Philosophie und der Rassismus: Perspektiven zum akuellen Aufstand für die Würde aller Menschen!

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Der Mord an George Floyd durch den (weißen) Polizisten Derek Chauvin (und seine Kollegen beobachten) bewegt Menschen weltweit, versetzt sie in Trauer und Wut. Auch viele Weiße demonstrieren gegen den weit verbreiteten Rassismus und damit gegen Rassisten. Wer protestiert, fühlt sich mit den seit Jahrhunderten verachteten und unterdrückten Schwarzen in den USA (und nicht nur dort) verbunden.
Präsident Trump zeigt keine Empathie für die Familie des Opfers und wohl auch für die Schwarzen insgesamt. Sie werden von vielen Weißen, vor allem in der Polizei, immer noch a priori eher als potentielle Verbrecher, als „Minderwertige“, verdächtigt und so behandelt. Sie geraten eher in den „Würgegriff“ der Polizisten, die sich dabei wie die „Herrenmenschen“ benehmen … und von Richtern (auch sie „Herrenmenschen“?) trotz aller Untaten freigesprochen werden… Diese Tatsachen sind seit Jahren bekannt und sie werden nun ausführlich in der kritischen Presse dokumentiert. Wird die us-amerikanische Gesellschaft, werden der Staat, die Gerichte, nun „Rassismus – frei“? Das hängt auch davon ab, ob Mister Trump Ende des Jahres in Pension geschickt wird.

2.
Welchen Sinn haben philosophische Überlegungen in dieser Zeit eines immer noch aktiven Rassismus und einer neuen anti-rassistischen Bewegung?
Philosophische Überlegungen sind gegenüber der Faktenfülle anderer Wissenschaften an allgemeinen Erkenntnissen interessiert. Diese sind alles andere als überflüssig oder bloßer Luxus, weil Menschen immer auch als einzelne sich allgemeine Erkenntnisse zunutzemachen. Weil eben jeder einzelne “Teil” eines Allgemeinen, eines allgemein- menschlichen Zusammenhangs ist, eben des allgemeinen Geistes, um eine Erkenntnis von Hegel zu variieren…
Die anti-rassistische Bewegung jetzt und früher zielt auf strengen Respekt für die universal geltenden Menschenrechte; auf scharfe Kontrollen, z.B. welche Leute überhaupt in den Polizeidienst eintreten dürfen; zielt auf bessere Bildung in den Schulen über die Wurzeln des Rassismus,; vor allem auf Begegnungen von Menschen unterschiedlicher Herkunft. Die – auch ökonomische – Spaltung der Gesellschaft in Weiße und Schwarze, in Weiße, Asiaten und Latinos, etwa in den USA aber auch weltweit, ist eine Schande der Menschheit im 21. Jahrhundert. Dieses Nebeneinander ist de facto von der herrschenden weißen Führung gewollt, das Nebeneinander ist längst zu einem – internationalen – sozialen, menschlichen Gegeneinander geworden.

3.
Und wenn man auch an die Religionen und Kirchen, etwa in den USA denkt: Da ist es doch sehr problematisch, dass es explizit Kirchen für Schwarze (etwa Baptisten in den Südstaaten) und Weiße (vor allem bei Lutheranern, Evangelikalen etc) gibt bzw. wegen der immer noch tiefsitzenden “Rassentrennung” geben muss. Indem die Kirchen ihrerseits in gewisser Weise die Rassentrennung noch heute praktizieren, zeigen sie mindestens indirekt, dass diese Trennung sozusagen auch unabwendbar, „gottgewollt“ ist. Man wird wohl sagen müssen, dass in den USA am ehesten die katholischen Gemeinden Orte „rassenübergreifenden“ Glaubens sind. Dabei sollte man nicht vergessen, wie tief in die Religions- bzw. Kirchengeschichte die Wurzeln des Rassismus reichen. Man denke an die Verteufelung von Juden und Muslims in Spanien, aber auch an die Degradierung von Christen in muslimischen Ländern. Man denke an den Teufelsglauben und damit an Menschen, vom Teufel besessen, ein Wahn, der heute noch praktiziert wird. Man denke an die vielen Teufelspredigten von Papst Franziskus; an die ständigen Kurse für Exorzisten an päpstlichen Universitäten, etwa durch den Orden der Legionäre Christi usw.): Der Teufel ist jenes Wesen, das Feinde definiert, die am besten ausgelöscht werden sollten…etwa Hexen, Häretiker, Juden…

4.
Hier geht es um eine, wie für Philosophien übliche, grundsätzliche Frage: Was ist eigentlich im menschlichen Geist, also im „Innersten“ des Menschen selbst, die „Basis“ für ein Verhalten, das sich auch rassistisch äußert:
Philosophisch ist zunächst klar: Geistige Orientierungen drücken sich in Gesetzen aus, in Wirtschaftsformen usw. So sehr ökonomische Bedingungen das Zusammenleben auch prägen, so sehr muss elementar anerkannt werden: Diese ökonomischen Bedingungen in ihrer Konkretheit sind Werk und Ausdruck menschlichen Geistes, menschlicher Vernunft bzw. sehr oft der Unvernunft. Insofern sollte die geistige Orientierung in ihrer Notwendigkeit, diese sichtbar, „materiell“, gesellschaftlich auszudrücken, sehr hoch eingeschätzt werden. Die kapitalistische Gesellschaft ist also wie jede Gesellschaft, wie jedes gesellschaftliche “Produkt”, Ausdruck und „Resultat“ geistiger Prozesse. Das scheint mir philosophisch evident zu sein. Das gilt auch, um den Rassismus zu verstehen.

5.
Rassismus sollte als ein Oberbegriff für vielfältiges Verhalten wahrgenommen werden: Rassismus zeigt sich nicht nur als Degradierung der Schwarzen; sondern auch als Antisemitismus, als Homophobie und als Anti-Islam-Haltung, Anti-Sinti/Roma-Haltung, als gewollten Ausschluss der Armen und Obdachlosen aus der Gesellschaft und so weiter.
Mit anderen Worten: Es muss also angesichts der Fülle dieser ANTI-Haltungen gefragt werden: Warum ist unter Menschen die Bereitschaft so stark, andere Menschen auf die Ebene des Feindes, des “Unmenschen”, herabzusetzen, anstatt den anderen und die anderen als gleichberechtigte Partner zu sehen und zu respektieren.
Warum wird der andere nicht als Teil des Eigenen gesehen, warum wird so selten gesagt und entsprechend gelebt: Der andere, er, sie, gehören zu mir, in gewisser Hinsicht: Sie sind wie ich. Warum werden „andere“ aus der eigenen Welt ausgeschlossen, verachtet, diskriminiert, getötet. Warum fühlen sich einige Menschen als Herrenmenschen und machen aus den anderen noch immer nicht nur die „Untergebenen“, sondern die Sklaven, selbst wenn dieser Begriff nicht mehr verwendet wird, der Sache nach aber gilt…

Hegel hat darauf eine Antwort, den Hinweis eines Auswegs, einer Befreiung vom Rassismus: Wir Menschen alle sind in gewisser Hinsicht (ich betone mit Hegel: in gewisser Hinsicht !) identisch. Wir sind insofern „alle“ untereinander und mit einander verbunden und darin identisch, weil wir alle mit dem Geist, der Vernunft „ausgestattet“ sind. Das macht den „unendlichen Wert“ des Menschen als Menschen aus. Diese allen gemeinsame Vernunft kann uns in kritischer Reflexion, auch in selbstkritischer Reflexion, orientieren und gerechte Gesetze hervorbringen.

6.
Unser Thema betrifft natürlich auch die psychologische und die soziologische Forschung.
Aber eben auch die Philosophie. Da könnte man ausführlich rassistische Vorurteile bei „berühmten“ Philosophen besprechen, bei Kant oder bei Hegel, bei Nietzsche oder Heidegger. Das ist eine wichtige Arbeit, die z.T. bereits geleistet wird. Etwa wenn an John Locke erinnert wird, der sagte: „Der Mensch ist eine weißes, rationales Lebewesen“(zit. in „Enzyklopädie Philosophie“, III, S. 2194). Kant meinte gar, „die Weißen seien die einzigen, die immer in Vollkommenheit fortschreiten“ (ebd., S. 2196). Wird wegen dieser kulturell begrenzten falschen Aussage aber Kants Erkenntnis zum „Kategorischen Imperativ“ hinfällig? Ich denke: Ganz und gar nicht. Irgendwo muss die Begrenzung eines Lebens in der Welt Königsbergs im 18. Jahrhundert (!) deutlich werden. Nietzsche betrachtete „die Neger als Repräsentanten des vorgeschichtlichen Menschen“ (ebd. 2198). Inwieweit dieses Zitat in Nietzsches Lehre vom „Übermenschen“ passt, kann hier nicht weiter diskutiert werden.

7.
Philosophen haben also in ihrer Zeit zu unserem Thema viel Unsinn gesagt. Soll man sie entschuldigen, dass sie eben zu sehr in ihre Zeit, in ihre herrschende Kultur, eingebunden waren? Aber es gab doch einige Denker, die den imperialen, tötenden Wahn der Rassisten erkannten, anklagten und z.T. überwanden: Wie der Theologe Bartolomé de las Casas, der sich für Menschenwürde der indigenen Völker einsetzte. Das heißt, die rassitische Welt war damals schon (im 16. Jahrhundert) “gebrochen”, keineswegs selbstverständlich. Wer wollte, und bereit war, seine Karriere in dieser Welt zu beschädigen, konnte mutig ein Anti-Rassist sein. Es gab einige, die befreiten sich langsam vom Rassismus, selbst wenn etwa Las Casas den Fehler machte, Schwarze aus Afrika auf die amerikanischen Planatagen zu bringen. Ein Fehler, den er später ausdrücklich bedauerte…

8.
Mir scheint ein anderes, grundlegenderes philosophisches Thema noch wichtiger. Die Beziehung eines Menschen zum anderen Menschen, zum „Anderen“, ist die Basis, von der aus das weite Feld des sich sehr vielfältig äußernden Rassismus zu verstehen ist?
Der Mensch ist immer schon und vornherein Beziehung und damit auch Kooperation. Nur in der Beziehung und ALS Beziehung entwickelt sich das Individuum. An die “Genese” des einzelnen Menschen müsste jetzt erinnert werden: Er entstammt immer einer Beziehung von zwei Personen, selbst der anonyme Samenspender ist als anonymer Vater immer noch Ausdruck für eine minimale Beziehung. Von der Beziehung zur Mutter, zu den Eltern, den Verwandten wäre zu sprechen, von der Schule als einem Ort beziehungsreicher Bildung usw. Ein total isolierter Mensch ohne irgendeine Verbundenheit mit anderen Menschen ist absolut unmöglich. Der Mensch als Beziehung: Das wäre, wenn man so will, eine Definition „des“ Menschen…Und weil jeder Mensch nur in Beziehung lebt, ist es tödlich für Geist und Seele des Menschen, diese Beziehung als Herrschaftsform mit “Herrenmenschen” zu pervertieren. Rassismus ist insofern eine Art Suizid der Herren: Sie töten die “anderen” und zerstören sich selbst. Der Rassist tötet sich selbst, tötet seine Seele, sein Menschsein.

9.
Da können kluge Kritiker nichts mehr einwenden, wenn sie auch in dem Fall den alt bekannten, viel zitierten Spruch sagen: „Aus einem Faktum (also: Bindung des einzelnen an die anderen von vornherein) folgt kein Sollen, also kein ethischer Impuls”.
ABER: Dieses beschriebene unverzichtbare Hineingestelltsein jedes einzelnen in ein notwendiges (auch biologisches) Beziehungsgeschehen ist tatsächlich zunächst als Faktum weder gut noch böse. Es ist der neutrale, faktische Ausgangspunkt jeglichen individuellen Lebens: Wir sind automatisch und unausweichlich in die Beziehung zu anderen hineingestellt. Aber wir müssen diese Beziehung im Laufe des Lebens gestalten. Und dann beginnen die Fragen: Ist diese Gestaltung der Beziehung zu anderen gut oder böse? Diese normativen Fragen können gar nicht ausbleiben. Sie haben ihren zentralen Platz, ganz aktuell, in der Erkenntnis, dass die meisten Menschen die Ermordung (etwa von George Floyd) als ein abscheuliches Verbrechen betrachten.
Wer diesen normativen Aspekt nicht einsieht, dem empfehle ich den kategorischen Imperativ von Kant anzuwenden und dann beispielsweise konkret zu behaupten: „Meine Maxime im Leben ist, dass Menschen im Würgegriff ermordet werden dürfen: Also auch ich darf im Würgegriff ermordet werden von der Polizei, auch der Polizist Chauvin darf auf diese Weise ermordet werden. Dass aus dieser meiner Lebens-Maxime als Haltung ein permanenter Bürgerkrieg entsteht, nehme ich in Kauf“.
Wer will im Ernst eine solche Maxime unterstützen, die aus der Reflexion auf die normative Ablehnung des Mordes an George Floyd folgt… Rassisten leben selbst-widersprüchlich. Sie sind insofern geistig verwirrt. Und krank.
Man sieht: Die Abwehr gegen das Töten von George Floyd ist vernünftig und allgemeingültig für eine Menschheit, die sich noch als human betrachtet. Antirassismus ist vernünftig und ein evidentes Gut der Menschheit. Antirassismus ist also alles andere als eine Laune bestimmter Kreise. Antirassismus ist gut.

10.
Philosophisch genauso wichtig ist die Erkenntnis: Jeder Mensch wird in eine bestimmte Sprache hinein geboren. Dabei zeigt sich auch die Grenze der viel besprochenen Autonomie: Ich werde – ohne meine Entscheidung – in die deutsche Sprachwelt hineingeboren, auch wenn ich möglicherweise parallel – z.B. durch einen französischen Vater – zugleich noch Französisch lernen kann: Mit dem notwendigen und gar nicht mehr abzuwerfenden Hineingestelltsein in eine Sprache werde ich sozusagen automatisch mit der Welt der anderen verbunden. Wir teilen uns diese gemeinsame Sprache, leben in den gleichen Begriffen, die ja auch von einem gemeinsamen „Inhalt“ bestimmt sind.
Diese „von uns“ geteilte Sprachwelt kann aber missbraucht werden, wenn bestimmte Leute beanspruchen, nur sie allein können die Inhalte der gemeinsamen Sprachwelt und der mit ihr vermittelten Werte definieren und als Werte durchsetzen. Das gelingt um so eher, als diese Leute ihren ökonomischen Vorteil ausnützen, wenn sie sich besser und umfassender bilden können als andere. Und dann diese „ungebildeten“ Anderen zu den “Untergebenen”, “Zweitklassigen” machen.
Das heißt: Rassismus wird nur in einer Gesellschaft überwunden werden, die keine tiefen Spaltungen von ökonomischen Klassen kennt. Die Debatte über ökonomische Gerechtigkeit und Gleichheit aller Menschen ist die notwendige Konsequenz aller antirassistischen Demonstrationen. Und diese Debatten werden mehr Mühe kosten als das Demonstrieren jetzt.

11.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass die reichen Länder des Nordens schon durch ihre Wirtschaftspolitik und „Entwicklungspolitik“ arme Länder im Süden auch heute eher als zweitklassig, wenn nicht als minderwertig betrachten. Man denke nur daran, welche Milliarden Euro deutsche Firmen etc. vom Staat erhalten. Einer internationalen, menschlichen Gemeinschaft hätte es gut angestanden, auch einige Milliarden den Ärmsten in Afrika zur Verfügung zu stellen…
Man denkt in Europa immer noch: Im Süden leben Menschen, die eigentlich eine gerechte humane Situation, wie die Menschen im Norden sie erleben, gar nicht „brauchen“. Sie seien mit so wenigem zufrieden, brauchen keine gründliche Bildung, keine würdigen Wohnungen, kein sauberes Wasser und so weiter. Die Armen im Süden seien schon mit einer Schale Reis pro Tag zufrieden. Mit diesem Bild haben Solidaritätsbewegungen auch der Kirchen jahrelang Spenden sammeln wollen. Dieses herablassende Denken und Handeln gegenüber den Armen im Süden kann durchaus auch rassistisch genannt werden. So wie früher viele Westdeutsche den Ostdeutschen, den Verwandten „drüben“, oft nur Minderwertiges in ihre Pakete aus dem Westen steckten: Nach dem Motto: „Na ja, für die da drüben ist das noch gut genug“.
An diesen stillen Rassismus auch im Verhalten des reichen Nordens gegenüber dem meist armen Süden haben sich so viele in dieser verrückten Welt-Un-Ordnung gewöhnt; er verdient genauso viel Aufmerksamkeit wie der spektakuläre mörderische Rassismus jetzt wieder in den USA.

12.
So verbirgt sich Rassismus in unterschiedlichen, z.T. verdeckten Formen im Umgang der Menschen untereinander. Erst wenn sich bestimmte herrschende Individuen von der Ideologie befreien bzw. sich befreien lassen und von anderen befreit werden, sie seien „die Herrenmenschen“, kann eine humane Welt mit weniger Rassismus entstehen.
Wer denkt übrigens daran, bestimmten Männern, die sich Politiker nennen, wie Trump, Bolsonaro usw. eine Psychotherapie dringend zu empfehlen? Solange sie an ihr teilnehmen, sind sie von ihren Ämtern befreit.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Warum Dorfkirchen in der Mark Brandenburg so wichtig sind bzw. sein könnten: Als Erinnerung an Theodor Fontane

Hinweise und Vorschläge von Christian Modehn. Anlässlich des 200. Geburtstages von Theodor Fontane. Aber braucht Fontane “runde Gedenktage”, damit wir uns seiner erinnern?

Im Sommer 2020 wird es – trotz Corona – möglich sein, sich wieder in den Dörfern der Mark Brandenburg zu erholen und dabei wieder auch Dorfkirchen zu besuchen, zur Besichtigung, zur Meditation, zur Stille und Einkehr, vielleicht auch zum Gottesdienst.

Der „Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e.V“ besteht nun schon 30 Jahre und hat wieder, wie in jedem Jahr, eine umfangreiche, empfehlenswerte Broschüre von 84 Seiten (zum Pries von nur 4,50 Euro) vorgelegt. www.altekirchen.de

Mein Beitrag über Dorfkirchen in Brandenburg, mit dem Vorschlag, wie sie „bespielt“ werden könnten, wurde im Gedenken an Theodor Fontane verfasst.

Dieser Artikel wurde leicht gekürzt in dem genannten Heft 2020 veröffentlicht.

1.
Was wäre die Mark Brandenburg ohne ihren „märkischen Wanderer“, ohne Theodor Fontane? Er hat den Menschen dort mehr Selbstbewusstsein, vielleicht sogar Stolz, geschenkt. Die Mark Brandenburg ist für Fontane keine “öde Gegend”, “am Rande der Kultur”. Ihre Dörfer und Städtchen sind zwar nicht von „überwältigender Schönheit und Pracht“, wie Fontane etwa in Erinnerung an Italien und Rom bemerkte. Aber es ist die Stille, die Schönheit der Natur, die Schlichtheit, die Bescheidenheit des Lebens, der Erinnerungen an die Kultur einst, es ist „diese Landschaft!“, die Fontane so mochte. “Die einfachen Leute” dort: Die schätzte er besonders. So dass er – der Sohn von Hugenotten – sagen konnte: Diese auf den ersten Blick eher kulturell anspruchlose Mark Brandenburg ist auch “meine Heimat”, so sehr er an Berlin auch gebunden blieb. Wenn sich heute die (auch „zugereisten“ ) Berliner für die Mark begeistern und sich dort (zeitweise) niederlassen und alte Dörfer „beleben“, dann wirkt da vielleicht etwas „unterschwellig“ die Hochschätzung Fontanes für diese Region weiter. Ohne Fontane also keine „lebens- und liebenswerte Mark Brandenburg”. Diese schöne, lebenswerte Mark Brandenburg will kein Demokrat den Rechtsextremen überlassen. Die Mark Brandenburg muss demokratisch bleiben bzw. immer mehr werden.

2.
In seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, begonnen 1859, in Büchern publiziert von 1862 bis 1889, stehen, neben den Schlössern und „Herrenhäusern“, den Seen und den Klosterruinen, die noch erhaltenen Kirchen im Mittelpunkt vieler Berichte. Und ihre Pastoren sind oft die besten Kenner der Geschichte ihrer Gegend. Davon hat “der Wanderer” sehr profitiert. Das alte Dorf – Pfarrhaus mit dem oft gebildeten Pastor hat Fontane noch erlebt, auch wenn er – etwa im „Stechlin“ – genau weiß, dass es mehr konservative und leider nur einige mutige, vorwärts denkende Pastoren gibt: Nur sie lösen sich langsam aus der Bindung der Kirche an die wilhelminische Monarchie, die ja tatsächlich eine Abhängigkeit er Kirche vom konservativ – national bestimmten Staat war. Eine Bindung der Kirche, die über das Ende der Monarchie bis in die Weimarer Republik unerfreulich weiter dominierte!
Man denke also vor allem an die sympathische Gestalt des Pastor Lorenzen im “Stechlin”, der schon Ende des 19. Jahrhunderts mit sozialen, „linken“ Ideen sympathisierte. Er zweifelte an der Gültigkeit der Maxime der Konservativen: „Was einmal galt, soll immer gelten“…Eine neue Zeit bricht an. Ich glaube, eine bessere und glücklichere“, so Pastor Lorenzen im Roman „Der Stechlin“. Der selbst eher dem Konservativen zuneigende Fontane war im Alter eben doch so liberal gesinnt, dass er voller Sympathie diesen Pastor förmlich zu einer der Hauptpersonen im Roman „Der Stechlin“ machte…

3.
Unter den vielen Themen, die in dem so langen „Fontane-Jahr 2019“ dokumentiert und debattiert wurden, finde ich die Frage wichtig: „Welche Bedeutung haben die Kirchen auf den Dörfern der Mark Brandenburg, für Fontane damals, und vor allem auch für die Gegenwart und Zukunft“ ? Ist diese wichtige Frage angemessen debattiert worden?
Über „Fontanes Umgang mit alten Kirchen“ hat Prof. Hubertus Fischer, Ehrenpräsident der Theodor Fontane Gesellschaft, einen einführenden Aufsatz verfasst in dem schönen Jahresheft „Offene Kirchen 2019“ (https://www.altekirchen.de/offene-kirchen/broschuere/2019-2/zwischen-barbarei-und-apathie)
Hubertus Fischer zitiert Fontane: “Nur unsere Dorfkirchen stellen sich uns vielfach als Träger unserer ganzen Geschichte dar und die Berührung untereinander zur Erscheinung bringend, besitzen sie und äußern sie den Zauber historischer Kontinuität“ (S.5). Der Autor weist darauf hin, wie sehr Fontane sich kritisch auseinandersetzte mit den Architekten, die damals alte Dorfkirchen einfach abrissen und neue „Basilika-Kirchen“ bauten. „Sie haben mit der (langen) Vergangenheit gebrochen… sie sind eine Schale ohne Kern“. Fontane denkt dabei an die „Basilika-Kirchen“ in Petzow, Bornstedt, Sakrow, Caputh, Werder usw.. “die das Havelufer auf Geheiß und nach den Ideen Friedrich Wilhelm IV. umstellten“. Der Eindruck des Mittelalterlichen, des Erhabenen, sollte dadurch geweckt werden. Kirchenarchitektur also als Beispiel für Herrschaftsideologien. Dieser Friedrich Wilhelm IV. hat auch das Kreuz auf das Stadtschloss setzen lassen, was heute für das Humboldt – Forum leider wieder geschehen ist. Ein anderes Thema…
Der aus der reformierten, also eher „bilderfeindlichen“ Tradition des Protestantismus stammende Fontane kann es gar nicht verstehen, wie denn aus einem gewissen anti-katholischen Geist bestimmte Objekte und Gemälde aus den alten, einst ja katholischen Kirchen, entfernt werden. „Ein von Borniertheit eingegebener Antikatholizismus ist mir immer etwas ganz besonders Schreckliches gewesen“ (S. 6). Hubertus Fischer erinnert an den Unterschied zwischen einfachen Dorfkirchen und den oft gepflegten und „sehenswerten“ Patronatskirchen: Diese sind Kirchen, die unter der Obhut eines Landesherren oder der Grundherren stehen. Die Dorfkirchen sind eher von schlichtester Ausstattung, gekennzeichnet „durch eine Abwesenheit alles Malerischen und Historischen“. In Schmöckwitz (in Berlin, Stadtteil Köpenick) erlebte Fontane z.B. „einen tristen Bau“. Obwohl Fontane zurecht weiß: Selbst triviale Dorfkirchen können „noch das Rührendste und Schönste verbergen“. In Schmöckwitz fiel dem Wanderer durch die Mark Brandenburg ein „verstaubter Altar unter den Kanzel“ auf. „Was hier so niederdrückend wirkte, war die melancholische Abwesenheit alles Freien und Selbständigen; die Armut kann poetisch sein, die Armseligkeit nie“.

4.
Nach der Wende wurde erst allgemein bewusst und bekannt, in welchem miserablen baulichen Zustand hunderte von Dorfkirchen in der Mark Brandenburg sich befinden. Dem „Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e.V.“ ist es seit vielen Jahren schon gelungen, Kirchen vor dem Verfall zu bewahren, sie zu renovieren, die Kunstwerke dort zu retten. Auch in den Dörfern selbst haben Initiativen der Bürger, auch der “religiös Nichtgebundenen”, dafür gesorgt, “ihre Kirchengebäude”, oft die einzigen Zeugen für eine Kultur, die “von weit her” kommt und eigentlich so gar nicht in einen oberflächlichen Alltag passt, vor dem Verfall zu bewahren. So entstanden in renovierten und “umgewandelten“ Kirchen Orte der Begegnung, der Kultur.
Aber: In vielen Dörfern nimmt die Anzahl der Einwohner ständig ab: Wer kümmert sich dann noch um die mit viel Mühe und viel Geld renovierten, umgewandelten Dorfkirchen? Wer will sie oft nutzen? Wo sollen die TeilnehmerInnen möglicher Veranstaltungen herkommen?
Natürlich gibt es viele Beispiele für Kirchengebäude, die kreativ genutzt werden, als „Hörspielkirche“ etwa oder als „NABU-Kirche oder als Ort für Vorträge und Konferenzen. Hinsichtlich der Nutzung umgewandelter Kirchen hat die Phantasie viel Raum, wenn denn das nötige Geld vorhanden ist.
Ganz andere Probleme ergeben sich, wenn man fragt: Was wird, langfristig gesehen, aus den nun z.T. aufwendig renovierten Kirchen auf den Dörfern, die noch vorwiegend als Stätten des Gottesdienstes, der Meditation, der Segnungen von Ehepaaren, der Bestattungen usw. genutzt werden? Bernd Janowski, Geschäftsführer des Förderkreises Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e.V.“ hat in der Broschüre „Offene Kirchen 2019“ einen Aufsatz zu dem Thema verfasst. „Das Problem besteht in der Frage, wer in zehn oder zwanzig Jahren überhaupt noch in diese Kirchen hineingeht. Bereits heute gibt es nicht wenige Dorfkirchen in den Berlin fernen Regionen, die nicht mehr oder nur äußerst sporadisch gottesdienstlich genutzt werden“ (S. 73). Die Gemeindemitglieder sind sehr oft überwiegend ältere Menschen, die in einer „Diaspora“ leben, wo nur ca.15 Prozent der Bevölkerung evangelisch sind. Die Zahl der Katholiken ist dort noch viel kleiner.
Es wäre eine ziemliche Katastrophe, wenn etwa die mühsam und kostspielig renovierten Dorfkirchen nach etlichen Jahren dem Ungenutztsein, also der Vernachlässigung und damit dem langsamen Verfall (wieder) preisgegeben werden müssten. Kann die kommunale Nutzung da weiterhelfen? Haben die (kleinen) staatlichen Kommunen Geld, Kompetenz und Konzeptionen, um diese Kirchen, oft der einzige Mittelpunkt im Dorf, weiter zu pflegen, zu “bespielen”, wie man im kulturellen Umfeld gern sagt? Müsste sich da die Kirche im Verbund mit gesellschaftlichen Gruppen nicht Neues einfallen lassen?

5.
Sicher wird man da meiner Meinung nur weiterkommen, wenn man auch theologisch Neues zu denken wagt, selbst wenn dies einigen Konservativen nicht gefällt.
Wie sieht denn die ökumenische Zusammenarbeit aus? Damit meine ich nicht, dass in den evangelischen Dorfkirchen gelegentlich katholische Messen von den wenigen durchreisenden Priestern gelesen werden. Warum ist nicht möglich, die wenigen Katholiken in den Dörfern, oft „treue Kirchgänger“, einzuladen, an den evangelischen Gottesdiensten am Sonntag teilzunehmen? Dann wäre der Kreis der Gottesdienst-Gemeinde nicht nur größer, es könnte auch ein weiterer ökumenischer Austausch stattfinden. Ökumene praktisch werden. Dass da die katholische Kirchenleitung Bedenken hat, ist klar. Aber die Gemeinden könnten sich kreativ über Bedenken und Verbote auch hinwegsetzen… um des Glaubens willen.
Wenn in den Kirchen nicht Bänke, sondern Stühle als Sitzgelegenheiten aufgestellt sind: Könnten IN den Kirchen selbst werktags, vor allem am Wochenende, (Gesprächs-) Kreise angeboten werden, mit einem kleinen Café in der Kirche selbst. Man sollte sich von dem Gedanken befreien, Kirchengebäude nur für „sakrale“ oder „hochkultuelle“ Veranstaltungen (Konzerte etc.) zu gebrauchen. Kirchengebäude sind spirituelle UND menschliche Lebensräume. Wenn es schon keine Gaststätten in vielen Dörfern mehr gibt: Wie wäre es, die Kirche umfassend selbst als “Stätte für Gäste” zu verstehen?
Warum könnte die Kirchenleitung nicht die „Provinz -“ bzw. „Dorfbegeisterten Berliner gewinnen, „ihre Dorfkirche“ sozusagen zu adoptieren: Warum könnten nicht Künstler und Musiker, Schauspieler und Politiker, sofern sie denn spirituell bewegt und kompetent sind, in „ihren“ adoptierten Dorfkirchen Veranstaltungen organisieren, vielleicht auch spirituelle Übungen, Meditationen, Yoga, Zen, Lektürekurse der Bibel und anderer Schriften? Wenn man sich allerdings auf das uralte und zweifellos überholte Modell fixiert: „Ein Pfarrer und seine Kirche“ (mit dem Gemeindekirchenrat) wird man nicht weiterkommen. Menschen und Gruppen, die ihre Dorfkirche „adoptieren“, könnten auch Verantwortung übernehmen, wenn sie selbst zumindest am Wochenende in den Dörfern wohnen und diese Kirchen offen halten.

6.
Mit anderen Worten: Nur neue Experimente, also Übertragung von Verantwortlichkeiten an „Laien“ über die Pfarrer hinaus, werden die vielen Kirchengebäude auf den Dörfern „retten“, also als lebendige Gebäude bewahren.
Aber im letzten geht es doch gar nicht um die Kirchen als Gebäude: Es geht um die Bewahrung und Weiterentwicklung der Kultur, auch der Religion, auch der Kirche, auf den Dörfern. Es geht um die Pflege und Entwicklung einer demokratischen Kultur. Auch und gerade in den Kirchen.
Diese neuen Projekte lassen sich mit dem alten, eingefahrenen, üblichen Denken wohl kaum mehr garantieren. Wenn es immer weniger Dorfpfarrer gibt: Warum könnte die Kirche nicht den neuen Beruf eines „Dorf-Moderators“ realisieren, also junge Frauen und Männer, auch Pädagogen, auch arbeitslose Philosophen etc. einladen, auf dem Dorf wohnend für die „Belebung“ der Dorf-Kirchen ihrer Umgebung zu sorgen. Sie könnten in den alten, dann renovierten Pfarrhäusern wohnen und ihre Kirchen spirituell- religiös „bespielen“, wie man so gern sagt. Und dafür natürlich honoriert werden.
Bekanntlich sind ca. 70 Prozent der Bewohner in der Mark Brandenburg kirchlich „nicht gebunden“, wie man sagt. Sind sie aber alle kämpferische Atheisten? Wohl kaum. Es sind diese kirchlich kaum wahrgenommenen Menschen, die auf eigene Art ihr Leben gestalten, suchend, fragend, wie auch immer. Oder die sich bescheiden mit dem Alltäglichen zufrieden geben, oft resigniert, oft voller Wut…
Mit diesen Menschen gilt es in den Dörfern und IN den DORFKIRCHEN Gespräche und gemeinsame Aktionen zugunsten der Menschen zu inszenieren. Dafür werden diese von mir geforderten neuen „Moderatoren der Dörfer“ gebraucht. Und sie sollen alle diese Menschen, die, oft mit dem Gefühl der Einsamkeit, des Vergessenseins, des Verlorenseins, am Rande der Kirche stehen, einladen: IN diese Kirchen zu kommen als ihre Orte, in dem sie Gemeinschaft finden, sich wohlfühlen, sich bejaht wissen. Ob getauft oder nicht, ist dabei völlig egal. Es gilt allein die „jesuanische Großzügigkeit“. Selbstverständlich sind dann auch Atheisten willkommen, auf der Suche nach Gesprächen, die vernünftig gestaltet werden, also ohne Dogmatismus auf beiden Seiten.
. Nur wenn die Kirche über ihren Schatten springt, den Schatten der Dogmen und des permanenten (finanziellen) Machterhalts, wird sie mit weniger Schatten und weniger Angst den Weg in eine neue Zukunft finden … zugunsten der Menschen auf den Dörfern.

7.
Vielleicht sind also die Dorfkirchen, diese neuen Orte der geistvollen Kreativität, der Ausgangspunkt für eine Kirchenreform…Dies ist natürlich angesichts der real existierenden Kirchen-Behörden eine Utopie. Aber können wir ohne Utopien leben?
Es ist ermutigend, dass sich Anfang 2020 der evangelische Landesbischof Ralf Meister (Hannover) und der katholische Bischof von Hildesheim, Heiner Wilmer, gemeinsam ausdrücklich für ökumenische Gemeinden zumal in der „Diaspora“, in den Dörfern, ausgesprochen habe. Dieser Vorschlag verdient weite Beachtung und sollte nicht gleich wegen eines offiziell katholischen Widerstandes konservativer Bischöfe ad acta gelegt werden.

8.
Nebenbei gesagt: Theodor Fontane war stets ein kritischer spiritueller Mensch: „Ich persönlich kenne keinen Menschen, habe auch nie einen kennen gelernt, der den Eindruck eines Vollgläubigen auf mich gemacht hätte“. (Maximilian Harden über Theodor Fontane 1898, in : Deutsche Abschiede, München 1984, S. 247.) Theodor Fontane, der sich als religiösen Skeptiker sah, der gar nicht dogmatisch, im Sinne der Kirchenführung, dachte, wäre sicher ein Gast in den nun lebendigen Dorfkirchen der Mark Brandenburg, den Orten der offenen Spiritualität und Begegnung für “Wanderer” von weit und breit…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Max Weber: Vor 100 Jahren gestorben. Seine lebendigen Anregungen und Provokationen

Hinweise von Christian Modehn mit einer von Weber inspirierten These zur „Korruption im Katholizismus“ (Nr.6 in diesem Text)

Gedenktage sind bekanntlich Denk-Tage: So auch die Erinnerung an Max Weber, der vor 100 Jahren am 14. Juni 1920, in München gestorben ist. Geboren wurde er am 21.4.1864 in Erfurt.
Es gilt also, sich auf einige seiner zentralen Vorschläge und Erkenntnisse zu beziehen… als Inspirationen fürs eigene Denken und Verstehen unserer Zeit. Dies könnte auch ein Impuls sein, Max Weber zu lesen, Bücher von ihm und zumal auch über ihn gibt es bekanntlich in sehr großer Fülle.
Weber ist eine der bedeutenden intellektuellen Gestalten des 20. Jahrhunderts: Er ist vor allem Soziologe, hat aber auch beste Kenntnisse in der Religionswissenschaft, der Theologie, er ist in gewisser Weise auch Jurist, Ökonom, Agrarhistoriker, vor allem auch: Historiker…

1.
Max Weber war sehr interessiert, die Wirkungen religiöser Lehren und Konfessionen auf Ökonomie, Politik und Lebenshaltungen aufzuzeigen.
Viel beachtet, wie ein Meisterwerk eingeschätzt, sind immer noch seine Studien unter dem Titel „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, 1904 erschienen, dann noch einmal überarbeitet, 1920 veröffentlicht. Weber behauptet darin NICHT: Der Protestantismus sei die maßgebliche Ursache für das Entstehen des Kapitalismus. Sondern: Protestantische Gemeinschaften (vor allem von Calvin inspirierte) haben theologische Ideen in den Mittelpunkt gestellt, von denen sich die Mitglieder dermaßen motivieren ließen, dass letztlich auch daraus der moderne Kapitalismus entstanden ist. Grundlegend sei für diese Protestanten gewesen: Man darf sich als Gläubiger nicht aus der Welt zurückziehen, sondern man muss sein Bestes tun und arbeiten und sparsam leben, um von dem individellen Platz aus, auf den Gott den Menschen gestellt hat, gottwohlgefällig zu leben, und das heißt: effizient zu arbeiten.
Vom Erfolg gesteuert arbeiten, das steht in der Sicht Webers an oberster Stelle bei den Calvinisten (weniger hingegen bei den Lutheranern). Das erworbene Geld wird von diesen Frommen nicht im verschwenderischen Luxus ausgegeben, sondern es wird gespart und vor allem investiert. In diesem asketischen, Gewinn gesteuerten Verhalten glaubten die Calvinisten bzw. spezieller noch die Puritaner, obendrein noch gottwohlgefällig zu leben, also die Erlösung zu erlangen. So wird die enge Verbindung von calvinistischem Glauben und dem Verhalten, das in den Kapitalismus führt, bei Max Weber deutlich.
Sebastian Franck, ein – leider fast vergessener – protestantischer Theologe und Mystiker im 16. Jahrhundert, wird von Max Weber zitiert, um diese protestantische Variante der Askese deutlich zu machen: „Du glaubst, du seiest dem katholischen Kloster entronnen. Es muss jetzt jeder (als Protestant) sein Leben lang ein Mönch sein“, also asketisch und bescheiden leben, d.h. arbeiten. („Protestantische Ethik…. S.346).
Max Weber bietet in seinem Studien zum Thema „Protestantismus und Geist des Kapitalismus“ eine Fülle an Details, die sich auch in den zahlreichen Fußnoten auffinden lassen. Wer etwa hier in Berlin und in der Mark Brandenburg noch daran denkt, welche ökonomische Hilfe und damit Entwicklung die calvinistischen Flüchtlinge („Hugenotten“) einst hier leisteten, kann aus diesem populären Beispiel nur das Treffende der Analysen Webers bestätigen. Diese Linie ließe sich weiter ausziehen, wenn man an den in den noch in den 1960 Jahren dokumentierten Bildungsrückstand der Katholiken in Deutschland denkt: Das „Strebsame“, „Karrieremachen“, war nicht so deren Sache. „Besser ein guter Mensch sein als ein gebildeter“, diesen Spruch hörte ich oft in katholischen Kreisen damals.

2.
Der Kapitalismus hat als auch eine religiöse Ursache. Mit dieser Erkenntnis will Weber keineswegs als Konkurrent zu Karl Marx auftreten. Es geht nicht um eine Anti-These zu Marx, sondern um einen anderen, ergänzenden Blickwinkel auf den Kapitalismus. Weber ist ein heftiger Kritiker des Kapitalismus, der schon in der zur Tugend erklärten „Nützlichkeit“ kritisch gewertet wird. Das führt Weber zur Erkenntnis, dass im Kapitalismus insgesamt Tugenden insofern nur gelten, als sie die Nützlichkeit des ökonomischen Gewinns fördern. Max Weber schreibt: “Das summum bonum, das oberste Gut, dieser kapitalistischen Ethik ist der Erwerb von Geld und immer mehr Geld…“ (S. 78).
Der Kapitalismus zeichnet sich durch eine nur von Erfolg geleitete, stets machtvolle Bürokratie aus. Wie man diese Verhältnisse überwinden kann? Max Weber führt da den – etwas hilflos wirkenden – Begriff der „charismatischen Vernunft“ ein, die die Auswüchse des Kapitalismus begrenzen könnte. Wer denkt dabei auch an prophetische Führer, sogar auch an kurzfristige Revolutionen, die das Regelwerk der Bürokratien korrigieren…
Im ganzen ist Weber eher skeptisch, was die Entwicklung der menschlichen Qualitäten in der kapitalistischen Welt angeht, zumal, wenn dieser Kapitalismus von allen Bindungen etwa an den protestantischen Glauben sich losgesagt hat, also eine umfassende „säkulare“ Säkularisierung eingetreten ist. Weber bezieht sich etwa auf die USA, wo der Kapitalismus – zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nach einem Besuch Webers dort – seine „höchste Entfesslung erlebt“. „Dort neigt das seines ethisch-religiösen Sinns entkleidete Erwerbsstreben heute dazu, sich mit rein agonalen (kämpferischen) Leidenschaften zu verbinden. Niemand weiß noch, wer künftig in jenem (kapitalistischen) Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden oder mechanisierte Versteinerung mit einer Art von krampfhaften Sich-wichtig-nehmen verbrämt“. Weber fürchtet, dass dann der „letzte Mensch“ im Sinne Nietzsches gesiegt haben könnte, diese „Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz. Dieses Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben“ (Prot. Ethik… S. 201).

3.
Der Begriff der „Entzauberung der Welt“ spielt in der Einschätzung der modernen Welt durch Max Weber eine große Rolle: Davon spricht er in „Wissenschaft als Beruf“: Der Umgang des modernen Menschen mit der Natur ist nicht mehr von der Voraussetzung bestimmt: In der Natur könne man geheimnisvollen und unberechenbaren Mächten begegnen. Sondern: In der Natur sind keine mysteriösen Geister am Werk, die durch Magie besänftigt werden können. Es gilt also: Das moderne Verhalten der Menschen zur Natur ist von Rationalisierung, Berechnen, vom Planen, vom technischen Zugriff und von Herrschaft bestimmt. Diese Haltung der permanenten Naturausbeutung, bedingt durch Rationalisierung, Spezialisierung, Industrialisierung usw. bestimmt den Kapitalismus weltweit.
Dieser Geist der Rationalisierung beherrscht die persönliche Lebensführung der einzelnen Menschen in diesem Kapitalismus. Und dieser Geist der Rationalisierung als „Berufsidee“ ist „aus dem Geist der christlichen Askese entstanden“ („Protestantische Ethik…. 200).
Dieser Zugriff auf die Natur, diese Entzauberung, ist zweifellos auch ein Ergebnis religiöser Lehren. Man denke an den Spruch der Bibel, wo Gott den Menschen befiehlt: „Macht euch die Erde untertan“ (Genesis 1,28). Jetzt wird statt „untertan machen“ (mit schlechtem Gewissen von Theologen) übersetzt: „Hütet die Erde…“ Aber dieser Verzicht auf das „Untertan-Machen der Natur“ kommt wohl zu spät. An diesem Bibelvers wird einmal mehr deutlich, wie viel Unsinn auch in der Bibel, dieser Textsammlung frommer Menschen, als Maxime im Laufe der Jahrhunderte verbreitet wurde…
Inzwischen wird jedoch auch die Vorstellung korrigiert, die Menschheit würde in einer entzauberten Welt, einer entzauberten Naturwelt, sich befinden, zugunsten einer neuen „Verzauberung“. Man denke an die Vorstellung von der Natur als einer Gaia-Hypothese, die für eine selbstregulative, schöpferische Urkraft (?) Natur eintritt.
Nebenbei: Max Weber empfand persönlich starke Vorbehalte gegen die völlig entzauberte, rein rationale Theologie und Kirchenpraxis der Calvinisten. Er empfand sogar gewisse Sympathien für den Katholizismus, den Priester deutet er als eine Art Magier, der über die Sakramente verfügt. Und auch dies noch: Max Weber war zwar protestantisch (vor allem von der frommen Mutter) erzogen worden, aber er war offenbar nur aus Pflichtbewusstsein Mitglied der Kirche geblieben, die er eher verachtete wegen ihrer engsten Bindung an den Kaiser als das oberste Haupt der Kirche. Über den (in alter kaiserlicher Pracht wieder aufgebauten, „restaurierten“) Berliner Dom schreibt Weber: „Man braucht den Berliner Dom nur anzusehen, um zu wissen, dass jedenfalls nicht in diesem cäsaro-papistischen Prunksaal, sondern weit eher in den kleinen, jeden metaphysischen Schmuckes entbehrenden Betsälen der Quäker und Baptisten der „Geist“ des Protestantismus in seiner konsequentesten Ausprägung lebendig ist“. („Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 315.)

4.
Wichtig bleibt immer noch die Auseinandersetzung mit Webers These von der Wertfreiheit der Wissenschaften: Wissenschaft muss von allen Ideologien und „Illusionen“ freigehalten werden.Und: Wissenschaft kann nicht zum wahren, umfassenden Glück der Menschen führen. Es gibt keine religiöse Gebundenheit der Wissenschaften, für Wunder und Offenbarungen ist in ihnen kein Platz.
Das heißt aber nicht, dass Religionen durch die Wissenschaften ersetzt und verdrängt werden. Religionen gehören zu einer gegenüber den Wissenschaften abgetrennten, eigenen „Wertsphäre“ (wie er sagt) an. Das bedeutet auch: Max Weber will die Vermischung der Wertsphäre Religion und der Wertsphäre Wissenschaft unbedingt verhindern. Ob diese Parallelisierung der beiden Wertsphären überhaupt möglich ist, wird etwa schon in der Beobachtung deutlich: Dass sich doch Menschen voller Erstaunen, Ehrfurcht und Verwunderung den überraschenden Schönheiten der Natur stellen oder dem bestirnten Himmel über uns, wie Kant sagte. Da kann aus diesem Verwundern auch ein Übergang geschehen in die Naturforschung und Wissenschaft, die sich aber die ursprünglich erfahrene Ehrfurcht und das Verwundern nicht vergessen, ohne dabei in eine esoterische Naturwissenschaft abzugleiten…

5.
„Max Weber starb im Bewusstsein, dass „nicht das Blühen des Sommers vor den ihm nachfolgenden Generationen liege, sondern eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte“ (so der Max Weber Forscher Dirk Kaesler, in seinem Vorwort zu „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, Beck Verlag, S. 56).

6.
Ich habe schon 2014, anläßlich des 150. Geburtstages von Max Weber, auf die Studie über Weber von Jürgen Kaube aufmerksam gemacht.Klicken Sie hier.

Zu diesem Text hier: Die Seitenzahlen in dem Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ beziehen sich auf die Ausgabe im C.H. Beck Verlag, hg. von Dirk Kaesler, 2006.

Copyright: Christan Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Rolf Hochhuth gestorben, “Der Stellvertreter” ist sein bleibendes Verdienst!

Ein Hinweis von Christian Modehn

Ich empfehle auch meinen ausführlicheren Essay zum selben Thema, publiziert am 2.2.2019. LINK
1.
Hier geht es nicht um eine globale Würdigung des Autors Rolf Hochhuth. Hier geht es nur darum, noch einmal deutlich seine entscheidende historische Leistung anzuerkennen: Sein Theaterstück „Der Stellvertreter“: Die Uraufführung fand am 20.Februar 1963 im Berliner „Theater am Kurfürsten- Damm“ statt (damals das Haus der „Freien Volksbühne“ Erwin Piscators). Hochhuths Stück, gleichermaßen bewegend und politisch provozierend, fand weltweite Beachtung. Seit der Zeit ist sozusagen der Schein des Heiligmäßigen an Papst Pacelli, Pius XII., definitiv beseitigt, selbst wenn immer noch einige Katholiken von vorgestern für die Heiligsprechung dieses Papstes eintreten. Sebastian Hafner schrieb im STERN am 7.4.1963 sehr treffend: „Die Geschichte wird Pius XII. kennen als den Papst, der schwieg“. Er schwieg zur systematischen Ausrottung der Juden, selbst wenn er einigen Juden in Rom das Leben rettete. In seinen allgemein gehaltenen, diplomatisch abwägenden Ansprachen in Kriegszeiten war von Holocaust und Vernichtung der Juden keine Rede. .
2.
Der SPIEGEL veröffentlichte am 25.12.1963 eine Liste der „meistverkauften Neuerscheinungen“. Da befand sich unter „Belletristik“ an erster Stelle, erwartungsgemäß, „Der Stellvertreter“. In der Rubrik „Sachbücher“ , bezeichnenderweise möchte ich sagen, der damals auch heftig diskutierte Essay von Carl Amery „Die Kapitulation. Oder deutscher Katholizismus heute“. Tatsächlich hatten weiteste Kreise des Katholizismus auch vor Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ kapituliert. Sie hatten geistig kapituliert und alle Energien auf die Apologetik gelenkt und dabei die Chance vertan, einen neuen kritischen Blick auf Papst Pius XII. zu wagen. Die allermeisten Katholiken haben sich polemisch verschanzt und wollten wie üblich, das gute und heilige Image der Kirche schützen. Nun sind seit einigen Wochen die Archive des Vatikans, bezogen auf diese Jahre, endlich zugänglich geworden. Der Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf (Münster) hatte Gelegenheit, mit seinem Team einen ersten Blick ins Archiv zu tun. Er musste gleich am ersten Forschungstag feststellen, dass in bisherigen offiziellen katholischen Publikationen einige Dokumente unterschlagen wurden. In der vatikanischen Publikation „Actes et Documents” ist, so Wolf, ein entscheidendes Dokument über den Holocaust nicht enthalten: “In dem wird belegt, dass der Heilige Stuhl die Informationen einer jüdischen Organisation über die Ermordung einer halben Million Juden innerhalb eines halben Jahrs in der Ukraine durch eigene Quellen – nämlich Äußerungen des damaligen katholischen Erzbischofs Andrej Szeptyzkyj in der Ukraine – bestätigen kann.”
3.
Was auch immer noch an Details über das Verhältnis Pius XII. zu den Juden und zur Auslöschung der Juden, zum Faschismus in Italien und Deutschland, zum Kommunismus bzw. Bolschewismus entdeckt werden mag: Wird sich etwas Grundlegendes ändern an dem schon jetzt klaren Faktum, das nicht zu leugnen ist: Dass Pius XII. tatsächlich zu allererst das Überleben seiner Kirche retten wollte und nicht das Überleben von Juden. Dass er also kirchliches Wohl über menschliches Wohl stellte. Sebastian Hafner hat recht, wenn er in dem genannten Artikel fragt: “Darf ein Papst nur Politiker sein?“ Also nur diplomatisch prüfen, was der eigenen, der katholischen Sache dient? Und Hafner schreibt die wahren und deswegen wohl immer bedenkenswerten Sätze, die auch über alle aktuellen Archiv-Arbeiten im Vatikan hinaus gültig bleiben: „Der Papst kann nicht jeden retten. Aber es war seine Aufgabe zu verhindern, dass die Christenheit im wörtlichen Sinne zum Teufel ging: Dass mitten in seinem Abendland von Christen Satanswerk größten Ausmaßes getan wurde, mit dem nicht nur Deutschland, sondern die ganze Christenheit für immer befleckt bleiben wird“ (Dieser Beitrag ist noch nachzulesen in dem von Fritz J. Raddatz herausgegebenen Buch „Summa Iniuria. Durfte der Papst schweigen?“, RORORO, 1963. Das Buch ist antiquarisch noch zu haben!) Und vergessen wir nicht, was der kluge und universal gebildete Historiker Friedrich Heer (Wien) in dem genannten Buch schreibt, „dass dieser Papst kein Freund der Demokratie war, wie Heinrich Brüning (Reichskanzler, Zentrumspolitiker) bekennt“. Und Heer erinnert daran, „dass nicht wenige hohe Mitarbeiter der Kurie … in Hitlers Krieg gegen Russland eine mögliche Befreiung vom Kommunismus sahen“ (S.118). Der Kommunismus als der allergrößte Feind noch vor dem Faschismus: An diesen Denkzwang hat sich die Kirchenführung immer gehalten, man denke an die Verfolgung und Ermordung von Befreiungstheologen, die den Anschein weckten, „Kommunisten“ zu sein. Diese Verfolgung leistete der Vatikan in enger Absprache mit der US Administration… Insofern hat sich also seit Pius XII. nichts geändert.
4.
Am 13. Mai 2020 ist Rolf Hochhuth im Alter von 89 Jahren gestorben. Ein großer Autor, dem viele dankbar sind … für seinen Einsatz zugunsten der Aufklärung, also zugunsten der „lumière“ wie man in Frankreich Aufklärung nennt, also fürs Licht und die Wahrheit.
Aber die Kirche als Institution hat nicht viel gelernt seit der Zeit: Der Erhalt und das auch materielle Wohlergehen der Institution, beherrscht vom Klerus, ist und bleibt ihr wichtiger als der Einsatz für die bedrohten Menschen. Caritas und Diakonie sind bloß „Abteilungen“ der Kirche. Aber sie sind nicht “die” Kirche, machen nicht ihr Wesen aus, das Wesen einer von Jesus von Nazareth inspirierten Bewegung, als eine die Menschen liebende (Caritas) und dienende (diakonische) Kirche.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Hannah Arendt: Politisch denken in dieser Zeit der globalen Krisen

Hinweise von Christian Modehn am 11.5.2020

Der folgende, etwas ausführliche Hinweis auf Hannah Arendt wurde aus Anlass der großen „Hannah Arendt Ausstellung“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin zusammengestellt.
Diese vier Beiträge habe ich 2016 geschrieben. Sie können heute hilfreich sein, als Inspiration im Umfeld eines Besuches der Ausstellung. Oder, wichtiger noch: Wenn man sich angesichts des zunehmenden Rechtsradikalismus die Frage stellt nach Ursprung und Überwindung dieser Verirrung, dieses Wahns.

Wesentliche und zum Teil heute weit verbreitete Urteile von Hannah Arendt vor allem zum „Eichmann-Prozess in Jerusalem“ 1961 werden in der Forschung der letzten Jahre immer mehr differenziert, korrigiert oder zurückgewiesen. Dies gilt besonders für Hannah Arendts Einschätzung, Eichmann sei ein Repräsentant der „Banalität des Bösen“ gewesen. Die bekannte Historikerin Irmtrud Wojak hat (in ihrem Buch „Eichmanns Memoiren“, 2001) gezeigt, „dass Hannah Arendt sich von Adolf Eichmanns Verteidigungsstrategie (im Jerusalemer Prozess) täuschen ließ“. So fasst Franziska Augstein die wesentliche Erkenntnis Wojaks zusammen (in: Hannah Arendt, „Über das Böse“. Piper Verlag 2015, Seite 184). Hannah Arendt kannte auch nicht die Protokolle der Gespräche Eichmanns (in Argentinien) mit dem niederländischen SS Offizier Willem Sassen, da sagt Eichmann ganz klar:“ Ich war kein normaler Befehlsempfänger… sondern ich habe mitgedacht, ich war ein Idealist gewesen“ (a.a.O. 185).
In Jerusalem (1961) hat sich Eichmann dann als „gehorsamer Befehlsempfänger“ stilisiert. Wenn die Rede von der Banalität des Bösen bezogen auf Eichmann z.B. überhaupt einen Sinn macht, dann nur, um zu betonen: Dieser entschiedene, von der Nazi-Ideologie total durchseuchte Massenmörder war ein Typ der „Jedermänner“, wie Franziska Augstein sagt. Also nach außen hin brav wirkend, der gehorsame Durchschnittsbürger: Eichmann und die vielen anderen braven, gehorsamen Deutschen waren bereit, den von „oben“, dem NS Staat definierten Feind, die Juden, total zu vernichten. Diese Normalbürger wurden zu Massenmördern weil sie sich gehorsam in die tödlichen „Logik“ des NS Regime einfügten.
Der populär gewordene Hannah-Arendt-Slogan „Die Banalität des Bösen bezogen auf Eichmann“ bedarf also der Korrektur.
Immer wieder wird auch in aktuellen Publikationen daran erinnert. In einem Beitrag über Gabriel Bach, einen der Ankläger in Jerusalem 1961, veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung (23./24. Mai 2020, Seite 51) betont die Autorin Alexandra Föderl-Schmid: „Bach lasse es nicht gelten, Eichmann sei eigentlich nur ein schlichter Schreibtischtäter gewesen. Er habe Hannah Arendt damals angeboten, ausführlicher mit ihm zu sprechen“. Dann wird Gabriel Bach zitiert: “Ich weiß bis heute nicht, warum sie das nicht angenommen hat“. „Das Buch Arendts „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ habe er nur „überflogen“ und rasch wieder weggelegt“. „Es stimmt einfach so vieles nicht“.

Diese Hinweise machen auf die Grenzen der Studien Hannah Arendts aufmerksam. Diese Grenzen gilt es wahrzunehmen, angesichts der großen Popularität Hannah Arendts, populär, schon aufgrund ihrer leicht zugänglichen Sprache. Problematisch bleiben etliche ihrer Ausführungen: Dies gilt auch für ihre auch nach 1945 fortgesetzte Beziehung zu Martin Heidegger: Diese Beziehung berührte nicht nur das „Persönliche“, sondern: Heideggers Philosophie prägte in gewisser Weise auch ihr Denken noch nach 1945, darauf hat der Philosoph Emmanuel Faye hingewiesen. In Berlin, im Rahmen der Forschungen der FU, erscheint eine kritische Gesamtausgabe der Werke Hannah Arendts erscheinen. Dann wird noch mehr kritische Deutlichkeit möglich sein. (https://www.arendteditionprojekt.de/Neuigkeiten/Information_philosophie_29042020.html)

Es bleiben jetzt Fragen offen in der Interpretation ihrer Schriften. Darum ist auch die Auseinandersetzung mit den Studien von Emmanuel Faye in Deutschland wichtig. Hannah Arendt inspiriert zwar, aber sie ist keine umfassend nur positive, von jeglicher Kritik befreite, gar enthusiastisch gefeierte “Meisterin des Denkens”.

Die Ausstellung im DHM in Berlin wurde am 11.5. eröffnet …sie sollte bis zum 18.Oktober 2020 besucht werden.

1.
Hannah Arendt: Die Banalität des Bösen, die „lebenden Leichname“ und die Überflüssigen

Hannah Arendt legte Wert darauf, nicht (nur) als Philosophin (im „klassischen Sinne) zu gelten. Sie verstand sich ausdrücklich eher als Politikwissenschaftlerin, wobei selbstverständlich ihr origineller Blick auf politische Ereignisse und Politiker durchaus philosophische Prägungen (etwa durch die Methode der Phänomenologie) offenbart.

Dieser Blick, unverstellt und ohne ideologische Brille Phänomene zu sehen, wird wirksam in ihrer Beobachtung des Prozesses gegen Eichmann in Jerusalem 1961. Ihr Buch „Eichmann in Jerusalem“ trägt den – gleich nach der Veröffentlichung höchst umstrittenen – Titel „Ein Bericht von der Banalität des Bösen“. Damit wollte Hannah Arendt – entgegen vielfacher und tief verletzender Polemik – gerade NICHT den Völkermord an den Juden durch die Nazi Herrschaft als banales Geschehen darstellen. Sie wollte lediglich betonen: Einer der Hauptakteure der Vernichtung, Adolf Eichmann, sei eigentlich nicht ein unbeschreibliches Monster oder ein undefinierbarer Teufel oder sonst etwas Mysteriös – Bedrohliches! Sondern Eichmann ist ein banaler Durchschnittstyp, ein auf Gehorsam und Befehle empfangen und Befehle geben fixierter Bürokrat.

Dieser Täter (wie andere in der SS-Führung) ist banal, und gerade wegen dieser Alltäglichkeit beschreibbar und verstehbar und auf seinem Weg zum Schreibtischtäter “nachvollziehbar”. Nur wer das Böse „banalisiert“, also in den Alltag des Gewordenseins stellt, kann das Böse auch möglicherweise überwinden oder einschränken. Es müssen die Wege und Stufen beschrieben werden, die einen Menschen langsam zum Schreibtischtäter werden lassen. Das ist Hannah Arendts überzeugendes Argument! Die beispiellosesten Verbrechen der Menschheit werden von den gewöhnlichsten Leuten begangen. Die Philosophin Susan Neiman (Direktorin des Einstein Forums in Potsdam) hält in ihrem Buch „Das Böse denken“ zu recht die Studie Hanna Arendts zur „Banalität des Bösen“ für den wichtigsten philosophischen Beitrag zum Problem des Bösen im 20. Jahrhundert (Neiman, Seite 397, Suhrkamp).
1988 schrieb Ingeborg Bordmann (in: Freibeuter, Heft 36, 1988, S. 86): “Hannah Arendt versucht nicht, Eichmann zu entlarven, also eine verborgene Wahrheit hinter seinen Worten zu finden, sondern sie achtet darauf, wie Eichmann sich verhält, wie er redet, wann er stockt, verstummt oder in plötzliche emphatische Selbstdarstellung verfällt….Er erinnert sich nur an die Situationen, die mit den Wendepunkten seiner Karrriere zusammenfallen”. Eichmann lebt in einer geschlossenen Welt, seine “standardisierten Ausdrucks- und Verhaltensweisen sind nicht korrigierbar durch den Kontakt mit der Realität… Sein Gewissen ist systemkonform”. Hannah Arendts Eichmann Buch ist ein Bekenntnis zur Freiheit des Menschen. Und dieser menschliche Mensch besitzt eigentlich und immer die Fähigkeit, sich zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Bei Eichmann ist diese Fähigkeit der Verantwortung aber in einem langen Prozeß der Indoktrination von autoritären Verhaltensvorschriften Schritt für Schritt getötet worden. Das ist das eigentlich Böse an dieser Gestalt, dass diese Form des Absterbens von Verantwortung und Freiheit eigentlich immer wieder (bei allen Menschen) passieren kann. Das banale Böse ist in Hannah Arendts Sicht eigentlich wiederholbar. Denn es wütet, so ihr Bild, als das extreme Böse “wie ein Pilz auf der Oberfläche, der sich rasant verbreiten kann, wenn man den Pilz nicht ausreißt”, so Hannah Arendt in einem Brief an Gershom Scholem(vgl. Fn. 10 bei Ingeborg Normann, S. 94). Und Hannah Arendt geht noch weiter: Nicht die Zuverlässigen, die Treuen, die Stützen und gehorsamen Bürger sind diejenigen, die dem moralischen Zusammenbruch widerstehen. “Viel verläßlicher sind die Zweifler und Skeptiker, … weil sie daran gewöhnt sind, Dinge zu prüfen und sich eine eigene Meinung zu bilden…”(S. 92 in Freibeuter)

Und dieser Banalität des Bösen in Form der “Schreibtischtäter” begegnen wir heute vielfach, in der Kriegsführung, etwa im Einsatz von Drohnen, die ferngesteuert Bomben abwerfen und „eben“ zahllose „Kollateralschäden“ unter der Zivilbevölkerung bewirken. Oder im völlig verantwortungslosen Handeln gewisser Banker, die um ihres egoistischen Profits willen eine ökonomische Katastrophe und damit Schaden für Millionen Menschen in Kauf nehmen: immer sind es brave, ängstliche Männer, die die eigene Karriere für absolut vorrangig halten vor allen ethischen Verantwortlichkeiten…

Ein prominenter Schüler Hannah Arends ist Richard Sennett. In seinem Buch „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ geht es ihm darum aufzuweisen, wie die neue Kultur, die von der New Economy der 1990er Jahre ausgeht, zu tief greifenden Veränderungen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene führen. Sennett betont: Man muss darauf hinweisen, dass heute in der Ökonomie und Politik weltweit Massen sozusagen nutzloser Menschen „erzeugt“ werden, man denke heute an junge Arbeitslose zu Millionen in Spanien, Griechenland, Portugal usw. Oder an “Überflüssige” in den Slums der Großstädte Aftikas und Asiens…
Das kapitalistische System erzeugt förmlich permanent die überflüssigen Menschen, die zudem auch wissen, dass sie niemand braucht und vom System noch mit einer Minimalunterstützung manchmal noch gerade am Überleben erhalten werden.

Für Hannah Arendt stellten diese überflüssigen Menschen sozusagen die Basis dar, aus der die Mörderbande der Nazis ihre „Mitstreiter“ holten. Eine so genannte demokratische Gesellschaft und ein Staat, die ständig immer mehr „Nutzlose“ erzeugen, gefährden ihre eigene Zukunft.
Auch das ergibt sich aus einer Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Werk. In ihrem Buch „Elemente und Ursprung totaler Herrschaft“ (1951) zeigt sie ausdrücklich, wie „der irrsinnigen Massenfabrikation von Leichen die historisch und politisch verständliche Präparation lebender Leichname vorangeht“. (S. 686, Serie Piper).
Damit meint sie: Die lebenden Leichname wurden „produziert“ vom Gesellschaftssystem, es sind die „Millionen Heimatlosen, Staatenlosen, Rechtlosen , wirtschaftlich Überflüssigen und sozial Unerwünschten“ (ebd.). Das totalitäre System des radikal Bösen konnte sich also nur entwickeln, weil so viele „überflüssige“ Menschen „produziert“ wurden. Denn auch die Henker und Täter fühlten sich als Nihilisten, sie lebten in dem Gefühl, dass ihr Leben sinnlos und überflüssig ist. Hannah Arendt warnt: Totalitäre Systeme können wieder „auftreten, wenn wieder hingenommen wird, dass es viele „überflüssige Menschen“ eben geben darf…
Die einzige „Therapie“ zur Rettung der wahren Demokratie ist für Hannah Arendt das aktive Leben, also das bewusste kritische und selbstkritische Handeln mit und für die Stadt, die Polis und die Gesellschaft. Wer das aktive Leben meidet, das Engagement gegen die Produzenten der „lebenden Leichen“, verfehlt sein eigenes Leben. So radikal ist die Botschaft Hannah Arends heute.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

2.
Ist Hannah Arendt gebunden an Heideggers eher braunen Denkweg?

Ein Hinweis auf ein verstörendes und inspirierende Buch des Philosophen Emmanuel Faye, Rouen

Am 12.5.2020 geschrieben:
Es ist interessant zu beobachten, dass manche Bücher, die sich auch sehr kritisch mit dem politischen Denken Hannah Arends befassen, in Deutschland kaum wahrgenommen werden. Das gilt etwa für das in Frankreich viel beachtete, sehr umfangreiche Buch von Emmanuel Faye, “Arendt et Heidegger”. Es hat in Frankreich seit seinem Erscheinen 2016 viele Debatten gefunden. Vor allem auch einige, zum Teil polemische Ablehnungen von Philosophen und Autoren, die sich “ihre” in jeder Hinsicht vorbildliche Hanna Arendt nicht nehmen lassen wollten.
Faye will nur darauf hinweisen: Dass Hannah Arendt stark an bestimmte Denkmuster von Martin Heidegger gebunden bleibt. Und dass sich deswegen konsequenterweise fragwürdige, problematische Äußerungen finden in ihren Büchern “Über die Revolution” oder “Vita activa”. In beiden Büchern legt Emmanuel Faye Aussagen, Tendenzen, frei, die mit einem demokratischen Denken und mit einer vorbehaltlosen Anerkennung und Verteidigung der Demokratie nicht so viel zu tun haben.
In einer Stellungnahme zu einer Rezension seines Buches in der Zeitschrift “La Vie des Idées” (Paris) macht Faye auf verschiedene Erkenntnisse aufmerksam: Heidegger ist für Hannah Arendt immer eine Art “Paradigma” des Denkens. Dabei betont Faye: “Ich kritisiere nicht die Person Arendt”. Aber von ihr wurde Heidegger zu einem Meisterdenker erklärt, “aufgrund ihrer Lobeshymnen auf ihn”. Wichtiger sind noch die Hinweise Fayes zu Arendts Buch “Vita activa”, in dem sie in gewisser Weise ihre Sehnsucht äußert nach einer “aristokratischen Politik”, verbunden mit einer Kritik an “egalitären Gesellschaften”. Eine Vorliebe für den Begriff des Aristokratischen bei Hannah Arendt steht im Mittelpunkt der Kritik Fayes.

Ich war einer der ersten in Deutschland, der auf diese Veröffentlichung des Buches von Emmanuel Faye 2016 reagiert hat. Als Hinweis verstanden! Hier noch einmal dieser Text, kurz nach Erscheinen von Fayes Buch. Und ich betone noch einmal: Dieser erste Hinweis sollte ein erster Anstoß zur Debatte auch in Deutschland sein. Diese kritische Debatte hat meines Wissens in Deutschland kaum stattgefunden. Als erste Information könnte vielen die auf Deutsch im Internet zugängliche Studie Fayes dienen:„Nationalismus und Totalitarismus bei Hannah Arendt und Aurel Kolnai“, in „Theologie-Geschichte. Beiheft 5/2012, Seite 61ff., Universitätsverlag Saarbrücken.
…………………………….
In Frankreich spricht man in diesen Tagen von einem „livre choc“ und einem „séisme intellectuel“, also einem „intellektuellen Erdbeben“: Ausgelöst hat dieses der französische Philosoph Prof. Emmanuel Faye: Er ist weltweit bekannt geworden durch seine Studien über die Verstrickungen Martin Heideggers in die Nazi-Ideologie. Dieses erste, von ihm in gewisser Weise unterstützte Erdbeben, wird in vollem Umfang nun auch bestätigt durch die Publikation der „Schwarzen Hefte“ Heideggers.
Jetzt aber steht ein zweites “Faye-Erdbeben”, womöglich noch größerer Art, bevor: Falls sich nicht ein noch Kompetenterer durch die 560 Seiten umfassende Studie Fayes so durcharbeitet, dass man zum Schluss herauskommt: Der Heidegger-Kritiker Faye hat geirrt. Es geht in der neuen „minutiös“ genannten Studie Fayes um eine globale und radikale Dekonstruktion, im Sinne von Entzauberung, wenn nicht Zerstörung, der international doch eigentlich hoch geschätzten, und kann man wohl sagen viel gelesenen und “beliebten” Philosophin und Politik-Denkerin Hannah Arendt. Sie wird jetzt in der französischen Presse (Le Monde, 7. Octobre 2016, S. 7) als „maitresse“ Heideggers tituliert. Selbst nach 1945 sei sie ihm gewogen geblieben, und zwar auch in ihrer Philosophie! Und das ist das Ergebnis der Studie von Faye. “Le Monde”-Autor Nicolas Weill nennt das umfassende Faye Buch (erschienen im Herbst 2016 bei Albin Michel, Paris) eine „unerbitterliche Anklagerede“ gegen Hannah Arendt. Die Rezensenten betonen, Faye haben alle greifbaren Ausgaben und Ausführungen Arendts gelesen, und er sei zu dem Schluss gekommen: Sie habe in zahlreichen Werken, in Andeutungen, Ausführungen und Thesen letztlich die Nazi-geprägte Philosophie Heideggers nach 1945 unterstützt. Wenn sie etwa von den umstrittenen Judenräten in den KZs spreche, dann wolle sie damit die Juden mitverantwortlich machen für ihr eigenes „Schicksal“, eine These, die Heideggers sympathisch gefunden haben soll. Eine andere These Fayes, über die “Le Monde” berichtet: Wenn Arendt Adolf Eichmann als Beispiel für die “Banalität des Bösen” wählt, dann sei ihr positives Gegenbild der „penseur par excellence Heidegger“, also Heidegger als der herausragende Denker. Eine These, mehr nicht, denke ich. Nicolas Weill schließt seinen Bericht über dieses insgesamt verstörende und beunruhigende Buch: “Es fehlen vielleicht die Nuancen, damit dieses Bild (von Hannah Arendt) vollständig sei“. Eine kurze Besprechung im „Philosophie Magazine“, Paris, (Oktober 2016) berichtet: Faye halte das Denken Hannah Arendts für „fascisante“, also faschistoid. Eine ungeheuerliche Behauptung, die jeder, der Hannah Arendts Werke liest, wohl zurückweisen wird. Ist Hannah Arendt nicht immer dem Denken des Aufklärers Kants verpflichtet gewesen? Wie aber passen etwas Kants “Kategorischer Imperativ” mit Heideggers (willkürlich wirkenden) “Seins-Geschicken” zusammen? Wie mit einem Heidegger, der sich weigerte, überhaupt eine Ethik zu denken und zu schreiben, weil eben alles “geschicklich” sei…Und überhaupt: Hannah Arendts Erkenntnis zur absoluten Notwendigkeit des Sich-selbst-Reflektierens ist ein Kontrast zu Heidegger, der offenbar ein weites Stück seines langen Lebens in der Nähe zum antisemitischem Denken sich eben NICHT selbst kritisch reflektierte!

Die Diskussion über dieses Buch Fayes hat in Deutschland meines Wissens noch nicht begonnen. Diese verstörende Studie wird hoffentlich nicht davon ablenken, nun auch noch die nazi-freundlichen Briefe Martin Heideggers an seinen Bruder Fritz gründlich zu lesen und allmählich ein Heidegger-Bild zu entwerfen, das sich der Frage stellt: Was brauchen wir von Heideggers Denken heute wirklich noch? Wie durchsetzt ist seine Philosophie von der Nazi-Ideologie und dem Antisemitismus? Dass dies überhaupt der Fall ist, wird immer deutlicher. Nun aber auch Hannah Arendt in das offenbar braune Denken Heideggers einzubeziehen und nun auch ihre aufklärerische Philosophie für faschistoid zu halten, das ist, einem ersten Eindruck der Rezensenten in Frankreich nach, wirklich schwierig, wenn nicht perfide. Der total antisemitisch “verdorbene” Heidegger soll wohl dadurch als solcher weiter etabliert werden, dass er mit seinem Denken selbst seine „maitresse“ Hannah, beeinflusste, die Jüdin, die vor dem Holocaust flüchten musste! Ein “Erdbeben”, wie Le Monde” schreibt, ist dieses Buch? Oder bloß – wieder einmal – eine französische “Intellektuellen Erregung”?

„Arendt et Heidegger. Extermination Nazi und Déstruction de la pensée“. Autor: Emmanuel Faye. Verlag: Albin Michel, Paris, 560 Seiten. 29 €.

Copyright: Christian Modehn

3.
Hannah Arendt über Pluralität und Erfahrung des anderen: Sie haben ihre Wurzeln im Selbstgespräch des einzelnen.

Ein Hinweis auf ein neues Buch von Hannah Arendt.

Hannah Arendt hat als Flüchtling in den USA nur noch politische Philosophie bzw. politische Theorie betreiben wollen, das hat sie etwa auch in dem berühmten Fernseh-Interview mit Günter Gaus betont. 1954 hat Hanna Arendt an der Notre-Dame University Vorträge zu dem Thema gehalten, auch über Sokrates und Platon hat sie gesprochen. Damit zeigte sie, dass die klassischen Themen der klassischen Philosophie für sie doch auch selbstverständlich wichtig blieben; sie wollte diese nur ausdrücklich im Zusammenhang des politischen Zusammenlebens erörtern.

Jetzt ist im Verlag „Matthes und Seitz“ (Berlin) zum ersten Mal eine deutsche Übersetzung ihres Vortrags mit dem Titel „Sokrates. Apologie der Pluralität“ erschienen. Dieser eher knappe Text ist originell und bedeutsam für weitere Diskussionen, weil er die Erfahrung der Andersheit der vielen anderen Menschen (Pluralität) gerade IN der Erfahrung des Selbst begründet: Von Selbstbewusstsein, diesem klassischen philosophischen Begriff, spricht Arendt in dem Text – soweit ich sehe – nicht. Aber sie verweist auf die elementare Denkerfahrung, die sich abstrakt etwa so beschreiben lässt: Ich denke mich und erlebe mich dabei als den von mir Gedachten, wobei das von mir gedachte Ich in gewisser Weise von mir als dem Denkenden verschieden ist. Es ist also eine gewisse Spaltung, “Pluralität”, im Ich oder im Selbstbewusstsein sichtbar und erfahrbar. Also eine Art zweifache Gegebenheit des einen Ich, so dass Hannah Arendt tatsächlich meint: Das Ich ist in seinem Selbstbewusstsein pluralistisch: “In sich selbst trägt der Mensch die Signatur dieser Pluralität in sich” (Seite 60 in dem genannten Buch). Also ist die Vielfalt verwurzelt im Ich selbst, und nur aufgrund dieser pluralistischen Erfahrung kann der einzelne auch den anderen als den anderen erkennen. Dies ist die zentrale These in dem Buch. (Es bietet darüber hinaus und im Gang der Argumentation wichtige Hinweise zu einer Philosophie der Freundschaft oder zur Differenz Sokrates-Platon, darauf kann hier nicht näher eingegangen werden).

Diesen zentralen abstrakten Gedanken formuliert Arendt mit den Begriffen des im einzelnen immer schon gegebenen Selbstgesprächs: „Indem ich mit mir selbst spreche, lebe ich auch mit mir zusammen…. Die Menschen tragen die Signatur der Pluralität in sich“ (S.26 in dem genannten Buch). Das hat ethische Konsequenzen: Ich muss also mit mir (als dem gedachten Ich) ins Reine kommen; ich darf mit mir (als dem gedachten Ich) nicht im Widerspruch stehen. Ziel ist eigentlich: Ich muss mit mir übereinstimmen. Das ist der oberste Lebenssinn für Sokrates. Und Hannah Arendt zeigt in dem Buch, wie Sokrates dieses Mit-sich-Eins-Sein selber lebte und lehrte. Dieses Mit-sich-Eins-Sein ist ein Werden, ein Prozess, eine bleibende Aufgabe.

Wer als Ich diese dauernde Aufgabe erkennt, wird auch mit den anderen Menschen in seiner Umgebung geduldig umgehen, weil diese sich ja auch wahrscheinlich bemühen, mit sich selbst überein zu stimmen. Voraussetzung für eine humane Gestaltung der Pluralität bleibt für Arendt: „Die Einsamkeit mit sich selbst, der Dialog des Zwei-in-Einem ist integraler Bestandteil des Zusammenseins und Zusammenlebens mit anderen“ (S. 81). Nur im Mit mit sich selbst allein sein kann diese Entdeckung der inneren, eigenen Pluralität denkend wahrgenommen werden.

Bedrängend, wenn nicht zerstörerisch ist die Erfahrung, wenn die Nicht-Übereinstimmung des Ich mit sich selbst erlebt und dann aber ignoriert bzw. überspielt wird. Dann wird die Daseinslüge zum Gesetz des Ich.

Jedenfalls ist die innere Pluralität im Selbstbewusstsein des einzelnen für Arendt so elementar, dass sie das große philosophische Wort thaumzein, sich verwundern, darauf bezieht: Im Thaumazein, Erstauntsein und Sich-Wundern, wird ja die Urerfahrung beschrieben, mit der Sokrates und Platon – zunächst über die Sprachlosigkeit im Thaumazein – ins weitere Philosophieren fanden.

Das Ur-Erstaunliche ist also das Selbstbewusstsein, das mit sich selbst übereinstimmen soll, das also die Differenz der Andersheit in seinem Selbst sozusagen positiv gestalten kann.

Diese Begründung der Erfahrung der menschlichen Pluralität, also die Erfahrung des anderen, erscheint für viele wahrscheinlich neu und sicher erstaunlich. Man könnte meinen, Hannah Arendt sei insofern doch klassische Philosophin geblieben, als sie für die Erfahrung des anderen als anderen eine Art apriorische Struktur im Ich entdeckt bzw. freilegt. Diese Denkhaltung könnte man wohl transzendentalphilosophisch nennen. Vielleicht ahnte dies Hannah Arendt, und vielleicht verwendet sie deswegen nicht den klassischen Begriff Selbstbewusstsein. Um eine apriorische Struktur handelt es bei Hannah Arendts Hinweis dann doch, wenn sie auf das in sich plurale „Selbstgespräch“, wie sie sagt, hinweist als Voraussetzung, über die andere Person als andere Person wahrzunehmen und zu respektieren.

Gewonnen ist die wichtige auch politisch so relevante Einsicht: Wir Menschen können und sollen Pluralität unter den Menschen anerkennen. Sie ist normal. Ich sage: Sie ist apriorisch und gehört zum “Wesen des Menschen”, könnte man auch klassisch sagen. Pluralität unter den Menschen ist also etwas allgemein Menschliches, noch einmal anders gesagt, Pluralität – in Gleichberechtigung – ist also zu hegen und zu pflegen.

Die weitere Frage bleibt, die Hanna Arendt nicht beantwortet, ob denn die Erfahrung des “anderen” in mir selbst noch einmal eine andere Qualität hat, als jene Erfahrung im Ich-Du bzw. Ich-Wir, wenn ich dem anderen, leibhaftig vor mir stehenden Anderen, begegne. Ich denke, etwa Lévinas hätte dem zugestimmt. Der leibhaftige Andere ist für ihn wohl die Gründung erst meiner Ich-Erfahrung. Das unterscheidet Lévinas von Heideggers “Sein und Zeit”, wo die Freilegung der Strukturen der Existenz auch ohne den herausfordernden “Anderen”, das Du, das Wir, geleistet wird.So werden hier auch die Grenzen dieser Überlegung Hannah Arendts sichtbar, oder ihre Bindung an Heideggers “Sein und Zeit”?

Hannah Arendt lag daran, in einer Zeit kurz nach dem Holocaust und in der Nachkriegsgeschichte entschieden für die unabweisbare Pluralität der Menschen zu plädieren. Und für den Respekt dieser Pluralität einzutreten.

Hannah Arendt, Sokrates. Apologie der Pluralität. Matthes und Seitz Verlag, Berlin. 2016, 109 Seiten. 12 Euro. Übersetzung: Joachim Kalka.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

4.
Von der Macht der Kommunikation: Hannah Arendt. Eine Sonderausgabe des „Philosophie Magazin“.

Wer Hannah Arendt liest, wird ins (selbst)kritische Denken geführt und ins Streiten für und über die Demokratie verbunden. Ist es diese Sehnsucht nach einem radikalen-tätigen, aber stets erhellenden Denken, die so viele LeserInnen heute zu Hannah Arendt führt?

Die neue Sonderausgabe über Hanna Arendt der Zeitschrift PHILOSOPHIE MAGAZIN bietet wichtige neue Erkenntnisse, die zum weiteren Forschen und Lesen einladen. Das Sonderheft wurde von Catherine Newmark redaktionell inspiriert und verantwortet. Und es ist nicht übertrieben: Damit ist ihr ein kleines Meisterwerk gelungen. Dieses Sonderheft wird weite Verbreitung finden, es wird einen sicheren Platz haben unter den schon zahlreichen Einführungen ins Denken und Handeln Hannah Arendts. Es ist diese Verbindung von wichtigen Arendt-Texten mit neuen Interpretation und kritischen Hinweisen, die dieses Heft so wertvoll macht.

Hannah Arendt war eine Meisterin der Freundschaft und der liebenden Beziehungen, dazu schreibt Michel Legros einen schönen Beitrag unter dem schon Wesentliches sagenden Titel „Zwischen zwei Menschen entsteht eine Welt“.

Als sie in den USA, zuerst viele Jahre als Staatenlose in rechtlicher Schutzlosigkeit lebend, dann doch Karriere machte, gab es viele, die ihr Denken und ihre Schriften als „Journalismus abgetan haben“, wie ihr einstiger Schüler, der Dirigent und Autor Leon Botstein im Interview mit Catherine Newmark berichtet. Wie das Exil und die von den Nazis erzwungene Flucht aus Deutschland Arendts Denken beeinflusste, zeigt die Philosophin Stefania Maffeis (FU). „Der philosophische Standpunkt des Exils ist jener der Lücke und des Bruchs. Er steht nicht auf dem sicheren Boden der unhinterfragten Wahrheiten der Vergangenheit und kann auch seine zukünftigen Ziele nicht vorhersehen“ (S.55).

Es sind die Interviews, die Catherine Newmark leitet, die in dem Heft in meiner Sicht besonders herausragen. Die Gründerin des Hannah Arendt Zentrums an der Uni Oldenburg, Antonia Grunenberg ist auch vertreten. Sie stellt sich auch der eher spekulativen Frage, wie denn etwa Hannah Arendt auf den IS reagiert hätte: „Sie hätte mehr darüber nachgedacht, wie sich die westlichen Gesellschaften verteidigen gegen diese Gefahr, ob sie einknicken oder ihre plurale Öffentlichkeit leben und öffentlich verteidigen“, so Antonia Grunenberg (S. 74). Erneut und sehr zurecht wird in dem Heft auf die eigenständige Leistung Arendts hingewiesen, dass sie eben als eine der wenigen „PhilosophInnen“ über die Geburt nachgedacht hat: Mit jedem neuen Menschsein wird jeweils ein Anfang gesetzt, und deswegen „können Menschen die Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen“ (Arendt).

Besonders umstritten ist auch heute die viel zitierte Einschätzung Arendts, der Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann sei eine typischer Vertreter für die Sichtbarkeit der „Banalität des Bösen“. Da finde ich die Hinweise der Philosophin Susan Neimann sehr erhellend: Hannah Arendt habe viele historische Details über Eichmann im Jahr 1961 eben gar nicht kennen können, als sie in Jerusalem den Eichmann-Prozess beobachtete. Noch wichtiger aber erscheint mir der Hinweis von Susan Neiman:. „Das Böse ist (für Hannah Arendt) nicht dämonisch und allumfassend, sondern nur die Summe von menschlichen Handlungen, oft gedankenlosen“ (S. 107). Neiman meint, Arendt habe in dieser „Relativität des Bösen“ eine Art philosophische Theodizee gesehen (S. 107). Praktisch heißt das: Mit besserem Denken und besserem Handeln können wir Menschen gegen das Böse vorgehen. „Die These von der Banalität des Bösen mag zwar historisch für Eichmann nicht zutreffend gewesen sein, aber für Millionen von anderen Menschen stimmt sie schon, Menschen , deren Absichten nicht dämonisch böse waren. Sondern irgendwo zwischen relativ niedrig und deutlich gut rangieren, aber ohne die es keinen Holocaust gegeben hätte“ (ebd.).

Eine andere, schärfere, Vernunft-skeptische Position vertritt die Philosophin Bettina Stangneth, die kürzlich das Buch „Böses Denken“ (bei Rowohlt) veröffentlichte. Sie sagt: „Das Denken ist ein Werkzeug. Und mit Werkzeugen kann man bekanntlich alles Mögliche anstellen – so wie man mit einem Hammer einen Nagel einschlagen oder aber die Schwiegermutter erschlagen kann, deshalb versuche ich, mehr über das böse Denken zu lernen“. Aber darüber wäre viel zu diskutieren, ob Denken überhaupt ein Werkzeug ist und ob nicht auch derjenige, der Böses denkt und Böse tut, sich meistens, wenn nicht gehirngeschädigt, doch wohl frei für diese Tat entschieden hat.
Und der Böse erlebt dieses Böses-Tun dann doch als seine Form seines privaten egoistischen Ego-Glücks und des nur für ihn subjektiven „Guten“. Womit gesagt sein soll, dass auch der Böse letztlich an eine Priorität des Guten (formal) gebunden ist. Das Gute ist also in der Wahrnehmung selbst noch des Bösen vorhanden und als Gutes in der Hinsicht nicht “totzuschlagen”. Das könnte heißen: Menschen als Wesen des Geistes, der Vernunft, sind an die Idee des Guten irgendwie “gebunden”. Aber diese interessanten “spekulativen” Fragen führen über das Heft hinaus.

Politisch sehr aktuell und sehr inspirierend ist das moderierte Gespräch Gesine Schwans mit Volker Gerhardt, die sich beide in den meisten Fragen zum Thema “Öffentlicher Streit in der Demokratie” einig sind. Sie sind sich auch einig, wenn es um die These von Hannah Arendt geht „Macht gründet auf Kommunikation“. Da wird sehr zurecht von beiden Philosophen daran erinnert, dass die Kanzlerin Merkel – etwa auch in der Flüchtlingspolitik – „gerade nicht kommunikativ war“, so Gesine Schwan (S. 142). …“und unsere Kanzlerin ist ganz besonders avers gegen öffentliche Kommunikation und gegen die Kommunikation von Alternativen“ (ebd). Volker Gerhardt sagt: „Die Politiker (Deutschlands, Europas) konnten schon seit langem wissen, was auf Europa zukommt, aber sie haben die Bürger nicht auf den bevorstehenden Ansturm eingestimmt… Aus der Sicht Hannah Arendts haben die Offenheit und die immer auch visionäre Kraft des Arguments gefehlt“ (S, 142).

Insofern möchte man hoffen, dass dieses Heft über Hannah Arendt auch von Politikern gelesen und besprochen wird. Gibt es das eigentlich, dass PolitikerInnen über ihre gemeinsame philosophische Lektüre öffentlich sprechen? Oder sind sie nur im hektischen Geschäft des politischen Agierens und Tuns befasst?

Zum Heft selbst eine kleine kritische Anmerkung: Ich hätte mir einen eigenen Beitrag gewünscht zu der Tatsache, dass Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus von 1964 ausdrücklich darauf besteht, sie sei keine Philosophin mehr sei, sondern eine Theoretikerin der Politik (S. 17). Diese ausdrückliche Abwehr seit ihrer Zeit in den USA, eben nicht mehr als Philosophin zu gelten, hat sicher ihre Gründe: Erkenntnis der Abgehobenheit „der“ (klassischen) Philosophie? Arendt schrieb ja noch bei Heidegger eine Doktorarbeit über die „Liebe bei Augustin“. Ein hübsches Thema?! Spielt etwa auch das Erleben der Spätphilosophie Heideggers (nach 1945) eine Rolle, dieses angeblich so unpolitische Stammeln von Seins – Erfahrungen, so dass Hannah Arendt nicht mehr als Philosophin, zu diesem „Club“ gehördend, gelten wollte?

Die Sonderausgabe des “Philosophie Magazin” über Hannah Arendt hat den Titel “Die Freiheit des Denkens”. Es ist im Juni 2016 erschienen, hat 146 Seiten, zahlreiche Fotos und Graphiken,Literaturhinweise usw. Es kostet nur 9,90 Euro.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Wozu Philosophie in Corona-Zeiten? Denken in Zeiten der Krise 9.Teil.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 19.4.2020

1.
Die Frage „Wozu Philosophieren, wozu Philosophie in Corona-Zeiten“ ist eine radikalere, der Zeit verpflichtete Form der allgemeinen Frage: “Wozu noch Philosophie“. Theodor W. Adorno hat sich 1962 mit diesem Thema auseinandergesetzt. Der Aufsatz mit diesem Titel ist im Suhrkamp Band „Eingriffe“ (1963) veröffentlicht. Adorno wusste von dem „amateurhaften Klang“ (11) dieser Frage, aber er fand sie wichtig in damaligen Zeiten und keineswegs „unter seinem Niveau“. Sie ist heute von neuer Aktualität. Es geht um die Erkenntnis des gleichermaßen kritischen wie besinnlichen Denkens.
2.
Zunächst zu Adorno, den man sich förmlich als „Vorbild“ für diese Frage wählen kann: Denn dass umfassende Reflexion, selbstkritisches Nachdenken, kritische Analyse gängiger, alltäglicher Begriffe zur Leistung von Philosophie gehört, ist für ihn zweifelsfrei.
Adorno erinnert zunächst an Hegel, der es als Aufgabe der Philosophie erkannte und sich dieser Herausforderung auch selber stellte, „die Zeit in Gedanken zu fassen“. „Als erster erreichte er die Einsicht in den Zeitkern der Wahrheit“ (26), betont Adorno. Den „philosophischen Kern seiner Zeit“ hat auch er stets zu fassen gesucht. In dem Aufsatz zeigt Adorno sich überzeugt, dass „der Zustand der Welt“ „auf die Katastrophe zutreibt“ (23). Er dachte als Philosoph an die Zukunft der Menschheit. Philosophie entwickelt aus der Kritik gegenwärtiger Verhältnisse nicht nur Utopien, die ein besseres Leben zeigen und für möglich halten. Philosophie hat auch angesichts der Analyse der Gegenwart eine Art Prognose mitzuteilen für das Kommende, wenn denn die Gewohnheiten der Menschen jetzt so bleiben wie sie jetzt sind. Adorno hatte verschiedene katastrophale Entwicklungen damals (1963) vor Augen: Den Holocaust als die technische, bürokratische Ausrottung von vielen Millionen Menschen, vor allem der Juden. Adorno sah, wie nach dem Krieg die totale Verdinglichung der humanen Erfahrung kein Ende nimmt, er dachte an die Atombomben, an die geradezu als normal empfundene dogmatische Bevormundung der Bürger selbst in so genannten Demokratien…. Themen, die Adorno immer wieder ausführlich dargelegt hat.
3.
Für manche Adorno-Leser wird es überraschend sein, wenn in dem Aufsatz ausdrücklich auch „eine Spur von Hoffnung“ (18) genannt wird, eine Hoffnung, „dass das Übel … doch nicht das letzte Wort behalte“(18). Hoffnung wird nur als Widerstand gelingen. Und in diesem Widerstand gegen das Übel leistet auch die Philosophie, d.h. das Philosophieren, ihren eigenen, spezifischen Beitrag: Als Kritik, die „Widerstand ist gegen die sich ausbreitende Heteronomie“, als „machtloser Versuch des Gedankens, seiner selbst (als Mensch) mächtig zu bleiben“ (17). Angesichts der Corona-Pandemie haben Philosophen manchmal den Eindruck gegenüber den Ärzten, den Spezialisten der Virologie usw.: Eher nur marginal zu sein, nicht gebraucht zu werden. Dabei sind sie es doch eigentlich, die die kritische Lebendigkeit der Vernunft ständig „befeuern“ sollten. Adorno spricht bescheiden von einem „machtlosen Versuch des philosophischen Gedankens“. Macht muss Philosophie ja nicht gleich haben, aber sie sollte unter den Menschen fürs ständige Fragen und Nachfragen sorgen!
4.
Adorno erkannte damals als seine wichtigsten Gegner, die es argumentativ an den Rand zu stellen gilt, den logischen Positivismus (etwa Carnap) wie auch das Seins-Denken Heideggers: Er wollte die damals (1963) vorherrschenden „philosophischen Schulen“ so auseinander nehmen, man möchte sagen intellektuell blamieren, dass beide „Schulen“ als haltlose Gestalten ideologischer Verblendung wahrgenommen werden. Philosophie darf für Adorno weder das Selbstverständliche (d.h. „positiv“ Gegebene) noch das Unverständliche, Mysteriöse in Seins-Schickungen (das sich jeglicher Debatte entziehende Seins/Seyns-Denken) hinnehmen.
Denn es geht um die Rettung des kritischen Gedankens, des allgemein disputierbaren Gedankens, es geht um Emanzipation. Diese können der das Gegebene umstandslos bejahende Positivismus und das gehorsame, „hörige“, Seins-Denken nicht leisten.
Adorno stellt in seinem Aufsatz diesen ideologisch verformten Schulen das „Philosophieren“ und ausdrücklich die „Besinnung“ als Form der Philosophie, seiner Philosophie, (23) gegenüber. Diese Besinnung hilft, die Zeit auf den Begriff zu bringen. Also Philosophie als relevant für die Gegenwart zu erweisen.
4.
Was hat das mit der Corona-Krise zu tun? Es gilt, philosophisch, argumentativ, nicht bloß optimistisch naiv-behauptend oder religiös bekennend, „eine Spur der Hoffnung“ aufzuzeigen und einem noch größeren drohenden Unheil Widerstand zu leisten: Denn philosophisch ist mit Adorno klar: Das „Übel soll nicht das letzte Wort behalten“ (18).
Aber das kann nur dialektisch gelingen, wenn sich das Denken an dem Negativen erst einmal aufhält, es ansieht, in allen Dimensionen, auch die zukünftigen bedenkt. Nur wer durch das Negative hindurch gegangen ist, hat Aussicht auf „die Spur der Hoffnung“. Philosophie ist – auch für Adorno – kein beliebiges Hobby und auch keine in sich verschlossene akademische Veranstaltung besonders Begabter oder nur eine marginale historische Disziplin. Philosophie muss die Gegenwart, „die Zeit in Gedanken fassen“. Wenn sie das versucht und leistet, hat sie einen eminent praktischen Auftrag. Und auch dieses: Sie hat einen hilfreichen Auftrag.
5.
Philosophie sogar als Therapie: Dieser Gedanke drängt sich auf, der große Philosoph Pierre Hadot hat immer wieder nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht. Er erinnerte an das „praktische Profil“ des hellenistischen und römischen Denkens, etwa der Philosophie der Stoa oder Epikurs.
Philosophie ist auch heute niemals l art pour art. Darum muss auch heute die philosophische Überzeugung bedacht, philosophisch meditiert werden: „Philosophieren heißt Sterbenlernen“! Philosophieren wird als eine Art geistiger Übung begriffen, die dann, wenn sie das Ganze des (eigenen) Lebens berührt, zu einer geistlichen, spirituellen Übung (Exerzitien) wird. Die griechischen Philosophen sprachen von askesis, Askese, als Gestalt einer Lebenskunst. Dann kann es im und durch das Denken zu einer Bekehrung kommen, zu einem Umbruch hinsichtlich der Werte und Normen des Lebens. Die wesentlichen Erkenntnisse der Philosophie werden als knappe Sätze, als Formeln, Sentenzen, verbreitet; sie werden als Vorschläge, die zu einem wahren humanen Leben führen, immer wieder von einzelnen inmitten des Lebens wiederholt: „Denke daran, dass du sterben wirst“, ist eine solche Erkenntnis. Sie führt zur Distanz gegenüber allen Anhaftungen und Bindungen an die alltägliche Welt der Sinneserfahrungen. Philosophieren kann also die Seele heilen, schreibt Pierre Hadot (in „Philosophie als Lebensform“, Fischer Taschenbuch, 2001, S. 21). Hadot bezieht sich auf Platon, der wohl als eine der ersten die Maxime formulierte „Philosophieren hießt Sterbenlernen“ (ebd. 29 ff). „Sich im Sterben üben bedeutet, sich zu üben, in seiner Individualität und in seinen Leidenschaften abzusterben, um die Dinge aus der Perspektive der Universalität und der Objektivität zu sehen“ (30). Es geht also bei dieser Maxime um eine bessere Klarsicht. Die Stoiker haben diese Maxime aufgegriffen, und dabei die Wandlung der Grundstimmung im Menschen betont. Der skeptische und mit der Stoa eng verbundene Philosoph Montaigne (1533-1592) hat einen seiner berühmtesten Essays unter den Titel „Philosophieren heißt Sterben lernen“ veröffentlicht, (in der hervorragenden Übersetzung von Hans Stilett, Eichborn Verlag, 1998, Seite 45 – 52, dieser ist die Nr. 20 aller unter dem Titel „Essays“ versammelten kleineren Essays, auch diese Nr.20 wurde wohl 1572 verfasst, gehört also zu den frühen Essays Montaignes).
„Das Vorbedenken des (eigenen Todes) ist Vorbedenken der Freiheit. Wer sterben gelernt hat, hat das Dienen verlernt.“ (48). Das heißt in die heutige Zeit übersetzt; Aus dem Gedanken an die Sterblichkeit aller Menschen, auch der Herrscher, kann der Gedanke an die Gleichheit aller Menschen, auch in rechtlicher Hinsicht, sich als wahr aufdrängen. Und die Frage bleibt: Könnten Herrscher menschlicher, toleranter, weiser, gerechter werden, wenn sie selbst denn ständig die eigene Sterblichkeit vor Augen hätten? Hat das Denken an den eigenen Tod eine Ausstrahlung auf eine humanere Lebensgestaltung?
6.
Damit ist nicht gesagt, dass sich die aktuelle Bedeutung der Philosophie in Corona – Krisen – Zeiten in der Erinnerung an die Sterblichkeit des Menschen erschöpft. Philosophie ist in aller Vielfalt der Entwürfe immer eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie Menschen in tiefen Erschütterungen leben und überleben können. Dabei kann man Überraschungen erleben, wenn man etwa „Auszüge aus dem letzten Interview“ liest, das Jean Paul Sartre seinem Freund Benny Levy gegeben hatte (abgedruckt etwa in der „Sondernummer“ von „Pflasterstrand J.P. Sartre“, 1980 in Frankfurt /M. publiziert, hg. von Daniel-Cohn Bendit). In dem Interview bekennt sich Sartre zu einem Humanismus, der ganz wesentlich als eine Beziehung zum anderen Menschen verstanden werden muss. Es ist für ihn absolut abzulehnen, „sich des Menschen als Mittel zum Zweck zu bedienen“. Sartre plädiert vielmehr ganz stark für einen Humanismus, der auch die „Dimension der Verpflichtung“ (41) respektiert: „Ich verstehe darunter, dass in jedem Moment, in dem ich mir einer Sache bewusst bin, immer auch eine Art Forderung da ist, die über das Reale hinausgeht…“ Sind also doch leiseste Spuren von Transzendenz bei Sartre spürbar/ahnbar?
Es gibt gewiss umfassendere Entwürfe für einen philosophischen Humanismus für Corona-Krisen-Zeiten. Diese sind, wenn man schon ans Umfeld Sartres denkt, viel eher bei seinem Gegner Albert Camus zu finden. Hier ging es mir nur darum, auf einige sehr späte Fragmente in Sartres Denken aufmerksam zu machen, der ausdrücklich am Lebensende von Aspekten spricht, „die ich in meinen philosophischen Werken nicht untersucht habe, nämlich die Dimension der Verpflichtung“ anderen Menschen gegenüber“.
Diese ethische Verpflichtung des einzelnen den anderen gegenüber ist und bleibt DAS Thema der philosophischen Lebensweise und philosophischen Kritik in Corona-Zeiten!
6.
Über Sterben und Tod in dieser Corona-Gesellschaft muss philosophisch auf “breiter Ebene“ diskutiert werden. Es ist leider üblich geworden, etwa in Italien, dass jetzt hinsichtlich der Chancen auf Gesundung zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Patienten unterschieden wird. Die einen a priori Chancenreichen sind die Jungen (oder selbst, wenn schon alt, dann die Wichtigen, die Politiker, die Berühmtheiten, kurzum die „Herren“). Die anderen sind die Alten (ab wann genau alt, 79 oder 80?). Diese Form der Aussonderung mag ja wie eine „letzte Rettung“ der Ärzte in wirklichen heftigsten und umfassend unmenschlichen Kriegszeiten mit Massenabschlachtungen (2. Weltkrieg usw.) sinnvoll sein: Aber jetzt offenbart diese Aussonderung von Kranken nach Nützlichkeitserwägungen eine irritierende Art zu handeln. Man muss rechtzeitig diese „Triage“ kritisieren, damit sie nicht üblich wird und sich förmlich als normal einbürgert. In Corona-Zeiten Triage anzuwenden ist ja nur Ausdruck für das vorliegende, völlig unzureichende Gesundheitssystem selbst in den europäischen an sich so wohlhabenden Staaten. Hätten die politisch Verantwortlichen einen Pandemie Fall rechtzeitig bedacht und medizinisch/technisch vorgesorgt, gäbe es keine Triage. Diese ist Ausdruck des Versagens der Politiker, die etwa die Krankenhäuser als Orte des Profits konzipiert haben…Triages haben, wie gesagt, nur in heftigstem Krieg eine Bedeutung. Aber indem Politiker vorschnell die Corona – Krise als Krieg deuteten und öffentlich auch so bezeichneten, konnten Kriegs-Maßnahmen wie Triage jetzt beinahe üblich werden.
7.
Dabei ist klar: Diese Aussonderungen, Triages, sind ja in unserer sich demokratisch nennenden, den universalen Menschenrechten angeblich verpflichteten Staaten längst vertraute, sozusagen allgemein übliche ökonomische Handlungen: Sie bestimmen die Art der reichen Länder des Nordens im Umgang mit den armen Menschen im Süden: Die Menschen dort sind eigentlich nicht wichtig, weil ökonomisch „für uns“ uninteressant. Darum können wir mit gönnerischer Üblichkeit denken: Es macht „uns“ also nichts, wenn die Armen im Süden, diese vielen Millionen Menschen, nur eine Schale Reis pro Tag haben; in Elendhütten leben, vor Hunger krepieren; bei ihrer Flucht auf dem Mittelmeer fast keine Hilfe mehr empfangen. Die Flüchtlingslager in Lesbos oder die riesigen Lager in Libyen gelten unter kritischen Beobachtern als institutionalisierte, als eine von der EU zugelassene Katastrophe, wenn nicht für viele Soziologen als KZs des 21. Jahrhunderts.
Dieser Geist der Aussonderung ist schon lebendig, man muss ihn bekämpfen und nicht heute noch in Krankenhäusern verbreiten.
8.
Über den Begriff der Nützlichkeit des Menschen müsste also viel breiter diskutiert werden. Denn diese Praxis der Aussonderung von pflegwürdigen und nicht mehr pflegewürdigen Patienten ist, philosophisch gesehen, Ausdruck einer auf Nutzen gerichteten Haltung. Triage ist ja in gewisser Hinsicht eine schlichte Form des Utilitarismus: Der klassische Utilitarismus ist „eine der am weitesten verbreiteten Theorien der Moral“, schreibt Uwe Czaniera in der „Enzyklopädie Philosophie“, Band III, Seite 2849 (Hamburg 2010). Utilitarismus ist eine Form einer normativen Ethik. Konkreter gesagt: Die moralische Qualität einer Handlung „wird durch außermoralische natürliche Eigenschaften konstituiert und kann entsprechend mit unserem gewöhnlichen Erkenntnis-Instrumentarium und ohne Rekurs auf Intuitionen, Vernunftprinzipien oder göttliche Offenbarungen erfasst werden“ (ebd. 1849). Utilitarismus ist also, wie es heißt, eine sehr „gewöhnliche“ Moral, sie ist keineswegs auf dem hohen Stand der moralischen Reflexionen, etwa durch Kant oder die Tugendlehren. Es geht in dieser utilitaristischen Moral darum, ein größtmögliches Übergewicht an Glück oder Gesundheit für viele gegenüber einem – so glaubt man – klein gehaltenen Unglück für einige durchzusetzen.
9.
Philosophie bringt solche Zustände öffentlich zur Sprache, aber „als Spur der Hoffnung“, dass wenigstens diese rassistisch anmutende Praxis überwunden wird. Das kritische Sich – Abarbeiten am Negativen wird also in der Corona-Krise niemals die armen Menschen in Indien, Brasilien, Afrika, ja in der ganzen armen Welt des Südens, vergessen dürfen. Wenn diese leidenden Menschen dort nicht auch menschenwürdig gepflegt werden, entsteht ein explosives politisches „Potential“. Der Zusammenhang von universaler Corona-Krise und Gewalt/Krieg könnte leider ein Thema der Zukunft sein, selbst wenn dann schon in einigen Ländern Europas wieder etwas Normalität zurückgekehrt ist. Aber Normalität kann nicht zurückkehren, wenn im Süden wegen Corona sozusagen die „Hölle los ist“. Und im reichen Norden gibt es als kommende Gefahr den Zustand, dass eine Gruppe der erfolgreich Überlebenden den Massen der hier zumindest ökonomisch zutiefst geschädigten (und noch kranken) Menschen gegenübersteht. Dieses Denken an eine Zukunft wird jetzt eher selten praktiziert, fast alle sind mit dem gegenwärtigen Alltag befasst: „Wann öffnen bloß die Möbelhäuser und die Baumärkte wieder“ ? Dabei sollte man auf Stimmen von international vernetzten Wissenschaftlern, Philosophen und auch Theologen hören. Der internationale bekannte, kluge und sehr aufgeschlossene „progressiv“ denkende Dominikaner – Theologe Timothy Radcliffe aus Oxford schreibt. „Nach und nach nehmen doch Politiker wahr: Wenn es keine internationale Solidarität gibt zugunsten der Ärmsten, kann eine sozialer Niedergang daraus resultieren, den Europa seit langem nicht gekannt hat. Wir können als Gesellschaft nur durch einen radikalen Wandel überleben. Die weit reichende ungleiche Verteilung des Reichtums hat unsere gemeinschaftlichen Bindungen schon so weit zerstört, dass eine extreme Finanzkrise nun eine Auflösung der Gesellschaft selbst zur Folge haben kann. Ein Teil der politischen Elite sollte begreifen: Wenn wir nicht lernen, dass wir Menschen alle in einem und demselben Boot sitzen, werden im Falle der Nichtbeachtung dieser Tatsache die (schlimmen) Konsequenzen nahezu unvorstellbar sein…“ (Quelle: La Croix, 26.3.2020)

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Kann die Kunst unser Leben verändern? Denken in Zeiten der Krise. 8.Teil

Ein Hinweis von Christian Modehn. Zugleich eine Buch-Empfehlung!

Wie viele hektische Besuche von Galerien und Besichtigungen in Museen haben wir schon absolviert? „Bloß nichts verpassen“, ist die Devise. Wie oft haben wir intensiver die ultra-kurz gefassten historischen Erläuterungen unterhalb der Gemälde gelesen als die Kunstwerke selbst betrachtet? Wie viele Kunstbücher und Ausstellungskataloge ruhen nicht beachtet und nicht betrachtet in unseren Bücherregalen?
Damit soll nun Schluss sein. Zu einer Kehrtwende in einem oberflächlichen Kunst-„Konsum“ ermuntert ein (relativ) neues Buch des bekannten Philosophen Alain de Botton: „Wie Kunst Ihr Leben ändern kann“ ist der Titel. Das Buch hat de Botton gemeinsam mit dem Philosophen und Kunsthistoriker John Armstrong verfasst. Erschienen ist es 2017 im Suhrkamp Verlag. Der englische Titel ist deutlicher: “Art as therapy“.
Denn darum geht es den Philosophen: Kunstwerke sollten wir um einer besseren Lebensgestaltung betrachten und sie wirklich gebrauchen lernen und sogar wie eine Medizin, als Therapie, „verwenden“, als Heilung für unsere zerrissene Seele und den verwirrten Geist.
Diese Perspektive der Kunstinterpretation ist natürlich eine Provokation, bei allen, die immer noch an eine „L art pour l art“ glauben. Oder bei Philosophen, die einen Übergang von ästhetischen Erfahrungen und Einsichten zu ethischen Einsichten und entsprechender Praxis ablehnen. Alain de Botton plädiert hingegen sehr entschieden für den praktischen Wert der Kunst, also jener Objekte, die im Rahmen der Ästhetik diskutiert werden. Kierkegaard wäre als widersprechender Gesprächspartner hier wichtig, er wird in dem Buch leider nicht erwähnt.

Alain de Botton hatte auch in seinen früheren Publikationen stets vom Nutzen, man möchte sagen praktischen Gebrauchswert, von Religion und Philosophie gesprochen. Nun also auch von der Kunst. In dem Buch „Wie Kunst ihr Leben verändern kann“ stellt er Kunstwerke unterschiedlicher Epochen in einer überraschenden Vielfalt auch als (kleine) Farbdrucke (141 insgesamt) vor, immer von der Frage geleitet: Wie könnte dieses Bild, dieses Kunstwerk, uns helfen, dass wir uns wieder richtig erinnern, dass wir die Hoffnung wieder entdecken oder mit dem Leiden sinnvoll umgehen usw.
Ich finde besonders das erste Kapitel hilfreich hinsichtlich der therapeutischen Funktion von Malerei und Skulpturen: Wie kann Kunst vor Pessimismus und Schwarzmalerei bewahren? Wie können wir Ermutigung im Leben sehen und durch Kunst-Berachtung auch wieder finden? De Botton zeigt das etwa an den „Tänzern“ von Matisse (von 1909). Es besitzt „so viel Anmut und Liebreiz, dass es uns für einen Augenblick das Herz zerreißt“ (13). Die Betroffenheit kann paradox sein: „Unsere Tränen kommen nicht, weil das Bild so traurig ist, sondern weil es so hübsch ist“ (17).

In der Interpretation von Richard Serras Objekt mit dem Titel „Fernando Pessoa“ betonen die Autoren, wie dieses Kunstwerk wirkt. Es ist benannt nach dem portugiesischen Dichter und Poeten Fernando Pessoa: Wir werden durch dieses Objekt förmlich dazu gedrängt, Leiden und Schmerzen auch als Momente der Würde im Leben anzunehmen. Es geht darum, im meditativen Blick auf Kunst „unser seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen“ (29). Voraussetzung ist natürlich, dass der meditative oder kontemplative Kunst-Betrachter um die eigene Befindlichkeit, wenigstens als Frage und Suche, schon etwas weiß. Diese Voraussetzung scheint mir in dem Buch nicht ausreichend reflektiert zu werden. Oder ist das Erschüttertwerden oder gar das “Umgeworfenwerden” durch Kunst das entscheidende, unerwartete Erlebnis, das uns in die Tiefe unseres Lebens führt? Dann wäre ein erschütterndes Kunsterlebnis einer religiösen Erfahrung mit Gott/dem Göttlichen vergleichbar. Und Kunst könnte die Funktion des Religiösen übernehmen…Ein umstrittenes Thema…

Die elementare Bedeutung der Kunst für eine menschliche Ethik steht den Autoren außer Frage: „Dabei liegt es auf der Hand, dass viele der besten Kunstwerke …eindeutig einen moralischen Anspruch haben, nämlich die Intention, uns durch verschlüsselte Botschaften zu ermahnen oder zu warnen und so das Gute in uns zu fördern“ (33). Kunstwerke regen also an, „das Beste aus uns herauszuholen“ (34), heißt es pragmatisch, fast ratgebermäßig. Aber wer sich in die Geschichte der Kunst vertieft, wird wohl sehr oft diesen „das Gute in uns fördernden Aspekt“ erkennen. Man denke nur an die Genre-Malerei der Niederländer. Brouwer oder Steen malen Wirtshausszenen nicht um ihrer selbst willen, sondern um versteckt, aber für die Zeitgenossen damals und auch für uns unübersehbar vor einem allzu ausgelassenen Lebenswandel zu warnen. Diese Bilder (etwa „Singende Trinker“, von Adriaen Brouwer, 1635) sollen auch und vor allem „Abscheu und Ekel erregen“ (so im „Katalog von Frans Hals bis Vermeer“, Berlin 1984, Seite 128). Und die vielen Marien-Darstellungen, diese vielen Pietas: Sind sie doch bewusst geschaffene Bilder des Trostes nicht nur für Mütter in trostlosen Zeiten.

Ich empfehle das Buch „Wie Kunst ihr Leben verändern kann“, gerade in diesem Zeiten, in denen einige doch hoffentlich längere Zeiten fürs Lesen und Betrachten (Kontemplation) frei haben. Schauen Sie sich als erstes das (mir bis dahin) unbekannte Bild von Jean-Baptiste-Siméon Chardin an, mit dem schlichten Titel „Dame beim Tee“ (von 1735). „Der Raum ist bewusst schlicht gestaltet. Und doch hat das Bild etwas Glamouröses. Es glorifiziert diese alltägliche Situation und das schlichte Mobiliar… Es regt den Betrachter an, (nach dem Museumsbesuch) nach Hause zu gehen und seinen eigenen Lebensentwurf zu gestalten… Die Kunst hat die Macht, den schwer zu definierenden, aber dennoch vorhandenen Wert des normalen Lebens zu würdigen… Die Kunst kann in uns ein neues Bewusstsein wecken für die wahren Vorzüge des Lebens, das wir nun einmal gezwungen sind zu leben“ (56 f.)

Natürlich unterscheiden die Autoren genau, was Kunst ist und was sich nur Kunst zu nennen wagt, was also Kitsch ist. Sie denken etwa an die verblödenden populären TV-Serien, „die uns genau das liefern, was wir haben wollten“ (156). Sie beleidigen die Menschen, weil sie nicht zeigen, „wozu wir als Menschen eigentlich in der Lage sind“ (157). Die Autoren kritisieren den dummen Wahn der Reichen, diese „Klasse der obszön Reichen“ (157), die ihre totale Ahnungslosigkeit und blöde Geschmacksverirrung auch künstlerisch, etwa in ihrer Architektur ihrer pompösen Villen ausdrücken müssen (zwei Beispiele auf Seite 156 und 158).

Den Autoren liegt es fern, nur den einzelnen durch Kunst heilen zu wollen. Die einzelnen sollten „die Werte, die die Kunst repräsentiert, in der realen Welt umsetzen… Die wahre Ehrfurcht vor der Kunst besteht darin, das Gute, was in einem Kunstwerk kraftvoll dargestellt ist, aktiv in Umlauf zu bringen“ (225).

Zu diesen Zitaten und den Hinweisen: Im Hintergrund steht als Kriterium des „Ändern des eigenen Lebens“ durch die Kontemplation der Kunst ein bestimmtes Menschenbild: Der Mensch als ein Dasein, das sich im Laufe seines Lebens inmitten vieler Krisen und Widersprüche entfaltet, das sich geistig entwickelt, zu sich selbst kommt, sich selbst und andere lieben lernt … und die Solidarität hoch schätzt.

Alain de Botton und John Armstrong, Wie Kunst Ihr Leben verändern kann“, Suhrkamp Verlag, 2017, Taschenbuch, 240 Seiten. Nur 17,95 EURO!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin