Karl Rahner: „Jesus zeigt die göttlichen Dimensionen in jedem Menschen“.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 1.3.2017:

Er hat der katholischen Theologie und der katholischen Variante der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie die Weite und die Universalität geschenkt, die im dogmatischen Mief der Schultheologie vor dem 2. Vatikanischen Konzil erstorben war und nach dem Konzil wenigstens an einigen Orten überwunden wurde. Karl Rahner SJ, geboren am 5.3. 1904, gestorben am 30. März 1984, wollte für einen modernen Katholizismus sorgen, der den Herausforderungen durch Kant z.B. wenigstens ansatzweise gewachsen war. Rahner dachte niemals eng und kleinlich, auch wenn er als äußerst gefragter Theologieprofessor zu vielen konfessionell geprägten, also explizit katholischen Themen Stellung nehmen musste und manche seiner konfessionellen Schriften etwas Apologetisches haben, etwa seine Verteidigung der Unfehlbarkeit des Papstes. War dies dem Druck der kirchlichen Autoritäten geschuldet, die sich bekanntlich immer ins freie Denken der Theologen einmischen? Das wurde bisher noch nicht untersucht. Andererseits hat er schon in 1970 Jahren klar gesagt: Die Kircheneinheit mit den Protestanten ist jetzt möglich. Dieses Buch leider total verschwunden aus den Debatten, würde heute aber Mut machen, in gutem Ungehorsam einfach gemeinsam Abendmahl/Eucharistie zu feiern. gerade jetzt, im Reformationsgedenken. Karl Rahner war in dieser Frage niemals “brav”, heutige Katholiken und Theologen sind nach wie vor brav und verängstigt (“Ungehorsam könnte die Karriere kosten” usw…)

Karl Rahner hat aber vor allem bewiesen, dass Argumentieren und Fragen und philosophisches Debattieren einen festen Platz in der menschlichen Haltung, Glauben genannt, haben müssen. Entscheidend ist: Karl Rahner hat sich bemüht, die zentralen Lehren und Überzeugungen der christlichen Tradition (Dogmen genannt) mit den Erfahrungen der Menschen in Verbindung zu bringen, bis dahin, dass er die Dogmen als Ausdrucksformen der menschlichen religiösen Selbsterfahrungen deutete. So sollte die Fremdheit zwischen Glauben und Lebenserfahrung überwunden werden, ein großartiges Unternehmen, das heute schon wieder vergessen ist.

Dies ist wohl seine bleibende Bedeutung, darin bleibt er eine Provokation. Diese großartige Leistung bringt ihn in meiner Sicht und in dieser Perspektive (!) in die Nähe einer modernen liberalen Theologie bringt. Bis heute hingegen werden von Theologen, nicht nur in der römischen Kirche, Dogmen etc. als hinzunehmende “Fremdkörper” des Denkens hingestellt, so wird der Bruch zwischen Glauben und Vernunft vertieft, also der enorme Abstand zwischen geistvollem Leben und Glauben zementiert. „Credo quia absurdum“, dieser furchtbare Spruch geistert noch immer in den Köpfen der Kirchenleute und der Christen herum, vielleicht gerade jetzt, in den Erinnerungen an das Reformationsgeschehen. Luther war ja bekanntlich ein entschiedener Gegner philosophischer Debatten. Er hat die dialektische Theologie inspiriert und den unvernünftgen „Sprung in den Glauben“. Zurück zum Luther-Jahr: Ob darüber offen gesprochen wird? Ob das freie Nachdenken wieder eine Chance im Protestantismus und vor allem in den enthusiastischen evangelikalen Kreisen erhält? Ob es ein Ende gibt in dem bloßen Zitieren von Bibelsprüchen, um etwa katholische Sonderlehren zu begründen? Man denke etwa an die fundamentalistisch anmutende Begründung des Papsttums durch angebliche Sprüche Jesu von Nazareth (siehe etwa das neue Papstbuch von Kardinal Müller, Rom).

In jedem Fall: Karl Rahner bleibt von unerreichter Größe, wenn es um die Universalität der christlichen Grundüberzeugungen geht. Im Band 9 seiner „Schriften zur Theologie“ (1970, Seite 212) schreibt er zum Beispiel: „Wir setzen die Einmaligkeit Jesu falsch an, wenn wir ihn nur als den Sohn Gottes betrachten, der Menschen gegenüber tritt, die zunächst einmal mit Gott gar nichts zu tun haben; wenn wir Jesus bloß als Boten aus einem göttlichen Jenseits sehen hinüber zu einer Welt, die mit Gott noch gar nichts zu tun hat“. Diese Fremdheit zwischen Christus und den Menschen im allgemeinen ist für Rahner völlig unzutreffend! Er fährt fort: “In Wirklichkeit sind wir aber in der ganzen Geschichte der Menschheit Kinder Gottes“. Sind es „immer schon“, müsste man in Rahners eigenen Worten weiterformulieren. Das heißt: Jesus von Nazareth macht in seinem Leben und Sprechen und Handeln nur sichtbar und offenbar, dass die Menschheit im ganzen mit Gott selbst immer schon eins und verbunden ist…Jeglicher konfessionalistischer Wahn ist so zurückgewiesen. Welchen Sinn dann Predigt und Mission haben, hat Rahner klar gesagt. Auch dies wird heute gern und bewusst beiseite geschoben.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Katholisch heißt immer noch (oft) fundamentalistisch denken: Eine vernünftige Nonne wird verteufelt.

Wie die katholische Dominikaner-Nonne Lucia Caram Hass und Morddrohungen auf sich zieht

Ein Hinweis von Christian Modehn

Was hat die Nonne Schwester Luzia Caram aus dem Dominikaner-Orden Furchtbares gesagt in einem Fernsehinterview in Barcelona Ende Januar 2017? „Ich glaube, dass Maria in Josef verliebt war. Dass sie ein normales Paar waren und aller Wahrscheinlichkeit entsprechend: Hatten sie auch sexuelle Beziehungen. Der Sex ist eine schöne Form, Gefühle auszudrücken und die Liebe. Aber für die Kirche ist dies ein schmutziges Thema und es wird versteckt. Ich aber glaube, Sex ist ein Segen. Ich glaube auch, dass wir uns getäuscht haben in unserer Art diese Dinge zu lehren: Wir wollten die Botschaft des Evangeliums in irgendeine bloß spirituelle Sache umwidmen (convertir). Und wir wollten die absurde Idee einschärfen, dass der Körper das Gefängnis der Seele ist. (übersetzt nach Libération, Paris, vom 14. 2. 2017, übers.von Chr. Modehn).

Die Tageszeitung Libération zitiert den Erzbischof von Barcelona: «Il s’agit d’un grave scandale. C’est un affront intolérable contre un point fondamental de la doctrine catholique“.“ Es handelt sich um einen schweren Skandal. Es ist ein nicht hinzunehmender Affront gegen einen fundamentalen Punkt der katholischen Doktrin (sic!)“.

Der Wortführer der spanischen Bischofskonferenz, Jose Maria Gil Tamayo, kündigte an, dass die Kirche diesen „problematischen Fall“ studieren wird, diese Äußerungen einer Frau, „die die Reinheit der Botschaft Christi mit ihren Äußerungen beschmutzt“. Der Bischof der spanischen Diözese VIC sagte in Bezug auf die nicht – vollzogene Ehe von Maria und Josef: “Esta verdad de la fe fue recogida y proclamada de manera definitiva por el Concilio II de Constantinopla, siendo el primer dogma mariano y compartido por los cristianos católicos y ortodoxos”. “Diese Glaubenswahrheit wurde erkannt und proklamiert auf definitive Weise vom 2. Konzil zu Konstantinopel (es fand vor kurzem, im Jahr 553, statt, C.M:);  es ist das erste Marien-Dogma und es wird geglaubt (geteilt) von katholischen und orthodoxen Christen”, so El Mundo, 1.2.2017.

Inzwischen erhält die mutige und vernünftig denkende Nonne Morddrohungen von fundamentalistischen, d.h. dummen Katholiken. Diese Leute können Glauben und Vernunft nicht verbinden. Und können nur glauben, wenn überall Wunder passieren (im Falle der Ehe Marias mit Josef) und Sex nur verheimlicht wird.

Schwester Luzia, 51 Jahre, stammt aus Argentinien, sie lebt in der Nähe von Barcelona, in einem kontemplativen Kloster, das sich um ca. 1400 arme Familien helfend und beratend kümmert. Sie ist im ganzen Land bekannt und beliebt, weil sie auch eine eigene Koch-Sendung im “Canal Cocina”, Kanal Küche, hat, dieses Programm mit der kochenden und manchmal vor berechtiger theologischer Wut “kochenden” Nonne wird auch in Lateinamerika viel gesehen. Ihr sehr altes, sehr ehrwürdiges und doch von einer modernen Nonne bewohnte Kloster in Manresa, bei Barcelona, hat den Namen “Convento Santa Clara”. Dies für alle, die unterstützenden Kontakt mit der Dominikanerin aufnehmen wollen.

Wir im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon freuen uns natürlich bei allen Problemen, die sich die Nonne durch ihre treffenden Worte eingehandelt hat: Dass Schwester Luzia aus Barcelona das selbe sagt, was wir zum Thema Heilige Familie veröffentlicht haben, zur Lektüre dieses Beitrags klicken Sie hier.

Gleichzeitig ist es interessant zu sehen, wie stark der Katholizismus immer, noch bis in die höchsten Kreise, vom Fundamentalismus bestimmt ist, also etwa in der Ablehnung einer historisch-kritischen Bibelforschung.

Das Schlimmste ist wohl, dass ein freies und umfassend freies Wort in der römischen Kirche nicht möglich ist. Dies zu sagen ist im Reformationsjubiläum 2017 wohl besonders wichtig.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Gott ist nicht tot, vielleicht hat er nur neue Kleider? Ein Katechismus des Mitgefühls.

Gottes „neue Kleider“. Der niederländische “Katechismus des Mitgefühls”.

Ein neuer Katechismus – eine Einladung, selber zu denken und den eigenen Glauben zu entwickeln.

In meiner Ra­dio­sen­dung im NDR (in der Reihe “Glaubenssachen” am 19.2. 2016) mit dem Titel “Glauben ist einfach” (klicken Sie hier) wurde der niederländische Katechismus des Mitgefühls kurz erwähnt. Einige HörerInnen waren daran so interessiert und fragten, ob es diesen menschenfreundlichen und un-dogmatischen Katechismus auch auf Deutsch gibt. “Leider nicht”, heißt meine Antwort. Ich habe aber 2010 einige ausführlichere Hinweise zu diesem bemerkenswerten Buch geschrieben, Hinweise, die ich hier noch einmal, am 21.2.2017, vorstelle:

Die 150 Abgeordneten des Niederländischen Parlaments (Tweede Kamer) erhalten dieser Tage (also 2010) einen Katechismus geschenkt. Ungewöhnlich, in einem säkularisierten Land wie Holland. Dabei handelt es sich nicht um den Versuch, klerikale Machtansprüche in der Politik durchzusetzen, das liegt den Autoren des ungewöhnlichen Katechismus auch völlig fern. Denn sie treten als “freisinnige, liberale Christen” entschieden für die Trennung von Kirche und Staat ein. Aber ihnen liegt daran, mit allen Menschen, auch mit Politikern, in einen partnerschaftlichen Dialog einzutreten, nicht über Dogmen, wohl aber auch ethische Orientierungs  – Vorschläge!

Es ist schon komisch: Ausgerechnet in Holland erscheint dieser Tage ein neuer Katechismus. Ist das Wort „Katechismus“ nicht völlig out, völlig verbraucht, gerade in den Niederlanden, wo nur noch etwa 35 Prozent der Bevölkerung Mitglieder einer christlichen Kirche sind und die wenigsten Menschen von dogmatischen Lehren unterwiesen werden wollen? In dieser Situation muss man schon etwas Außergewöhnliches vorweisen: Der neue holländische Katechismus  konnte entstehen, weil die vier freisinnigen christlichen Kirchen Hollands angesichts des zunehmenden Einflusses konservativer und reaktionärer Kirchen deutlich ihre eigene Stimme erheben, die Stimme der Freiheit, die dem Nachdenken allen Raum lässt und eben keine fertigen „ewigen“ Wahrheiten präsentiert. Es sind keine Leitungsgremien, keine Bischöfe und keine Päpste, die diesen Katechismus verfasst haben, sondern zwei Pfarrer, die im ständigen Austausch mit der Kultur der Gegenwart stehen: Christiane Berckvens – Stevelinck, Theologin der Remonstranten Kirche, und Ad Ablass, Theologe der freisinnigen Strömung innerhalb der Protestantischen Kirche (PKN) legen ein Buch vor, das in 12 Kapiteln Grundworte der menschlichen Kultur erläutert, Grundworte, die ihre Wurzeln in den biblischen Traditionen haben.  Am Anfang steht die „Compassie“, das Mitleid, am Ende die dem Mitgefühl und der Empathie verwandte Liebe. Andere Themen sind Gleichheit, Verbundenheit, Versöhnung, Gerechtigkeit, Friede, Wahrheit, Freiheit, Berufung, Glaube und Gott. Das neue Buch nennt sich ausdrücklich „Katechismus des Mitleids“, ein zweifellos ungewöhnlicher, wenn nicht gar provozierender Titel. Aber er deutet das Ziel an: Die LeserInnen werden eingeladen, angesichts der humanen, ökologischen und politischen Katastrophen der Gegenwart das Mitleiden zu entwickeln, nicht nur als spirituelle Haltung, sondern vor allem als aufgeklärtes Handeln zugunsten der Leidenden. Aber dieser Appell zum Handeln ist nicht dick aufgetragen, vielmehr bieten die einzelnen Kapitel Informationen und meditative Impulse zu diesen Grundworten humaner Existenz. So ist ein Buch entstanden, das sich wohl am besten in einer eher „meditativen und behutsamen Lektüre“ erschließt. Nebenbei: Das Buch verdankt wesentliche Anregungen der britischen Philosophin und ehemaligen katholischen Nonne Karen Armstrong, die sich ausdrücklich für eine „Charta des Mitgefühls“ einsetzt. So gehört dieses Buch zu dem weltweit entstehenden Netwerk „Compassion“! Alle Kapitel des Katechismus werden „eingeleitet“ mit schönen Nachdrucken von Gemälden, Chagall ist genauso vertreten wie Rembrandt, Claudio Taddei genauso wie Caravaggio oder Ferdinand Hodler. Die eigens für das Buch gefertigten Gemälde der Künstlerin Brigida Almeida aus Utrecht beschließen jedes Kapitel. Im Text werden die Leser mit einer Fülle an Informationen aus der Literatur, dem Film, dem Theater konfrontiert, Informationen, die gleichermaßen die Schwierigkeiten wie die Chancen einer Lebenshaltung vorstellen, die sich von den 12 „Katechismus – Grundworten“ inspirieren lassen will, biblische Perspektiven sind jeweils ein Kapitel unter den anderen. Das ist der typische freisinnige Geist, dass keinem „Bibel – Fanatismus“ gehuldigt wird, sondern spirituelle Inspirationen auch im „weiten Feld“ der Religionen und Kulturen präsentiert werden. Sympathisch werden es Berliner finden, dass zum Thema Freiheit schon im Titel auf den berühmten Ausspruch John F. Kennedys verwiesen wird: „Ich bin ein Berliner“, ein Ausspruch, der heute als Bekenntnis gegen alle Formen des Totalitarismus verstanden wird. Äußerst sympathisch ist auch, dass das Kapitel über die Liebe mit einem Bild von Julius Schnorr von Carolsfeld eröffnet wird, das die beiden Liebhaber David und Jonathan zeigt., sicher ist auch die Entscheidung für dieses Bild typisch für Freisinnige in Holland: Die Remonstranten waren ja die erste Kirche weltweit, die schon 1986 homosexuelle Paare –gleich welcher Konfession- in ihren Kirchen segnete. Sympathisch ist auch, dass der ungewöhnliche, progressive katholische Theologe Karl Rahner als Verteidiger der Mystik erwähnt wird.

Dies ist wohl der entscheidende Eindruck: Dieser auch vom Layout so schöne und freundliche Katechismus der freisinnigen Christen plädiert für die Mystik, sicher für eine moderne, eine durch die Aufklärung „hindurchgegangene” Mystik: Aber doch wird aller Nachdruck gelegt auf das innere Erleben des Göttlichen, das sich im Handeln ausdrückt. In der Mystik sehen die Autoren ohnehin die Zukunft des Religiösen. Interessant könnte es sein, wie sich die freisinnigen Kirchen selbst zu Orten (multi-religiöser) Mystik entwickeln. Vielleicht ist diese Mystik das neue Profil der Freisinnigen und ihrer Gemeinden? Vielleicht können sie mit diesem Profil weitere undogmatische, aber mystisch Interessierte einladen? Die niederländischen Autoren sind jedenfalls überzeugt: Gott ist nicht tot, er zeigt heute nur neue, ungewöhnliche „Gesichter“. Er hat vielleicht neue Kleider angelegt, wie die Autoren schreiben.

“Catechismus van de compassie”. Erschienen im Verlag Skandalon, in Vught, Holland. ISBN 978-90-76564-94-4.

 

Der Papst. Zu einem neuen Buch von Kardinal Gerhard Müller, Rom.

Ein Hinweis von Christian Modehn. Veröffentlicht am 16. Februar 2017

1.

Die Widmung Müllers gleich zu Beginn zeigt bereits die Richtung des auf über 600 Seiten ausgebreiteten Inhalts: Auf Latein geschrieben, wie es sich wohl für den obersten Glaubenswächter in Rom gehört, sagen schon die ersten beiden Zeilen sehr viel, von Chr. Modehn übersetzt:  „Der heiligen römischen Kirche, der Mutter und der Lehrmeisterin aller Kirchen…. widmet der Autor dieses Buch“.

2.

Die römische Kirche als Lehrmeisterin aller Kirchen … und der Papst dann als oberste Lehrer aller, diese Worte, 2017 ausgesprochen, sind doch verstörend. Diese Behauptung ist eine schlechte Empfehlung für alle weiteren ökumenischen Bemühungen im Lutherjahr 2017: Rom als die „Mutter aller Kirchen“ muss doch von allen (auch abtrünnigen Söhnen) geliebt werden. Zurück zur Mutter-Brust könnte man denken… Der Kardinal in seinem Vatikan-Palast sieht „bislang unüberbrückbare dogmatische Gegensätzen zwischen Katholiken und Protestanten“ (S. 489), nämlich im Blick auf das Weihesakrament! Diese Gegensätze sehen viele Katholiken an der Basis sicher nicht mehr. Sie wollen darum endlich gemeinsam Abendmahl feiern mit Protestanten, siehe etwa das aktuelle und richtige Statement von Pater Klaus Mertes SJ, klicken Sie hier. Aber der hohe Herr im vatikanischen Palast insistiert auf der dogmatischen Überlegenheit des Katholizismus, also bestehen die unversöhnten Gegensätze fort.

3.

Wie sich katholischer Glaube zusammensetzt, dürfte auch für Protestanten interessant sein, Müller sagt: „Er ergibt sich aus der Heiligen Schrift, dem Glaubensbekenntnis, den Katechismen, den bisherigen Lehrentscheidungen der Kirche“ (S. 332). Für die Freunde der „liberalen wissenschaftlichen Theologie“ also der Hinweis meinerseits: Von Vernunft als Quelle eines humanen Glaubens ist da keine Rede… Aber wichtig ist der folgende Satz von Müller, der alle Korrektur, alle Zurücknahme früherer, jetzt aber im Denken vieler doch heute überholter Lehren betrifft: „Die schon entschiedenen Glaubensfragen können auch nicht mit dem Vorwand ihrer Weiterentwicklung ins Gegenteil verkehrt werden“ (332). So etwas nennt man wohl einen steinernen, leblosen Dogmatismus, dem jegliche Lebendigkeit und Wandelbarkeit durch das gelebte (religiöse) Leben und Erkennen abgeht. Warum? Um die eigene Macht- und Privilegien-Position unbedingt zu halten…

4.

Dieses umfangreiche Opus des Kardinals erscheint gleichzeitig mit einem Buch, das ein Mann verfasst hat, der Jahre lang als Junge von einem Kapuzinerpater in der Schweiz missbraucht wurde: Daniel Pittet ist der Name des Opfers. Der Priester, der immer wieder vergewaltigte und dann von einem Kloster zum anderen versetzt wurde, heißt Joel Allaz, er lebt in einem Kloster in der Schweiz. Für dieses Buch von Daniel Pittet, voller schlimmster Erinnerungen, hat Papst Franziskus ein Vorwort geschrieben! Das passiert ja nicht alle Tage: der Papst als Autor eines Vorwortes. Der Titel de Buches: Mon Père, je vous pardonne (éditions Philippe Rey). Für Müllers Werk über den Papst hingegen hat Papst Franziskus nichts geschrieben.

5.

Kardinal Müller schildert auf 90 Seiten gleich zu Beginn seine glanzvolle Karriere voller tiefer Gläubigkeit im „Dienst“ „der“ Kirche. In diesem biographischen Teil lobt der Kardinal Papst Benedikt XVI. in den höchsten Tönen, er konnte „auf eine bewundernswerte Kenntnis der Theologie- und Dogmengeschichte zurückgreifen“ (S. 95 usw.)…Das theologisch und exegetisch völlig veraltete und überholte dreibändige Werk Ratzingers über Jesus von Nazareth lobt Müller selbstverständlich:

Beide, Ratzinger und Müller, sind von demselben Geist: Sie verstehen die Aussagen des Neuen Testaments im Grunde wortwörtlich, die sie zur Verteidigung ihrer eigenen Position brauchen: Also: Jesus hat den armen Fischer Petrus als ersten Papst gewollt und bestellt. Jesus von Nazareth wollte eine Kirche gründen, die katholische Kirche, natürlich: Solche bibelwissenschaftlichen Behauptungen kann heute kein Theologiestudent mehr in einem Exegese-Seminar vertreten. Eminenz Müller tut es. Da wird eine fundamentalistische Bibeldeutung betrieben, passt dies zu einem einstigen Theologieprofessor (in München)? Soll man über den Satz Müller lachen oder weinen? Wenn er sagt: Jesus habe also den Apostel Simon (Petrus) zum Felsen gemacht, auf dem er seine Kirche aufbauen will: „Damit ist Jesus selbst der Urheber der Verfassung der Kirche“. Fehlt bloß noch, dass sich Jesus von Nazareth irgendwann bei einem Spaziergang durch Palästina, schon die Glaubenskongregation in Rom, einstmals das grausame Heilige Offizium und die Inquisitionsbehörde wünschte…Interessant wäre es, wenn der Satz aus dem Matthäus-Evangelium (23,8) mit der gleichen fundamentalistischen Energie im Vatikan interpretiert und vor allem gelebt würde, der Satz aus dem Munde Jesu an seine Jünger heißt: “Nennt euch nicht Meister”. Also, Ihr seid keine Meister, keine obersten Lehrer, keine Direktoren eines heiligen Offiziums…

6.

Während die Lobeshymnen auf Ratzinger recht lang ausfallen in der Biographie Müllers, sind die Worte zu Papst Franziskus eher karg. Und ich weiß nicht, ob Müller sich des Lobes, der Ironie oder des Zynismus bedient, wenn er die wenigen Zeilen im Kapitel “Meine Lebensgeschichte” zu Papst Franziskus wiederum auf Latein mit der Überschrift versieht: “Feliciter regnans“, also „glücklich“ bzw. auch „mit Erfolg regierend“. Man muss nur die Weihnachtsansprachen von Papst Franziskus vor der Kurie in Rom lesen, um zu sehen: Dieser Papst ist mit diesem seinem Hof (curia) höchst unzufrieden. Und mit den ultrakonservativen neuen Orden ist er ebenfalls nicht glücklich, geschweige denn mit dem Finanzgebahren des Vatikans. Dass er mit einer prunkvollen Palast-Wohnung nicht glücklich war, zeigt sein bescheidenes Leben in einer Art Hotel „Haus St. Marta“ usw. usw…

Das soziale Engagement des angeblich glücklich regierenden Papstes erwähnt Müller ausführlicher: Dass im Sozialen auch ein neues theologisches (!) Amtsverständnis sichtbar wird, sagt Müller nicht. Für ihn ist Papst Franziskus eine Art sozialer Prophet. „Der bessere Theologe bin ich, Müller“, denkt man dann wie automatisch.

7.

Durchgehend wird, beinahe für den philosophisch gebildeten Leser unerträglich, die feindselige Abwehr des Herrn Müller gegenüber der Aufklärung, dem “Freidenkertum” (was auch immer Müller darunter verstehen mag), dem liberalen Denken und dem Kulturprotestantismus ausgebreitet. Von „Selbstdenkertum der Moderne“ ist abfällig die Rede, was soll diese Bezeichnung? Würden mehr Menschen selbst denken und urteilen, würde es besser in der Welt und der Kirche aussehen. Dieser Theologe bejaht nicht die Aufklärung, die Trennung von Kirche und Staat und die Laizität. Wie sehr schätzt er eigentlich die Demokratie? Mit dem Philosophen und Politiker (und Berlusconi-Freund) Marcello Pera ist Müller der Meinung, dass die (in meiner Sicht ja bloß ansatzweise) “Versöhung von Christentum und Moderne” ein Fehler für die katholische Kirche ist (399).

8.

Müller betont einmal mehr seine Freundschaft mit dem Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez aus Peru. Müller betont, wie wichtig ihm die Befreiungstheologie wurde. Mit seiner Freundschaft zu Gutiérrez will er die Theologie der Befreiung spalten, in eine gute (moderat wie Gutierrez) und in eine böse, weil radikale auch Papst-kritische, repräsentiert in dem großen Leonardo Boff… Müller sagt, er habe auch in Peru Theologie doziert. Ob er dort Befreiungstheologie dozierte oder aus seinem Dogmatik-Handbuch aus Regensburg vorgelesen hat, wissen wir nicht so genau. In jedem Fall hat das Leben in der angeblich bitteren Armut Perus den Herrn Kardinal Müller nicht dazu bewogen, nun in Rom weiterhin explizit den Impulsen der Befreiungstheologie zu folgen. Oder seinen eigenen Wohn-Palast aufzugeben und etwa im Sinne der Befreiungstheologie arm in einem Hochhaus in der römischen Vorstadt zu wohnen. Nach einer jüngsten Veröffentlichung des Vatikan-Insiders, des Journalisten Gianluigi Nuzzi „bewohnt Müller laut internen Dokumenten eine knapp 300 Quadratmeter große Wohnung im Zentrum Roms. Sie ist dem Leiter der Glaubenskongregation vorbehalten und gehört dem Vatikan. Für viele dieser Wohnungen ist keine oder geringe Miete fällig“ (Wochenblatt Regenburg vom 30.12. 2015, Autor Christian Eckl).

Also: Nichts als Nebel, wenn die Freundschaft zu Pater Gustavo Gutierrez OP so deutlich gepriesen wird und sich Kardinal Müller als Freund der Armen und ihrer Theologie etablieren will, siehe dazu schon einige Hinweise zu Müller und seiner Freundschaft mit Gutiérrez vom 2.1. 2016, klicken Sie hier. .

9.

Man suche bitte im Register des Buches nach Namen, die zu dem Thema Papsttum von höchster wissenschaftlicher Bedeutung sind. Hans Küng sucht man vergeblich. Sein Name kommt nicht vor. Küng ist immer noch ein Verschmähter, zu klug für die Beamten im Vatikan. Er darf auch in Herrn Müllers Papstbuch nicht vorkommen. Küng hat bekanntermaßen das wichtige Buch „Unfehlbar“ geschrieben. Auch Hubert Wolf, Kirchenhistoriker, sucht man vergebens. Auch Leonardo Boff, den Befreiungstheologen. Hingegen kommt Lenin zweimal vor… Den Namen Benito Mussolini sucht man auch vergebens, er hat bekanntlich den Deal geführt, der zur Gründung des Staates Vatikanstadt führte. Nebenbei: Zur doppelten Rolle des Papstes als geistlicher Führer und als Staatschef habe ich bisher nichts gefunden in dem Buch von Müller. Auch den Namen Lorenzo Valla sucht man vergebens. Er hat schon im 15.Jahrhundert nachgewiesen, dass die so genannte Konstantinische Schenkung eine Fälschung ist. Aber der reaktionäre Papst-Verteidiger Joseph de Maistre hätte gut in die Reflexionen von Herrn Müller gepasst.

Auch die Literaturliste, offenbar die verwendete Literatur, ist dürftig. Hans Küng wird auch da nicht erwähnt. Hingegen Dietrich Bonhoeffer, den Müller manchmal zitiert, aber nicht dessen Überzeugung, man müsse als Christ heute so leben, als gäbe es Gott nicht usw…Der italienische Politiker Marcello Pera wird erwähnt mit seinem Buch über (bzw. gegen) den Relativismus. Pera stand und steht Berlusconi sehr nahe. Insgesamt ist das ein klägliches, sehr auf konservative Autoren gerichtetes Literaturverzeichnis. Man wird neugierig, wenn völlig entlegene Werke im Literaturverzeichnis auftauchen, etwa das Buch von Richard Baumann über den Papst, das in einem Verlag erschien, der sonst explizit traditionalistisches Schrifttum verbreitet. Baumann war hoch umstrittener Konvertit zum Katholizismus. Konservative Autoren als Literaturempfehlung im Verzeichnis, Remigius Bäumer, Louis Bouyer, Kardinal Walter Brandmüller, Heinrich Denifle, Ludwig Ott, Kardinal Leo Scheffczyk  usw…Manch ein Leser hätte förmlich Lust, Bücherpakete von aktuellen Theologen nach Rom zu senden…

10.

Man wird den Eindruck wieder einmal nicht los: Diese Art von offizieller, man möchte sagen, Vatikan-staatstragender Theologie erweckt Assoziationen an das Niveau der alten Parteihochschulen der SED und anderer kommunistischer Parteien: Da wird hier wie dort nur selbst-bezogen argumentiert; die offiziellen Texte werden nach offizieller Lesart bearbeitet und zitiert; Funktionäre zitieren sich gegenseitig, Parteibeschlüsse bzw. Bischofsbeschlüsse, Konzilienbeschlüsse, Ergebnisse bilateraler Arbeitsgruppen usw.  werden hin und her zitiert. Die „Argumente“ dienen dem Machterhalt der Institutionen und ihrer Profiteure. Von kritischem, wenigstens wachem Geist kein Spur. Dies ist das Elend der offiziellen katholischen Theologie.

Sie ist in unserem Beispiel keine unabhängige Wissenschaft. Sie kennt keinen Abstand zum privaten Glauben des Autors Müller, der oftmals esoterisch gefärbt ist. Wie anders als esoterisch, also nicht-theo-logisch, d.h. logos-mäßig, vernünftig argumentierend, kann man denn diesen Satz von Herrn Müller (S. 102) lesen zur Ehe-Theo-„logie“: „Die Ehe ist als Sakrament eine vollkommene Analogie der hingebenden Liebe Christi am Kreuz, durch die er sich die Kirche als Braut erworben hat… Weil Gott selbst (!) die christlichen Ehegatten aufgrund ihres freien Ja-Wortes miteinander verbunden hat, sind sie darum in Christus ein Fleisch geworden. Und darum ist die Ehe auch innerlich unauflösbar“ (S. 103). Nur einmal als Test: Man lese bitte diesen Satz jungen Leuten vor, vielleicht Eheleuten in einem Elendsviertel in Lima, Peru, oder in Berlin-Kreuzberg laut vor und überprüfe die Reaktionen…  Man sieht nur an diesem Beispiel, dass Müller mit seinem Papst-Buch auch die heute angeblich so furchtbar wichtigen Themen der Ehe-Theologie mitbehandeln will.

11.

Es ist ein Beleg für die abgehobene Sonderrolle in einer abgeschlossenen Sonderwelt im Vatikan, dass sich Kardinäle, so auch Herr Müller, mit dem eher zum Schmunzeln führenden Namen „Gerhard Kardinal Müller“ tatsächlich als Autor präsentieren… und bitte auch in ergebenen katholischen Kreisen so angeredet werden wollen. Und die Ergebenen tun das auch.  Ich hätte spaßeshalber Lust, meinen kurzen Beitrag so zu zeichnen: „Christian Journalist Modehn“. Geschrieben am Hochfest der heiligen Juliana von Nikomedien oder wahlweise am Hochfest des seligen Papstes Gregor X. Dies ist säkular gesprochen: Der 16. 2. 2017.

Noch etwas nebenbei: Kardinal Müller hat sein Opus, wie er auf Seite 16 im Vorwort schreibt, vollendet zu Rom, „am Hochfest der Cathedra Petri 2017“. Für alle nicht so einschlägig Gebildeten: Dieses Fest feiern die Kardinäle in Rom und anderswo am 22.Februar. Es heißt auf Deutsch: “Petri Stuhl-Feier”. Gefeiert wird der Sitz Petri! Verwunderlich ist: Das Vorwort wurde laut Datierung (22.2. 2017) von Herrn Müller geschrieben nach dem Erscheinen des gedruckten Werkes. Ich habe das Buch seit dem 14. 2. 2017 in den Händen. Ist da etwa ein Druckfehler passiert? Oder findet da eine Art klerikales Bedürfnis einen Ausdruck, dieses Buch an einem Papstfeiertag zum Druck abgegeben zu haben?

Das Buch “Der Papst. Sendung und Auftrag” ist am 14.2.2016 im Herder Verlag erschienen. Es wird weitere Debatten über den Zustand katholischer Theologie in Rom auslösen. Dieser Beitrag war eine erste kritische Ermunterung, in dieses voluminöse und verstörende Werk zu schauen…Wenn man sich die Zeit nehmen will, in die “Tiefen” einer reaktionären klerikalen Theologie einzudringen…Diese Theologie aber ist Ideologie: Sie sammelt nur Argumente zur Verteidigung der bestehenden Papstkirche…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

The­sen­an­schlag heute: Kurz und störend. Ein Projekt zum 31. Oktober 2017!

Neun Komma fünf (9,5) Thesen zur Gesellschaft und zu den Kirchen. Als neuer Thesen – Anschlag.

Anstelle der heute schon wieder üblichen, in Büchern usw. veröffentlichten 95 Thesen:

Also: Neuneinhalb Thesen! Sie sind überschaubarer und vielleicht “heftiger”…

Thesen sind Einladungen zum Weiterfragen. Sie haben nichts Abgeschlossenes. Sie können selbstverständlich nicht „alles“ sagen zum Thema „Reformation 2017“.

Diese Thesen sind vor dem Hintergrund der Bedrohung der Demokratien durch das Lügen-Regime von Mister Trump formuliert sowie angesichts der Macht der Rechtsradikalen in ganz Europa; angesichts des Mauerbauens  rund um Europa; angesichts des vom reichen Europa zugelassenen massenhaften Krepierens von Afrikanern auf dem Mittelmeer; angesichts der zugelassenen “neuen KZs, die sich heute Flüchtlingslager nennen” (Zitat von Papst Franziskus, April 2017). Diese Thesen zum Reformationstag sind formuiert vor dem Hintergrund der Bedrohung der Menschheit durch (von Menschen gemachte) ökologische Katastrophen und durch die von Menschen gemachten bzw. gewollten Kriege. Diese sind intendiert von der Gier der Waffenproduzenten in Europas und Amerika. Gegenüber diesen Herren sind offenbar alle machtlos, nur die üblichen mahnenden Worte werden gesprochen…

Unsere leitende Erkenntnis ist also: Angesichts dieser Welt heute kann man nicht mehr „wie immer schon üblich“ von Reformation oder gar von Luther, Kirche, Spiritualität usw. reden und entsprechende Kirchen-Veranstaltungen planen. Haben wir das alles nicht schin 100 mal erlebt? Neues muss gesagt werden. Neue Thesen sollten gewagt werden. Die Erinnerung an einst ist wissenschaftlich wichtig, existentiell im Augenblick aber nicht so wichtig.

Lassen wir also Luther einmal beiseite und seine ewig wiederholten Prinzipien. Diese sind altbekannt, in schätzungsweise 50 neuen Lutherbüchern 2016/17 dargestellt: All das hat aber politisch bis jetzt wenig bewirkt. Widerstand gegen Unrecht, Unrechtssysteme und Lügensysteme ist bekanntlich alles andere als eine Kategorie im Denken Luthers und der meisten Lutheraner.

Es gilt heute den humanen Kern der biblischen Botschaft als menschlicher Weisheit freizulegen. Es gilt aber vor allem, einen alle Menschen verbindenden Humanismus der Vernunft zu entdecken und zu fördern. Dies ist die aktuelle Aufgabe der christlichen Kirche.

Wir verstehen die 9,5 Thesen als Projekt, an dem sich möglichst viele beteiligen können und sollen.

Gudrun Modlich hat am 27.9.2017 ihre neuneinhalb Thesen veröffentlicht:

Ist es sinnvoll an einen Gott zu glauben? Wenn ja, an welchen Gott?

9,5 Thesen von Gudrun Modlich

Vorwort:    Durch das Buch des Dalai Lama: “Ethik ist wichtiger als Religion” wurde mir klar, dass eigentlich gar nicht die Religionen ihre Ethik an die Menschen herantragen, sondern die Menschen sind es, die ihre jeweilige Ethik in ihre Religion hineinlesen. (Die Bewertung der Relevanz von Bibel- oder Koranstellen etwa erfolgt immer – unbewusst – im Licht des viel geschmähten “Zeitgeistes” oder – wie im Falle der Homophobie – um sein eigenes Unbehagen zu legitimieren.) Ein atheistischer Mensch verhält sich nicht unethischer als ein religiöser; das Maß an Mitgefühl und Altruismus korreliert nicht mit der Frömmigkeit. Was also bietet das Postulat eines Gottes? Ich habe etliche fromme Menschen erlebt, deren Glaube im Leid die Nagelprobe nicht bestand. Atheistisch erzogene Menschen hingegen griffen, um mit unverstehbarem Leid zurechtzukommen, zu einem sehr einfachen Gottesbild, das ihnen half. Im Folgenden versuche ich die Grundzüge dieser “Basisreligion” zu skizzieren, ohne Begriffe zu verwenden, die auf eine bestimmte etablierte Religion hindeuten könnten.  Das folgende Welt- bzw. Gottesbild habe ich aus Beobachtungen und Gesprächen mit Menschen, die mit Leidsituationen gut zurechtkamen, gewonnen und selbst bei Sterbebegleitungen mehrfach angewendet. Ich würde mir wünschen, dass noch mehr Menschen es ausprobieren und ihre Erfahrungen systematisch auswertet würden (inwieweit ist es wem, wann, unter welchen Voraussetzungen hilfreich), so dass daraus eine evidenzbasierte Maßnahme zu AEDL 13 des Pflegemodells nach Monika Krohwinkel werden könnte.

Meine 9,5 Thesen:  1. Gott ist das transzendente Du, das dem Dasein die Bedeutungsdimension hinzufügt. Diese Bedeutung ist mystisch, unverstehbar, durchzieht die Welt und übersteigt sie zugleich. Mit Gott erhält alles Dasein Glanz und Schimmer. Im Bild gesprochen: Ein an Gott Glaubender erlebt die Welt gewissermaßen in 4 D. (Was nicht heißt, dass 3 D nicht auch okay ist.)

2. Gott ist ein Baum mit vielen Blättern. Wiewohl der einzelne Mensch Gott spüren, ahnen und erfahren kann, reichen die Erfahrungen aller Menschen aller Generationen nicht aus, um das Bild Gottes zu vervollständigen.

3. Gott ist NICHT notwendig, um die Welt zu erklären. Verstandesmäßig lässt er sich nicht erfassen. Gott ist eher zu „begreifen“ mit Grundeinstellungen wie Staunen, Hingabe, Liebe.

4. Gott ist NICHT notwendig, um ethische Normen zu etablieren. Wir haben mittlerweile genügend Erfahrungen gesammelt, um daraus unsere Schlüsse zu ziehen. Der Mensch ist in der Lage, “gut” und “böse” selber zu erkennen.

5. Wer OHNE Gott NICHT auskommt, das ist der Mensch in seinen existenziellen Erfahrungen, Leid, Schmerz, Verlust, Tod. In diesen Momenten ist Gott ein Ufer, an dem wir ankern können, um nicht wahnsinnig zu werden. Ohne Gott wird es hier sehr hart.

6. Das zu verkündende Gottesbild muss demzufolge ein menschliches und Leid linderndes sein. Einen unmenschlichen und grausamen Gott brauchen wir nicht! Damit Gott ein menschlicher ist, müssen wir ihn als rettend, haltend, tröstend, helfend, liebevoll, verstehend, annehmend und verzeihend beschreiben.

7. Wir Menschen sind Partner Gottes. Gott handelt durch uns, sofern wir ihn nicht daran hindern. Indem wir von uns selbst absehen, werden wir durchscheinend für die Liebe Gottes, und durch uns wird sie in der Welt erfahrbar.

8. Gott straft nicht. Niemals. Die Hölle, das sind wir selber. Das Fegefeuer ist unser Entsetzen im Erkennen darüber, wer wir selber sind, wenn wir unser Leben betrachten. Je mehr wir vorher mit unserem Leben Frieden gemacht haben, desto friedlicher ist unser Tod. Uns erfasst eine Sehnsucht. Wir werden abgeholt. Wir gehen ins Licht. Alle.

9. Gott ist nicht nur Gott aller Menschen. Er ist Gott alles Seienden. Was wir als grundloses Leid erfahren, ist nur von unserem anthropozentrischen Blickwinkel her unverstehbar. Aus einer “onto-zentrischen” Warte, d. h. mit Focus auf alles Seiende in seinem steten Wandel (welches zu überschauen nur Gott möglich ist) wären diese Erfahrungen erklärbar.

9,5. Raus aus bedrückenden Denkmustern!

Copyright: Gudrun Modlich.

Die neuneinhalb Thesen von Christian Modehn vom Februar 2017:

  1. Kirchen und Glauben, Religionen und Atheismen sind nicht primär wichtig. Was heute für den einzelnen und die Gesellschaft im Mittelpunkt steht ist das ethisch verantwortete und reflektierte Leben.
  2. Die eigene Urteilsbildung und die seelische Reife der Menschen (und Christen) zu fördern ist wichtiger als konfessionelle Dogmen – etwa im Unterricht – zu vermitteln und zu verbreiten. Philosophieren muss im Mittelpunkt stehen. Ideologien werden entlarvt und dringende humane Projekte (Ökologie, atomare Abrüstung, Kritik der totalitären und “halbtotalitären” Herrschaft  usw.) besprochen.
  3.  Eine konfessionell geprägte, so genannte christliche Ethik, ist niemals primär und maßgeblich. Sie kann lediglich die allgemeine humane, die vernünftige Ethik verstärken. Jesus von Nazareth kann „inspirierendes Vorbild“ genannt werden. „Jesuanischer Geist“ findet sich außerhalb der Gruppen, die sich ständig und oft scheinheilig auf Jesus Christus berufen. Sein Geist ist z.B. in einigen NGOs (Ärzte ohne Grenzen, Amnesty International) anwesend und lebendig, vielleicht sogar lebendiger als in den müden, um Dogmen und andere Themen ewig ringenden und streitenden Kirchen.
  4. Die Menschen sollten sich in neuen offenen und reifen Gruppen und Gemeinden treffen; auch, um gemeinsam für mehr Gerechtigkeit hier und weltweit einzutreten. Das Ziel: Es darf keine Mauern zwischen den unterschiedlichen, aber gleichberechtigten Menschen und Kulturen geben. Wer als Politiker Mauern baut, auch in Europa gegenüber Flüchtlingen, muss zurückgewiesen und „in Pension“ geschickt werden.
  5. Das Hungersterben, das weltweite Elend, muss als absolute Schande der Menschheit wahrgenommen werden. Es muss alles Denken und Handeln begleiten. Es kann nur durch eine neue, gerechte Welt-Gesellschaft überwunden werden. Dazu müssen Umverteilungen des Reichtums, auch durch Enteignungen von Milliardären etwa, stattfinden. Es gilt, endlich eine „Obergrenze“ ethisch vertretbarer Einkünfte zu debattieren.
  6. Die getrennten Kirchen erkennen an: Wir wollen nur noch das eine Wesentliche, das eine Zentrum, des christlichen Glaubens lehren und leben: Die Liebe unter den Menschen und die Liebe zu einer Wirklichkeit, die viele Gott nennen. Die immer wieder und endlos besprochenen dogmatischen Differenzen werden als überflüssige Hobbys klerikaler Herrscher entlarvt. Gottesdienste werden aus der rituellen Erstarrung und Langeweile befreit. Sie werden zu Lebensfeiern.
  7. Der biblische Gott wird nicht länger als immer zur Verfügung stehende (Herrschafts-)Formel und Floskel verwendet. Gott wird vielmehr als Geheimnis eher schweigend und liebend und in einer allgemeinen Mystik verehrt. So finden unterschiedliche Religionen zueinander. Die neuen Götter in ihrer ganzen Vielfalt werden entlarvt (Fußball, Sport, Leistung, Körperkult usw.) sowie owie der oberste Gott, über allem, das Geld bzw. das Bestreben, „immer mehr“ das „Haben“ als absoluten Wert zu verehren.
  8. Das göttliche Geheimnis kann selbstverständlich auch in Kunst, Literatur, Musik, in der Erotik, in der Natur, im solidarischen Engagement entdeckt werden. Diese Gotteserfahrung ist dann authentisch, wenn sie die Menschen zu einer personalen Befreiung und Reifung führt.
  9. Die Befreiung der Frauen, besonders der leidenden und unterdrückten Frauen in den arm gemachten Weltregionen, hat oberste politische und kirchliche Priorität. Solange die römische Kirche (von den orthodoxen Staats- bzw. Regime-Kirchen ganz zu schweigen) Frauen nicht als völlig gleichberechtigt akzeptiert, kann sie nicht ernst genommen werden. Auch die völlige Gleichberechtigung homosexueller Menschen muss weltweit erkämpft werden. Homosexualität ist normal, Homosexualität ist eine normale Variante in der sexuellen Orientierung. Alles andere zu behaupten ist Unsinn, ist kontra-faktisch, widerspricht den Wissenschaften. Offenbar sind viele Christen und Kirchen immer noch gern gegen Wissenschaften eingestellt.

      9,5. Weiter denken: Und die eigenen neuneinhalb Thesen schreiben.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Zuflucht beim Philosophen: Der Apostel Paulus in Ephesus.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Luther hat wohl von dem berühmten Philosophen in Ephesus mit dem nicht gerade sympathischen Namen Tyrannus nichts gewusst. Sonst wäre sein negatives Urteil über die Philosophie im allgemeinen anders ausgefallen. Vielleicht hätten Luther und die spätere philosophiefeindliche Kirche gewusst: Philosophen waren selbst dem Apostel Paulus behilflich. Und: Die christliche Lehre lässt sich auch, freilich immer neu und deswegen immer anders, philosophisch aussagen. Das hat Luthers großer Meister Paulus ja tatsächlich selbst auf dem Areopag in Athen bewiesen.

Aber der Reihe nach: Jedenfalls war der Philosoph Tyrannus alles andere als ein „Alleinherrscher“ (im Denken), wie sein Name nahe legen könnte. Er war großzügig, gastfreundlich und tolerant. Und es gab diesen Philosophen Tyrannus wirklich: Im neutestamentlichen Buch der „Apostelgeschichte“ wird von der dritten Missionsreise des Paulus berichtet, die ihn nach Ephesus führte. Dort predigte er als Jude, der an den auferstandenen Jesus Christus glaubt, „drei Monate lang in der dortigen Synagoge“ (so Apg. 19, Vers 8). Dies muss um das Jahr 53 gewesen sein, also etwa 20 Jahre nach dem Tod Jesu von Nazareth. Zu der Zeit war die eher überschaubare Gruppe der ursprünglich jüdischen Jesus-Freunde noch stark in den Synagogen verwurzelt. Aber es gab dann schon in Ephesus um das Jahr 53 doch konfessionellen Streit, so berichtet später der Autor der Apostelgeschichte: In der Synagoge von Ephesus zeigten sich einige Juden angesichts der Predigten des jüdischen Jesus-Freundes Paulus „verstockt“, sie redeten „übel von der Lehre des Paulus“, berichtet die Apostelgeschichte, die mindestens 20 Jahre später, also sicher nach 70, verfasst wurde, zu einer Zeit also, als die ersten Christen sich von den Synagogen immer mehr lösten. Und was tat der Apostel Paulus im Jahr 53 in Ephesus, in dieser lebendigen Kulturmetropole? Er wandte sich in seiner Not, an einen Philosophen, eben an den genannten Tyrannus, und er fand bei ihm Zuflucht, zwei ganze Jahre lang!  Ob der Philosoph von Ephesus tatsächlich Tyrannus hieß oder ob da eine gewisse Distanz des Autors der Apostelgeschichte der Philosophie im allgemeinen zum Ausdruck kommt, ist ungewiss. Jedenfalls hat es diesen Obdach gewährenden Philosophen gegeben. Dazu muss man wohl wissen, dass damals Philosophen eigene, oft geräumige Häuser hatten als Treffpunkte für die philosophische Debatte unter der Anleitung eines Meisters. Der Philosoph Tyrannus stellte sich also der Konkurrenz, und ließ Paulus „täglich in seiner Schule“ predigen. „Und das geschah zwei Jahre lang, so dass alle, die in der Provinz Asien wohnten, das Wort Gottes hörten, Juden und Griechen“, so heißt es im 19. Kapitel, Vers 10. Dass damals schon eine Art hysterischer Pauluskult existierte, eine Art Heiligenverehrung zu Lebzeiten, wird ebenfalls in Vers 11 und 12 berichtet: Die fromm gewordenen Christen nutzten die abgelegten Kleidungssstücke des Apostels Paulus und „hielten diese (wie Wundermittel) über die Kranken und … die Krankheiten wichen von ihnen und die bösen Geister wichen aus“. Was dazu der Philosoph Tyrannus gesagt hat, wird nicht überliefert, aber er ließ den Apostel und dessen Kreis in seinem Haus gewähren. Das nennt man Toleranz!

Es ist schon erstaunlich, dass von dem gastfreundlichen Philosophen in Ephesus, also von Tyrannus, nichts weiteres im Detail berichtet wird. Kein Wort der Anerkennung, nichts! Selbst die heute vorliegenden historisch-kritischen Kommentare zur Apostelgeschichte erwähnen ihn oft sogar nicht. Es muss schon der frühen Kirche peinlich gewesen sein, dass ausgerechnet eine philosophische Schule zum Ort der Missionspredigt des Apostels Paulus werden konnte.

Im Kolosserbrief des Neuen Testaments, (der nicht von Paulus stammen kann, der Text wurde erst 10 Jahre nach dessen Tod geschrieben, also um das Jahr 80,) wird schon ausdrücklich vor „der“ Philosophie gewarnt. Im 2. Kapitel des Kolosserbriefes heißt es: “Seht zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt und nicht auf Christus“: Hier wird Philosophie als Leistung der Menschen radikal der viel wertvolleren Botschaft der Kirche als „Gottes Wort“ gegenübergestellt, wie es denn auch im folgenden Vers heißt: “Denn in ihm, in Christus, wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Vers 9). Mit anderen Worten: Wer Christus folgt, braucht keine Philosophie, und er braucht nicht zu fragen, ob denn die Bibel vom Himmel gefallen ist oder nicht auch eine Variante von Menschenwort ist, eben: Menschenwort von frommen Leuten. So ereignete sich schon im Kolosserbrief eine verhängnisvolle Begrenzung des christlichen Glaubens, die sich dann immer mehr durchgesetzt hat, bis hin zu der bis heute vertrauten Kirchenlehre: „Die Philosophie ist bloß die Magd (ancilla) der Theologie“…

Dabei hat der authentische Apostel Paulus durchaus viel von Philosophie verstanden. Bekanntlich stammte er als römischer Bürger aus Tarsus, dort erlebte er die Vielfalt philosophischer Schulen. Auf die Stoa und den Neoplatonismus haben sich später viele so genannte Kirchenlehrer bezogen und deren Begriffe (und Inhalte) übernommen. Schließlich mussten sie das Evangelium im Kontext der damaligen Kulturen aussagen. Und dieser Mix aus Neuplatonismus und jüdischem Denken wurde dann in den Glaubensbekenntnisse und frühen Dogmen festgeschrieben. Das mag für das 4. oder 5. Jahrhundert sinnvoll gewesen sein; problematisch ist, dass die Bindung an die Sprache des Neuplatonismus bis heute in den allgemeinen Glaubensbekenntnisse weiter gepflegt wird, obwohl heute kaum nich jemand in neuplatonischen Vorstellungen denkt. Wer kann sich etwas vorstellen, dass der Logos als „gezeugt aber nicht geschaffen“ zu denken sei, um nur ein Beispiel aus dem allgemeinen Glaubensbekenntnis zu nennen. Die Kirchen tun auch heute so, als gäbe es nur eine mögliche Philosophie, die für ihr Glaubensbekenntnis akzeptabel ist, nämlich die neuplatonische oder die stoische…Was sollen sich da die Inder oder Chinesen bloß denken, wenn sie etwa katholisch werden oder den Lehren Calvins folgen müssen? Es sind die Verfügungen der Hierarchie, die diese Bindung an eine veraltete Philosophie verewigt haben. Aber das ist ein anderes Thema…

Entscheidend ist: Mit seiner philosophischen Kenntnis konnte Paulus in Athen auf dem wichtigen (Gerichts-)Platz, dem Areopag, eine philosophische Predigt halten (Apg., 17, 16 ff). Interessant bis heute sind die Aussagen des Paulus dort: Alle religiösen Menschen verehren über ihren konkreten Gott noch einen unbekannten (größeren) Gott…Und Gott wohnt „NICHT in Tempeln, die mit Händen gemacht sind“. Gott braucht nicht den Dienst (den Kult) von Menschen; er ist nicht ein Gott, „der etwas nötig hätte“, „da er doch selbst jedermann Leben und Odem und alles gibt“, so in Vers 25. Das ist philosophische Religionskritik, die Paulus da bietet. Und weiter: Gott ist der Schöpfer der Welt. DESWEGEN können die Menschen als Menschen Gott suchen und finden. Und dann die entscheidenden Aussagen: “Gott ist nicht ferne von einem jeden von uns, denn in Gott leben, weben und sind wir, wie auch einige Dichter bei euch (Athenern) gesagt haben: Wir Menschen sind seines, also Gottes, Geschlecht…Wir sind göttlichen Geschlechtes“.

Welche Weite des Denkens spricht da: Der Mensch, jeder Mensch kann als Mensch Gott suchen und finden, so die Behauptung des Paulus. Seine Gnadenlehre, seine Kirchenfixierung wie im Römerbrief, dem Lieblingstext des Reformators Luthers, bleibt hier außen vor! Das heißt: Es gibt und darf theologisch auch eine Theologie geben, die für die Universalität der Gottes-Beziehungen aller Menschen eintritt und nicht kleinlich den Zugang zu Gott von der Kirchenbindung (Taufe, Rechtfertigung usw.) abhängig macht. Allerdings spricht Paulus am Ende seiner Areopag Rede dann doch von Jesus als dem von Gott Auferweckten und Auferstanden. Offenbar waren des Paulus Worte hier so ungeschickt und schon wieder so dogmatisch, dass einige Zuhörer darüber spotteten und andere sagten: “Wir wollen dich darüber ein andermal hören“…

Warum fehlten dem Apostel Paulus diese Worte: Wenn wir Menschen in Gott sind und mit ihm verbunden, eins,  sind, dann sind wir über den Tod hinaus in Gott bewahrt. Also auferstanden?

Weiter hilft die Erkenntnis, die etwa Pierre Hadot, einer der besten Kenner der griechischen und römischen Philosophie, verbreitet: Auch das Christentum ist eine philosophische “Schule” unter anderen philosophischen “Schulen”, wobei das Christentum dann selbst mehrere Schulen umfasst. Das Christentum wurde in der Frühzeit von anderen philosophischen Schulen so wahrgenommen. Später wurden die philosophischen christlichen Schulen zu Kulttempeln mit abgehobenen und ausgesonderten Klerikern, Bischöfen usw. an der Spitze: Der treffende Gedanke des Paulus in Athen, dass Gott NICHT in Tempeln wohnt, wurde verdrängt und vergessen. Der Klerus muss sich präsentieren in seiner Macht. Dazu wurden dann schon ab dem 4. Jahrhundert prachtvolle Tempel, Kirchen, errichtet. Dass Gott zuerst und vor allem in den Herzen der Menschen wohnt, trat in den Hintergrund. Einige Philosophen und viele Mystiker-Philosophen haben diese Einsicht bewahrt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Beten und Gebete: Plädoyer für die Poesie.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Gerade im Umfeld von Festen, die in unserer Gesellschaft manchmal noch einen gewissen religiösen Charakter bewahrt haben, wie Weihnachten, stellen manche die Frage: Was könnte denn meine persönliche Übung sein, auch spirituell diese Tage von Advent und Weihnachten zu gestalten? Eine Möglichkeit: Die eigene persönliche Poesie entdecken und sie ausdrücken, aussprechen, notieren: Diese persönliche Poesie kann vielleicht zum persönlichen Gebet werden.

Zuerst einige Andeutungen zum Problem, bevor das eigentlich Plädoyer formuliert wird:

Eigentlich gehört zur Poesie auch das Gebet. Man denke an die 150 Psalmen der Bibel. Dieser Zusammenhang von Dichten und Beten galt, so denke ich, bis ins 20. Jahrhundert, er war eher selbstverständlich, wenn auch dabei poetische Texte geschaffen bzw. propagiert wurden, die eher für den frommen, begrenzten Alltagsgebrauch im Gottesdienst bestimmt waren. Für diese Erbauungs-Poesie war das Reimen das Allerwichtigste: „Maria du feine, du bist ja die Reine“, „Gott du bist groß, drum lass uns nicht los“ usw. Solche Gebete werden als Lieder heute noch in Kirchen gesungen und so ähnlich in evangelikalen Songs als „Sacro-pop“ geschmettert. Dagegen ist im Rahmen kultureller und religiöser Freiheit gar nichts zu sagen. Nur haben eben diese schlichten Ergüsse den Gedanken blockiert, es gebe auch anspruchsvolle Poesie, die sich als Auslegung sehr persönlicher religiös gestimmter Lebensdeutung versteht, also als Gebet. Insofern haben die frommen Reimereien vieles seriöse Nachdenken übers Beten verhindert. Und das Gebet ALS Poesie fast ins Irreale abgeschoben.

Aber weil nun in unserer (angeblich säkularisierten) Kultur die Gottesfrage eher selten ins persönliche Fragen und Erleben gerät, sondern meist in der Abstraktion verweilt,  gibt es auch kaum schöpferische poetische Leistungen, die von sich behaupten: Das ist meine, aus der nachdenkend-glaubend-zweifelnden-suchenden Daseinsauslegung stammende Poesie: “Das sind meine Gebete. Also: Das ist meine Poesie, die aus dem Alltag erhebt, also transzendiert und mich dem Geheimnis des Lebens aussetzt”.

Hinzu kommt, dass viele allgemein Gebildete eben religiös und theologisch katastrophal ungebildet sind (und sich dessen auch nicht schämen) und etwa sagen und glauben, Gott Vater habe einen Bart, der heilige Geist sei eine Taube und zur Trinität gehören etwa Maria, Josef und Anna. In einer Kultur zerfallender religiöser Aufgeklärtheit und Bildung kann Gebet als persönliche Poesie gar nicht entstehen.

Wenn es heute Chancen gibt, poetische Texte zu erleben und dann auch zu schreiben und ins Gespräch zu stellen, dann ist eine Voraussetzung unabdingbar: Gebete sind Äußerungen von verschiedenen Menschen, von leibhaftigen Subjekten. Gebete sind nicht hübsch verpackte dogmatische Wahrheiten, wie sie im Katechismus stehen. Gebete, wenn sie denn ernst genommen werden sollen in der allgemeinen Kultur der Poesie, sind nur als Sprache des einzelnen denkbar, mit aller Freiheit, die das Sich-Aussagen nun einmal mit sich bringt: Also, heute ereignet sich Gebet als Poesie wie alle Poesie außerhalb der Gewöhnlichen. Auch Gebete ALS Poesie sind provokativ.

Einige Hinweise zur Sache selbst:

Nicht nur da, wo religiöse Poesie, wo Gebet drauf steht, ist immer auch Gebet enthalten. Oft stimmt das Gegenteil. Die sprachliche Weite des Gedichts öffnet beim Leser möglicherweise Inspirationen, Gefühle und Erkenntnisse des Transzendenten. “Nicht-religiöse” Gedichte können religiös sein. Das ist ein eigenes Thema, auf das hier hingewiesen wird. Deutlich ist die Aussage von Rose Ausländer in ihrem Gedicht „Die Auferstandenen“:

Wo sind

Die Auferstanden

Die ihren Tod

Überwunden haben

Das Leben liebkosen

Sich anvertrauen

Dem Wind.

Kein Engel

Verrät

Ihre Spur.

Selbst in der Abweisung von Transzendenz und Göttlichem, von bergendem Sinn, wie auch immer, drückt sich die Sehnsucht aus, die Sehnsucht nach unerreichbarer Ganzheitlichkeit, die Sehnsucht nach Liebe, die gilt; nach Sinn, der auch in der Verzweiflung noch trägt. Da ist das Schreien der Entrechteten, der Geplagten, der Gequälten. Man lese die Neuschöpfungen der Pslamen durch Ernesto Cardenal, geschrieben im Widerstand gegen das Somoza-Regime in Nikaragua.  Klage und seelische Not wird ausgesprochen auch im sehr frommen amerikanischen, aber viel gehörten Song von Elvis Presley „Precious Lord, take my hand…“

„Ich bin müde, ich bin schwach,

Bin getragen

Durch den Sturm, durch die Nacht…

Nimm meine Hand, Precious Lord,

und führe mich nach Hause“.

Anders klingt da schon die Verzweiflung, die sich an Gott wendet (!), im Psalm 22, den, so wird berichtet, noch Jesus von Nazareth, der Gerechte und schuldlos Verurteilte, am Kreuz gesprochen hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich heule; aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, so antwortest du nicht; und des Nachts schweige ich auch nicht…“

Früher kannten viele religiöse Menschen „ihre“ Psalmen und „ihre“ manchmal durchaus ansprechenden Paul-Gerhardt-Gedichte auswendig. Diese Menschen fanden ihre eigene Lebenssituation treffend ausgedrückt in diesen geschriebenen poetischen Texten. Gebet als Poesie war einmal Lebenshilfe. Das muss man doch nicht immer gleich als Opium verdächtigen! Diese Verbundenheit mit religiöse Poesie ist wohl verschwunden. Ein auswendig gekanntes Gedicht kann doch auch Ausdruck des eigenen Lebens sein. Und was erleben Menschen, die die Songs von Madonna oder Prince mit-singen? Erleben sie auch Erhebendes in dieser Poesie? Wurde diese Frage schon einmal –empirisch- untersucht?

Der protestantische Theologe Prof. Wilhelm Gräb (Humboldt-Universität Berlin) schließt sich der Neuinterpretation des Gebets ALS persönlicher Poesie an: Er sagt in einem Interview für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin zu der Frage: Kann Poesie die Form des Betens sein? “Da das Beten einen Form gesteigerter Selbstbesinnung und damit der Ausdrücklichkeit in der Bewusstheit unseres Lebens ist, kann es sich besonders gut in metaphorischer Sprache artikulieren. Metaphern bereichern unser Leben. Sie schreiben der Wirklichkeit einen Mehrwert zu. Sie drücken unsere Ängste und Hoffnung, Wünsche und Sehnsüchte aus. Insofern ist die Metaphorik religiöser Sprache gut geeignet, unsere tieferen Empfindungen und unser Wirklichkeitserleben auf dichte Weise zur Sprache zu bringen. Sie holt den Überschuss an Sinn ein. Die vom Reichtum der Metaphern lebende Poesie der Sprache öffnet die Dimension der Tiefe, aus der heraus unser Leben in einen letzten Deutungszusammenhang einrückt. So kann gerade die poetische, dichte Sprache zur Sprache des Gebets werden… Wer sein Leben vor Gott durchdenkt, dem fügt es sich ein in das Ganze eines Sinnzusammenhanges, der auch noch die negativen Erfahrungen mit einem positiven Vorzeichen versehen lässt. Das ist oft ein Ringen, eine Durchdenken von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, aber vor Gott immer in der Hoffnung auf einen guten Ausgang der Dinge. Beten ist ein getröstetes Denken“.

Gebet als Poesie – es entspringt wie alle Poesie einer Frage-Bewegung. Das heißt: Im Gebet ist die göttliche Wirklichkeit, das absolute Geheimnis, das Göttlich, wie auch immer, eher sehr selten bereits vorausgesetzt. Aber: Gott kann nur deswegen als Frage formuliert werden, weil er bereits „in uns“ (im Geist) die treibende Dynamik der Frage ist. Der Mensch kann nur nach etwas fragen, wenn er es ansatzweise, ahnungsweise, bereits irgendwie als Vorverständnis kennt, siehe Gadamer, „Wahrheit und Methode“. Diese elementare Einsicht vergessen leider manche Leute.

Wenn ein religiöser Mensch seine Poesie als Bezug zum Göttlichen sagt, dann spricht er seine Beziehung aus, seine Liebe, seinen Wut, sein Ringen, wie das der niederländische Poet und Theologe Huub Oosterhuis in einem seiner Lieder „Die zegt God te zijn“ aussagt:

„Der da sagt, Gott zu sein.

So lass er doch zum Vorschein kommen

was wir denn an seinem Namen haben

Soll er doch auftreten, damit wir ihn sehn.

Die Stimme aus der Feuerwolke in der Ferne

reicht nicht aus

für diese Erde aus Scherben und Rauch

wo uns kein Leben gegönnt wird“ (Übers. Christian Modehn).

In den Gedichten von Huub Oosterhuis (Amsterdam) wird die „Kultur des poetischen Gebets“ gepflegt: „Beten ist aber viel mehr als Suchen. Beten ist eher Warten. Suchen ist immer noch Aktion und Ungeduld. Warten hingegen ist Aufmerksamkeit“ (Huub Oosterhuis)

Ein besonderes Thema ist die Poesie des Gebets als Bittgebet: Ich spreche mich dem Unendlichen gegenüber aus in der Form einer Bitte. Wenn diese Bitte nicht kleinlich, egozentrisch und albern ist, sondern eine Bitte um Frieden, um den Sieg der Vernunft in einer politischen Situation, wo der Wahn um sich greift, dann ist Bitten als Sich Wenden an die göttliche Wirklichkeit durchaus, anthropologisch gewendet, sinnvoll. Marina Alvisi in Berlin, Yogalehrerin und spirituelle und theologische Meisterin, sagte mir in einem Interview für das Kulturradio des RBB: „Das Bittgebet ist für mich wirklich ein Gespräch mit dem Geliebten, mit dem, der mir am nächsten ist und nach dessen Nähe ich mich sehne die ganze Zeit. Gott ist für mich das Allerliebste. In der Liebesbeziehung spreche ich einfach mit dem anderen Partner. Also ich sage zu meinem Geliebten auch: Du, bitte komm, hilf mir doch. Ich schaffe es nicht allein, komm her, ich brauch dich jetzt, ja. Obwohl man beieinander ist, obwohl man sich kennt. Und trotzdem, bittet man sich gegenseitig um Unterstützung, um Hilfe. Und Gott ist quasi der Geliebte. Es ist wirklich diese Sehnsucht nach Gottes Nähe. Wenn ich danach schreie, dann spüre ich oft auch diese innere Antwort wirklich als tiefe Empfindung, also als Entlastung, dass man sich gereinigt fühlt, dass man sich mehr angekommen fühlt, dass man sich selber wieder besser spürt. Du spürst es im Herzen. Die Antwort ist da, der Ruf ist erhört. In Form von einer starken Liebe, von einer starken Ruhe. Das ist einfach was Intensives“.

Natürlich gibt es auch andere Perspektiven: Wer glaubt, weiß sich in Gott geborgen, er braucht also gar nicht um weitere Geborgenheit zu bitten. Der Mystik-Spezialist Alois M. Haas (Zürich) schreibt: „Meister Eckart lehrt: Wer da um etwas anderes als nur um Gott bittet, der bittet unrecht. Wer immer um irgendetwas anderes bittet, der betet einen Abgott an“. Diese Einsicht überzeugt: Wer Bittgebete spricht, weiß sich “immer schon” vom Göttlichen getragen. Er bittet nicht um Wunder, die Gott an seiner Person und nur an seiner Person im Ausschluss von anderen Personen “leistet”. Für den Mystiker gibt es nur einziges Wunder: Dass Gott nahe, “inwendig”, ist. Da braucht man eigentlich kein Bittgebet mehr. Wahrscheinlich hat der Brauch, immer noch Bittgebete weiter zur sprechen, auch im Gottesdienst, ein eher probematisches, weil wenig-mystisches Gottesbild befördert: Wer Gott um Frieden im Gottesdienst bittet, die und der bittet letztlich darum, dass sie/er selbst – auch politisch – für den Frieden eintreten will, d.h.für eine gerechtere Welt sorgt … in den berühmten “kleinen Schritten”.

Ob explizit religiös oder nicht: Dabei bleibt es: Poesie ist die Sprache der Lebendigen, derer, die lebendig, geistvoll, bleiben wollen und dies auch aussagen in Versen und Fragen. Dieses Verständnis von Poesie ist entscheidend, sagte mir in einem Interview der Pariser Theologe und Dichter (und Dominikaner-Pater) Jean Pierre Jossua: „Die Poesie ist für unglaublich viele Menschen, und darunter sicher die besten, eine Form spiritueller Bewegtheit geworden. Sie könnte für sie gar die Religion ersetzen, die ihnen sonst wie tot vorkommt. Poesie könnte als ein Weg zu Gott, zum Absoluten, erscheinen. Tatsächlich könnte man sagen: Die Poesie hat die Funktion des Gebets angenommen“.

Ist Poesie, ist Lyrik, also immer “irgendwie” ein Gebet? Darüber ließe sich diskutieren. In jedem Fall sollten christliche Gemeinden, die irgendwie noch Interesse haben, dem theologischen Niveau unserer Zeit zu entsprechen, Poesie als offenes Sich-Aussagen der Glaubenden und Nicht-Glaubenden zu pflegen. Und mit den leeren, abgenutzten frommen Floskeln Schluss zu machen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.