Der phantastische Jesus: Weihnachten in der Sicht apokrypher Autoren der Kirche.

Der phantastische Jesus: Weihnachtsgeschichten der frühen Kirche

Der Text einer Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn (RBB 2012)

In der frühen Kirche, bis ins 6. Jh., gab es eine leidenschaftliche und phantasievolle Begeisterung frommer Autoren, die Weihnachtsgeschichte weiter zu erzählen. Dazu einige durchaus unterhaltsame Hinweise.

 

  1. SPR.: Berichterstatter
  2. SPR.: Zitator und Übersetzer
  3. SPRECHERIN: Zitate

21 O TÖNE

5 Musikal. Zuspielungen

 

1.musikal. Zusp., (Schaffrath, Adagio) bleibt frei 0 08“ stehen, dann leise im Hintergrund.

 

  1. O TON, Plisch, 0 13“.

Die Evangelien im Neuen Testament schweigen über Jesu Kindheit komplett. Matthäus und Lukas berichten zwar über die Geburt. Lukas hat dann noch eine Geschichte vom 12 jährigen Jesus im Tempel. Und damit hat es sich aber auch schon. Da gibt es also eine große Lücke.

1.musikal. Zusp., 0 04“ wieder freistehend

 

  1. O TON, Schröter, 0 18“

Man kann sehen, dass sehr bald das Bedürfnis entsteht, genau über diese Phase des Lebens Jesu, seine Geburt und seine Kindheit, mehr zu wissen. Und bereits im 2. Jahrhundert setzt das ein, was wir heute so apokryphe Überlieferung nennen, dass das eben legendarisch ausgemalt wird

1.musikal. Zusp., 0 04“ wieder freistehend

 

  1. O TON, Kaiser, 0 15“

Als Kind ist er Gott, hat göttliche Kraft, Wunderkraft vor allem. Und ist aber zugleich eben dieses Kind, was damit noch nicht so ganz vernünftig umgehen kann, gerade, was eben diese Emotionalität angeht. Und dann werden Geschichten erzählt, die ganz typisch sind für Kinder.

 

  1. musikal. Zusp., leise im Hintergrund, bei „Eine Sendung von… „ausblenden, um dann in die 2. Musik schon einzublenden.

 

Titelsprecherin:

Der phantastische Jesus.Weihnachtsgeschichten der frühen Kirche

Eine Sendung von Christian Modehn

2. Musikal. Zuspielung, ca. 0 08“ freistehend, Gesang steht frei: „Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär“…freistehend, dann leise im Hintergrund.

 

  1. SPR.:

Unbekannte Erzählungen und wohltuende Geschichten, eben eine gute, neue Mär bringt der Engel den Menschen zum Weihnachtsfest. Martin Luther will mit seinem Lied andeuten: Die Evangelisten Lukas und Matthäus melden nicht objektive oder gar historisch überprüfbare Nachrichten. Darin sind sich heute inzwischen die allermeisten Bibelwissenschaftler einig, betont der Berliner Theologe Jens Schröter:

 

  1. O TON, 0 57“, Schröter

Zusammenfassend könnte man von diesen Geschichten, die wir im Neuen Testament haben, sagen, dass da gewisse Aspekte legendarischer Erzählungen aufgenommen werden und die zur Grundlage einer bestimmten Erzählung vom Leben Jesu gemacht werden. Das sind mit Sicherheit keine historischen Dokumente, also historisch kann man über die Geburt Jesu fast nichts wissen, also dass die Mutter Maria hieß und der Vater Josef, das ist historisch wahrscheinlich,

aber wo das passiert ist, das ist nicht sicher. Ansonsten: Über die näheren Umstände der Geburt und der Jugend Jesu kann man historisch praktisch nichts wissen.

 

  1. musikal. Zuspielung, Jordi Saval, bleibt ca. 0 09“ freistehen, dann leise runterlegen:

 

  1. SPR.:

Die frühe Christenheit wollte ihrer frommen Phantasie keine Grenzen setzen. Den Gläubigen erschienen die knappen Hinweise der Evangelisten Matthäus und Lukas zur Geburt Jesu viel zu dürftig, um nicht zu sagen: armselig: Wenn schon ein Gottessohn geboren wird, dann müssen alle Möglichkeiten von Poesie und Imagination zur Entfaltung kommen. Darum wurden schon im 2. Jahrhundert in allen Ländern und allen Sprachen der damaligen Welt Texte geschrieben, die dann apokryphe, geheime Evangelien genannt wurden. Sie schildern mit vielen Details auch die Geburt und Kindheit Jesu. Die theologisch gebildeten Bischöfe hielten nicht viel von diesen wundersamen Geschichten; aber sie konnten die Begeisterung des einfachen Volkes nicht bremsen: Endlich kam die Neugier auf ihre Kosten, und es war es ein Vergnügen, von Jesus und seiner Familie zu lesen. Ein Lieblingsautor war ein gewisser Jacobus aus Ägypten: Er berichtet, dass Unvorstellbares auf Erden geschieht und eine neue Zeit anbricht: Gott selbst wird auf Erden geboren! Jacobus lebte in Ägypten im 2. Jahrhundert, als er seine Erzählung schrieb. Sie wurde nach griechischem Vorbild das „Prot“ – Evangelium, also das „erste Evangelium“ nach Jacobus, genannt.

 

  1. Musikal. Zuspielung, noch mal 0 04“ freistehend.

 

  1. SPR.:

Maria, die schwangere Jungfrau und Josef, der besorgte Pflegevater, sind unterwegs nach Bethlehem zur Volkszählung. Schon vor den Toren der Stadt, berichtet Jacobus, setzen bei Maria die Wehen ein. Josef, der hoch betagte Zimmermann, ist völlig fassungslos; hilflos irrt er umher, findet aber durch Zufall eine Hebamme. Zusammen eilen sie zu Maria. Sie hat sich in eine bergende Höhle zurückgezogen. Im apokryphen Text „Protevangelium“ heißt es dann:

 

  1. SPR.:

Als Josef und die Hebamme zu Maria kamen, bedeckte eine dunkle Wolke die Höhle. Die Hebamme aber sprach: Erhoben ist meine Seele, heute, da meine Augen Wunderbares geschaut haben, heute, da für Israel das Heil geboren ist. Und in diesem Moment verzog sich die Wolke von der Höhle und es zeigte sich dort ein großes Licht, so dass es für die Augen nicht zu ertragen war. Kurz darauf verlor sich aber dieses Licht, und das Neugeborene war zu sehen. Es kam und nahm die Brust von seiner Mutter Maria.

 

1.SPR.:

Die Geburt eines Gottessohnes entzieht sich menschlichen Blicken. Undurchdringlich sind die geheimnisvollen dunklen Wolken, unter denen Gott sein Wunder wirkt: Eine Frau bringt ihr Kind zur Welt und bleibt dabei auch biologisch gesehen eine Jungfrau. Die Hebamme ist von dieser einmaligen Geburt Jesu Christi so erschüttert, dass sie wie in einer Ekstase spricht:

 

  1. SPR:

Wie groß ist der heutige Tag für mich, da ich dieses wunderbare Schauspiel gesehen habe. Eine Jungfrau hat geboren, obwohl das doch ihre Natur nicht zulässt.

  1. SPR.:

Eine zweite Hebamme, Salome mit Namen, tritt hinzu; sie hält das Ganze für frommen Wahn. Sie fühlt sich betrogen und belogen und fordert fest entschlossen:

 

  1. SPR.:

Wenn ich nicht meinen Finger hineinlege und ihre geschlechtliche Eigenart untersuche, werde ich nicht glauben, dass eine Jungfrau geboren hat.

 

1.SPR.:

Tatsächlich prüft Salome „die geschlechtliche Eigenart“, wie Jacobus so diskret schreibt: Aber ihre Zweifel werden schon bei der ersten Berührung bestraft: Ihre frevelhafte Hand fällt von ihr ab und wird wie von einem Feuer verzehrt… Für den frommen Autor Jacobus aber ist es selbstverständlich, dass Salome sogleich ihren Unglauben bereut … und – schon wieder ein Wunder – geheilt wird.

 

  1. musikal. Zusp., 0 06“ freistehen lassen.

 

  1. SPR::

Während in der Bibel lediglich von der göttlichen Zeugung Jesu in der Jungfrau Maria berichtet wird, gehen die Autoren der apokryphen Evangelien in ihrer frommen Phantasie viel weiter, betont die katholische Theologin Katharina Ceming:

 

  1. O TON, Ceming, 0 54“

Die Hebamme, die hier im Protevangelium des Jakobus auftaucht, hat letztendlich keine andere Funktion, als noch einmal zu bestätigen, dass die Geburt tatsächlich jungfräulich abgelaufen ist. Das ist ja etwas, was in der Antike ein sehr allgemein verbreiteter Gedanke war: Große Männer und bedeutende Menschen sind also in antiken Kulturen fast immer jungfräulich geboren worden, ob es die ägyptischen Pharaonen waren, von Alexander dem Große wird ähnliches berichtet, da hat man eben angeknüpft. Mitte des 2. Jahrhunderts sind von nicht christlicher Seite doch diverse Zweifel an der göttlichen Abstammung Jesu geäußert worden. Einer der klassischen Vorwürfe lautete immer wieder, dass Jesus das Kind eines römischen Soldaten sei, also ein illegitimes Kind, diesem Vorwurf musste man entgegen treten.

 

  1. SPR.:

Wenn Jesus Christus wie ein auf Erden wandelnder Gott verehrt wird, dann muss alles Menschliche fern bleiben, alles Sexuelle sowieso. Die offizielle kirchliche Lehre hat hingegen immer auch die Menschlichkeit Jesu betont und darum die Kompromissformel „Jesus ist Gott und Mensch zugleich“ gefunden. Aber das fromme christliche Volk schätzte diese Spitzfindigkeiten nicht sonderlich und hielt sich eher an die phantastischen apokryphen Geschichten:

 

  1. O TON, Schröter, 0 28“

Die haben sich in der Antike schon großer Beliebtheit erfreut, also gerade dieses so genannte Protevangelium des Jakobus ist in sehr viele Sprachen übersetzt worden, hat große Verbreitung gehabt.

 

  1. SPR.:

berichtet der Bibelwissenschaftler Jens Schröter. Und er weist auf das apokryphe Evangelium eines gewissen Matthäus aus dem Jahre 600 hin:

 

FORTSETZUNG 6. O TON:

Und dann gab es daneben immer noch so einzelne Episoden, wie zum Beispiel die Geschichte von der Flucht nach Ägypten, etwa, dass eine Palme sich neigt und dem Jesuskind und Maria seine Früchte gibt.

 

1.SPR.:

Zuvor hatte sich Maria, von dem langen Marsch durch die Wüste völlig erschöpft, bei Josef beklagt: Er solle doch endlich für Wasser sorgen! Aber der alte Mann weiß auch keinen Rat; er sieht nur die hohen, unbezwingbaren Palmen am Rande stehen. Was können die schon helfen? Aber der kleine göttliche Jesusknabe hat eine wunderbare Idee, erzählt der Autor Matthäus:

 

2.SPR.:

Da sagte das Jesuskind, das mit fröhlicher Miene auf dem Schoß seiner Mutter saß, zu der Palme: Neige dich, Baum, und erfreue meine Mutter mit deinen Früchten. Und sogleich neigte die Palme ihre Krone bis zu den Füßen Marias. Und man sammelte von ihr die Früchte, an denen sich alle gütlich taten…Dann sagte Jesus: Öffne unter deinen Wurzeln auch eine Wasserader, aus ihr sollen Wasser fließen, um unseren Durst zu stillen. Und sogleich begannen frische, ganz süße Wasserquellen zu sprudeln.

 

  1. SPR.:

Wer das göttliche Kind bewundert, möchte natürlich auch Genaueres von seiner Familie wissen. So lassen die Autoren der apokryphen Evangelien wiederum ihrer Phantasie alle Freiheit, wenn sie von ausführlich von Maria erzählen, wie etwa das „Protevangelium des Jacobus“, betont die Theologin Katharina Ceming:

 

  1. O TON, Ceming, 0 24“

Es ist die Geschichte von Maria! Und das hängt damit zusammen, dass in der frühchristlichen Tradition sehr bald die Frage nach der Gottesmutter aufgetaucht ist. Also wer war diese Frau, die Jesus geboren hat. Aus den Evangelien, die wir im Neuen Testament überliefert haben, ist uns relativ wenig bekannt von Maria. Das Bedürfnis der Gläubigen war aber, viel mehr über diese Frau zu erfahren.

 

  1. SPR.:

Und die Neugier wird umfassend befriedigt: Jacobus kann sogar die Namen von Marias Eltern nennen, als in gewisser Weise Oma und Opa von Jesus. So wird seine phantastische Geschichte noch glaubwürdiger:

 

  1. O TON, Ceming, 0 30“.

Anna und Joachim sind die Eltern Mariens. Das ist aus katholischer Sicht im volksreligiösen Bewusstsein bis heute immer noch sehr präsent. Wenn man natürlich die neutestamentlichen Schriften anguckt, stellt man fest: Über die Eltern von Maria steht da eigentlich gar nichts. Und ganz interessant ist, wenn man anschaut, wie Joachim und Anna hier gezeichnet werden, kann man sehr starke Parallelen zu anderen bedeutenden biblischen Paaren finden. (rausgehen)

 

  1. SPR.:

Anna, die Mutter Marias, alt und ergraut und zudem unfruchtbar, hat alle Hoffnungen auf ein eigenes Kind aufgegeben, so will es der fromme Autor Jacobus: Nur Gott selbst hat die Macht, in ihr ein Kind zu zeugen, und das geschieht tatsächlich:

 

  1. SPR.:

Und siehe, da trat ein Engel des Herrn zu Anna, er sprach: Anna, Anna, Gott der Herr hat deine Bitte um ein Kind erhört. Du wirst empfangen und gebären und deine Nachkommenschaft wird auf der ganzen Welt bekannt sein.

 

  1. SPR.:

So wird also auch Maria, die Mutter Jesu, bereits „unbefleckt empfangen“ und von einer Jungfrau geboren! Und das Kind entwickelt sich schnell zu einem ganz einmaligen Mädchen, schwärmt der Autor:

 

  1. SPR.:

Als Maria sechs Monate alt war, stellte es seine Mutter auf den Boden, um zu prüfen, ob es schon stehen könne. Und es machte sieben Schritte und kam bis zum Schoß seiner Mutter. Und seine Mutter hob es auf und sprach: So wahr Gott, der Herr, lebt: Du sollst nicht mehr auf diesem Boden laufen…Sie richtete ein Heiligtum in ihrem Schlafgemach ein und ließ nicht zu, dass Maria etwas Profanes und Unreines zu sich nähme.

 

  1. SPR.:

Im Alter von 2 Jahren wird Maria der Obhut der hohen Priester im Tempel übergeben: 10 Jahre später beschließen sie, ein reifer alter Mann sollte sich um sie kümmern, freilich ohne erotisch –sexuelle Neigungen, wie es ausdrücklich heißt. So rufen die Priester alle Witwer zusammen: Ein alter Herr wird durch ein wunderbares Zeichen Gottes auserwählt: Es ist Josef, aber der hat bereits aus Kinder aus erster Ehe. Erst nach langem Zureden der Priester lässt sich der alte Mann breitschlagen: Er nimmt das junge Mädchen Maria zu sich…Und Jesus wächst dann später in seiner Familie sozusagen im Kreis von Stiefgeschwistern auf…

 

  1. musikal. Zusp., ca. 0 07“ noch mal freistehend, dann ausblenden.

 

  1. SPR.:

Von den Eltern Josefs wissent die apokryphen Geschichten nichts zu berichten! Hingegen hat der fromme Autor Thomas, Verfasser des „Kindheitsevangeliums“, Näheres zum Beruf des Pflegevaters Jesu erfunden:

 

  1. O TON, Plisch 0 31“

Er ist nicht einfach nur Handwerker, Zimmermann, sondern der ist richtig Bau – Unternehmer, d.h. er ist eben auch lange unterwegs, seine verschiedenen Bauten zu betrachten.

 

  1. SPR.:

berichtet der Bibelwissenschaftler Uwe Karsten Plisch:

 

Fortsetzung 9. O TON

Das heißt: Das ist ganz klar die Absicht: Jesus kommt aus gutem Hause. Das ist nicht ein einfacher Handwerkersohn, sondern Papa ist eben richtig Bauunternehmer, wohlhabende Familie, ja also, das richtet sich schon gegen so ein christliches Armutsideal. Für die Akzeptanz in der heidnischen Umwelt: da ist so ein Erlöser aus gutem Hause sicherlich attraktiver als jemand aus der galiläischen Provinz.

 

  1. SPR.:

Aber Jesus, das Kind einer mittelständischen Unternehmerfamilie, ist alles andere als bürgerlich – brav, auch das weiß der Autor. Jesus hat einen dermaßen impulsiv – aufbrausenden Charakter, dass er sogar die gute Stimmung in der ganz Nazareth verdirbt.

 

  1. O TON, Kaiser, 0 51“.

Er läuft mit Josef durch den Ort Nazareth, und ein anderes Kind kommt vorbei gerannt und rempelt ihn an. Und Jesus wird wütend; das stört ihn, und er sagt zu dem anderen Kind: Du sollst deinen Weg nicht weitergehen. Und darauf hin fällt dieses Kind um und ist tot.

 

  1. SPR.:

berichtet die Theologin Ursula Ulrike Kaiser.

 

  1. O TON Fortsetzung.

Und da haben wir beides zusammen, wir haben diese Unausgeglichenheit vielleicht noch, die für das Kind typisch ist, denke ich; und das ganz Besondere an Jesus, dass das natürlich sofort passiert, was er sagt, weil er ja zugleich Gott ist. Und dann natürlich die Reaktionen der Leute, die entsetzt sind, die aber zugleich auch anfangen zu fragen: Was ist das eigentlich für ein Kind, was steckt da dahinter, wieso kann er das, wieso kann er das sagen und das passiert sofort? Und das zieht sich durch die Geschichten hindurch, dass das immer wieder betont wird: Da ist schon etwas sichtbar von diesem Späteren, Göttlichen, von dieser Wundermacht. Und es ist aber zugleich das Kind, das da agiert.

 

  1. SPR.:

Die Leser fanden enormen Spaß an diesem „Kindheitsevangeliums nach Thomas“: Endlich einmal zeigten sich religiöse Texte von einer unterhaltsamen Seite, und auch so manch ein Vater damals konnte sich trösten, dass schon der heilige Josef seine liebe Not mit der Kindeserziehung hatte, meint Ursula Ulrike Kaiser:

 

  1. O TON, 0 26“, Kaiser,

Josef ist der, der für die Erziehung zuständig ist. Und das ist er als Vater in dieser antiken Gesellschaft, und insofern spielt er natürlicherweise eine Rolle, weil die Erziehung des Jesuskindes eine Rolle spielt. Das heißt, immer, wenn was Schlimmes passiert in dieser Erzählung, gehen die Leute zu Josef und sagen: So geht’s nicht, du musst was tun. Josef, du kannst mit diesem Kind nicht bei uns wohnen, wenn du den nicht ordentlich erziehst. Die Mutter tritt nicht ganz so stark in Erscheinung in diesen negativen Geschichten.

 

  1. SPR.:

Aber das göttliche Kind ist für den Autor des Kindheitsevangeliums nicht nur ein Frechdachs, er hat auch seine lieben und netten Seiten:

 

12. O TON, Kaiser, 0 23“.

Ganz hübsch ist z. B., dass Jesus losgeht, um für Maria Wasser zu holen und dann mit einem Krug durch die Menge geht und der Krug zerbricht, weil das Gedränge zu groß ist. Und dann breitet er sein Gewand aus und holt dann mit diesem ausgebreiteten Gewand dann Wasser. Oder er hilft dem Josef in der Werkstatt, der ein Bett herstellen soll, und die beiden Balken – Bretter sind offensichtlich unterschiedlich lang und er weiß nicht, was er machen soll. Und dann kommt Jesus und zieht das genauso lang, dass es genauso lang wie das andere ist.

 

  1. SPR.:

Diese fromme Unterhaltung wurde genauso wichtig genommen wie die Evangelien des Matthäus oder Lukas. Und so musste die Kirchenleitungen anerkennen, dass allzu viel Phantasie und Erzählfreude dem dogmatisch – korrekten Glauben nicht gut tut. Deswegen haben sie die apokryphen Schriften nicht in den maßgeblichen und bindende Korpus des Neuen Testaments aufgenommen, betont Uwe Karsten Plisch:

 

  1. O TON, Plisch, 0 47“

Was man sicher sagen kann, ist, dass es nicht einfach mal eine zentralistische Entscheidung gegeben hat, die fest gelegt hat, so und so, das gehört dazu und das nicht, sondern es scheint sich über mehrere Jahrhunderte über lokale Konsense entwickelt zu haben. Und gerade bei dem Protoevangelium des Jakobus, einem Kindheitsevangelium, ist es so, dass es gerade in der Ostkirche sich sehr großen Beliebtheit erfreut hat, wurde auch im Gottesdienst gelesen, speziell bei Marienfesten. Und wird im Westen, im 12. Jahrhundert, aussortiert, also sehr spät, weil es mit bestimmten dogmatischen Entscheidungen dann zusammenstößt und nicht kompatibel ist. Kriterium der Beurteilung könnte sein könnte sein, inwieweit die theologische Reflexion im Vordergrund steht oder ob es die reine Neugier ist, die befriedigt werden will. Da wird es theologisch uninteressant und dient einfach nur zur Unterhaltung. Als solche kann man es auch behandeln, als frühchristliche Unterhaltungsliteratur.

 

  1. SPR.:

Das Interesse am dem wunderbaren, dem göttlichen, geheimnisvoll – mysteriösen Jesus ist bis heute lebendig. Leidenschaftlich wird auch in der weiten esoterischen Szene debattiert: War nun Jesus eigentlich auch verheiratet? Hatte der was „mit Frauen“? Darf ein Gottmensch erotische Lust empfinden? Gibt es darauf eine eindeutige Antwort?

 

  1. O TON, Plisch, 0 34“.

„Die ältesten christlichen Zeugnisse schweigen darüber, allerdings in beide Richtungen, also es gibt weder Aussagen, dass Jesus nicht verheiratet war noch gibt es Aussagen, dass er verheiratet war. Andererseits ist in der Zeit, in der Jesus lebt, der Normalfall, dass Rabbis verheiratet sind. Und, wo sie es nicht sind, geraten sie auch leicht unter Rechtfertigungsdruck.

Das Gebot Seid fruchtbar und mehret euch, ist das erste Gebot, was Gott überhaupt an die Menschheit erlässt und deswegen hat das einen ganz hohen Stellenwert im Judentum. Und wer dieses Gebot nicht erfüllt, macht sich unter Schriftkundigen verdächtig.

 

  1. SPR.:

Aber vielleicht haben die apokryphen Evangelisten – wieder einmal –ein besseres geheimes Wissen? Vor wenigen Monaten meinten einige Wissenschaftler eine Antwort zu haben: Ein winziges Papyrusstück wurde gefunden, in dem von einer Gattin Jesu die Rede ist. Zu den wenigen lesbaren Wörtern in diesem Fragment gehört ein Spruch Jesu:

 

  1. SPR.:

Meine Frau wird mir Jüngerin sein können.

 

  1. SPR.:

Für ein paar Stunden schien die althergebrachte Lehre vom zölibatär lebenden Jesus wie ausgelöscht zu sein: Aber ist der angeblich koptische Text aus dem 4. Jahrhundert tatsächlich ernst zu nehmen? Uwe Karsten Plisch hat das als Spezialist für uralte Papyrus – Texte das angeblich so umstürzlerische Fragment untersucht:

 

  1. O TON, Plisch, 0 34“

Nach der ersten Aufregung und nach der Präsentation des Textes ist doch relativ schnell klar geworden, dass es sich hier um eine moderne Fälschung handelt. Das kann man sowohl papyrologisch ganz gut nachweisen: Die Schrift ist keine Buchschrift des 4. Jahrhunderts! Es gibt eine obere Schnittkante, die zeigt, dass dieser Papyrus irgendwo abgeschnitten wurde, offenbar zu dem Zweck, ein unbeschriebenes Stück haben, das man beschreiben kann nachträglich. Die Rückseite ist nicht ? beschrieben, das ist für Buchtexte aus der Antike extrem ungewöhnlich. Alle Indizien machen es höchst unwahrscheinlich, dass das ganze ein wirklicher antiker Text ist

 

1.SPR.:

Das heißt ja nicht, dass irgendwann im ägyptischen Wüstensand oder in den staubigen Archiven europäischer Museen doch noch einmal echte Schriftstücke gefunden werden, die Näheres vom Liebesleben Jesu berichten. Die Apokryphen – Forschung ist keineswegs abgeschlossen. Ungeachtet immer neuer Funde: Auch heute ist die Lust ungebrochen, neue apokyrphe Evangeliengeschichten zu erfinden. Im kanadischen Montréal zum Beispiel befindet sich die riesige neoromanische Basilika, die dem heiligen Josef geweiht ist: In diesem „Oratoire Saint Joseph“ schreiben die Gläubigen ihre ganz persönliche Josefs – Geschichte, berichtet der katholische Theologe Daniel Picot, er nennt sich selbst „Josefologe“:

 

  1. O TON, Picot, 0 59“. (zusammenfassend übersetzt)
  2. SPR.:

Jetzt erleben wir seit einiger Zeit eine Entwicklung, dass man Josef als jungen Mann sieht, stark, voller Vitalität, verliebt in seine sehr schöne junge Frau, wie er liebevoll besorgt ist um sein Kind. Wir erleben heute eine ganz ungewöhnliche Aneignung dieser Josefs – Gestalt! Es sind normale Christen, die solche Texte schreiben über Josef als Vater. Es sind psychologische Texte, sehr emotional, voller Sensibilität, aber sehr realistisch. Josef gilt fast als ein Modell: Er ist ein Mann, der auch praktische Schwierigkeiten im Leben hatte. Darin ist er uns so ähnlich! Auch war er politisch bedroht, durch die Allmacht des Herrschers Herodes. Josef musste ums Überleben kämpfen, gerade so wird er zum Vorbild in diesen Zeiten ökonomischer Erschütterungen. Josef hat da viel Stärke und Mut gezeigt in diesen verwirrenden Situationen.

 

  1. musikal. Zusp., Lateinam. Musik, bleibt ca 0 08“ freistehen.

 

  1. SPR.:

Wer heute apokryphe Geschichten über die Heilige Familie erdichtet oder speziell zur Gestalt Jesu Christi Geheimnisvolles weiß, möchte die Ereignisse von damals in seine eigene Gegenwart holen. In Lateinamerika schätzen die Gläubigen den armen Jesus Christus über alles; er lebte für sie nicht nur in Nazareth, sondern er lebt heute, zum Beispiel in den Favelhas von Rio de Janeiro. Inmitten von Wellblechhütten und stinkenden Abwässern, geplagt von Terror und Gewalt, hat auch der brasilianische Priester Paulo Süß sein eigenes Bild vom jugendlichen Jesus entdeckt:

 

  1. O TON, Suess, 0 19“

Ich sag immer: Das war ein Handwerker. Das ist ja das Schöne, er war kein Maurer, er hat keine Mauern gemacht, er hat Türen gemacht, die aufgehen! Also: Jesus hat gelernt, Türen zu machen, Fenster zu machen, aufzumachen, und keine Mauern zu setzen. Und das als Gegenspiel zur institutionellen Kirche, die immer Mauern baut.

 

  1. Musikal. Zuspielung, Lateinamerika, noch mal 0 05“ freistehend:

 

  1. SPR.:

Christus wird in Lateinamerika geboren: Mit Inbrunst singen die Frommen in Peru dieses Lied: Überall in Südamerika nehmen sie sich auch die Christen aus „indianischen“ Völkern die Freiheit, Weihnachten auf ihre eigene Weise zu deuten. Gäste aus aller Welt sind willkommen, wenn zum Beispiel die Mayas in Mexiko ihr ureigenes Evangelium in Krippenspielen darstellen, berichtet Paulo Süß:

 

  1. O TON, Suess, 0 37“

Also was ganz Schönes muss ich noch erzählen von der Krippe da in Mexiko. Bei einem Indiostamm kommt es also vor: die Krippe wird da aufgebaut. Und dann wird ein Kind hineingelegt, und einmal legen sie einen Jungen hinein, und einmal ein Mädchen. Und dann kommen die Leute so, wie man halt in das Geburtshaus da ankommt und sagt: Ist es ein Junge, ist es ein Mädchen. Heute ist es ein Mädchen, und einmal ist es ein Junge, das ist interessant, dass sie also gar nicht auf das Geschlecht Jesu achten. Sondern dieser Gott, der geboren wird, muss also einfach einmal als Junge und einmal als Mädchen auf die Welt kommen.

 

  1. musikal. Zusp. möglicherweise noch mal 0 04“ frestehend.

 

1.SPR.:

Sind heutige Jesus – Romane in Europa auch moderne apokryphe Evangelien? Viele Theologen sind davon überzeugt. Manchmal sind sie auch selbst Schriftsteller und lassen in ihren Romanen ihrer gebildeten Phantasie freien Lauf, wenn sie uns den jugendlichen Jesus von Nazareth nahe bringen wollen. Der protestantische Theologe Klaas Huizing (sprich Häuzing) hat vor wenigen Wochen seinen Roman veröffentlicht mit dem Titel „Mein Süßkind“, gemeint ist der so viel geliebte, so „süße“ Jesus. Klaas Huizing erklärt den Leuten sogar mitten auf dem Weihnachtsmarkt seine persönliche Sicht von dem jugendlichen Jesus von Nazareth.

 

  1. O TON, Klaas Huizing, 0 24“.

Es ist ein spannendes Leben, aber es ist in der Unterströmung auch sehr humorvoll, das ist erst sehr spät entdeckt worden, dass die Bibel sehr viel humoreske Situationen bietet, obwohl es auch eine ernste Lebensgeschichte ist, es sollte immer auch humorvoll gebrochen sein. Deshalb ist es seriös, die Romanform zu wählen, damit die Leser wissen, es könnte so gewesen sein, könnte aber auch ganz anders gewesen sein.

 

  1. SPR.:

Apokryphe Schriften weiten das Denken, sie wecken die Lust am frommen Spektakel. Und, das ist wichtig, manchmal inspirieren diese Schriften sogar Bischöfe der katholischen wie der orthodoxen Kirche zur Vertiefung der rechten Glaubenslehre. Offizielle Konzilien haben zum Beispiel die apokryphe Lehre von der jungfräulichen Geburt Jesu zum allgemein gültigen Dogma erhoben. Genauso haben sie die jungfräuliche Geburt Mariens als zu glaubendes Dogma festgelegt. Auch Anna, Marias Mutter, fand als apokryphe Gestalt universale Verehrung, bis hin zu Wallfahrten, etwa in der Bretagne. Anna und ihr angeblicher Gatte Joachim werden bis heute als heilige Vorbilder verehrt, obwohl man eigentlich von ihnen nichts weiß. Und die Künstler haben sich stets apokrypher Motive bedient, etwas wenn sie die geheime Legende von der „Entschlafung Marias“ malten oder ihre leibliche Aufnahme in den Himmel priesen. Der Theologe Jens Schröter:

 

  1. O TON, Schröter,

Diese Schriften haben von früher Zeit an für die Volksüberlieferung und den Volksglauben, das meine ich gar nicht abwertend, sondern das hat für den christlichen Glauben immer eine große Rolle gespielt, dass man sich auch verankert so im religiösen Leben der Menschen. Und dafür haben diese Schriften von früher Zeit an eine große Rolle gespielt. Schnitt. Wieder rein: Und sind in die darstellende Kunst etwa vielfältig eingegangen. Und sie auch bis heute in Krippenspiele usw. eingegangen. Also die Geschichte von Ochs und Esel an der Krippe etwa, die findet sich auch nicht im Neuen Testament, es ist auch eine, die apokryph ist, wenn Sie so wollen.

 

1.SPR.:

Die apokryphen Schriften prägen das Bewusstsein vieler Christen bis heute geprägt. Aber bei aller Begeisterung fürs fromme Fabulieren gilt doch ein gewisser Vorbehalt: Denn diese Texte fördern die Vorstellung, Jesus sei eigentlich kein Mensch, sondern ein Gott. Das ist theologisch gesehen natürlich falsch. Insofern kann die Fülle apokrypher christlicher Texte für einen kritischen, einen modernen Glauben eher abträglich sein, weil das Vorurteil gestärkt wird: Gott erscheint auf Erden als Gott, als ein mysteriöses willkürlich handelndes Wunderwesen. Glauben wird so zum puren Wunderglauben.

Trotzdem: Theologen wollen auch einen bleibenden Wert dieser Literatur anerkennen: Sie befreit von der Vorstellung, das Christentum sei eine einförmige, fest strukturierte und völlig übersichtliche Organisation, in der alles uniform und kontrolliert „abläuft“. Die katholische Theologin Katharina Ceming:

 

  1. O TON, Ceming, 0 40“.

Ich finde die gesamte Apokryphen Forschung deswegen so spannend, weil die einfach auch ein völlig anderes Bild noch zeigt dieser christlichen Tradition, als die, die wir traditionell kennen. Diese ganzen Texte zeigen eigentlich, wie ungemein vielschichtig das Christentum in den ersten Jahrhunderten war, und dass es also auch zu einer bestimmten Zeit noch gar keine wirklich definitiven Regeln, Vorgaben gab, was denn die christliche Lehre an sich ist. Also ich glaube, wenn wir uns bewusst machen, wie vielfältig auch die christliche Tradition am Anfang auch war, dann wird es uns etwas leichter fallen, die Vielfalt des Christentums heute auch besser auszuhalten.

 

  1. musikal.Zusp. noch einmal einspielen…

 

 Literatur:

 Katharina Ceming und Jürgen Werlitz, Die verbotenen Evangelien. Apokryphe Schriften. Marix Verlag, Wiesbaden, 2010, 264 Seiten.

Uwe Karsten Plisch, Was nicht in der Bibel steht. Apokryphe Schriften des frühen Christentums. Verlag Deutsche Bibelgesellschaft, 176 Seiten, 2006.

Ursula Ulrike Kaiser,

Jesus als Kind. Neuere Forschungen zur Jesus Überlieferung in den apokryphen ‚Kindheitsevangelien‘. In J. FREY – J. SCHRÖTER (Hg.), Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen, Tübingen, 2010, dort S. 253–269.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

Liberales Christentum und liberale Theologie: Eine Definition aus den Niederlanden.

Was ist liberales Christentum und liberale Theologie?

Der “Religionsphilosophische Salon Berlin” ist  – theologisch gesehen –  der liberalen Theologie verpflichtet. Das haben viele Beiträge, auch die von Prof. Wilhelm Gräb (Berlin) längst deutlich gezeigt.

Ich fand in einer neuen, viel beachteten,  leider nicht ins Deutsche übersetzten Studie aus Holland, eine Art Definition der liberalen Theologie, die ich hier vorstelle. Bei dieser Gelegenheit muss gesagt werden, wie gering die Aufmerksamkeit deutscher Verlage und deutscher Theologen für die aktuelle Entwicklung der Theologie in den Niederlanden ist. Das Klischee einer untergehenden Kirche, von den konservativen Medien weltweit verbreitet, hat sich offenbar festgesetzt. Wir finden dies sehr traurig, weil dadurch auch der Austausch europäischer Theologien gebremst wird. Aber die etablierten, sehr dogmatischen Kirchen in Deutschland haben einfach kein lebendiges Lern – Interesse an liberaler moderner Theologie. Obwohl diese Theologie eine große Hilfe wäre in der religiösen Orientierung heute… Die Dogmatiker und die Herren der Kirche glauben eben, nur in der Wiederholung alter Dogmen das Christentum zu retten. Diese offizielle theologische Haltung in Deutschland ist falsch und im ganzen schädlich, auch für de Fortbestand der Kirchen in Deutschland…

In den Niederlanden sind liberale Kirchen und liberale Theologien noch immer eine Selbstverständlichkeit. Es gibt sogar innerhalb der „Protestantischen Kirche der Niederlande“ (PKN) eine eigene kleine liberale, freisinnige Strömung mit eigenen Gemeinden. Abgesehen von den Remonstranten als der „klassischen“ liberalen und freisinnigen Kirche in den Niederlanden, neben dem „Protestanten Bund“ und der „Doopgezinden gemeente“, gibt es oder gab es liberalen, freisinnigen Geist auch in der katholischen Kirche Hollands. Sie hat freilich diese Tendenzen nach einer kurzen Phase (Anfang der 1960 Jahre) seit ca. 1970 unterdrückt. Weil der Vatikan und die vom Vatikan seit 1971 gegen den Willen der Gläubigen eingesetzten ultrakonservativen Bischöfe (Simonis,Gijsen etc.) es so wollten.

Die Autoren des Buches „Liberaal christendom – Ervaren, doen, denken“, also Rick Benjamins, Jan Offringa en Wouter Slob, sagen noch einmal klar, was liberales Christentum nicht bedeutet: „Wir sollten gelegentlich bedenken, dass die liberale Theologie nicht die Heimtheologie enthält der beiden liberalen Parteien der Niederlande, VVD und D66 (Und ebenso nicht der FDP oder gar dieser FPÖ, ergänzt CM).Vielmehr hoffen wir, dass der Begriff liberal im Sinne der englisch sprachigen kirchlichen Welt verstanden wird (also als Bezeichnung demokratischen, progressiven Denkens CM). Wenn man einer Theologie das Wort liberal zufügt, bedeutet das: Da wird nicht eine Instanz genannt, die von außen und oben herab bestimmen kann und auslegen kann, was du glauben musst. Also: Es gibt keinen Papst, keine Kirche, kein Glaubensbekenntnis oder Gedankensystem, das zwingende Vorschriften vorlegt. Aber es gibt wohl eine offene und selbstkritische Haltung, um die Einsichten des Christentums in unserer Welt durchzudenken.

Das Buch „Liberaal Christendom“ (2016) wird in den Niederlanden viel beachtet, es ist nur eines von vielen Büchern, die dem lebendigen Phänomen eines liberalen Christentums nachgehen….

Das Buch “Liberaal Christendom” ist im Skandalon Verlag erschienen, jetzt 3. Auflage, 240 Seiten, 21,95€ Es gilt als eines der besten theologischen Bücher dieser Zeit.

copyright: Christian Modehn, Berlin, Religionsphilosophischer Salon.

Katholische Kirche in Frankreich: Eine Minderheit

Hinweise von Christian Modehn am 11. Oktober 2017

Das Motto stammt von dem großen französischen katholischen Publizisten Georges Hourdin (1899 – 1999), er war der Gründer zahlreicher angesehener katholischer Zeitschriften wie „La Vie“ (Paris) oder der Kulturzeitschrift „Télérama“. Ein kenntnisreicher Beobachter der katholischen Kirche Frankreichs. Hourdin begann 1998 seine Analyse des französischen Katholizismus mit den Worten: „L Eglise catholique de France risque de disparaitre“: „Die Katholische Kirche Frankreichs könnte verschwinden“. Wörtlich: „Sie riskiert es zu verschwinden.“ (In: Le viel homme et l église, Paris,1998, Seite 9, 3. Auflage). Hourdin fährt dann fort: „Das ist zumindest das, was uns die Analyse der Tatsachen sagt, wenn man denn von außen die Situation betrachtet und sich nicht darauf beschränkt, den Erfolg dieser oder jener katholischen Versammlung zu betrachten“.

“Älteste Tochter der (römischen) Kirche” wird die katholische Kirche in Frankreich gern genannt. Sie ist wahrlich sehr alt und jetzt sehr gebrechlich. Etwas lebendig (und polemisch) ist nur noch auf der rechten Seite ihres alten Körpers, um im Bild zu bleiben: Die linke Seite (“la gauche du Christ”, sagte man einst) wirkt wie gelähmt. Und die Leistungen ihres Kopfes, einst gerühmt wegen eines gewissen theologischen ésprit, lassen auch nach. Ein kritischer Blick auf die alte, schwache Dame/Tochter, ist also angebracht … angesichts der Bücherberge zu Frankreich, die dieser Tage gestapelt werden. Zur Vertiefung siehe auch:  “Wo bleiben die Religionen in Frankreich auf der Buchmesse?

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Vor 25 Jahren habe ich meine Essays über „Religion in Frankreich“ (im Gütersloher Verlagshaus) veröffentlicht. Seit der Zeit habe ich immer wieder auf den äußeren Zustand der katholischen Kirche in Frankreich hingewiesen, und so weit dies sachlich möglich ist, auf die Mentalität, also die innere Verfasstheit der Kirchenmitglieder.

Die Buchmesse in Frankfurt am Main 2017 hat Frankreich als Ehrengast eingeladen. Ein Anlass, das Thema noch einmal wenigstens skizzenhaft aufzugreifen.

Wie üblich bei großen Kulturveranstaltungen in Deutschland (wie sicher in ganz Westeuropa) werden religionswissenschaftliche und kritisch – theologische Themen bei der Buchmesse eher ausgeblendet. Dies ist bedauerlich, weil Religiosität und (religiöse oder atheistische) Spiritualität mindestens die „Hintergrund – Musik“ der Mentalitäten sind.

Früher, d.h. noch vor 10 Jahren, gab es eine gewisse Aufmerksamkeit wenigstens in einigen Randbereichen der Kultur am Thema Religionen in Frankreich. Ich habe z. B. von 1989 bis 2006 mindestens viermal jährlich im Saarländischen Rundfunk (Redaktion Norbert Sommer) in Halbstunden-Ra­dio­sen­dungen über Gott in Frankreich berichtet, so der Titel der Sendereihe. Heute schwindet in Deutschland im allgemeinen das Interesse an religionswissenschaftlichen und religionssoziologischen Analysen etwa über Kirchenbindungen in Frankreich und anderswo.

Es ist jedoch in meiner Sicht an der Zeit, auf die gegenwärtige Situation des französischen Katholizismus zu schauen, dabei kann ich hier nur Stichworte und Belege zum Weiterstudium bieten. Aber diese Stichworte bieten eine erste Orientierung zu dem, welche Gestalt der französische Katholizismus hat bzw. in den vergangenen 50 bis 60 Jahren hatte.

Die Begrenzung auf den Katholizismus hat absolut nichts mit Konfessionalismus meinerseits zu tun. Der Focus hier ist bedingt, dass einst, noch vor 60 Jahren, der Katholizismus in Frankreich die zahlenmäßig stärkste Religion war, französische Theologen waren noch prägend, bekannt, auch in Deutschland, und die praktischen Experimente der Kirche galten vielen als vorbildlich. Heute ist von französischen Theologen kaum noch die Rede, selbst von den viel interessanteren Religionssoziologen ist hier fast nichts bekannt. Man redet in Deutschland allenfalls über das de facto katholische, nach außen sich aber ökumenisch gebende Kloster in Taizé.

Hier also einige Schlaglichter, die weiter zu vertiefen wären, aber einen ersten Anhalt bieten. Dabei muss berücksichtigt werden, dass exakte Konfessionsstatistiken wie in Deutschland nicht in Frankreich existieren, dies ist bedingt durch die Trennung von Kirchen und Staat und die damit gegebene Privatisierung der religiösen Bindung.

Es gibt allerdings immer wieder repräsentative Umfragen zur Bindung der Franzosen an den Katholizismus und andere Religionen: 2011 veröffentlichte etwa „Harris Interactive“ eine Studie „Les Francais et Dieu“. Die manchmal problematische inhaltliche Gestaltung der Fragen bei Umfragen ist generell ein Problem, kann hier nicht vertieft werden.

Zu dieser Umfrage: 36 % erklären, an Gott zu glauben. 34% erklären, NICHT an Gott zu glauben. 30 % können sich nicht zu der Frage affirmativ klar erklären. Ausdrücklich wird betont in der Studie: 48 % der Katholiken sind sich sicher, an Gott zu glauben. Unter den regelmäßig praktizierenden Katholiken (d.h. denen, die mindestens einmal im Monat an der Messe teilnehmen) sind es 98 %, die sicher an Gott glauben…

21 % der Franzosen erklären, niemals sich die Fragen über Gott zu stellen.

Wer sich die Frage nach Gott stellt, wünscht sich ausdrücklich, mit anderen diese Frage zu debattieren, dieser Anteil beträgt 62 %! Kommentar: Die Sehnsucht nach offenen, dann wohl aber nicht streng dogmatischen Gesprächsgemeinschaften ist groß. Weiterer Kommentar: Die offiziellen Pfarrgemeinden: Können sie bei aller gewünschten Freiheit, diesen Wunsch der offenen (!) Debatte erfüllen?

IFOP, ein anderes Meinungsforschungsinstitut, hat diese Statistik veröffentlicht im historischen Vergleich:

Anteil der Katholiken 1952: 81 %; Teilnahme an Messe: 27%

1966: 80%;                                     20 %

1978: 76 %;                                    14 %

2001: 69%;                                       5 %

2010: 64 %                                       4,5 %

Die Umfrage von “WIN-Gallup International” vom August 2012 zeigt dieses Bild: 29% der Franzosen nennen sich “Atheisten”, im Jahr 2005 waren es 14%, so “Win -Gallup… Die katholische Wochenzeitung “La Vie” (Paris) berichtet am 31. 1. 2013 zusammenfassend über diese Umfrage: “Während die Zahl der Gläubigen kontinuierlich sinkt, unter 30 % geht nach anderen Umfragen, wird die wichtigste Kategorie der Franzosen, zwischen 35% und 40%, von so genannten Probalilisten gebildet, also von Leuten, für die Gott eventuell existiert”. Daraus kann man schließen: Etwa 30 % der Franzosen nennen sich in dieser Umfrage  “gläubig”, was wohl auch kirchlich bedeutet…”La Vie” bezieht sich zur Illustration dieser Verhältnisse auf die damalige französische Regierung unter Jean-Marc Ayrault:”Der Atheismus ist unter den Ministern die am meisten geteilte Strömung. 11 der 38 Minister nennen sich Atheisten, 5 nennen sich Agnostiker, nur sechs nennen sich `gläubig, aber nicht praktizierend`… Man kann darauf hinweisen, dass sich in dieser Regierung kein einziger Minister als praktizierender Christ bezeichnet”, (ebd. S. 20). Wobei gefragt werden muss: Ist der Messbesuch die deutlichste Ausprägung einer religiösen Praxis und religiösen Bindung…

Heute wird der Anteil der so genannten praktizierenden, also wenigstens einmal im Monat die Messe besuchenden Katholiken (was ist das für ein grausiges Verständnis von „Praxis“?) bei 3 bis 4 Prozent im Landesdurchschnitt angegeben. Diese Zahl nennt die katholische Wochenzeitung “La Vie” in ihrer großen Studievom 20. März 2008 (!) S. 69: 1,9 Millionen der über 18 Jahre alten Franzosen, sind als praktizierende Katholiken anzusprechen, das sind 4 %. Von dieser Gruppe der regelmäßig Praktizierenden sind 66% Frauen, 34 % Männer (bei der damaligen Gesamtbevölkerung: 48 % Frauen….)

Die Taufen in katholischen Kirchen…dies nur als eines von vielen weiteren Beispielen:

Taufen 1990: 472.000

Taufen 2012: 290.300

Sakramentale Eheschließung in einer Kirche:

1990: 147.000

2012:   70.000

Gesamtzahl der Priester:

1990: 32.300

2012: 16.800, also nach 22 Jahren hat sich die Zahl der Priester halbiert.

Über die so genannte religiöse Praxis in den unterschiedlichen Regionen und Départements, verstanden als Teilnahme an der Sonntagsmesse, ist in Frankreich seit langem viel geforscht worden. Die These ist verbreitet: Wo die Revolution besonders heftig und erfolgreich war, ist die religiöse Praxis gering. Darum ist beispielsweise heute die Teilnahme an der Sonntagsmesse in den einst „revolutionären Départements“ sehr schwach, also etwa in Aube, Marne, Cher, Yonne, Nièvre, Allier, Creuse, Corrèze, in den genannten Departements bzw. Bistümern heute oft gegen Null tendierend, etwa Creuse oder Nièvre. Das hängt auch damit zusammen, dass in diesen Départements bzw. Bistümern fast keine Priester mehr zur Verfügung stehen, und wenn, dann sind die meisten über 70 Jahre alt. Regionen, in den Katholizismus noch eine gewisse Rolle spielt: Bretagne, Elsass, Pyrenäen, Vendée.

In dem Zusammenhang wird immer wieder an die gesetzliche Trennung de Kirchen und des Staates im Jahr 1905 erinnert. Gerade in katholischen Milieus Deutschland herrscht noch immer die Verwechslung von Laicité und Laizismus, dieser verstanden als militante Form der Unkirchlichkeit vor. Diese Kreise in Deutschland wollen a priori die Laicité ablehnen, wenn sie diese als Laizismus miss-verstehen. Und dabei rühmen deutsche Katholiken in die angeblich fruchtbare Zusammenarbeit von Kirchen und Staat in Deutschland und wollen dabei nicht sehen, in welcher umfassenden Abhängigkeit die Kirchen hier vom Staat leben und leben wollen…Jedenfalls ist deutlich: Der französische Staat, geprägt von der laicité, finanziert den Unterhalt der Kirchengebäude, die vor 1905 errichtet wurden. Hinzukommt: “Mit mindestens 1,5 Milliarden Euro jährlich unterstützt der Staat die zahlreichen katholischen Privatschulen” (La Vie, 20.März 2008, Seite 74). Also auch die atheistischen Bürger etc. unterstützen auf diese Weise den Erhalt der Kirchengebäude  und die katholischen  Privatschulen, die bekanntermaßen von Kindern der konservativen oberen Mittelschicht besucht werden. Dies nur als Beispiel gegen den in Deutschland immer wieder wider besseren Wissens verbreiteten Unsinn vom “laizistischen Staat Frankreich”…

Jedenfalls war (und ist) manchmal noch die französische Kirche kreativer als die katholische Kirche in Deutschland. Das wäre eigens zu untersuchen. Ich habe früher Beispiele beschrieben. Stichwort: Arbeiterpriester (jetzt allerdings eine verschwindende Gruppe), Pluralität der Gemeinden (es gibt noch einige explizit progressive), alternative Formen des Ordensleben, etwa in Hochhäusern in der Banlieue. Und andererseits: Es gibt seit ca. 40 Jahren einen breiten Strom sehr rechtsextremer katholischer Kreise, im Umfeld der Traditionalisten von Erzbischof Lefèbvre und der Priesterbruderschaft Pius X. Die Kreise bilden in Frankreich förmlich eine Art Gegenkirche, um deren Integration ins römische System sich viele Kardinäle in Rom bemühen. Warum? Weil diese Leute nach außen fromm sind, Wallfahrten lieben, etc. und vor allem: Viele junge (aber theologisch inkompetente) Priester haben.

Dazu hat die website atheisme.org/PieX.html einen wichtigen Beitrag veröffentlicht über „Les Fascistes de la fraternité Saint Pie X“. (2005)

Interessant ist in diesem Zusammenhang als Exempel das Benediktinerkloster Les Barroux bei Avignon: Dort regierte ein reaktionäre Lefèbvre Abt, Dom Gérard, der sich dann auf Betreiben von Kardinal Ratzinger formell mit Rom versöhnte, ohne dabei die alte Ideologie aufzugeben. Und dies ist kein Einzelfall. Noch bedenkenswerter sind die vielen neuen charismatischen Ordensgemeinschaften, wie im Umfeld von Chemin Neuf, Emmanuel. Man denke daran, dass der reaktionäre Bischof von Toulon Mitglied von Emmanuel ist. Die Anwesenheit dieser neuen reaktionären Ordensgemeinschaften aus Frankreich stammend wird in Deutschland auch nicht studiert. Sber sie verbreiten sich in Deutschland (Emmanuel etc.)

Man bedenke ferner, dass die Millionen Menschen mobilisierenden Demonstrationen gegen das Gesetz von Präsident Hollande zugunsten der Ehe für alle (HOMO-Ehe) auch von den Traditionalisten stark mit getragen wurden, von den entsprechenden Instituten, wie „Civitas“. Die enormen Demonstrationen rechter und rechtsextremer katholischer Kreise ist meines Wissens in Deutschland kaum untersucht worden.

Über das rechtslastige Wahlverhalten der Katholiken, auch zugunsten von Marine le Pen, FN, habe ich berichtet. Links und katholisch: Das war einmal, vielleicht in den neunzehnhundertsiebziger Jahren (vgl. das große wichtige Buch „A la gauche du Christ“, éditions du Seuil, 2012, diese Studie hg. von Denis Pelletier und Jean-Louis Schlegel, hat kaum Aufmerksamkeit, geschweige denn Übersetzungen, in Deutschland gefunden. Ein Beispiel für den Bruch zwischen deutscher und französischer Kultur. Europa und vor allem Frankreich ist für die meisten Theologen, Religionswissenschaftler und Zeitschriften, die noch etwas mit Religionen zu tun haben, kein Thema mehr.

Dabei ist überraschend: Gerade in Fankreich, bei dieser finanziell armen Kirche, gibt es noch eine Presse, die den Namen verdient, nämlich an Kiosken zu haben ist: Wie La Croix, La Vie, Pélerin, Temoignage Chrétien, Etudes, Esprit usw. Wer in Deutschland nach Zeitschriften fragt, die irgendetwas noch mit Christentum zu tun haben, erlebt ein Nichts. Die Milliarden reiche Kirche Deutschlands ist außerstande ein kritisches und selbstkrisches Blatt an die Kioske zu bringen. Wenn das kein Getto ist. In Frankreich ist das anders. Dort sendet übrigens der Fernsehsender France 2 jeden Sonntag ab 8.30 bsi 12.00 Uhr ein umfassendes Programm, das alle großen Religionen selbst gestalten können. Und dann redet man in Deutschland von Laizismus in Frankreich…

Zum neuesten Stand der Kirche heute. Da wären viele neue Studien zu nennen. Nur ein Hinweis: Der Jesuit Marc Rastoin hat in der „La Civilità Cattolica“ (28. Jan. 2017) einen Beitrag zur aktuellen Situation des französischen Katholizismus veröffentlicht, dies ist bemerkenswert, weil diese Zeitschrift förmlich die Meinung des Papstes wiedergibt und deswegen als Parteiblatt eigentlich keinen großen wissenschaftlichen Wert hat. Trotzdem: P. Rastoin sagt: „Heute ist die französische Kirche (nur noch) unterstützt von der oberen Mittelschicht. Aus diesen wohlhabenden Kreisen kommen noch die sehr wenigen Priesterberufungen“. Die Arbeiter, die Intellektuellen, die untere Mittelschicht usw. haben sich von der Kirche völlig distanziert. „Der Katholizismus (vor allem in Paris, Versailles, Lyon usw.) gehört zu einem homogenen sozialen Milieu.

Die Katholische Kirche erlebt einen Übergang von einer beruhigten und ruhigen Mehrheit zum Status einer Minderheit“. Heute sind wohl noch 42 % der Franzosen katholisch.

Aber wenn er von der noch verbliebenen Lebendigkeit des Katholizismus heute spricht, erwähnt Pater Rastoin SJ ausgerechnet die von mir (nicht nur von mir) reaktionär bewerteten Kreise um die Demonstrationen gegen die „Ehe für alle“. Und er nennt nach alter Art, die treuen katholischen Familien (offenbar aus der oberen Mittelschicht), „die günstige Erde fürs Aufblühen der Priesterberufungen“. Was für eine Sprache… Und der Jesuit rühmt nebenbei, dass die katholischen Familien wieder viele Kinder haben…, mehr als in Polen“.

Tatsache ist:

Der französische Katholizismus scheint dem Ende zuzugehen, Zahlenmäßig: die jungen Leute haben fast keine Kirchenbindung mehr, der Gottesdienstbesuch ist extrem schwach; neue Ideen für neue Gemeinden fehlen (selbst das viel gerühmte Beispiel in Poitiers funktioniert nicht mehr richtig).

Die Kirche müsste sich also neu erfinden, kann sie aber nicht aufgrund ihrer klerikal – hierarchischen Verfassung. Das ist, so sehen es noch einige, denen die Kirche wichtig ist, das ganze Drama, wenn nicht die Tragödie der französischen Kirche. Und das Schlimme ist: Diese Tragödie müsste nicht sein, wenn denn Klerikalismus und Hierarchie aufgegeben würden und lebendige Demokartie und dogmatische Offenheit Realität wären.

Copyright: Christian Modehn, Berlin, Religionsphilosophischer Salon.

Buchmesse Frankfurt 2017: Wo bleiben Religionen und Theologien ?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Die Frankfurter Buchmesse hat in diesem Jahr 2017 einen für uns besonders wichtigen Ehrengast: Frankreich.

Es ist eine Feststellung (und zugleich auch eine Kritik), dass bei diesem Aufmarsch der Literaten in Frankfurt wahrscheinlich die Philosophen zu kurz kommen und vor allem die Theologen, die es ja in Frankreich noch gibt, trotz des zahlenmäßigen Dahinschwindens der Katholiken in dieser „ältesten Tochter der Kirche“. Über protestantische Theologen wäre eigens zu sprechen.

Als ein minimales Ergänzungsprogramm nur einige Hinweise:

1. Es gibt in Frankreich den in Deutschland leider völlig unbekannten katholischen Theologen Jean – Pierre Jossua aus dem Dominikanerorden, der als Theologe viele Jahre vor allem die Literatur studiert hat und mit zahlreichen Schriftstellern und Poeten, wie Yves Bonnefoy, befreundet war. Und der eben auch bedeutende Studien über den Zusammenhang von Literatur und Religion (in Frankreich, aber nicht nur) publiziert hat. Es ist ein Zeichen der Ferne und Fremdheit, die zwischen Deutschland und Frankreich herrscht, dass kein Buch des bedeutenden Theologen Jossua übersetzt wurde.

Wer Französisch lesen kann, dem empfehle ich diese Bücher: Die vier Bände „Pour une histoire religieuse de l experience litteraire“. Eitions Beauchesne, Paris. Sowie: Jean-Pierre Jossua, La passion de l’infini. Littérature et théologie. Nouvelles recherches Paris, Cerf, 2011, coll. « Théologie », 528 p.

Ich habe Jean – Pierre Jossua vor einigen Jahren in Paris interviewt, daraus ein Element seiner Aussagen:

Die Poesie ist für unglaublich viele Menschen, und darunter sicher die besten, eine Form spiritueller Bewegung geworden. Poesie könnte für sie sogar die Religion ersetzen, die ihnen sonst wie tot vorkommt. Poesie könnte als ein Weg zu Gott, zum Absoluten, erscheinen. Tatsächlich möchte ich sagen: Die Poesie hat die Funktion des Gebets angenommen. Und das Gebet kann nur gewinnen, wenn es wieder die Form poetischer Qualität entdeckt“

2. Auf unserer Website des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin haben wir mehrfach über den Zustand der Religionen, vor allem des Katholizismus, in Frankreich (einst und) heute hingewiesen. 1993 erschien mein Buch „Religion in Frankreich“.

Hier nur der Hinweis auf einen ungewöhnlichen Theologen und katholischen Priester, der in den Pariser Salons, also als angenehmer Gast inmitten der Literaten und Künstler, tatsächlich ständig verkehrte: Arthur Mugnier (1853 – 1944) ist sein Name. Der Historiker Charles Chauvin, Paris, hat über ihn kürzlich eine Studie publiziert. Meinen Hinweis auf dieses Buch und den ungewöhnlichen Theologen lesen Sie hier.

3.Über den Zustand der katholischen Kirche gibt es viele Aspekte, ein Thema ist: Es gibt in Frankreich Regionen, die seit 200 Jahren, wenn nicht länger, völlig befreit sind von jeglicher Bindung an die katholische Kirche, selbst wenn sich die älteren Bewohner dieser Départements noch katholisch nennen, und sich etwa eine katholische Bestattung wünschen. Die Mentalitätsgeschichte dieser Regionen etwa in Burgund oder Centre und Limoges und Creuse, Guéret vor allem,   wurde oft erforscht. Ich habe nur einen Hinweis kürzlich publiziert, über das Bistum Tulle im Département Corrèze.

 

Fortsetzung folgt….

Copyright: Christian Modehn

 

“Babylon Berlin”: Der Film, die „goldenen Zwanziger“ und die Theologie

Hinweise anlässlich der TV Serie von Tom Tykwer

Von Christian Modehn am 4.10.2017

„Verlockungen und Abgründe“: Das also hat Berlin zu bieten, nicht zuletzt in der Sicht der Künstler, Autoren, Filmemacher. Und dieses Berlin der „Zwanziger Jahre“ steht ab 13. Oktober 2017 wieder einmal ganz groß im Mittelpunkt begieriger Aufmerksamkeit: „Babylon Berlin“ heißt der fast schon erwartbare Titel der Fernsehserie unter der Regie von Tom Tykwer. Die schon jetzt hoch gelobte Serie wird zuerst auf SKY, leider erst ein Jahr später dann in der ARD gezeigt. Aber muss wirklich immer wieder „Babylon“ herhalten, um Haltlosigkeit und moralischen Verfall in Berlin zu signalisieren? Folgt man immer noch der seit Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ verbreiteten Vorstellung von Berlin als „Moloch“? Unter diesem Symbol fanden sich eher die Benachteiligten und Armgemachten wieder.

„Verlockungen und Abgründe“ gab es zweifellos in den explosiven Nachkriegsjahren, den „Zwanzigern“. Wer diese Jahre als „golden“ (vielleicht sogar als goldig) erlebte, befand sich auf der Seite der „wenigen Glücklichen“ und hatte damit die Macht der Definitionen. Und dies ist wohl heute genauso! Im Überangebot an Lust, Exzessen und Ausschweifungen ist Berlin wahrscheinlich unschlagbar. Dieses Überangebot an Zerstreuung, Unterhaltung und „Kulturindustrie“ (Adorno) zieht bekanntlich nicht nur Künstler, Lebenskünstler, Leute der Start-ups, Studenten hierher, sondern vor allem Touristen: Sie alle „lieben“ (so sagen sie es ständig) die ziemlich absolute individuelle Freiheit in dieser „bunten und schrillen Metropole“ (um noch einmal abgenutzte Klischees zu verwenden). Man lobt die vergleichsweise immer noch erschwinglichen Mieten und die eher geringen Kosten fürs alltägliche Leben. Die Armen in Berlin heute, immerhin ein Drittel der Bevölkerung, also etwa die Hartz IV Empfänger und die Obdachlosen, sehen allerdings NICHT so viel Erschwingliches in dieser Hauptstadt der Verlockungen. Sie leben eher am Rande der Abgründe. Bei dieser zunehmenden Spaltung von Reichen und Armen in ein und derselben Stadt sind wir schon wieder beim Thema „Babylon Berlin“. Da gibt es Straßen in Berlin, da wohnen die Reichen und die Bürgerlichen auf der einen Seite, und ein paar Schritte weiter die Ausgegrenzten: Man denke an „Kreuzkölln“ oder Schöneberg Nord…Verhältnisse, die einst Städteforscher für den Norden von Manhattan beschrieben und beklagten.

Für unseren Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon ist es eine Pflicht, angesichts dieses zweifelsfrei kulturellen TV Ereignisses auf das Berlin der Zwanziger Jahre zu schauen. Natürlich in der uns interessierenden Hinsicht und Rücksicht auf Religionen, Theologien und Philosophien. Auch in dieser Zuspitzung ist dies noch ein sehr weites Feld, das eigentlich nur ein Team von Religions-, Philosophie-, Kirchen- und Literaturhistorikern bearbeiten könnte. Spezielle ausführliche Studien zu diesem eng umgrenzten Thema „Religionen und Theologien im Berlin der Zwanziger Jahre“ sind mir leider bis jetzt nicht bekannt. Vielleicht ist die TV Serie ein Impuls, sich darum zu kümmern.

Ich möchte nur einige Linien und Perspektiven zeigen und vor allem auch einige Fragen stellen in der uns interessierenden Hinsicht .

Zuerst könnte man fragen: Was sagten und wie lebten Theologen, also vor allem Theologieprofessoren, im Berlin der Zwanziger Jahre? An der Universität Unter den Linden gab es ja eine Evangelisch – theologische Fakultät, einst lehrten hier berühmte Leute, wie Schleiermacher und dann Adolf von Harnack. Aber in den Zwanziger Jahren bis 1933 etwa? Wer kennt da als gebildeter Zeitgenosse einen Namen unter den etablierten protestantischen Theologieprofessoren in diesem Berlin von damals? Während die Schriftsteller und Dichter, die Künstler und Musiker in diesen Jahren Berlin zu einem Zentrum kreativer, neuer Kultur machten, lebten evangelische Theologen eher am Rande dieser Welt. Es waren vor allem Schriftsteller und Journalisten, die mit dem Judentum auf irgendeine Weise verbunden waren, die das Leben des Geistes in Berlin prägten, etwa schon in den großen Tageszeitungen damals. Sie waren es, die für die geistige Bewegtheit dieser Jahre sorgten: Dass die Nazis schlechthin „die“ Juden töten wollten, damit auch die jüdischen Intellektuellen, ist eines der größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts und der geistige Selbstmord der sich evangelisch, katholisch oder „deutsch-christlich“ nennenden Deutschen.

Unter den nach wie vor bemerkenswerten und aktuellen evangelischen Theologen ragt der junge Paul Tillich hervor. Von 1919 bis 1924 lehrte er als Privatdozent an der Theologischen Fakultät. Eigentlich eine kurze Zeit, aber in diesen Berliner Jahren publizierte Tillich seine bleibend belebenden, provozierenden Gedanken. Etwa zum Atheismus meinte er, seiner Deutung des Menschseins entsprechend: Selbst das Nein zu Gott kann den Menschen nicht von Gott trennen. Denn zurecht abgelehnt wird von Atheisten der Gott, der wie ein besonderes herausragendes Objekt unter anderen verstanden wird. Diesen „endlichen“ Gott (also Götzen) gilt es zu töten zugunsten eines „Gott über Gott“. „Wer Gott mit unbedingter Leidenschaft leugnet, bejaht (den göttlichen) Gott, weil er etwas Unbedingtes bekundet“ (zit. in Werner Schüssler und Erdmann Sturm in ihrer Studie „Paul Tillich“, Darmstadt 2007, S. 46).

Diese Einsichten diskutierte Tillich übrigens schon sehr früh in einem philosophischen Salon, den er damals sehr mutig in Berlin – Moabit, im Bereich der Erlöserkirche, gründete. Wo sind heute theologische Salons in Berlin Moabit, Wedding oder Kreuzberg, möchte man fragen… In der Erlöser Gemeinde war Tillich von 1911 bis 1913 als „Hilfsprediger“ tätig.

Bedeutend ist seine frühe theologische Leistung schon in Berlin, eine Kulturtheologie zu entwickeln: In den Erscheinungen der Kultur gilt es, „die konkreten religiösen Erlebnisse zur Darstellung zu bringen“ (S. 57). Dabei ist für Tillich leitend: „Religion ist die Substanz der Kultur, und Kultur ist die Form der Religion“ (S. 58). Dies sind unerhörte Perspektiven im Berlin der Zwanziger Jahre: Wie wurden diese Erkenntnisse der Kulturtheologie konkret aufgewiesen im Gespräch mit Literaten, Künstler, Malern, auch mit der Welt der „Lebenlust“? Denn an der Lust (an und in) der Stadt Berlin nahm Tillich leibhaftig teil: Er war kein distanzierter Beobachter im Berlin der zwanziger Jahre: Als junger Mann war er Mitglied der „Bohème“, wie Tillich selbst sagte. Er hatte eine „elementare Daseinsfreude und einen Hunger nach Vergnügungen“, so die Tillich Spezialisten Werner Schüssler und Erdmann Sturm in ihrer Studie „Paul Tillich“, Darmstadt 2007, Seite 10. „Er traf sich mit Freunden und Freundinnen in Cafés und Bars, besuchte Bälle und Kostümfeste und geriet in erotische Abenteuer. Er liebte das Unerreichbare und Unkonventionelle…“ (ebd.). Gerhard Wehr schreibt in seiner Tillich – Monographie (Rowohlt, 1979, S. 67): „Doch wenn es ans Tanzen ging, war Tillich in seinem Element. Er wirkte wie elektrisiert. Er tanzte aus Freude an der Bewegung…“.

Ein bewegter, leidenschaftlicher Theologe, der am Leben der Stadt teilnahm: Eine lebenspraktische Konstellation, um neue bewegte theologische Themen zu formulieren. Aber Tillich blieb wohl in dieser nicht verheimlichten, sondern zugegebenen Lebensfreude eine Ausnahmegestalt. Obendrein war er noch eng mit der sozialistischen (USPD) Partei verbunden, Christentum und Sozialismus zu versöhnen, war ein weiteres Thema Tillichs…

Über Dietrich Bonhoeffer in Berlin zu Beginn der Dreißiger Jahre als Assistent an der Theologischen Fakultät der Universität wäre zu sprechen. Man darf auch nicht vergessen: In den eher proletarischen Milieus spielte die explizit kämpferisch – atheistische Freidenker Bewegung eine große Rolle: Aber mit denen sprach kein Theologe! Die Jugendweihen erfreuten sich großer Beliebtheit; es gab Freireligiöse Gemeinden, es wurde die Feuerbestattung propagiert: Dagegen wandten sich alle Theologen und Bischöfe aufs heftigste. Um 1965 wurde dann auch für Katholiken die Feuerbestattung offiziell erlaubt. Leute, die als junge Katholiken gegen die Feuerbestattung kämpften, mussten sich plötzlich sehr umstellen, als diese vom Vatikan erlaubt wurde!

Katholische Theologen (Theologieprofessoren) gab es bekanntlich nicht in Berlin, einmal abgesehen von dem Priester Romano Guardini, der aber als einsamer „Religionsphilosoph“ an einer protestantisch beherrschten Universität (der heutigen Humboldt – Universität) tatsächlich viel – beachtete Vorlesungen hielt. Guardini lag zwar treu auf der Linie des römischen, vatikanischen Katholizismus, er versuchte aber, in seinen Vorlesungen auch mal neue Themen zu bearbeiten, wie etwa die Gestalt des Buddha.

1923 wurde er an den neu errichteten „Lehrstuhl für Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und katholische Weltanschauung an der preußisch-protestantischen Universität Berlin“ berufen. Rechtlich machte die Anwesenheit eines Katholiken Schwierigkeiten, so gehörte Guardini offiziell noch der katholisch – theologischen Fakultät der Universität Breslau an. Ökumene war damals auch bei protestantischen Theologen ein Fremdwort, nicht nur in Berlin.

Guardini blieb bis Mitte der vierziger Jahre in Berlin, erst im März 1939 wurde er „zwangsemeritiert“, vorher also war er für die Nazis offenbar nicht so gefährlich? Noch unter den Nazi-Herrschaft veröffentlichte er 1937 seine umfangreiche Meditation über Jesus Christus unter dem Titel „Der Herr“, vielleicht im Titel ein ganz kleiner, stiller Protest gegen „Den Führer“? Zuvor hatte er in Berlin noch ein Buch über Blaise Pascal veröffentlicht, jenen Mystiker (und Mathematiker), der am Ende seines Lebens leidenschaftlicher Anhänger einer der strengsten augustinischen Gnadenlehren, der Jansenisten, wurde: Was hatte Pascal im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre für eine Relevanz? Sind seine Vorlesungen noch zu greifen? Wie viele Agnostiker und Atheisten waren unter seinen Hörern, wie so oft in kirchlichen Kreisen heute behauptet wird? Auch seine umfangreichen Meditationen über Christus „Der Herr“ sind merkwürdig befremdlich, die historisch kritische Exegese, die damals bei protestantischen Theologen oft .selbstverständlich war, fehlt völlig. Theologie als Wissenschaft ist das Buch „Der Herr“ jedenfalls nicht. Es ist schon komisch, dass dieser einzige, aber doch eher konservative Theologe und Philosoph Romano Guardini heute im katholischen Berlin so viel Ansehen genießt: Wahrscheinlich liegt das daran: Das theologisch so arme katholische Berlin hat sonst keinen anderen berühmten Namen zu bieten. Man hat die geistige Öde des „katholischen Berlin“ immer mit der „Diaspora – Situation“ zu begründen versucht. Die Minderheit sollte nicht kritisch gebildet werden! Offenbar halten nur dumme Gläubige in der feindlichen Umwelt zu den Dogmen? Heute ist es der Personalmangel an Pfarrern, die ja eigentlich Theologen sein sollten, der die kleiner werden Gemeinden kaputt macht.

Eine ganz ungewöhnliche Rolle spielte in den zwanziger Jahren der katholische Priester Dr. Carl Sonnenschein: Er war aus Düsseldorf 1919 nach Berlin gekommen, um hier außerhalb jeder Gemeinde- Bindung seinen eigenen Stil von „Großstadt – Seelsorge“, wie er sagte, aufzubauen: Unmöglich in knapper Form sein vielschichtiges Werk zu würdigen: Sicher, er war ein Einzelgänger, manchmal autoritär, oft sehr konfessionalistisch am Wohlergehen der katholischen Kirche interessiert: Aber seine soziale Hilfe für die einzelnen, unabhängig von jeglicher Ideologie, ist unbestritten. Kurt Tucholsky lobte ihn! Sein Begräbnis 1929 war eines der größten in Berlin überhaupt mit mehr als 30.000 TeilnehmerInnen aller ideologischen Couleur.

Sonnenschein gründete angesichts der grausamen Wohnungsnot ein eigenes Wohnungsbauprogramm; er kümmerte sich um die kulturelle Förderung der intellektuell sehr vernachlässigten und unterforderten Berliner Katholiken; er schuf eine große Lesehalle an der Friedrichstraße, also eine große öffentliche Bibliothek mit dem Schwerpunkt Theologie und Religionen: Bis heute gibt es in Berlin keine große öffentliche und international gestaltete, selbstverständlich dann aber ökumenische theologische Bibliothek. Ich habe dies schon oft eine Schande genannt, angesichts der Unsummen, die den Kirchen heute auch in Berlin zur Verfügung stehen. Eine “multikultirelle Metropole Berlin” ohne eine “multireligiöse Spezialbibliothek” großzügigerweise und uneigennützig finanziert von den Kirchen? Das ist nur ein Traum hier in Berlin.

Sonnenschein war unermüdlich tätig, auch kirchenkritische Worte waren seine Sache: Unvergessen sein immer wieder zitiertes und treffendes Urteil über den Berliner Katholizismus der Zwanziger Jahre „Der Katholizismus in Berlin ist verdammt kleinstädtisch“. Schade eigentlich, dass bis heute kein großer Regisseur über diesen ungewöhnlichen Dr. Sonnenschein einen Film gedreht hat…

Wo also waren die Christen und Theologen in den goldenen Zwanzigern in Berlin? Sie lebten – angeblich – behütet in ihrem eigenen Getto. Man denke daran, dass sich für überzeugte Katholiken – und das waren damals nicht wenige – in den zwanziger Jahren eigentlich der ganze Alltag und die ganze Freizeit in der Pfarrgemeinde abspielte! Dazu habe ich zahllose Zeugnisse aus der eigenen nahen Verwandtschaft gehört, etwa am Beispiel der Gemeinde St. Sebastian in Gesundbrunnen. Es waren kirchliche Parallelwelten zur großen Kulturen der zwanziger Jahre. Und wenn es dann dort in all den Clubs und Tanzlokalen usw. sehr freizügig zuging, dann waren klerikale Moral-Standpauken sofort zu vernehmen. Dass noch niemand eine Mentalitätsgeschichte der katholischen (und in geringerem Umfang wohl auch evangelischen) Gemeindegettos damals (und heute!) geschrieben hat, ist ein Mangel!

Paul Tillich bewegte sich in dieser großen und schillernden Welt der zwanziger Jahre. Kann man sich vorstellen, dass auch Romano Guardini im Berlin der Zwanziger Jahre manchmal tanzen ging? Dass er die Berliner Cafés der Literaten betrat?  Inkulturation (also lebendiger Austausch von Glaube und Kultur) ist ein Stichwort der heutigen Theologie, und es wird oft nur auf Afrika und Asien bezogen. Verwurzelung des religiösen, des christlichen Glaubens in der vielfältigen Kultur im Berlin der Zwanziger Jahre – hat es dies gegeben? Ich wage begründet zu sagen: Von Ausnahmen abgesehen, sicher nicht. Getto war der oberste (UN)wert damals…

Man darf gespannt sein, wie in der TV Serie „Babylon-Berlin“ Religionen und Kirchen „vorkommen“.

Wahrscheinlich wären Philosophen heute am ehesten in der Lage, etwa vom Standpunkt einer epikuräischen Philosophie aus, nach der permanenten Suche nach Luststeigerung im heutigen Berlin zu fragen. Und Soziologen werden feststellen, dass in Berlin mehr Menschen an Wochenenden sich in Clubs vielfältigster Orientierung aufhalten und in den Kinos und Theater- und Opernhäuser als in Kirchen zum Gottesdienst. Gilt also doch „Babylon (ist) Berlin“? Vielleicht nicht, wenn man sich den Perspektiven des jungen Theologen Paul Tillich anschließt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Für eine erste gesamtökumenische Enzyklika: Ein Plädoyer von Pfarrer Manfred Richter, Berlin.

Die Fragen stellte Christian Modehn. Veröffentlicht am 2. Oktober 2017

Ende Oktober 2017 geht die „Dekade“ zu Ende, in der die Menschen nicht nur in Deutschland eingeladen wurden, der Reformation zu gedenken. In den Zusammenhang passt als kritischer Impuls sehr gut Ihre neue, umfangreiche und gut von den Quellen her belegte Studie, die Sie im Untertitel zurückhaltend „“Essay zum Ökumenismus“ nennen. Darin fordern Sie eine „Erste Gesamtökumenische Enzyklika“, also ein Lehrschreiben, das von allen christlichen Kirchen verfasst und unterzeichnet wird und in den je eigenen Gemeinden verbreitet werden kann. Was sollte der wesentliche Inhalt einer solchen, geradezu sensationellen ökumenischen Enzyklika sein?

   Das Faktum selbst sollte die erste Botschaft sein: Es gibt Aussagen unseres Glaubens, die wir von nun an gemeinsam aussprechen wollen, weil wir sie teilen. Diese „gesamtökumenische“ Enzyklika, also ein Lehr-Rundschreiben oberster kirchlicher Repräsentanten (etwa der konfessionellen Weltbünde, des ÖRK und des Vatikan) gemeinsam, sollte die Bereitschaft kundtun, das ernst zunehmen und umzusetzen, was bislang alle Kirchen als ihren Willen schon erklärt haben: vertiefte Gemeinschaft zu leben in Wort und Tat, soweit keine gewissensmäßigen Hindernisse mehr im Wege stehen. Das ist gerade bei den grundlegenden Fragen der Fall: Wir sprechen das gleiche Vaterunser, bekennen das gleiche Glaubensbekenntnis, haben die gleiche Heilige Schrift und wissen alle, was das höchste Gebot ist: die Gottes- und die Nächstenliebe.

Nun liegen seit vielen Jahren viele theologische Studien vor, die den tatsächlich schon gegebenen Konsens der bisher getrennten Kirchen beschreiben. Warum folgen die Kirchenleitungen, vor allem die römische Kirche, nicht diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen? Ist es Ignoranz oder verbissener klerikaler Machterhalt?

   Der hier von Ihnen genannte Konsens, der in den strittigen Hauptfragen im Weltrat der Kirchen gemeinsam mit Rom weltweit und auch besonders in Deutschland gefunden wurde, besagt in der Tat, dass dieses Wort von einst: „Wir verwerfen die falsche Lehre …“, nämlich der jeweils anderen, so heute zwischen unseren Kirchen nicht mehr gilt. Überall hat sich das Bewusstsein verändert, durch Einsicht in eigene Versündigungen und unverantwortliche Verweigerungen untereinander; durch theologische Aufklärung und nicht zuletzt durch die Erfahrung der Herausforderungen der Zeit, besonders der verbrecherischen Regime der Nationalsozialisten und Bolschewiken – Hier entstand die Una-Sancta-Bewegung:„Wir glauben an die Eine Heilige Kirche“ in den Gefängnissen und Kriegsgefangenenlagern.. Sicher gibt es nicht wenig Mentalität „klerikaler Machterhaltung“, wie Sie sagen – das muss jede Kirche bei sich selber prüfen. Doch müssen auch die Gewissen geachtet werden, denen diese neueren Einsichten noch fremd sind, nachdem in den Kirchen fünf Jahrhunderte lang die gegenseitige Verurteilung gepredigt wurde. Und ängstlichere Gemüter, auch in Leitungsgremien, die sich an alte Auslegungen überlieferter Formeln gebunden sehen, statt sie geistbewegt neu zu denken, müssen gewonnen werden. Es soll nicht zu neuen Spaltungen kommen.

Was wäre der neue Aspekt und der neue Inhalt einer ersten gesamtökumenischen Enzyklika?

   Aufgrund des wechselseitigen Sich-Kennenlernens in nun mehr als hundert Jahren ökumenischer Bewegung zwischen den Kirchen der Protestanten und der Orthodoxen, und seit mehr als 50 Jahren auch mit der römisch-katholischen Kirche ist ein grundlegendes Vertrauen zwischen den einstigen Feinden gewachsen. Man versteht besser, wie und warum die anderen auf andere Weise glauben – und dass wir oft Gleiches oder Ähnliches meinen, wenn auch in anderen Worten oder Strukturen und Gebräuchen. Und man fängt an, zu erkennen, dass es dabei, wie schon im Neuen Testament selber und in der Kirchengeschichte immer, Unterschiede gab und geben darf, wie überall in menschlichen Kulturen. Daher kann jetzt, meine ich, ein gemeinsames Wort gewagt werden, welches das ausspricht: Tausend Jahre Feindschaft zwischen Christen im „Westen“ und „Osten“ der Christenheit ist genug, und 500 Jahre Feindschaft innerhalb der „lateinischen“ Kirche des „Westens“ sind genug: Alle einstigen Reformationsansätze blieben unvollendet. So müssen wir öffentlich bekennen, dass wir gemeinsam an das „aggiornamento“(die erneuernde Anpassung) des Christentums für sein drittes Jahrtausend herangehen müssen. Das muss eine Botschaft an die Gläubigen nach „Innen“ sein, um die Widerstände aus Gewohnheit zu überwinden. Sie muss aber ebenso nach „Aussen“gerichtet sein: wie soll sonst die christliche Versöhnungsbotschaft in einer Welt voller Machtkonflikte zwischen Religionen und Ideologien glaubwürdig sein? Daher sollte ein Schwerpunkt liegen bei der im Kern für Christen gemeinsamen sozialethischen Botschaft zu den so missachteten Menschenrechten und zur Bewahrung der bereits in hohem Masse bedrohten Schöpfung.

Warum sind Ihrer Meinung nach immer noch theologische Dokumente, Papiere, Studien, Enzykliken überhaupt notwendig, um die Einheit der Christen zu fördern?

Der Streit der Konfessionen wurde durch Theologien und ihre Ausformulierungen in Recht setzenden Dokumenten ausgefochten, welche jeweils die „Anderen“ ausgrenzten, verurteilten oder gar der Hinrichtung preisgeben. Daher muss diesen Theologien und ihren Dokumenten, wenn sie sich absolut setzen, der Giftzahn gezogen werden. Sie müssen auf den Status von Teil-Ansichten zurückgeführt werden, die einer umfassenderen Wahrheit und einer tiefer gegründeten christlichen Praxis dienlich werden müssen.  

Was verstehen Sie unter der Einheit der Christen und der Kirchen?

   Eine bunte Vielfalt lebendig gelebter christlicher Traditionen, die sich wechselseitig bereichern und jeweils selbst relativieren im Blick auf die vielen anderen Möglichkeiten, die christliche Botschaft – das Evangelium – zu leben, und das heißt eben: „Katholisch“ im Ursprungssinne dieses Wortes zu denken und zu glauben, zu beten und zu handeln. Daher sollten unsere Kirchen zunächst eine gemeinsame Stimme finden und kundtun, verständnisvoll miteinander lernend weitergehen in dem, was wir den „konzilaren Prozess“ nennen, um eine neue Form zu finden. Damit ihre großartige universale, eben ihre „katholische“ Gemeinschaft als Kirche auch sichtbar werde – als die gemeinsame geistliche Heimat der Vielen Verschiedenen, die auf dem Wege sind.

 Nun ist die heutige konfessionelle “Landschaft” unter den Christen sehr vielfältig: Man denke etwa an die vielen auch unter sich sehr gegnerischen Pfingstkirchen und an die vielen evangelikalen Bewegungen: Hat dann die Arbeit an der Einheit der Christen noch einen realistischen Bezug?

   Es kostete seit je viel Mühe, den Starrsinn und die Machtanmaßungen geistlicher Führer zu bändigen, großer Theologen oder Päpste ebenso wie von Lokalheroen oder Gurus. Nur die konsequente Einforderung der Selbstrelativierung im Angesicht Gottes und des Nächsten und das unumgehbare Liebesgebot, also die ethische Verantwortlichkeit, werden helfen, Wege zum Miteinander ausfindig zu machen, bei Anerkennung legitimer Unterscheidungen oder Besonderheiten. Der „Weltrat der Kirchen“ (Genf) ist geradezu das Labor dazu. Die Forderung einer uniformen Rechtssetzung für eine künftige Gestalt der Weltchristenheit ist abzulösen zugunsten der Suche nach Formen einer Anerkennung bereits gelebter oder möglicher Gemeinschaft auch recht verschiedener Traditionen auf der Basis von Heiliger Schrift, Credo und Vaterunser – dies, so meine ich, durchaus in neuer Gestalt im Weltmassstab. Ein gesamtchristliches Weltforum ist überfällig.

Was treibt Sie seit Jahrzehnten so an, dass Sie immer leidenschaftlich die versöhnte Verschiedenheit der Christen, also die Versöhnung und die Einheit, fördern und fordern? Ist dieses Engagement auch auf die politische Zerrissenheit der Welt bezogen?

   Meine Taufe war römisch-katholisch. Christ wurde ich, nach gutem Religionsunterricht (einschließlich Augustinus!) lutherisch; meine Wendung zur Theologie verdanke ich Romano Guardini, dem römisch-katholischen Kulturwissenschaftler und Vorkämpfer der Ökumene in NS – Zeiten. Meine Ordination verpflichtete mich der Una Sancta, für die ich in Württemberg und dann in Berlin, hier in einer Kirche der (protestantischen) Union tätig wurde, wo wir bereits in einer einzigen großen und „vielfarbigen“ (Eph. 3, 10) christlichen Gemeinschaft jeglicher Couleur leben. Wie könnte es also anders sein, als für „eine“ Stimme und auch „eine Gestalt“ der Kirche zu kämpfen, damit sie endlich in ihrer welt – bewegenden Botschaft glaubwürdig würde? Erst so, meine ich, könnte sie selbsternannten Potentaten und hasswütigen Predigern zeigen, was Sache ist. „Warten wir nicht länger“, so könnte ich einen Wahlslogan zitieren. Ich sage: Ergreifen wir den „kairós“: Den 31. Oktober 2017 als gottgegebene Gelegenheit, über den Schatten zu springen !

Copyright: Pfarrer Manfred Richter, Berlin.

Die umfangreiche Studie Manfred Richters hat den Titel: „Oh sancta simplicitas. Über Wahrheit, die aus der Geschichte kommt. Ein Essay zum Ökumenismus“. 426 Seiten, 2017, Siedlce.

Wenn Gott schwarz wäre…Ein Buchhinweis

Wenn ein katholischer Pfarrer aus der „Demokratischen Republik Kongo“ von Rassisten aus München vertrieben wird

Ein Buchhinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 25.9.2017

So schlimm ist es bereits gekommen: Rassisten gelingt es, mit ihren Attacken einen katholischen Priester aus seiner Gemeinde in München – Zorneding (9.000 Einwohner) zu vertreiben: Über die Ereignisse berichtete 2016 sogar das ERSTE in den Tagesthemen. Nun hat der betroffene Pfarrer und habilitierte Philosoph Olivier Ndjimbi-Tshiende eine Art Rückblick auf die Ereignisse in München – Zorneding geschrieben und dabei die Chance genutzt, auch einige seiner theologischen Überzeugungen vorzutragen unter dem Titel „Und wenn Gott schwarz wäre…“

Im September 2012 wird Pfarrer Olivier, wie er allgemein wohl genannt wird, in Zorneding in sein Amt eingeführt. Nicht allen gefällt die Anwesenheit dieses afrikanischen Geistlichen im so gut katholischen, aber eben weiß – blau bayerischen Bayern. Vor allem die Ortsvorsitzende der CSU im Kreisverband Zorneding Sylvia Boher, eine promovierte Politologin, beginnt im Oktober 2015 in ihrem Parteiblättchen gegen Flüchtlinge einerseits zu hetzen und Pfarrer Olivier zu attackieren: Er hat sich erlaubt, die humane Geste in der frühen Flüchtlingspolitik von Angela Merkel öffentlich zu loben und richtig zu finden. Die AFD unterstützt die Äußerungen der CSU Frau (S. 25). Der 2. führende CSU Mann dort, Johann Haindl, nennt den Pfarrer „unseren Neger“ (S. 23).

Aus dieser Polemik der CDU Ortsvorsitzenden entwickeln sich heftige verbale Attacken gegen Pfarrer Olivier, bis hin zu unsäglichen Beleidigungen und Drohungen, die um Leib und Leben fürchten lassen. Anonyme Morddrohungen werden abgeschickt, später wird ein Rentner zu 10 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt: Er hatte gedroht, den Pfarrer während der Messe zu ermorden. Aber in Zorneding ist die Bevölkerung keineswegs geschlossen aufseiten des attackierten Opfers. „Die Leute machen ihn und seinen Pfarrgemeinderat dafür verantwortlich, dass der ganze Aufruhr um den Text der CSU Frau Boher solche weiten Kreise zieht“ (s. 34). Und das Ergebnis? Das Opfer, der afrikanische Priester, soll schuld sein am öffentlichen Streit über Flüchtlinge und „den Neger – Priester“. Pfarrer Olivier will in diesem widerlichen Milieu nicht weiter leben und arbeiten: Am 6. März 2016 kündigt er seine Abreise aus Zorneding an. Heute arbeitet der Theologe und Philosoph an der katholischen Universität Eichstätt über Flucht und Migration.

Offen bleiben in dem Buch zu den Zornedinger Ereignissen einige Fragen: Wie stark war die Unterstützung der Pfarrer Kollegen für ihren afrikanischen „Mitbruder“? Wie stark war von Anfang die Unterstützung des Münchner Kardinals Marx? Hat er dazu Stellung genommen? Wie hat sich die Parteiführung der CSU in München zu dem rassistischen Skandal verhalten? Warum wagt man es nicht in der Kirchenverwaltung des Erzbistums München, Pfarrer Olivier eine andere Stellung als Pfarrer zu geben, wenn er denn das noch will. Offenbar sind Christen in Deutschland oft nur in der Lage, Geld für Afrika zu spenden, für die armen Heidenkinder, wie man früher sagte. Aber sie sind nicht bereit, sich darüber zu freuen, dass nun aus Afrika selbst ein kompetenter Theologe seine spezielle Sicht des Glaubens erläutert. Diese Leute in Zorneding und anderswo haben offenbar wenig Interesse am Dialog, am Fragen, am Neues Entdecken. Ich hätte mir noch sehr viel mehr harte Fakten in dem Buch gewünscht. Aber offenbar ist der Autor so betrübt, dass er die Zusammenhänge rassistischer Überzeugungen von Katholiken über die CSU bis zur AFD nicht weiter ausführlich freilegen will. Angesichts der Bundestagswahlergebnisse in Bayern wäre darüber erneut zu sprechen.

Pfarrer Olivier ist so höflich, dass er seine eigenen theologischen Vorschläge zur Reform der Katholischen Kirche sehr vorsichtig formuliert. Der 2. Teil des Buches, also ca. 140 Seiten, handelt davon. Es geht um die “ewigen” katholischen Reformthemen, wie Abschaffung des Pflichtzölibates, Zulassung von Frauen zum Priestertum, mehr Barmherzigkeit, und auch dies ist wichtig für den Autor: Weniger Dogmen in einer Kirche, die tausend und einen Lehrsatz kennt und predigt.

Dies sind alles Themen, die in der europäisch dominierten Theologie seit Jahrzehnten – ohne Erfolg selbstverständlich – vorgeschlagen werden. Denn gäbe es nicht den Pflichtzölibat, bräuchte kein polnischer, indischer oder nigerianischer Priester in Deutschland die Lücken stopfen, die der Priestermangel in Deutschland und ganz Europa erzeugt. Und Pfarrer Olivier hätte von vornherein, seiner Ausbildung angemessen hierzulande die afrikanischen Formen des Christentums erklären können….

Bei dem Titel des Buches „und wenn Gott schwarz wäre“ erwartet der Leser zudem auch Hinweise zu afrikanischen Theologien und Spiritualitäten, etwa Berichte über die Inkulturation des Glaubens in den afrikanischen Kulturen. Über die Rolle des Tanzes in der katholischen Eucharistiefeier. Oder Hinweise zu den unterschiedlichen Strömungen afrikanischer Philosophien. Oder Hinweise zu dem von Rom verbotenen Ritus der „Messe von Kinshasa und Zaire“. Oder Stellungnahmen zur heftigen und in Europa als absurd empfundenen Abweisung von gelebter Homosexualität durch die allermeisten katholischen und evangelischen Bischöfe in Afrika. Das Buch „und wenn Gott schwarz wäre“ hinterlässt den Leser also nach großen Erwartungen bei dem Titel sehr ratlos. Das muss bei allem Respekt fürs Leiden Pfarrer Oliviers in Zorneding gesagt werden. Wenn Gott schwarz wäre: Würden dann die weißen Europäer den schwarzen Gott verehren? Jesus von Nazareth, geboren in Kinshasa, warum eigentlich nicht? Aber welchen Sinn haben überhaupt, philosophisch betrachtet, Farbzuweisungen zur geheimnisvollen Wirklichkeit Gottes? Unseres Erachtens gar keinen. Gott und das Göttliche haben keine Farbe und kein Geschlecht. Zentral bleibt die jesuanische Botschaft von der prinzipiellen gleichen Werthaftigkeit aller Menschen! Dies ist die Mitte des Glaubens, auch die politische. Sie passt nur all jenen Christen nicht, die sich als Europäer und CSU Mitglieder für etwas Besseres halten. Und das bedeutet: Vom Christentum haben diese Herrschaft eigentlich nichts verstanden, trotz der Predigten, Wallfahrten, Messen usw., die seit 1000 Jahren im Land der Bayern und anderswo gefeiert werden. Sind alle diese kirchlichen Veranstaltungen wirkungslos geblieben? Manchmal möchte ich das glauben.

In jedem Fall würde ich mir wünschen, wenn Pfarrer Olivier die Kraft fände, die oben genannten Themen zur Inkulturation des Christentums und des Katholizismus in Afrika oder wenigstens rund um den Kongo in einem weiteren Buch zu besprechen. Klar ist, dass uns Lesern hier dann auch die Frage dringend bewegt, wie es denn weiter geht mit der Diktatur in der „Demokratischen Republik Kongo“? Wann wird sie von wem vertrieben und verschwinden? Welche Europäer profitieren von den vielen Diktaturen in Afrika? Braucht Europa das elende Afrika für den eigenen Profit? Diese Fragen sind endlos. Sie werden selbst von aufgeschlossenen Politikern in Europa kaum noch gestellt. Und selten von Kirchenleuten, die es eigentlich wissen (müssten). Zurecht kritisiert Pfarrer Olivier,so wörtlich, die Prunksucht einiger Bischöfe hierzulande. Interessant wären seine Schilderungen, wie denn afrikanische katholische Bischöfe leben? Wie diese dann wahrscheinlich eher armen Bischöfe die Prunksucht ihrer so netten Bischofskollegen in Deutschland erleben? Denken sie dann vielleicht zu recht an Klassenunterschiede in der einen, angeblich so brüderlichen Kirche. Heiße Themen, an die sich niemand heranwagt. Weil die armen Bischöfe, wenn sie denn relativ, auf ihre Bevölkerung bezogen, tatsächlich arm sind, die paar Euros brauchen, die ihnen die Prunkbischöfe mit ihrem Milliardenhaushalt in Deutschland zuwerfen. Und man fragt sich zum Schluss, was die einst kolonisierten und misshandelten Völker Afrikas eigentlich an die Religion, also das Christentum, ihrer gar nicht so lieben Kolonialherren damals wie heute innerlich und spirituell bindet.

Olivier Ndjimbi – Tshiende, „Und wenn Gott schwarz wäre…“ Gütersloher Verlagshaus, 2017. 17,99 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin