlichkeit gegenüber oft unbekannten Menschen recht wenig Verbindung hat zu dem, was die klassische Philosophie (etwa Aristoteles) unter Freundschaft verstand. In einer bloß freundlichen Welt muss nicht unbedingt Freundschaft entstehen. Das „Keep Smiling“ ist eine trainierte Haltung des Kommerz, nicht der Innerlichkeit.

Pierre Hadot, der große französische Philosoph, hat in seinem Beitrag „La figure du sage dans L Antiquité gréco-latine“ (2) darauf eindringlich hingewiesen, dass die Freundschaft (Hadot spricht wie Aristoteles auch von amour!) des Philosophen gegenüber der Weisheit (Sophia) immer ein Streben, ein Suchen, ein „Trachten … nach“ ist., niemals aber ein Besitz oder ein Verfügen über die Sophia! (vgl. S. 179, le philosophe, „qui aspire à la sagesse). Den „Zustand der Weisheit” wird auch der Weise niemals ganz erlangen.

Ohne jetzt dieses Thema zu vertiefen: Deutlich wird: Freundschaft, Befreundet sein (auch mit der Sophia) ist ein Prozess, ein Lebensweg, ein ausdauerndes gemeinsames Gehen auf einem gemeinsamen Weg, oft voller Mühe. Freundschaft ist keineswegs (nur) gemeinsames Vergnügen, Lust am Gespräch, an der Freude aneinander. Freundschaft ist mühsam. Auch wenn sie vielleicht weniger anstrengend ist als die natürliche Bindung an Verwandte oder die berufliche Verbindung mit Kollegen….Jedenfalls: Den perfekten Weisen, also den Philo-Sophen, der die ganze Fülle der Weisheit kennt, gibt es, so Pierre Hadot im Anschluss an Seneca, „une fois tous les cinq cents ans“ („nur einmal alle 500 Jahre“) (3). Wird es also jemals den perfekten Freund, die perfekte Freundin geben? Sicher nicht. Das auszuhalten, gemeinsam auszuhalten, ist wohl die „Kunst der Freundschaft“.

Auch Michel de Montaigne (1533-1592) denkt ähnlich (natürlich inspiriert von den griechisch-römischen Philosophen): Seine Freundschaft mit Etienne de la Boethie (Sarlat) (1530-1563) war das Schönste, was er erleben konnte. Diese Freundschaft nennt Montaigne eine „Fügung des Himmels“ (4): „Bei der ersten Begegnung , die zufällig auf einer großen städtischen Feier und Geselligkeit erfolgte, fühlten wir uns so zueinander hingezogen, ja so miteinander bekannt und verbunden, dass wir von Stund an ein Herz und eine Seele waren“. (Nebenbei es wird dringend empfohlen die großartige Schrift de la Boethies zu lesen, „Discours de la servitude volontaire(Vortrag über die freiwillige Knechtschaft) (9).

Montaigne ist sicher einer der am meisten zum Thema Freundschaft beachteten Philosophen, wobei seine zeitbezogenen Fehlurteile wohl entschuldbar sind, etwa, wenn er meint, Frauen seien zur Freundschaft nicht in der Lage (5). Interessanter ist: Montaigne hält hat die wahre Freundschaft für wichtiger und menschlicher als die Zweckgemeinschaft Ehe (6), also eine Vereinigung zur Zeugung von Kindern. Die wahre Freundschaft ist für ihn das Verschmelzen zweier Seelen, das Einswerden von zwei Personen, die grundsätzliche Bejahung des Freundes, die Freude darüber, dass er eben „er“ ist und so ist, wie er ist.

Montaigne wehrt sich ausdrücklich, seine tiefe Liebe zu Etienne de la Boethie, sein Einswerden mit ihm, wie er sagt, habe etwas mit Homosexualität zu tun: Montaigne spricht in dem Zusammenhang diskret von unzüchtiger Freundesliebe der Griechen (7). Wie weit diese Aussage eine „Schutzaussage“ ist in einer Zeit, die Homosexualität als Begriff nicht kannte und auch als Lebensform nicht respektierte, bleibt offen. In seinem Bericht über seine Rom-Reise berichtet Montaigne hingegen nicht ohne Sympathie etwa von der Segnung homosexueller Paare dort.

In jedem Fall ist für Montaigne eine tiefe Freundschaft eher eine absolute Seltenheit.

Anders dachten da einige Intellektuelle, Literaten, Künstler, Juristen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie trafen sich in dem Freundschaftstempel des Autors Johann Wilhelm Ludwig Gleim in Halberstadt (er lebte von 1719 bis 1803) (8)

Gleim wollte gegen die Kälte des bloßen Verstandes und gegen die kontrollierende, alles Individuelle vernichtende Macht der Fürsten die Freundschaft unbedingt pflegen. Freundschaft als Rettung in einer feindlichen Welt? Als Zuflucht? Warum nicht. Das ist etwas ganz Besonderes, auch wenn dieser Freundschaftskult in Halberstadt relativ unbekannt ist: es wird berichtet, dass sich die Freunde bei Begrüßung und Abschied sehr herzlich küssten! Und es ist wohl dem Zeitgeist geschuldet, wenn nur Männer im Freundschaftskreis willkommen waren. Gleim hat sogar für die verstorbenen Freunde kleine Gedenkstätten in seinem Garten geschaffen und in seinen Salons prachtvolle Porträts seiner Freunde gesammelt. Er war tief überzeugt, nach dem Tod wieder mit den verstorbenen Freunden vereint zu sein. Die waren alle niemals nur ein Herz und eine Seele, man stritt sich durchaus, man debattierte, suchte nach einer gemeinsamen Wahrheit, aber es kam nie zu einem Bruch. Und man schrieb einander und zwar sehr viel und sehr oft. Allein Gleim hat über 10.000 Briefe verfasst an über 500 verschiedene Korrespondenten. Diese Handschriften sind im Gleimhaus versammelt.

Insgesamt war seine geräumigen Wohnung mit mehreren Etagen für Gleim ein „Tempel der Freundschaft“ und er sah sich selbst als „Küster“ dieses Tempels.

Entscheidend und bleibend aktuell ist die Einsicht Gleims: Vertrauen ist Voraussetzung von gelingender Freundschaft! Über das Vertrauen zu sprechen und im Vertrauen zu leben, ist die Basis von Freundschaft. Die konkrete einzelne Freundschaft wird freilich nur gelingen, wenn die Freunde von einem Grundvertrauen in die Wirklichkeit des Lebens insgesamt geprägt sind.

Aktuell wird Freundschaft heute als eine Lebensform eingeschätzt, die wir herbeisehnen. Und zwar bezogen auf unsere Gesellschaft, in der die Menschen, die Arbeitskollegen, die Nachbarn usw. als Konkurrenten begegnen, als Wesen, die man eher übertreffen, wenn nicht auslöschen muss, will man selbst überleben und sich selbst als der Stärkere behaupten. Frank Schirrmacher, der verstorbene FAZ Redakteur, hat in seinem Buch EGO von einer Gesellschaft egoistischer Nutzenmaximierer gesprochen. Wenn von Beziehungen die Rede ist, dann spricht eher von Netzwerken, von Verbindungen also, die nach dem Gesetz ökonomischen Profits funktionieren. Man gibt etwas, schenkt etwas, berechnet aber, ob es sich lohnt und was man den „Einsatz“ mindestens auch zurückbekommt.

Vertrauen als Basis von Freundschaft meint: Es ist ein Risiko, Freundschaft einzugehen, Freundschaft zu pflegen. Vertrauen beginnt, wenn einer, eine, beginnt sich den anderen zu öffnen. Da ist nicht immer “Erfolg” garantiert. Man kann sich blamieren, man kann Widerstände und NEIN erleben. Freundschaft ist einen Tugend, die Stärke verlangt. Wer hat heute noch diese innnere Stärke?

Die entscheidende Frage könnte sein:  Wo können wir das Vertrauen grundsätzlicher Art finden, das so genannte Urvertrauen? Jenes Vertrauen, das uns leben lässt, immer weiter sinnvoll zum Leben ermuntert, auch wenn unsere (Suche nach)  Freundschaft scheitert?
Dabei kann man auf eine biblische Weisheit verweisen. Vielleicht sollten wir uns angewöhnen, wenn wir von Bibel sprechen, auch von biblischer Weisheit zu sprechen. Nicht alles in der Bibel ist Weisheit, vieles können wir beiseite legen. Aber manches bleibt Inspiration, bleibt Weisheit für alle Menschen. So heißt es etwa im Titus Brief im Neuen Testament: „Erschienen ist uns die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes“.

Noch wichtiger ist eine Aussage aus dem Johannes Evangelium, da werden Jesus von Nazareth, dem menschgewordenen Logos, treffende Worte in den Mund gelegt: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt, denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.” (Joh 15,15).

Das ist entscheidend: Das Verhältnis des Menschen zu Gott ist das Verhältnis zu einem Freund. Das ist natürlich ein Bild, und alles schlichte Übertragen dieses Bildes vom menschlichen Freund auf das absolute Geheimnis Gottes wäre falsch. Aber es wird eine Richtung des Verstehens gewiesen: Gott ist nicht nur freundlich, sondern ähnlich wie ein „wahrer Freund“. Andere Titelfür die unendliche Wirklichkeit, wie Herrscher, sind dann eher abzulehnen. Da ist meines Erachtens ein  Angebot an Sinn  enthalten: Mensch und Gott sind befreundet. Das heißt: Es gibt eigentlich keinen willkürlichen Herrscher-Gott mehr! Dieser „Herr“-Gott ist durch Jesus entthront, sagt die Gemeinde, die das Johannes Evangelium wichtig findet. Das ist auch die Kernaussage vieler christlicher Mystiker wie Meister Eckart.

Die Basis von Freundschaft wird hier angesprochen: In einem Urvertrauen leben, um anderen vertrauen zu können. Freundschaft lebt ja vom Vertrauen, vom Risiko des Sich- Öffnens, vom Miteinanderlebenauf der gleichen Höhe. Bei Freunden gibt es keine Hierarchie. Das gilt auch für jene, die religiös sich an eine Gotteserfahrung haltenn.

Das war wohl auch so bei den ersten Christengemeinden, die Apostelgeschichte berichtet, wie die ersten Christen „ein Herz und Seele“ waren, wie sie alles teilten, wie sie wahre Freunde waren. Das nannten manche zu Recht eine Form des Urkommunismus. Aber auch der hat nicht lange gelebt, weil der menschliche Egoismus diese schöne Glaubenshaltung erdrückte.

Zum Schluss ein Thema, das hier nur kurz angesprochen wird: Es ist die Freundschaft mit sich selbst! Von ihr spricht bereits Aristoteles. Ohne diese Freundschaft mit sich selbst kann kein Mensch leben, reif leben und authentisch sein. Die Freundschaft mit sich selbst beginnt mit der vorbehaltlosen Annahme und Akzeptanz seiner selbst.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Literaturverweise:

(1) Michel de Montaigne, Essais. Frankfurt M. 1998, übers. von Hans Stillett., Seite 101.

(2) zuerst erschienen 1991, jetzt erneut publiziert in seinem Buch (posthum) „Discours et Mode de vie Philosophique“ (Paris, 2014, S. 177 bis 198)

(3) ebd. S. 190.

(4) Michel de Montaigne, siehe (1), Seite 101.

(5) ebd. S. 100.

(6) ebd. 426

(7) ebd. S. 100.

(8) zum “Freundschaftstempel” in Halberstadt siehe etwa: „Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen“. Wallstein Verlag, 2004.

(9) De la Boethie fragt die Menschen, die sich staatlichen Obereren oder religiösen Herrschern, heute: auch Gurus, so gern unterordnen und im Gehorsam sich ihr individuelles Leben freiwillig rauben lassen: „Diesmal möchte ich nur erklären, wie es geschehen kann, dass so viele Menschen, so viele Dörfer, Städte und Völker manchesmal einen einzigen Tyrannen erdulden, der nicht mehr Macht hat, als sie ihm verleihen, der ihnen nur insoweit zu schaden vermag, als sie es zu dulden bereit sind, der ihnen nichts Übles zufügen könnte, wenn sie es nicht lieber erlitten, als sich ihm zu widersetzen.“ Seine Erklärung der Tyrannenherrschaft kleidet de la Boethie in eine rhetorische Frage: „Wie kommt er zur Macht über euch, wenn nicht durch euch selbst? Wie würde er wagen, euch zu verfolgen, wenn ihr nicht einverstanden wäret?

 

Der Übergang ist möglich: Die Transition-Bewegung führt in eine Gesellschaft jenseits des Wachstums

„Einfach. Jetzt. Machen“

Die ökologische Basis – Bewegung „Transition“

Ein Buchhinweis von Christian Modehn für den NDR, Blickpunkt Diesseits. Juli 2014

Der hier vorliegende Text entspricht weithin dem Sendebeitrag.

„Die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass es immer so weiter geht wie jetzt“. Mit diesen Worten hat der Philosoph Walter Benjamin schon vor mehr als 70 Jahren eine sich weithin ausbreitende Untergangsstimmung beschrieben. Eine Fortsetzung von Üblichkeiten und Gewohnheiten in der Ökologie, dem Klimaschutz, dem Sozialstaat, auf den Finanzmärkten usw. erleben heute viele Menschen als eine schleichende Katastrophe. Sie führt zu einem Punkt, wo „alles umkippt“ und „aus dem Ruder läuft“. Aber noch ist es zu früh, sich ins bloße Klagen und Jammern zu flüchten, meint eine internationale Basisbewegung: Sie nennt sich Transition, Übergang, Wechsel. Den Aufbuch in eine bessere und gerechtere Welt hält sie noch für möglich. Jetzt hat der Initiator von Transition, der Engländer Rob Hopkins, zusammen mit seinem deutschen Mitstreiter Gerd Wessling, ein neues Buch vorgelegt. Christian Modehn berichtet über eine Publikation die Mut macht, sie hat den Titel „Einfach. Jetzt. Machen!“

1. O TON, Gerd Wessling: Es gibt die Aufforderung: Tu was, engagiere dich, finde Lösungen für das, was dich vor Ort beschäftigt; finde die Leute um dich herum.

Gerd Wessling aus Bielefeld musste nicht lange warten, bis sich Menschen fanden, die ein besseres, ein nachhaltiges Leben in ihrer Stadt schaffen wollen: Einige gründen Lokale, in denen in gemütlicher Atmosphäre gratis Fahrräder repariert werden; andere kümmern sich um Verbesserungen im öffentlichen Nahverkehr, wieder andere pflegen Gemeinschaftsgärten. Oder sie lassen sich von den Gratis – Läden begeistern, in denen im Austausch der Waren gebrauchte Kleider, Bücher, Spielzeug verschenkt werden. Diese Bielefelder Gruppen wissen sich mit der Transition – Bewegung verbunden: Sie tritt in 40 Ländern weltweit gegen die Verschwendung von Ressourcen ein. In mehr als 1000 Städten vertreten, haben sich die „Transition Leute“ verpflichtet, nicht nur weniger CO2 Gifte zu erzeugen, sondern insgesamt einen nachhaltigen Lebensstil zu entwickeln. Das Buch „Einfach.Jetzt.Machen!“ beschreibt auch die Mentalität der Menschen, die in diesen Projekten aktiv sind, berichtet Gerd Wessling.

2. O TON, Gerd Wessling. Es gibt niemand in der Transitionwelt, der dir sagen wird, wie genau die Lösung auszusehen hat bei dir zu Hause. Also das hat ganz viel Selbstermächtigungsaspekt auch zu tun wieder zu sagen: Ja wir können jetzt alle weiter warten, bis irgendjemand für uns irgendwas entscheidet und uns zwingt oder vorschlägt, das umzusetzen. Oder wir fangen einfach mal an, das selber zu tun.

Die Transition Bewegung hat der britische Umweltaktivist Rob Hopkins gegründet. 1968 geboren, hatte er als Ökologe zahlreiche Lehraufträge an Universitäten inne; seine früheren Bücher fanden weltweit schon viel Beachtung. Nun hat er eine Sammlung von Reportagen vorgelegt, sie berichten, wie in England, Spanien, Argentinien, Japan und Deutschland und anderswo eine Welt im Übergang entsteht, von der Verschwendung zur Nachhaltigkeit, von der Profitgier zum Teilen. Viele tausend Menschen haben in diesen Transition – Projekten wieder Mut zum Leben gefunden, also durchaus eine hilfreiche Spiritualität entdeckt, berichtet Tom Hopkins, der selbst viele Sympathien für den Buddhismus hat.

3. O TON, Rob Hopkins: „Viele Menschen, die bei Transition mitmachen, erleben, wie sie wieder neue Hoffnung finden. Denn sie sehen: Das Wesentliche sind nicht irgendwelche Ideen, sondern man erlebt: Die Welt um uns herum beginnt sich schon zu verändern, weil die Gruppen aktiv sind. Das ist hoffnungsvoll. Man kann etwas verändern, diese Überzeugung hat so viel Kraft!“

Die Lektüre des Buches „Einfach. Jetzt. Machen!“ kann die Leserinnen und Leser tatsächlich begeistern. Denn deutlich wird: Alternativen zur bestehenden Konsumgesellschaft mit ihrer Ressourcenverschwendung und Umweltbelastung sind mehr als ein schöner Traum. Aber es sind nicht etwa nur leistungsorientierte Arbeitsgruppen, die sich für die Transition, den Wandel, einsetzen, sondern vor allem auch Gemeinschaften, in denen das Leben förmlich „Spaß macht“, berichtet Gerd Wessling:

4. O TON, Gerd Wessling: Letztendlich ist der Hauptfocus von Transition, würde ich sagen aus meiner Praxis, tatsächlich Kontakt unter Menschen, guter Kontakt unter Menschen, wertschätzender Kontakt unter Menschen, und auch Kontakt unter Menschen, die sich sonst nicht begegnen würden. Das allein, nach unseren Beobachtungen, löst oft schon mal viele Probleme auf, vermeidet so ein Lagerdenken, lässt Lagerdenken gar nicht entstehen und macht Spaß. Also: In jedem Projekt sollte man eigentlich mindestens ein Viertel bis ein Drittel der Zeit auf das Feiern und Würdigen verwenden des Projektes. Diese Energie versuchen eben auch in die Transitionwelt zu bringen.

Zum Buch: „Einfach. Jetzt. Machen! Wie wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen“. Von Rob Hopkins. Oekom Verlag München 2014. 189 Seiten. 12,95 €.

 

 

Ein Religionsphilosoph als Politiker. Erinnerung an Jean Jaurès

jeanjauresEin Religionsphilosoph als Politiker: Erinnerung an Jean Jaurès

Von Christian Modehn

Selbst deutsche Touristen kennen seinen Namen. In vielen Städten Frankreichs ist mindestens eine Straße oder eine Schule nach ihm benannt: Jean Jaurès. Manche Autoren nennen ihn den am meisten geliebten Politiker Frankreichs. Sarkozy, Chirac, Hollande und die anderen wirken dagegen klein und, Verzeihung, (auch intellektuell) recht begrenzt… Ob sich die französischen Sozialisten umfassend an ihn erinnern? Und von ihm lernen? Man hat nicht den Eindruck.

Die SPD erwähnt 2014 in einem Artikel anlässlich seiner Ermordung am 31. Juli 1914 lediglich mit einem Wort, nebenbei, dass Jaurès Philosoph gewesen sei. Aber die Bedeutung dieses Philosophen wird mit keinem Wort verdeutlicht. Man kann Jean Jaurès nur verstehen kann, wenn man ihn als (Religions-) Philosophen deutet.

Zum 100. Todestag dieses bedeutenden, weil religiös-humanistisch gesinnten sozialistischen französischen Politikers des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wurde weithin vor allem an dessen Leidenschaft für den Frieden erinnert: „Man macht nicht den Krieg, um den Krieg zu vermeiden.“. Jaurès versuchte noch kraft seiner Autorität mit aller Macht der Worte den Ersten Weltkrieg zu verhindern; am 31. Juli 1914 wurde er von einem verwirrten fanatischen Nationalisten ermordet. 1924 wurde sein Sarg ins Pantheon zu Paris aufgenommen.

Uns interessiert der – in Deutschland – bislang wenig beachtete Jaurés, der Philosoph und der „théologien laique“, wie der Spezialist Eric Vinson jetzt schreibt, also der „weltliche Theologe“, der niemals – auch als Sozialist – darauf verzichtete, die göttliche Wirklichkeit zu denken, zu benennen und zu verteidigen. Die göttliche Wirklichkeit war für den Philosophen Jaurès keine Illusion, sondern eine Wirklichkeit des Lebens. Das ist schon vom Ansatz her eine mutige Leistung, wenn man bedenkt, mit welchem Hass damals linke Politiker, Philosophen und Schriftsteller jegliche göttliche Wirklichkeit bekämpften.

Der Historiker Eric Vinson hat zusammen mit Sophie Viguier-Vinson jetzt das wichtige Buch vorgelegt „Jaurés le prophète: Mystique et politique d un combattant républicain“, erschienen 2014 bei Albin Michel, Paris. Dies ist sicher ein Standardwerk zum Thema und es wird helfen, ein umfassendes Bild dieses Sozialisten zu verbreiten.

1859 in einer katholischen, aber republikanisch gesinnten Familie im Tarn, Südfrankreich, geboren, studierte Jaurès in Paris Philosophie mit den entsprechenden akademischen Abschlüssen, er lehrte dieses Fach zuerst als Gymnasiallehrer in Albi, 1886 folgte die Berufung zum Universitätsprofessor in Toulouse. Aber schon 1885 begann die Zeit seines „militanten Kämpfens“ als Politiker, er wurde schließlich zur Stimme der Sozialisten Frankreichs.

Unbeachtet ist bis heute, dass für Jaurès das politische Handeln unmittelbar aus der philosophischen Konzeption der göttlichen Wirklichkeit entspringt. „Gott ist gleichzeitig immanent und transzendent“, „Gott ist das Ich in allen andern Ich“. Jaurès hat die Überzeugung, dass alles Weltliche, also auch jeglicher Mensch, in der göttlichen Wirklichkeit aufgehoben ist und von Gott nicht getrennt ist. Die Menschen sind absolut wertvoll, weil sie von der göttlichen Wirklichkeit nicht getrennt sind. Aber diese Überzeugung hat Jaurès niemals als Leitlinie gesehen für sein politisches Handeln auch als Gesetzgeber; er hat niemals eine klerikale, kirchenfreundliche und hierarchie-ergebene Gesetzgebung betrieben; seine ethische Haltung war gewiss von seiner religiösen Bindung geprägt, aber sie war sozusagen seine innere Gestaltungskraft (Spiritualität). Jaurès hat die Trennung von Kirchen und Staat entschieden unterstützt (siehe den Hinweis weiter unten).

Seine Philosophie ist nicht an die Dogmen der Kirche gebunden, sie ist ein freies religiöses Konzept, eine Haltung, die unter Intellektuellen Frankreichs damals, im 19. Jahrhundert, üblich war. In seiner Überzeugung, dass die getrennte und verfeindete Menschheit doch eins werden kann in einer universalen Brüderlichkeit, hat sich Jaurès die Kämpfe der Arbeiter unterstützt, er hat die Todesstrafe verurteilt, ist für die Rechte des schuldlos verurteilten Hauptmanns Alfred Dreyfus eingetreten. Dabei hatte sich Jaurès, der freie religiöse Denker, oft gegen die Herren der Kirchen zu wenden, wenn sie etwa die Todesstrafe verteidigten und kirchliche Weisungen im Staat durchsetzen wollten.

Wie oben angedeutet: Jaurès setzte sich für die Trennung der Kirchen vom Staat ein, was dann 1905 gesetzlich geregelt wurde. Der Staat ist weltlich, da haben die Kirchen nicht reinzureden, und die Kirchen sind religiöse Organisationen, die unabhängig von staatlichen Einflüssen existieren. Diese „laicité“, die nichts mit Laizismus zu tun hat, wie man in Deutschland oft behauptet, war die wichtigste Überzeugung des überzeugten Demokraten Jean Jaurès. Ohne diese laicité war Demokratie, war Republik, für ihn nicht denkbar.

Es ist kein Wunder, dass katholische Kreise, bis 1960 eigentlich in breiten Kreisen immer noch gegen die Republik und die laicité, diesen Religions-Philosophen und Politiker Jean Jaurès eher verdrängten und verachteten.

Léon Blum hat später bei Jaurès dessen Reinheit des Gedankens, die Lauterkeit gepriesen, ja auch dies: in gewisser Weise seine „weltliche Heiligkeit“. Auch Vinson nennt Jaurès einen „Archetypen“ einer „weltlichen Heiligkeit“: Integer, gütig, intelligent.

Man hat den Eindruck, die Auseinandersetzung über diesen Politiker, der als Religionsphilosoph lebte, hat erst richtig begonnen. Einen Politiker mit diesem geistigen Format kann im Europa von heute sehr lange suchen. Ob man ihn findet? Vaclav Havel ist schon etliche Jahre tot….

Vgl. auch: Jean Jaurès, Ecrits et discours théologico-politiques, Editions Vent Terral, 440 pages, 35€. Herausgegeben von Jordi Blanc.

Jenseits des Wachstums. Barbara Muraca bietet Perspektiven für ein „gutes Leben“. Eine Buchempfehlung

Jenseits des Wachstums. Barbara Muraca bietet grundlegende Informationen und Perspektiven für ein „gutes Leben“

Hinweise auf ein wichtiges Buch von Christian Modehn

Es geht um die Befreiung von einer krankhaften Abhängigkeit und lebensfeindlichen Bindung: „Wie bei einer Sucht, die tief in unsere kollektive Vorstellungswelt eingedrungen ist und alle Aspekte des Lebens durchdringt, müssen wir von der durchdringenden Wachstumslogik mühsam befreien“.

Mit diesen Worten beschreibt sehr treffend die Philosophin Barbara Muraca (Universität Jena, ab 2015 Oregon State University) in ihrem neuen Buch „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“ (Wagenbach Verlag 2014) die große Herausforderung von heute und für die nächsten Jahre. Der von der kapitalistischen „Ordnung“ heftig verbreitete Glaube an das ständig fortschreitende und immer währende ökonomische Wachstum der Wirtschaft ist ein Wahn. Das “Immer mehr haben wollen“ erreicht nur eine Minderheit der Weltbevölkerung, der große Rest bleibt im Elend, die Natur wird total zerstört. Wer es noch nicht wahrhaben will: Klar ist und evident: Der Glaube an das Wachstum hat katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt, auf die Menschen; auch die Seele leidet unter dieser von den Herren dieser Wirtschaft heilig gesprochenen Gier; es leiden die Gesellschaften, es leidet das friedliche Miteinander in der einen Welt der einen Menschheit. Wachstum in Permanenz erzeugt Krieg. Das wussten schon die weisen Lehrer des Zen-Buddhismus.

Debatten über „Wege aus dem Wachstumswahn“ werden etwa bei den verschiedenen internationalen „Degrowth-Konferenzen“ ausgetauscht, die sich der Überwindung der Wachstumsideologie widmen, wie jetzt im September 2014 in Leipzig. Diese Tagung mit mehr als 2000 TeilnehmerInnen hat Barbara Muraca mit-organisiert.

Das neue Buch von Barbara Muraca bietet eine konzentrierte und klare Übersicht zum Thema. Neue Informationen und neue Literaturhinweise werden den „Aktivisten“ in den verschiedenen wachstumskritischen Bewegungen geboten; vor allem aber sind die Informationen bestens geeignet, sehr viele Menschen für die Überwindung der Wachstumsgesellschaft „wach zu machen“. Insofern gehört das Buch in weiteste Kreise! Es gilt, sich von einem „stillschweigenden Grundkonsens“ unserer Gesellschaften zu befreien, der sich in den Köpfen festsetzen will als unumgängliche „Alternativlosigkeit“.

Barbara Muraca betont, dass die Suche nach einer politischen und ökonomischen Gestaltung ohne Wachstum durchaus mit dem Begriff Utopie zu denken ist. Dabei versteht sie Utopie als „Öffnung von Denk- und Handlungsräumen“, die aus der technokratischen Welt des „immer mehr Habens“ herausführen. „Das Reale ist kein unveränderlicher Block von immer gleichen vorgegebenen Strukturen, sondern offen und in stetigem Wandel“ (S. 16). Utopie ist also alles andere als ein traumhafter, illusorischer Begriff; er enthält die Kraft, das Gespür für das „Real – Mögliche“ zu entwickeln. Und „real möglich“ ist eine Gesellschaft ohne (tödliches) Wachstum. „Utopie bedeutet, dass Wandel durch menschliches Tun hervorgebracht werden kann“ (S. 21).

Für viele Leser in Deutschland wird es hoch interessant sein zu erfahren, dass die ersten Impulse für eine Welt – Gesellschaft ohne Wachstums, im Sinne der Abnahme oder Reduzierung von Wachstum, in Frankreich zu finden sind, in der „Dé-Croissance-Bewegung“, seit 1973 durch André Amar zur Diskussion gestellt. Dazu bietet das Buch hilfreiche Informationen, auch zu dem wegweisenden Philosophen Serge Latouche. Das Thema ist klar: Es geht um eine „gut durchdachte Schrumpfung (Décroissance) in den westlichen Industrieländern“. Inzwischen wird über dieses Konzept mit unterschiedlichen politischen Zielvorstellungen debattiert. Die äußerst rechtslastige Nouvelle Droite in Frankreich hat sich – etwa über ihren Meisterdenker Alain de Benoist – formal dieser Begrifflichkeit bemächtigt, sie preist nun die klassischen Werte des Verzichts, der Bescheidenheit, der altvertrauten Familie, der Bodenständigkeit, der nationalen Kultur, der westlichen Welt im Anschluß an eine Kritik der (globalen) Wachstumgesellschaft. So kann eine demokratische Bewegung auch noch missbraucht werden.  Auch die Kritik an der Wachstumsideologie durch den konservativen Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel (etwa sein Buch „Exit“) wird von Barbara Muraca einer Kritik unterzogen. Miegel setzt eindeutig nur auf Wertewandel „statt auf Umverteilung und gesellschaftlicher Transformation“ (S. 61).

Die demokratische und politische Bewegung gegen das Dogma des permanenten ökonomischen Wachstums ist inzwischen in Spanien, Italien und vielen anderen Ländern in vielen Basisinitiativen lebendig. Wichtig ist auch, dass die indianischen Völker etwa Ecuadors das (uralte) Konzept des Buen Vivir (gutes Leben) in den Mittelpunkt stellen und sogar für eine Verankerung dieses Konzepts in der Verfassung sorgen konnten (s.S. 46ff). Leider hat sich die ökonomische Macht des Nordens (USA, Europa) als stärker erwiesen: Ecuador hat jetzt große Flächen des Regenwaldes für Erdölbohrungen freigegeben. „Buen vivir“ ist in Lateinamerika leider noch mehr Projekt als Realität.

In Deutschland, so Muraca, hat vor allem der Ökonom Nico Paech „dafür georgt, dass der Begriff Postwachstum breit bekannt wurde“ (S. 35). Auch über sein Konzept wird in dem Buch debattiert.

Das Buch zeigt eindringlich: Die Suche nach einer praktischen Überwindung der Wachstumsgesellschaft ist nicht eine aktuelle Aufgabe neben vielen anderen. Die Überwindung des „Götzen Wachstum“ (S. 51) geht ins Grundlegende, „sie fordert eine radikale Veränderung der Machtstrukturen und wird nicht ohne heftige Auseinandersetzungen zu realisieren sein“ (s. 87). Das andere Leben ist bereits unter uns, wie es die Occupy – Bewegung, die „Indignados“ in Spanien und anderswo zeigen: Es gibt überall die Kooperativen, Tauschbörsen, Reparaturwerkstätten, gemeinsam verwaltete (Stadt-) Gärten usw.. „Solche Experimente sind Laboratorien für gesellschaftliche Veränderungen, durch die viele Menschen motiviert werden, für Demokratie zu kämpfen“ (S. 89).

Zum “Welttag der Philosophie” am 20. November 2014 wird Barbara Muraca über “Gut leben” im Kulturzentrum “Afrika-Haus” in Berlin, Bochumer Str. 25 sprechen. Beginn um 19 Uhr. Eine Veranstaltung zusammen mit dem Wagenbach Verlag. Weitere Hinweise folgen.In jedem Fall schon jetzt: Dazu herzliche Einladung!

Barbara Muraca, „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“. Wagenbach Verlag Berlin, August 2014, 94 Seiten. 9.90 Euro.

Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”. Ein Buchhinweis in PUBLIK-Forum

Kürzlich veröffentlichte die christliche und ökumenische Zeitschrift PUBLIK FORUM (Heft 13/2014, Seite 55) eine kurze Besprechung des wichtigen Buches von Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”. Wir bieten hier den Text noch einmal für jene, die PUBLIK FORUM nicht lesen.

Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”.

Shlomo Sand, weltweit bekannter und geschätzter Professor für Geschichte in Tel Aviv, bietet mehr als ein persönliches Bekenntnis. Er kann aus objektiven Gründen nicht länger Jude sein, weil er den heutigen Staat Israel ablehnt. Dabei gibt es für ihn keinen Zweifel, als polnischer Jude, 1942 in Österreich geboren, für das Existenzrecht Israels einzutreten. In dem „jüdischen Staat“ lebt er seit 1949. Aber gerade diese Definition findet er unerträglich. Denn Israel bevorzugt die Bewohner, die dem jüdischen Volk zugehören. Dabei ist es ein Mythos, so wörtlich, über die jüdische Rasse den Staat Israel zu definieren. Die „Rasse“ der Hebräer gibt es nicht. Jude, meint Sand, sei man einzig durch sein religiöses Bekenntnis. Als Atheist möchte er aufhören, als Jude zu gelten, kann es aber nicht, weil er vom Staat unaufhebbar dem „Volk“ zugerechnet wird. In dieser „Volksideologie“ sieht Sand zudem die Wurzel der verhängnisvollen Besatzungspolitik. Er plädiert für eine „republikanische Identität“ Israels mit dem absoluten Respekt der Menschenrechte und einer Zweistaatenlösung mit Palästina. Das wichtige Buch verdient intensive Diskussionen.

Shlomo Sand: Warum ich aufhöre, Jude zu sein.  Propyläen Verlag, 2013. 156 Seiten. 18 €

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

PS: „Shlomo Sand hat Intelligenz und Humor. Er schreibt, wie Professoren meist nicht schreiben können“, schreibt der Publizist Rupert Neudeck in Kölner-Stadt-Anzeiger, am 06.12.2013.

Heidegger: Ein esoterischer Philosoph. Hinweise auf ein Buch von Peter Trawny

Heidegger – ein esoterischer Philosoph

Hinweise auf ein Buch von Peter Trawny

Von Christian Modehn

(Die in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf das Buch von Peter Trawny “Adyton“ )

Eine interessante Deutung des (Spät-) Werkes Martin Heideggers liegt seit 4 Jahren vor: Der Heidegger Spezialist Prof. Peter Trawny (Wuppertal, auch Herausgeber der „Schwarzen Hefte“ Heideggers) hat eine (leider sehr knapp gefasste) Studie publiziert. „Adyton. Heideggers Esoterische Philosophie“ ist der Titel.

Martin Heideggers Denken und Publizieren ist seit Mitte der neunzehnhundertdreißiger Jahre esoterisch geprägt. Diese Einsicht erläutert Peter Trawny in dem Buch „Adyton. Heideggers Esoterische Philosophie“. Erschienen ist die 114 Seiten umfassende Broschüre bei Matthes und Seitz in Berlin im Jahr 2010.

Unter dem eher befremdlich wirkenden Begriff „Adyton“ aus dem Altgriechischen versteht Trawny das Unzugängliche und Unbetretbare, aber auch den „Ort des Orakels“, wo der Gott spricht, der für sein Sprechen den hörenden Menschen braucht. Wer im Adyton oder wenigstens beim Adyton weilt, hat das Unermessliche erreicht, nämlich „den Ursprung von Leben und Wort“ (8). Trawny schreibt weiter: „Heideggers Philosophie ist der Gang zu diesem Adyton“ (8). Es bedeutet Stille, der Ort des Zuspruchs, auch „Seyn“, worin sich der Gott zeigen könnte. Dort empfängt Heidegger „einen ungeheuren Exzess von Sinn“ (9).

Trawny bezieht sich in seiner Heidegger Deutung vor allem auf das Buch „Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis“, das 1989, wie die Schwarzen Hefte jetzt, ebenfalls post mortem erschien (bzw. wohl auf Wunsch Heideggers erscheinen durfte). In diesem Buch, 1936 – 38 geschrieben, kommt, nach Trawny sicher zu recht, die ganze Dimension des Esoterischen bei Heidegger zum Ausdruck. Heidegger Leser wissen, dass seit „Sein und Zeit“ ,1927 erschienen, das Denken Heideggers ganz neue Weg ging; angefangen vom „Vom Wesen der Wahrheit“ (1931, erschienen 1943) bis zu dem von Heidegger selbst kaum noch verständlich genannten Text „Zeit und Sein“ (1962).

Die zentrale These Trawnys also: Heideggers so genannte Spät- Philosophie ist esoterisch, also nicht für die Öffentlichkeit, sondern, wie Trawny schreibt, für den „Zirkel“, also den kleinen Kreis Berufener, bestimmt. Er nennt Heideggers Werk sogar „essentiell esoterisch“ (13). Dass die Spätphilosophie Heideggers (höchst) ungewöhnlich ist, in der sprachlichen Gestalt und damit zugleich in der Sache, war den meisten ja immer schon klar. Neu ist diese Zuspitzung in der Qualifizierung „esoterisch“.

Dabei muss darauf hingewiesen werden, was Trawny selbst nicht vertieft, was denn in der reflektierten „Alltagssprache“ esoterisch bedeutet; „esoterisch“ ist heute ein inhaltlich weit gebrauchtes Wort, bis hin zur Qualifizierung der “new age” Szene oder für religiöse „Sondergruppen“ wie die Rosenkreuzer oder die Swedenborg-Gemeinschaft. Ob diese Qualifizierung der Spätphilosophie Heideggers als „esoterisch“ tatsächlich in diesem sprachlichen Umfeld weiterführt, ist eine andere Frage. .

Trawny meint also zenral: Esoterisch ist das Werk Heideggers vor allem wegen der entschiedenen Zurückweisung der Öffentlichkeit, was im Sinne Heideggers bedeuten soll: Diese hier präsentierte Philosophie/dieses Denken, darf nicht von außen, nicht von den vielen, dem „Feuilleton“ und wem auch immer in der Öffentlichkeit der Gesellschaft beurteilt werden. Denn diese vielen, auch die vielen der Aufklärung verpflichteten Philosophen, können gar nicht das von Heidegger Gesagte verstehen. Trawy selbst schreibt, dass sich die vielen von dieser Philosophie „abgestoßen“ fühlen könnten (11). Komisch hingegen, dass Heidegger diese Philosophie nicht in kleinster Auflage für den Zirkel, sondern in öffentlich zugänglichen Verlagen publizierte mit den entsprechenden Übersetzungen. Der Esoteriker Heidegger wollte also doch in der Öffentlichkeit Beachtung finden, wenn nicht Aufsehen erregen.

Tatsächlich haben viele wegweisende Philosophen schwierig geschrieben, man denke an Kant, Fichte, Hegel usw. Aber schwierig ist eben nicht identisch mit esoterisch. Diese Philosophen sagten Neues. Aber sie haben den Anspruch, doch mit einiger Mühe für alle gebildeten Leser verständlich sein zu können. Die Publikation etlicher Beiträge von Kant in Zeitschriften spricht ja dafür. Diese Philosophen schreiben also von Erkenntnissen, die sie in allgemeiner Sprache begründen. Im Unterschied dazu schreibt der späte Heidegger von Gehörten, von Empfangenen, vom Geschenkten. Aber von wem denn nun empfangen? Vom Seyn (sic), wie er dauernd und immer im Spätwerk betont oder vom „Ereignis“, dem zu lauschen ihm und einigen Erwählten vorbehalten und geschenkt ist. Dies dort Gehörte gibt Heidegger weiter, in einer neuen, man möchte sagen, fast privaten und neu geschaffenen („ereigneten“) Sprache, die die gelauschte Sache selbst auszusagen wagt, so behauptet er.

Dies ist der Kern der esoterischen Philosophie Heideggers. Sie ist verschieden von den Erkenntnissen, die etwa Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ machte. Erkenntnisse sind für Kant kein Geschenk, keine Gnade. Kant hat nichts (mysteriös?) gehört etwa von dem transzendentalen Apriori, sondern es erkannt und in einer (zwar schwer) nachvollziehbaren Sprache für alle dargestellt.

So wird das besondere Profil der esoterischen Philosophie Heideggers deutlich. Er ist – wie ein Prophet – der Berufene, dessen Worten man letztlich nur glauben kann. Auch das ist nicht weiter problematisch, wenn man denn diese Philosophie als Privatphilosophie eines Berufenen definiert oder als Poesie und Lyrik eines besonders Begabten.

Noch einmal: Heideggers späte Philosophie will explizit nur Eingeweihten des Zirkels (109) zugänglich sein; solchen Menschen also, die den Mut haben, viele neue Wortschöpfungen Heideggers (und gehörte Botschaften vom „Ereignis“ her) stundenlang hin und her zu wälzen, bis vielleicht der „Funke“ (Geschenk, Gnade?) auch auf sie überspringt. Jedenfalls, so Trawny, haben sie den Mut, ihre „Neutralität“ ( 24), also Distanz und vielleicht sogar Skepsis, aufzugeben.

Heidegger – ein philosophisches Doppelleben

Wer Neutralität aufgibt, ergreift folgerichtig Partei, ist Partei und parteiisch. Der späte Heidegger wünscht sich also Anhänger, Gläubige, „Parteigänger“. Das kann man ja fordern. Die Frage ist nur, wie sich solch ein Denken noch Philosophie nennen kann. Aber das Schwierige ist: Das wollte Heidegger ja auch gar nicht, er trat zwar bei Kongressen als „Philosoph“ auf, war aber im Innersten seines Erfahrens und Denkens eben ein esoterischer Denker. In seinen Vorträgen etwa nach 1945 bis zu seinem Tod 1976, die oft noch nachvollziehbar sind auf weite Strecken, wie etwa zur Technik, hat er sich also in seinem wahren, dem esoterischen Wesen versteckt. Es wäre eine interessante Frage, einmal einen Aufsatz zu schreiben über „Heidegger und sein geliebtes Versteckspiel“ nicht nur im Blick auf seine Liebschaften und Lieben, sondern auch auf seine tatsächliche, innere und eigene politische Haltung, die in den „Schwarzen Heften“ zum Ausdruck kommt. Versteckspiel ist es auch, dass Heidegger die ehrlichen Worte (der Schwarzen Hefte) zur (Nazi-) Politik eben erst post mortem veröffentlichen ließ. Jedenfalls hat sich der hoch dotierte und von etlichen Kreisen hoch verehrte Philosoph zu Lebzeiten versteckt. Damit passt er gut in diese Zeit: Viele Politiker, Richter usw. der Bundesrepublik haben sich als ehemalige NSDAP Mitglieder versteckt/opportunistisch verstecken müssen….

Mit anderen Worten: Es ist klar nach den Ausführungen Trawnys: Heidegger führte auch ein philosophisches Doppelleben. Das wäre ein hübsches Thema, das ich leider jetzt hier nicht weiter bearbeiten kann. Trawny erwähnt selbst mit einem Satz, dass Heidegger „in Vorlesungen, Vorträgen und Aufsätzen (die esoterische Dimension seines Denkens) verschwieg“ (46).

Ich kann hier das komplexe Thema des dicht geschriebenen Buches von Trawnys in aller Ausführlichkeit nicht wiedergeben.

Nur einige uns wesentlich erscheinenden Hinweise:

Spätestens ab 1933 sucht Heidegger in seinem Denken und Publizieren das normalerweise Unzugängliche, mit ihm will er inniglich verbunden sein. Er will nun etwas ganz Besonderes und Unerhörtes sagen, zumal er in seinem groß angelegten Projekt „Sein und Zeit“ (1927) gescheitert war und dies auch wusste. Nebenbei: Das viel gerühmte Werk „Sein und Zeit“ ist letztlich ein zweifelsfrei wichtiges, denkwürdiges Fragment, aber eben nur der erste Teil für ein weiteres Vorhaben, das nicht realisiert wurde bzw. realisiert werden konnte. Es ist aber, wie Trawny schreibt (31), ein „exoterisches Buch“, ein solches also, das viele lesen und in vernünftiger Sprache und ebenso in vernünftigem Denken verstehen können und in allgemeiner Sprache debattieren. Weil eben exoterisch bedeutet: In der nun einmal allen verständlichen und gebräuchlichen Umgangssprache, die zu bestreiten ja unmöglich ist, geschrieben, selbst wenn da neue Wortschöpfungen durch Heidegger häufig schon vorkommen.

 

Nach dem gescheiterten „Sein und Zeit“ sucht Heidegger das “äußerst Besondere”, nämlich die intime Nähe zum Unzugänglichen. Diese Innigkeit, Inniglichkeit, betont Trawny in seiner Broschüre sehr. „Weil dieser Empfang (im Adyton , CM) ein Bewohnen dieses Bezugs (zum Adyton CM) voraussetzt, ist Heideggers Philosophie esoterisch“ (9), esoterisch von Trawny kursiv gesetzt!

Trawny selbst ist sich der wichtigen, um nicht zu sagen globalen Dimension seiner Studie bewusst, nämlich dass diese Interpretation „womöglich zu einer neuen Heidegger-Interpretation“ (wenigstens des Spätwerkes) führt! (12).

Trawny verwendet anstelle von „esoterisch“ sehr häufig das Wort „esoterische Initiative“ (ab Seite 11 ständig). Dabei will er das Esoterische nicht als Irrationale verstanden wissen (46), es wird also die Möglichkeit offengehalten, das Esoterische ins Exoterische zu übersetzen, was man ja vom „Irrationalen“ so nicht sagen kann.

Wenn Trawny in seiner Studie sehr oft von einer „esoterischer Initiative“ (Heideggers) spricht, dann darf man das wohl übersetzen in eine exoterische, also allgemein verständliche Vernunft- Sprache: Heidegger hat sich entschlossen, also die Initiative ergriffen, also (frei?) gehandelt, um seine „Spätphilosophie“ ab 1933 eben „esoterisch“ darzustellen.

Leider versäumt es Trawny zu erläutern, warum gerade zu Beginn der Nazi Herrschaft (und der NSDAP Mitgliedschaft Martin Heideggers) es zu dieser esoterischen Wende bzw. „Initiative“ kam. Wie sind da die Verklammerungen und Wechselbeziehungen zu verstehen: Flüchtete sich Heidegger ins Esoterische, um sich zur Zeit der Nazis und dann später, nach 1945, unangreifbar zu machen, weil er ja eben Esoterisches (also nicht allgemein Zugängliches!) vom Seyn (!) her hörte und vernahm und „Winke (aus dem Adyton) empfing“, die eben die (offenbar dumme exoterische) Masse gar nicht wahrnehmen konnte? Ist da der Gedanke der Abgehobenheit (und später dann der Straflosigkeit und mutmaßlichen Unschuld) zu berücksichtigen? Vielleicht war die Mitgliedschaft Heideggers in der NSDAP selbst sogar ein „Wink“ des Adyton? Wer könnte dem so Hörenden und Gehorsamen dann noch böse sein, wenn er doch bloß dem Seyn (!) traute? Aber hinzu kommt: Heidegger war in den dreißiger Jahren geradezu angewidert von dem System der Universitäten und sicher auch von der Gestalt der Weimarer Republik. Im Zusammenhang des Aufstiegs der NSDAP wünschte er sich noch 1936 dringend explizit eine „Revolution“, einen Umsturz. Er wünschte sich tatsächlich: Der „Nationalsozialismus wäre schön als barbarisches Prinzip“, aber leider waren ihm dann die Nazis doch, so wörtlich Heidegger, „zu bürgerlich“ (so Trawny S. 33).

„Öffentlichkeit ist der Selbstmord der Philosophie!“

Es zeigt sich in unserem Zusammenhang immer wieder die polemische Abgrenzung Heideggers von der „Öffentlichkeit“ (10), der „public sphere“. „Dagegen begehrt sie, die Philosophie, Initimität“, meint der Meisterdenker. Gesucht ist von Heidegger ein Leser, der ebenso wie er bereit ist, das Adyton, das Unbetretbare, zu begehen. Heidegger wendet sich also, noch einmal, an die wenigen, die Mutigen, die vom Adyton „Gerufenen“, die eben anders denken wollen und können als die Mehrheit. Peter Trawny stellt im Zusammenhang der von Heidegger esoterisch bevorzugten Intimität sogar das „erotische Ereignis“ daneben. „War Heidegger nicht auch ein gewaltiger (sic !) Erotiker?“. Vor allem am Ende der Studie wird auch von Frauen gesprochen, u.a. auch von den, so wörtlich, „braunen Frauen“, von denen Hölderlin in einer Hymne spricht (103). Auf Seite 108 erinnert Trawny erneut an das Hauptanliegen des esoterischen Philosophen Heidegger, nämlich an „seine ununterbrochene Verdammung der Öffentlichkeit“.

Deutlicher kann man diese Zurückweisung von Öffentlichkeit, also rechtlicher Kontrolle, Disput, Gesetzen, Demokratie usw. kaum sagen. Heidegger ein Anti-Demokrat? Nach dem Gesagten ist das sehr wahrscheinlich. Das können nur diejenigen richtig finden, die selbst der Demokratie mißtrauen und sie insgeheim verachten. Weil sie arrogant sind zu meinen, es gebe viel Besseres, offenbar die Oligarchie?

Mit dieser Zurückweisung, Philosophie als öffentliche Sache zu betreiben, also für die meisten Gebildeten in einer allgemeinen Umgangssprache der Vernunft zu sprechen, liegt eine weitere polemische Zuspitzung. Trawny zitiert Heideggers geradezu erschütternde Wort: „Das Sichverständlichmachen ist der Selbstmord der Philosophie“ (14, bezogen auf Band 65, Seite 435). Das heißt in eine exoterische Sprache übersetzt: Die Philosophie (Heideggers) kann sich und darf sich und soll sich NICHT (allgemein, öffentlich) verständlich machen, wenn sie denn leben und überleben will. Zur Rolle der Philosophie in der und für die Gesellschaft könnte man wohl kaum Schlimmeres sagen, in unserer Sicht. Eigentlich gehört in dieser Sicht Heideggers Philosophie in die Hütte im Schwarzwald und nur dorthin, nicht aber in den Disput dieser (angeblich) so „schrecklichen“ Universität. Die „Öffentlichkeit“ kann man und muss man kritisieren, aber pauschal verdammen kann man sie im 20. Jahrhundert wohl ernsthaft nicht. Gäbe es keine Öffentlichkeit, wäre etwa schon diese Heidegger Kritik nicht möglich, sondern müsste erst einmal einer Zensur vorgelegt werden. War sich Heidegger der Dimensionen seiner antidemokratischen Haltung bewusst? Vieles spricht dafür, auch im Zusammenhang der „Schwarzen Hefte“.

Wenige Jahre vor der Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“ (ab Frühjahr 2014) zeigt uns Trawny schon hier, sagen wir es ruhig, ein höchst unsympathisches Gesicht Heideggers. Denn Heidegger wendet sich gegen die philosophische Tradition als einer „Sache aller“, wie sie seit der Aufklärung eigentlich selbstverständlich galt. Die Agora als öffentlicher Platz der Philosophen wäre eigens zu debattieren. Hegel wehrte sich etwa gegen die Vorstellung, „die Philosophie könne ein esoterisches Besitztum einiger Einzelner“ sein, er förderte und forderte „die allgemeine Verständlichkeit“ (ob Hegel das immer gelang, ist eine andere Frage), so in der „Phänomenologie des Geistes“.

Die „Beiträge“ (Band 65) sollten „ein Geheimbuch“ sein und bleiben, das nur „zu bestimmten Adressaten sprach“ (41). Inzwischen liegt es in 3. Auflage vor. Warum wurde es erst nach dem Tod Heideggers publiziert? Wollte sich der immer noch als Philosoph hoch beachtete und bestaunte Heidegger nicht die „Blöße“ geben, nun als esoterischer Denker des Adyton (in der fruchtbaren Öffentlichkeit) zu gelten? Darauf gibt die Broschüre Trawnys leider keine Antwort.

Ein Intermezzo „Zur Übersetzung“: Die „Beiträge“ (Band 65) wenden sich also ausdrücklich nur an wenige und einzelne, d.h. an jene, die die Stimme des Seyns (sic!) hören können.

Trawny nennt die Texte dieses Buches, von 1936- 1938 geschrieben, „sehr sperrig“. Die Sprache Heideggers „orientiert sich (in Band 65) keineswegs an der Sprache des Alltags“ (42). In seinen Vorlesungen und sonstigen Publikation seit 1933 hingegen hat Heidegger diese nun für ihn grundlegende neue, esoterische Dimension seines Denkens eher verschwiegen, wie sie in Band 65 offensichtlich wird, meint Trawny (46). Dabei verschweigt Trawny, dass eigentlich alle Werke seit 1933 insgesamt von einer esoterischen Sondersprache geprägt sind! Man lese bitte nur einmal „Zeit und Sein“. Da warnt Heidegger selbst vor beinahe vollständiger „Unverständlichkeit“ für Exoteriker.

Die ganze Kunst des Verstehens besteht nun wohl darin, dass Philosophen diese sperrigen Texte nicht ihrerseits in der esoterischen Sprache nachsprechen und esoterisch wiederholen, sondern wie üblich beim Verstehen esoterischer Texte diese eben in die allen gemeinsame, d.h. die allgemeine, d.h. in die von Vernunftbegriffen bestimmte Sprache ÜBERSETZEN. So, wie man ein (esoterisches) Gedicht von Paul Celan nicht dadurch erläutert, dass man hundertmal Paul Celans Worte wiederum repetiert und zitiert, sondern das Celan-Gedicht eben in die allen gemeinsame, also allgemeine Sprache überträgt, so geht es wohl auch mit den esoterischen Äußerungen im Spätwerk Heideggers. Nehmen wir den Satz Heideggers aus diesen Jahren „Es göttert“. Den Satz kann man als verstehender Philosoph eben nur in der allgemeinen, also der öffentlichen Sprache übersetzen, will man denn nicht ein weiteres esoterisches Werk für wenige und einzelne schreiben.

Manchmal hat man den Eindruck, dass Peter Trawny in seiner Broschüre selbst ins esoterische Fahrwasser gerät, also im „Milieu“ Heideggers sich aufhält, ziemlich abstandslos, etwa wenn man den Satz liest: “In der Philosohie ist niemals Alles gleich möglich, selbst wenn ihr beinahe nichts unmöglich ist“ (108). Oder auf Seite 61steht der Satz: „Letztlich steht Alles und noch mehr als Alles auf dem Spiel“. Was ist „mehr als Alles“? Die Frage wird nicht beantwortet….

Nebenbei: Warum bedauert Trawny die, so wörtlich „zähe Aufweichung des Nationalstaates“ (78)? Offenbar, weil die „Nation und das „Volk“ abgeschafft wurden, wie er scheibt, mit dem Aufweichen des Nationalstaates… Hat man denn nichts davon gehört, dass die Kriege des 20. Jahrhunderts und davor Kriege von Nationalstaaten und Völkern waren, von Menschen und Herrschern, die sich als etwas „Besonderes“ fühlten und eben nicht schlicht als Menschen unter anderen gleichberechtigten Menschen. Das Plädoyer Trawnys für den Nationalstaat und das Volk ist seltsam und traurig zugleich in dem heutigen Europa der neuen Kriege der Völker und Nationen. In diesen Worten des Leiters des Heidegger Instituts glaubt man den Meister Heidegger selbst noch zuhören.

Einerseits lehnte es Heidegger ab, dass die Öffentlichkeit seine Philosophie beurteilen kann (also auch die damals von ihm anfänglich hoch umjubelten Nazi Herrscher), „so hielt er daran fest, dass die Philosophie ein herrschaftliches Wissen sei“ (35). Das kann bedeuten: Auch wenn Heideggers Philosophie nur einigen wenigen einleuchtete oder gar verständlich war, sollte sie doch als ein „herrschaftliches Wissen“ dann für alle in Staat und Gesellschaft „irgendwie“ gelten. Denn Heidegger, der Erwählte, hat Dinge gehört und gesehen im Adyton, die nur er und einige wenige gesehen haben. Deswegen sollten ja diese Menschen, die „zukünftigen Menschen“, herrschen, zusammen, wie er sagt, mit zahlreichen, so wörtlich „Bündischen“ und vielen, ebenfalls wörtlich Heidegger, „Zueinanderverwiesenen“. Wie diese drei Gruppen eine politische Legitimität erlangen können, interessierte Heidegger nicht, wie Trawny in der Beschreibung von Heideggers politischen Ideen betont (81).

Viele weitere Aspekte zur esoterischen Philosophie Heideggers können hier nicht ausgebreitet werden. Etliche Themen berührt Trawny in seiner Broschüre, etwa die Gottesfrage oder die Bedeutung Hölderlins, den Heidegger in einer merkwürdigen (nicht mehr logischen, aber vielleicht esoterischen) Steigerung „den Deutschesten der Deutschen“ (83) nennt.

Zusammenfassend sagt Trawny: „Heideggers esoterische Philosophie ist demnach eine Antwort auf die sich vor jenem Zusammenbruch befindende Moderne, der ein paar Jahre später in Auschwitz, Dresden und Hiroshima (um das jeweils Unvergleichbare zu nennen) Realität geworden ist“ (98 f.) Offenbar bemerkt Trawny, dass man Auschwitz (Symbol für die Vernichtung von 6 Millionen Juden) kaum in einer direkten Aufzählung so ohne weiteres neben Dresden (Bombardements der Alliierten auf eine Stadt in Nazi-Deutschland) und Hiroshima (Atombomben der Amerikaner auf Japan) stellen sollte und stellen darf. Alle ethischen Fragen der fundamentalen Schuld der Nazis und ihrer Freunde werden damit ignoriert, so sehr einem die Toten in Dresden und Hirsohima natürlich leid tun.

Direkt anschließend gehen die Probleme weiter: Wie soll man das Wort Trawnys in seine letztlich doch voller Verständnis für Heidegger geschriebenen Studie, verstehen: „Dass diese Antwort (Heideggers auf den Zusammenbruch der Moderne, CM) sich nicht an die Öffentlichkeit dieser Moderne wenden konnte, wird inzwischen ein wenig deutlicher geworden sein“ (99). „Ein wenig“ gewiss, wenn man denn mitmacht und hinzunehmen bereit ist, dass da ein Philosoph existiert mit dem Anspruch, auf das „Seyn“ hören zu können und dort seine Botschaften für den „Zirkel“ vernimmt.

Es gehören jetzt “starke Nerven” dazu, diese Philosophie Heideggers (ist es Denken, Poesie, Stammeln?) weiterhin im ganzen mitzuvollziehen. Wie viel Energie wurde ins Studium Heideggers gesetzt? War man blind? War man fasziniert? Dürfen Philosophen fasziniert sein vom Mysteriösen? Und jetzt also dieser sich immer deutlicher zeigende „Misston“ in seinem Denken, seiner Person, seinem Versteckspiel. Hätte man rechtzeitig auf Habermas gehört oder auf Karl Jaspers und andere…

Sicherlich bleiben einige Aspekte in Heideggers Philosophie noch interessant, inspirierend und denkwürdig. Wir haben viele Denkhaltungen Heideggers wohl längst „internalisiert“, ohne es noch thematisch zu wissen, etwa die ontologische Differenz, die Frage nach dem göttlichen Gott, die Achtsamkeit auf die Sprache usw… Aber kann man einige „Aspekte“ aus einem Gesamtwerk herausbrechen, wenn das Gesamtwerk einen eher problematisch unangenehmen, philosophisch politischen Geruch des Esoterischen hat? Können Fragmente stimmig oder gar wahr sein, wenn das Ganze einen, wie von Trawny zeigt, dann doch irritierenden esoterischen Charakter hat? Wenn Heidegger für den esoterischen Zirkel schrieb und explizit schreiben wollte, welches Recht haben dann Exoteriker, diese esoterischen Einsichten und „Winke“ ins Exoterische zu ziehen? Tun die Heidegger-Forscher und Heidegger-Interpreten dem Denker, der das Adyton hörte, mit ihren Arbeiten also einen Gefallen? Wenn ja, welchen?

COPYRIGHT auf diesem Text. Christian Modehn, Berlin. Religionsphilosophischer Salon Berlin. 10.August 2014. Jeglicher Nachdruck, selbst in Auszügen und wo auch immer, ist untersagt.

 

 

 

 

 

Religion ohne Gott. Hinweise zu dem neuen Buch von Ronald Dworkin

Religion ohne Gott. Ein Salongespräch am 25.7.2014

Hinweise von Christian Modehn

Das neue Buch von Ronald Dworkin „Religion ohne Gott“ ist in meiner Sicht ein kulturelles Ereignis. Man darf wohl einmal etwas vollmundig werden und sagen: Es gehört zusammen mit anderen philosophischen Veröffentlichungen der letzten Jahre zu den Büchern, die eine Korrektur, eine Wende, in den Debatten über Glauben und Nichtglauben, Theismus und Atheismus, signalisieren. Darin drückt sich etwas aus, was Hegel den „objektiven Geist“ (in Staat, Gesellschaft) nannte.

Ich nenne nur das viel zitierte Buch von Herbert Schnädelbach „Religion in der modernen Welt“. Schnädelbach drückt seine persönliche Trauer und den Schmerz aus, als Ungläubiger nicht glauben zu können.

Man denke an das äußerst inspirierende und sehr lebendig geschriebene Buch von Alain de Botton „Religion für Atheisten“, der in London die sehr bemerkenswerte School of life gegründet hat . Oder an Bruno Latour und sein Buch „Jubilieren. Über religiöse Rede“ wäre zu denken. Oder das für diese Thematik sicher bahnbrechende Buch von André Comte Sponville „Woran glaubt ein Atheist?“, französisch 2006.

Zu nennen wären auch die Studien von Thomas Nagel, der auf die geistigen Verbindungen hinweist, die zwischen der objektiven Natur und dem diese Natur erkennenden Menschen bestehen. (Vgl. das Buch Geist und Kosmos 2013) Es gibt also eine Verbindung geistiger Art zwischen Objekt und Subjektwelt. Das heißt, die rein materialistischen Erklärungen haben keine Gültigkeit mehr. Dabei versteht sich Nagel keineswegs als religiöser Metaphysiker. Aber er will das banale Denken des Materialismus und Naturalismus aufbrechen.

Die genannten Autoren bezeugen meines Erachtens eine bemerkenswerte „Synchronität“, es geht um ein tieferes Verstehen der Wirklichkeit in Richtung eines Erstaunlichen, Wunderbaren, vielleicht „Heiligen“.

Wenn man diese Titel und eben auch das Buch von Ronald Dworkin „Religion ohne Gott“ auf einen gemeinsamen Nenner bringen sollte: Da wird deutlich, dass es ausdrücklich Philosophen sind, die bekennen, nicht an eine göttliche Wirklichkeit, an Gott, glauben zu können! Diese Philosophen sind also, wenn man diese schlichte Etikette will, Atheisten; aber sie sind überzeugt: Es gibt eine Haltung im Denken und im Leben, die zwar ohne die Wirklichkeit Gottes auskommt, die aber doch tief spirituell ist, also geistvoll, menschlich im tiefen Sinne des vernünftigen Wesens. Diese Bücher sind sozusagen die andere Seite gegenüber dem polemischen, atheistisch – missionarischen Kampfbuch des Biologen Richard Dawkins, Der Gotteswahn, das 2006 erschien, und millionenfach verkauft wurde, weil die Werbung in den Medien entsprechend enthusiastisch war. Dieses Buch ist unter dem Schock des geistigen Erscheinungsbildes fundamentalistischer Kirchen und wahnhafter Lehren vor allem im amerikanischen Raum entstanden, so dass Dawkins ein aktuelles Interesse bediente. Aber sein Naturalismus ist einfach zu platt, zu grob, eben falsch.

Schnell wurden die Texte des Biologen Dawkins als vulgäratheistische Zeugnisse bewertet, wie der spirituelle Atheist Joachim Kahl sagt. Oder Dawkins wurde in die Gruppe der genannten Krawallatheisten eingereiht, wie der langjährige Leiter der Humanistischen Akademie Horst Groschopp sagte.

Vielleicht noch ein Hinweis zur Person des us – amerikanischen Philosophen ronald Dworkin: Geboren 1931, gestorben 2013. Er ist weltbekannt als Rechtsphilosoph und politischer Philosoph. Als solcher wehrte er sich gegen eine positivistische Rechtsphilosophie und trat ein für eine in der Menschenwürde und den Menschenrechten begründeten Rechtsordnung. Dworkin war ein Verteidiger der Gleichheit der Menschen, er kämpfte entschieden gegen alle Formen von Zensur, er verteidigte absolut die Meinungsfreiheit, trat für die religiöse Neutralität des demokratischen, liberalen Rechtsstaates ein.

Zum Buch „Religion ohne Gott“. Dabei muss man wohl von vornherein sehen: Dworkin hat den deutlichen Willen, praktisch zu wirken, er will als Philosoph sozusagen Mauern einreißen, ideologische Trennwände aufbrechen, ein unvermitteltes Gegeneinander von gläubig und atheistisch überwinden. Er will einen gemeinsamen philosophischen und spirituellen Boden bereiten, auf dem Gläubige und Atheisten gemeinsam friedlich und konstruktiv leben können. Das Buch will praktisch etwas bewegen.

Im Jahr 2011 hat Dworkin zu dem Thema an der Universität Bern Vorträge gehalten, sie sind in dem Buch Religion ohne Gott? Versammelt. Dworkin konnte die Vorträge nicht mehr bearbeiten, er ist am 14. Februar 2013 gestorben.

Für Dworkin ist“ Religion etwas Tieferes als Gott“ (S. 11). Gott ist sozusagen eine zweitrangige Vertiefung in der allen Menschen gemeinsamen religiösen Dimension.

Das Religiöse ist eine „grundlegende und umfassende Weltsicht, dass nämlich ein inhärenter, objektiver Wert alles durchdringt; dass das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten; dass das menschliche Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat“ (S.11)

Es geht Dworkin um die absolute Hochachtung von Werten oder Idealen, die den Gläubigen wie den Atheisten gemeinsam sind. Sie sind verbunden in der Wertschätzung, ein (ethisch) gutes Leben zu gestalten, und zwar für sich selbst wie auch in Verantwortung für andere. Sie wollen fundamentale menschliche Entscheidungen für humane Werte in den Mittelpunkt stellen.

Dabei ist ausdrücklich die Frage nach Gott zurückgestellt. Nicht die Frage, ob ein Gott existiert, ist nach Dworkin zentral, sondern das Leben nach einem gemeinsamen humanen Ethos. Wer so lebt, kann „Religiöses“ erleben.

Dadurch, so Dworkin, könne die ideologische Zerrissenheit heutiger Gesellschaften ein Stückweit überwunden, wenn nicht geheilt werden. Man stelle sich ja tatsächlich einmal vor, die sich heute im Irak und anderswo totschlagenden Gott-Gläubigen würden auf den Begriff Gott/Allah verzichten, sie würden sich also Gottes und Allahs nicht mehr bedienen für die Begründung ihres Mordens: Sie würden vielmehr sich selbst „nur“ als spirituelle Menschen, also bloß als Menschen betrachten: Negative Power wäre damit sicher überwunden. „Wenn es gelingen sollte, Religion und Gott auseinanderzudividieren, könnten wir jenen Scharmützeln etwas von der Hitzigkeit nehmen, indem wir zwischen wissenschaftlichen Fragen und Wertfragen (an die alle Menschen gebunden sind CM) unterscheiden“ (S. 18).

Dworkin will zeigen: Es gilt, diese Einsicht unter allen Menschen zu pflegen, dass das Leben in der Welt nicht darauf verzichten kann, das grundlegende Geheimnis des Lebens wahrzunehmen.

Es gibt Lebenserfahrungen, die niemals angemessen mit der Begrifflichkeit der Naturwissenschaften erklärt und durchleuchtet werden können.

Das Buch von Dworkin „Religion ohne Gott“ wurde auch in Deutschland mit großem Interesse aufgenommen, d.h. es wurde in den Medien oft erwähnt. Dabei darf nicht verschwiegen werden, dass das Buch manchmal für Nichtphilosophen nicht gerade eine „leichte Lektüre“ ist. Explizit wird der Titel des Buches auch vor allem (nur) im ersten Kapitel des Buches behandelt. Das dritte Kapitel etwa behandelt Fragen rund um die Religionsfreiheit, dabei spürt man, dass Dworkin ursprünglich ein sehr starkes Interesse an Rechtsphilosophie hat und als solcher vor allem auch international geschätzt wird!

Es wird also die These zur Diskussion gestellt: „Religion ist etwas Tieferes als Gott“. Offenbar ist gemeint: Gott meint immer historisch gewordenen Gottesbilder, während Religion sich auf absolut geltende Werte bezieht.

Wichtiger noch ist die philosophische Kritik, dass Dworkin in seiner Konzeption die Werte in einer sehr objektivistischen Weise versteht. So, als würden die Werte aus dem Umfeld eines moralisch guten Lebens uns wie feste Bilder vor Augen stehen, also objektiv und immer „vor uns“ gegeben sein. Wir müssen diese objektiven Werte nur betrachten und ihnen dann bitte schön folgen.

Mit anderen Worten: Wir haben den Eindruck, dass Dworkin einer allzu objektivistischen (alten) Wertelehre folgt. Dabei hat er unseres Erachtens kein Gespür dafür, dass „die Werte“ spätestens seit Nietzsche auch ein Werk des schöpferischen Subjekts sind. Von Werten kann nur noch gesprochen werden, wenn man allen Nachdruck auf den Werte erlebenden Menschen, „das Subjekt“, setzt. Und auch auf die schöpferische Kraft der Menschen, Werte zu setzen. Diese können ja auch unbedingte Geltung haben, selbst wenn sie in einer bestimmten Kultur entstanden sind. Arnim Regenbogen schreibt in dem Lexikonbeitrag „Wert/Werte“ in dem dreibändigen Lexikon „Enzyklopädie Philosophie“ Band 3, Seite 2974: “Werthaftigkeit ist keine objektive Eigenschaft von Dingen, sondern muss als Beziehung bewertender Subjekte auf Gegenstände betrachtet werden. Durch eine Wertung wird ein Gegenstand menschlichen Handelns selbst zum Wert“.

Religionsphilosophisch gesehen ist es fraglich, ob ein religiöser Mensch beim Erleben des Erhabenen sozusagen aufhört, weiter zu fragen und sich etwa bloß an diese weltliche Erfahrung eines (angeblich) wunderbaren Kosmos hält und damit „begnügt“. Die Fragebewegung geht weiter, nicht in dem Sinne, dass klassisch metaphysisch nach der „ersten Ursache“ in Form eines alten Gottesbeweises gefragt wird. Aber in der Reflexion auf die Fähigkeit des menschlichen Geistes, Erhabenes und Wunderbares in dieser Welt zu erleben, wird die (vom Menschen unabwerfbare, „gegebene“) Kraft des menschlichen Geistes in neuem Licht erscheinen, als eine ständige, ruhelose Fragebewegung. Mit dieser Erfahrung und der ihr entsprechenden Aussage erlebt sich der Mensch neu, als hineingestellt in eine ständige geistige Bewegtheit ohne Ende (und unbekannter Herkunft). Dabei wird sozusagen dann „das Wesen des Menschen“ (um diesen klassischen begriff einmal zu verwenden) ganz neu gesehen. Nämlich: Der Mensch kann sich nie ganz umfassen und begrifflich durchsichtig machen. Er ist sich selbst der Unbekannte, das Geheimnis, das etwas Gegebenes ist, manche sagen eine „Gabe“. Von daher tasten sich dann einige Philosophen doch weiter zu Frage: Wie kann eine umfassende Anwesenheit eines unabwerfbar „Gebenden“ in der Gabe (also dem Menschen!) gedacht werden?

Mit anderen Worten: Die Thesen von Dworkin sind insofern inspirierend, als sie auf ein dringendes Thema aufmerksam machen und so im Denken über seinen Text hinausführen – in eine größere Weite. Es gibt dann ein Denken, in dem Gott in der Schwebe sozusagen bleibt, zwischen personal und a-personal gedacht. Eine Überzeugung, für die der protestantische Theologe Paul Tillich eingetreten ist, auf ihn weist Dworkin ausdrücklich hin (Seite 41). „Vielleicht sollte man davon ausgehen, dass Tillich beides war, ein religiöser Theist und ein religiöser Atheist, der glaubte, dass die ´numinose` Beschaffenheit der religiösen Erfahrung den Unterschied zwischen beiden (Theisten und Atheisten) zum Verschwinden bringt“: (ebd.). Diese Einschätzung wird von Dworkin leider nicht weiter vertieft. Daran aber sollte man weiter „arbeiten“.

Deutlich ist jedenfalls: Wir stehen in einem tief greifenden religiösen Wandel, der theologisch und religionsphilosophisch von aufmerksamen Denkern Ausdruck findet.

Zu diskutieren wäre etwa das häufige und immer wieder kehrende Eingeständnis von Literaten, Künstlern und Philosophen, sie könnten nicht glauben. Das wird oft mit dem Ton des Bedauerns gesagt. Etwa auch von Herbert Schnädelbach, er könne sich vorstellen, was Glauben wäre, aber er kann nicht glauben (In: Religion in der modernen Welt, S. 85). Auch von dem spirituell sehr sensiblen, christlich interessierten Dichter Antoine de Saint Exupéry (am 31. Juli 1944 als Pilot im 2. Weltkrieg abgestürzt) wird berichtet: Er habe in einem Brief ein Jahr vor seinem Tod geschrieben: „Hätte ich den Glauben, stünde es fest, dass ich, sobald dieser Job (des Fliegers) vorüber ist, nur noch das Kloster Solesmes (und die dortigen gregorianischen Gesänge) ertragen könnte. …Man kann nicht mehr leben ohne Poesie, ohne Farbe, ohne Liebe“ .

Die Frage ist also: Ist die Sehnsucht nach dem Glauben, die Suche nach ihm, das Auslangen nach ihm, das Verzweifeln an ihm, kurz: das Leiden darunter, nicht glauben zu können, nicht bereits die entscheidende Form des Glaubens? Ist denn der „eigentliche Glaube“ die totale Sicherheit, das Eingeschlossensein in eine fixe Glaubenswelt? Wer solcher Defionition folgt, entspricht der Lehre der Herren der Kirche, die bestimmen und verfügen wollen und eigenmächtig definieren, was glauben ist und was nicht. Die Definition wird hingegen von allen, auch den Suchenden, Fragenden, usw. festgelegt.

Also: Glauben ist immer nur als Sehnsucht (nach Erfüllung, Frieden, dem Göttlichen) möglich, selbst, dann wenn man meint zu glauben, “hat” man doch Gott oder den Glauben niemals. Sind dann also diese Suchenden und Fragen nicht bereits wesentlich Glaubende? Und wenn man es theologisch will: Sind diese Menschen, die nicht glauben können, nicht bereits schon Teilnehmer der Gemeinde, auch wenn sie das selbst nicht so sehen oder auch gar nicht wünschen. Aber aus dem theologischen „Innenblick“ sind sie Glaubende.

Wenn sich das jene eingestehen würden, die meinen, „sicher“ und „zweifelsfrei“ zu glauben, wäre die Teilname all der anderen, der Fragenden, Zweifelnden usw. eine große „Bereicherung“ für das Miteinander derer, die nach dem Sinn des Lebens suchen, also versuchen, Gemeinde zu sein. Wir brauchen also eine philosophische Debatte darüber, was Nicht-Glauben (Können) eigentlich bedeutet!

Ronald Dworkin, Religion ohne Gott. Suhrkamp, 2014, 146 Seiten, 19.95€.