Täglich ein Satz von Hegel! Eine Art Geburtstagsgeschenk zum 250.

Eine philosophische Einstimmung auf Hegels 250. Geburtstag:
15 Tage täglich (wenigstens) einen Satz Hegels lesen und „bedenken“ und weiter lesen…

Von Christian Modehn (Die Sammlung dieser Zitate wurde am 13.8. 2020 begonnen)

Am Donnerstag, dem 27.8.

„Dass das Wahre nur als System wirklich oder dass die Substanz wesentlich Subjekt ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht, – der erhabenste Begriff und der der neueren Zeit und ihrer Religion angehört. Das Geistige allein ist das Wirkliche; es ist das Wesen oder Ansichseiende, – das sich Verhaltende und Bestimmte, das Anderssein und Fürsichsein – und [das] in dieser Bestimmtheit oder seinem Außersichsein in sich selbst Bleibende; – oder es ist an und für sich.“
(Phänomenologie des Geistes, Suhrkamp Verlag 1970, S. 28)

Am Mittwoch, dem 26. August:

Wahrheit ist für Hegel mehr als „bloße Richtigkeit“, wie er sagt: „Dagegen besteht die Wahrheit im tieferen Sinn darin, dass die Objektivität mit dem Begriff identisch ist. Der tiefere Sinn der Wahrheit ist es, wenn z.B. von einem wahren Staat oder von einem wahren Kunstwerk die Rede ist. Die Gegenstände sind dann wahr, wenn sie das sind, was sie sein sollen, d.h. wenn ihre Realität ihrem Begriff entspricht. So aufgefasst ist das Unwahre dasselbe, was sonst auch das Schlechte genannt wird. Ein schlechter Mensch ist ein unwahrer Mensch, d.h. ein Mensch, der sich seinem Begriff oder seiner Bestimmung nicht gemäß verhält.“
(Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, I, § 213, Zusatz. Suhrkamp 1970, S. 369).

Am Dienstag, dem 25. August:

„Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“
(Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Vorrede vom 25. Juni 1820, Suhrkamp 1070, S 28.)

Dieses viel zitierte Wort braucht eine Erläuterung, die hier nur kurz formuliert werden kann:
Philosophie „malt grau in grau“: D.h.:Philosophie ist nüchtern, beschreibend, nimmt Wirklichkeit nur wahr.
„Eine Gestalt des Lebens ist alt geworden“: Es ist nur EINE Gestalt des Lebens, die alt geworden ist; das Leben des Geistes geht weiter, die alte Gestalt wird „aufgehoben“.
Nur weil diese Gestalt alt geworden ist, kann die Philosophie sie als ganze, förmlich in einer gewissen Vollendung, Ganzheit, „Abrundung“, erfassen und im Überblick haben.
Diese vollendete “alte”, vergangene Welt kann die Philosophie beim besten Willen nicht verjüngen, das wäre ein Rückschritt.
Diese alte Welt ist zwar vergangen (und erkannt), aber sie wird „bewahrt“, „aufgehoben“ in den folgenden neuen Welten des Geistes. (Man könnte hier an Hegels Wahrnehmung des Katholizismus denken, der auch eine alt gewordene Konfession ist, aber sich im Protestantismus z.T. aufgehoben hat).
Dieser viel zitierte Satz Hegels hat also keine resignative Bedeutung, Hegel weiß ja, dass der Geist lebendig ist und Zukunft eröffnet. C.M.

Am Montag, dem 24.August: Ein zentraler Text!:

“Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.
Der Geist gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen. Sondern der Geist ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.”
(„Phänomenologie des Geistes“, Vorrede, Suhrkamp, 1970, S. 36)

Am Sonntag, dem 23. August:

“Der Verstand bestimmt und hält die Bestimmungen fest; die VERNUNFT ist negativ und dialektisch, weil sie die Bestimmungen des Verstandes in Nichts auflöst. Die Vernunft ist positiv, weil sie das Allgemeine erzeugt und das Besondere darin begreift.”

(Wissenschaft der Logik, Vorrede zur ersten Ausgabe.(http://www.zeno.org/Philosophie/M/Hegel,+Georg+Wilhelm+Friedrich/Wissenschaft+der+Logik/Erster+Teil.+Die+objektive+Logik/Vorrede+zur+ersten+Ausgabe)

Am Samstag, dem 22. August:

“So ist das, was von jeher für das Schmählichste, Unwürdigste gegolten hat, der Erkenntnis der Wahrheit zu entsagen, von unseren Zeiten zum höchsten Triumphe des Geistes erhoben worden. Die Verzweiflung an der Vernunft war, bis es bis zu ihr gekommen war, noch mit Schmerz und Wehmut verknüpft. Aber bald hat der religiöse und sittliche Leichtsinn, und dann die Plattheit und Seichtigkeit des Wissens, welche sich Aufklärung nannte, frank und frei seine Ohnmacht bekannt und seinen Hochmut in das gründliche Vergessen höherer Interessen gelegt.”
(Enzyklopädie der philsophischen Wissenschaften III. Dieses Zitat ies ist ein Auszug aus der Antrittsrede an der Berliner Universität am 22. Oktober 1818, Suhrkamp 1070, S. 402f.)

Am Freitag, dem 21.August:

“Als Gefühl ist der Geist der ungegenständliche Inhalt selbst und nur die niedrigste Stufe des Bewusstseins, ja in der mit dem Tiere gemeinschaftlichen Form der Seele. Das Denken aber macht die Seele, womit auch das Tier begabt ist, erst zum Geiste!”
(Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Suhrkamp Verlag, 1970, S. 24 f.)

Am Donnerstag, dem 20. August:

In seiner Antrittsrede in der Berliner Universität am 22. 10. 1818 sagte Hegel u.a.:

„Zunächst darf ich nichts in Anspruch nehmen als dies, dass Sie Vertrauen zu der Wissenschaft (also der Philosophie) mitbringen und Glauben an die Vernunft, Glauben und Vertrauen zu sich selbst“.
(„Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, III, Suhrkamp 1970, S. 404)

Am Mittwoch, dem 19. August:

„Das negative Verhalten der religiösen Menschen ist die Meinung: Dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben, also: Seid fromm und ihr könnt sonst treiben, was ihr wollt. Ihr könnt euch der eigenen Willkür und Leidenschaft überlassen und die anderen, die Unrecht dadurch erleiden, an den Trost und die Hoffnung der Religion verweisen oder schlimmer noch: Diese Menschen als irreligiös verwerfen und verdammen.“
(Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Suhrkamp, 1986, S. 418)

Am Dienstag, dem 18. August:

„Was vernünftig ist, das ist wirklich.
Und was wirklich ist, das ist vernünftig“
(Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Suhrkamp Verlag, 1986, S. 24)

Dieser häufig zitierte und oft missverstandene Satz bedarf einer Erklärung:
Hegel behauptet nicht, dass alles, was in dieser Welt, in den Staaten, Gesellschaften, Religionen usw. vorhanden ist, schon deswegen beanspruchen kann, auch vernünftig zu sein. Sondern nur dasjenige Bestehende ist wirklich, also gültig, wenn es von der Vernunft bestimmt ist.
Man könnte also den berühmten Satz umwandeln und sagen:

„Was bloß vorhanden ist und bloß besteht, ist noch nicht vernünftig.
Erst wenn das Bestehende und Vorhandene von den Gesetzen der Vernunft bestimmt ist, ist das Bestehende und Vorhandene auch wirklich.“
Es kommt also darauf an, die Vernunft in das Bestehende „einzuführen“, das ist eine politische Aufgabe!

Am Montag, dem 17. August:

„Man hat gesagt, die Französische Revolution sei von der Philosophie ausgegangen. Und nicht ohne Grund hat man die Philosophie WELTWEISHEIT genannt. Denn sie ist nicht nur die Wahrheit an sich und für sich, als reine Wahrheit. Sondern sie ist auch die Wahrheit, insofern sie in der Weltlichkeit lebendig wird“
(„Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Suhrkamp Verlag, 1970, S. 527 f.)

Am Sonntag, dem 16. August:

„Es kann verdächtig erscheinen, dass die Religion vornehmlich auch für die Zeiten öffentlichen Elends, der Zerrüttung und Unterdrückung empfohlen und gesucht wird und an sie verwiesen wird für Trost gegen das Unrecht und für Hoffnung zum Ersatz des Verlustes“.
(„Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Suhrkamp Verlag, 1986, Seite 416)

Am Samstag, 15.8., Feiertag Maria Himmelfahrt:

„Der Hauptgegenstand der (katholischen) Verehrung unter den Heiligen war die Mutter Maria. Sie ist allerdings das schöne Bild der reinen Liebe, der Mutterliebe. Aber der Geist und das Denken ist noch höher. Und über dem Bild (Mariens) ging die Anbetung Gottes im Geiste verloren, und selbst Christus ist auf die Seite gestellt worden“.
(„Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, Suhrkamp Verlag, 1970, S. 455)

Am Freitag, dem 14. August:

Der Mensch als endlicher für sich betrachtet, ist zugleich auch Ebenbild Gottes und Quell der Unendlichkeit in ihm (im Menschen) selbst. Der Mensch ist Selbstzweck, hat in ihm selbst einen undendlichen Wert und die Bestimmung der Ewigkeit“
(„ Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, Suhrkamp Verlag, 1970, S. 403 f.)

Am Donnerstag, dem 13. August:

„Wir Deutschen sind passiv erstens gegen das Bestehende, haben es ertragen; zweitens, ist es umgeworfen, so sind wir ebenso passiv: Durch andere ist es umgeworfen worden, wir haben es uns nehmen lassen, haben es geschehen lassen“
(„Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“, III, Suhrkamp Werkausgabe, Band 20, S. 297).

COPYRIGHT: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Voices: Max Richters neuestes Werk: Vom musikalisch – seelischen Erleben der Menschenrechte!

Ein Hinweis von Christian Modehn

Max Richter hat kürzlich sein neuestes Werk vorgelegt: „Voices“. Ein eher schlichter Titel für ein anspruchsvolles Werk mit anspruchsvollem Inhalt: In dieser Musik will Richter die Menschenrechte (in ihrer Erklärung von 1948) nicht nur als immer und überall gültiges Programm der globalen Menschheit feiern. Er will musikalisch beitragen, dass die HörerINNen die Menschenrechte als Grundlage nicht nur der Politik, sondern förmlich als den Geist ihrer humanen Seele wahrnehmen. Das kann nicht besser gelingen als … durch die Musik. Die eingesprochenen Texte der Menschenrechtserklärung gehören nicht nur als Hintergrund zu dieser Musik. Die Worte öffnen den Raum des Verstehens von „Voices“.

Wenn man nun Musik wieder einmal hilflos in Worte übersetzen muss: Dann entwickelt sie sich von einer eher melancholischen Dimension hinaus in eine eher verhalten lichtvolle Atmosphäre. Je nachdem, wie die Hörer dieser CD gestimmt sind: Sie werden „Voices“ als den zwar stillen, aber möglichen Sieg der Humanität deuten oder noch als schwebendes Suchen nach dem lichtvollen Sinn und Ziel des Ganzen, also der Humanität. Und ich meine, wir sollten diese neue Musik von Max Richter, wie so oft bei ihm, guten Gewissens „gebrauchen“, immer wieder hörend, als eine Ermunterung, das Leben zu bestehen. Musik gehört als „Hilfe“ mitten ins Leben. Die universalen Menschenrechte gelten „prinzipiell“ in fast allen Staaten, (nur nicht im Staat „Vatikanstadt“ ), aber sie sind nur selten auch nur annähernd politische, kulturelle und ökonomische Realität. Dies ist unser Leben: Das Gespanntsein zwischen der Sehnsucht nach wahrem Leben und den Fakten der nur sehr mäßig verwirklichten Menschlichkeit.
Max Richters Musik erlebe ich als Aufforderung, weiterzugehen … in die Richtung der Menschlichkeit. Sie ist insofern Ermunterung… die verzweifelte Lage der Menschheit nicht zu vergessen. Insofern ist seine Musik politisch.

Mit dem Titel „Gebrauchsmusik“ kann der Komponist Max Richter durchaus etwas anfangen, bekennt er in einem Interview mit der TAZ am 5.1.2013. Endlich jemand, der sich aus der lange währenden „l art pour l art“ – Gefangenschaft der Kunst befreit oder aus der postmodernen Beliebigkeit heraustritt,
Max Richter weiß sich in großer Tradition: Denn die von ihm unterstützte Qualität, „Musik zum Gebrauche“, also zur hilfreichen Inspiration für Menschen im Alltag, galt schon für die Musik der Barockzeit: „Mir gefällt diese Idee der zweckmäßigen Musik“, sagt er in dem Interview.
Und was für eine Musik der Komponist Max Richter uns immer wieder bietet! In keinem Fall solche, die man „nach Gebrauch“ beiseite legt oder gar schnell wieder vergisst.
Über Max Richter ist viel geschrieben worden, und Details zu seiner Biographie findet man vieles im Netz. Für uns ist bemerkenswert, in welcher Offenheit er sich zu religiösen Dimensionen und spirituellen Aspekten seiner Arbeiten bekennt. Der Komponist lebt und bewegt sich in der Musik, aber gerade dabei und darin erlebt er Religiöses, das musikalisch seinen Ausdruck findet: „Wenn Sie Musiker sind, dann leben Sie auch in der Musik. Für manche ist es wie eine Religion. Man trägt die Musik halt immer mit sich herum.“
Schon anlässlich seines Werkes „Sleep“ (das mehr als acht Stunden dauert) wurde bemerkt: Diese Musik von Richter führt weiter, hinaus, ins Freie, aber durchaus auch ins mystisch Dunkle, in die Trance, aus der der Hörer aber wieder herausfindet … ins Licht.
Max Richter wird von Kritikern mit einer Etikette versehen und als „Neo-Klassizist“ bezeichnet. Wunderbar, meine ich, warum nicht zurückgreifen auf alte, immer aber gegenwärtige Traditionen? Wenn sie helfen, auch den Vorgriff auf die bessere Zukunft, die Geltung der Menschenrechte, zu vermitteln? Und, nebenbei gefragt: Warum soll nicht endlich einmal die so genannte zeitgenössische Musik auf diese Weise auch weite Kreise erreichen?
Mich hat gewundert, dass in dem Interview (für die TAZ) Max Richter den ziemlich weltberühmten Berliner Club „Berghain“ einen „religiösen Ort“ nennt, dort wurde seine Neuschöpfung der „Vier Jahreszeiten“ von Vivaldi aufgeführt: Dieser zweifelsfrei auch erotisch lebendige Musikclub als ein religiöser Ort: Das wäre ein Thema für Religionsphilosophen und vielleicht auch noch für Theologen, die endlich verstehen wollen, wie und wo Religion außerhalb der Kirchenmauern in Berlin lebt.
Jetzt aber wäre mein Vorschlag: Man sollte VOICES in den Kirchen aufführen, auch über den gut eingerichteten Klang einer CD, und zwar gerade anstelle der üblichen und immer gleichen Liturgien in den Sonntagsgottesdiensten. Dies ist keine Vereinnahmung von Kunst, sondern sozusagen das Geltendmachen von „Fremdprophetie“, also von Kunst, für die religiöse Welt.
Dies ist ein Vorschlag, wie mir scheint, dringend geboten, um nicht nur die ewige Bach-Musik oder Mozart aufzuführen und als „wahrhaft“ religiös wahrzunehmen. Max Richters „Voices“ ist – dem Geist der universalen, „ökumenischen“ Menschenrechte entsprechend überkonfessionell…
Hören wir also seine Musik. Sie bietet den Eintritt in eine andere Welt, eröffnet uns Räume zum meditativen Verweilen und Nach-Denken. Und zieht damit die übliche Definition in Zweifel, Musik wäre eigentlich nichts anderes als eine von vielen Sprachen, eben „nur“ eine „andere Sprache“. Nein, Musik ist nicht eins zu eins in die sonstigen, verbalen Sprachen übersetzbar, so wie man einfach einen Text aus dem Deutschen in die englische Sprache überträgt.
Musik ist eine eigene Welt, in die wir eintreten können, und dabei erleben: Es gibt mehr als unsere allmählich flach und banal gewordene Sprech – und Schreibwelt der so üblich gewordenen Kurzmitteilungen.
Musik befreit vom Verfall ins Alltägliche, führt woanders hin, sicher ins Erleben der Seele.
„Voices“. Von Max Richter. Double CD Album. DECCA Records Release, 2020, Product code 0898651.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Mit Nietzsche weiterdenken: Vier Hinweise von Christian Modehn, anläßlich von Nietzsches Todestag am 25. 8.1900

1.
Nietzsche neu lesen
Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 3.8.2019
1.
Mit einem erneuerten Verstehen Nietzsche lesen: Das fordert der Philosoph Andreas Urs Sommer (Uni Freiburg i. Br.) in seinem Essay in der Zeitschrift „Information Philosophie“, Ausgabe Dezember 2018. Sommer ist Leiter der „Forschungsstelle Nietzsche-Kommentare“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Weil Nietzsche vor allem von vielen philosophisch Interessierten oft und viel zitiert sowie mit Schlagwörtern, wenn nicht Klischees, fixiert wird, lohnt es sich, diesen Beitrag von Andreas Urs Sommer besonders zu beachten.
2.
Seine Überlegungen sind bezogen auf seine umfangreichen Studien des „Nietzsche Kommentars“, die selbstverständlich auch die vielen Texte aus dem Nachlass berücksichtigen. Der Beitrag setzt sich mit zwei gegensätzlichen Interpretationslinien der Philosophie Nietzsches auseinander: Die beliebte „inhaltliche“ Position, die in Nietzsches Schriften feste Überzeugungen entdeckt. Und diese dann auch auf aktuelle Fragen bezieht, etwa „Tod Gottes“, „Nihilismus“, „Übermensch“. Und dann die eher „textische“ Lektüre, wie Sommer sagt, die Nietzsche nur als Verfasser von literarischen Texten versteht: Die dann von diesen Sprach-Forschern in allen philologischen Nuancen ausgeleuchtet werden.
Der Essay von Andreas Urs Sommer hat den provozierenden Titel „Was von Nietzsche bleibt“. Das ist ein Titel, der auf Abschließendes, Definitives hinweisen könnte. Tatsächlich aber will Sommer eher einen „Denkraum“ eröffnen…
3.
Der Artikel ist für LeserInnen Nietzsches wichtig, weil zentrale Differenzierungen genannt werden. So etwa Nietzsches Umgang mit Kant (S.10, in dem genannten Heft). Nietzsche habe, so Sommer, Kants Werke selbst nicht gelesen. „Nietzsches Kant ist ein Monstrum, von Nietzsche erdacht oder erschrieben als Gegner, an dem man sich messen kann, um sich in ein ablehnendes Verhältnis zu setzen…Nietzsche will einen Waffengefährten oder einen Gegner haben“. Eine Erkenntnis übrigens, die etwa schon der Philosoph Vittorio Hösle im Nietzsche Kapitel seines Buches „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (2013) mitgeteilt hatte (S. 185, auch S.190: „Nietzsche war als Philosoph nie ausgebildet“).
Wer hingegen die ganze große Fülle des Nachlasses berücksichtigen muss, wie Sommer, der wird bei Nietzsche dem stetigen mühevollen Ringen um den treffenden Ausdruck begegnen. Z.B.: „Die vom historischen Subjekt Nietzsche (dann) für publikationswürdig erachteten Aussagen über den =Willen zur Macht= stehen unter Vorbehalt. Sie haben die Gestalt eines Denkexperiments“ (S.12.) Dadurch gelangt man zu einem neuen Verstehen dessen, was Philosophie für Nietzsche bedeutet. “So hat man“, betont Sommer, “in den philosophischen Texten Nietzsches ein Philosophieren in der Hand, als permanentes Fort – und Überschreiben einmal erreichter Standpunkte, nicht als ein festes Gefüge von Gedanken, Überzeugungen, sondern Philosophieren als Prozess, als Bewegung“(S. 13). Philosophieren zeigt sich in Nietzsches Texten als etwas ungewöhnlich anderes, „es unterscheidet sich“, so Sommer, „fundamental von Philosophie im landläufigen Sinne“ (S. 14). Philosophieren widerspricht den festen Fügungen und letzten Überzeugungen, denkt Nietzsche.
4.
Was also bleibt von Nietzsche? Nichts Festes. Schon gar kein Lehrsystem. Sondern Denken als Prozess, als ständiges Aufheben und Überschreiben fester Überzeugungen (Propositionen). Große dogmatische, handlich griffige Lehrgewissheiten sind also aus Nietzsches Schriften nicht zu erzeugen und auch nicht mehr festzuhalten, so Sommer. Es sind bei ihm Denkbewegungen zu finden, bei denen der Leser Unterstützung finden kann in den umfangreichen Kommentaren, die nun von der Forschungsstelle herausgegeben werden. Dadurch wird deutlich: Selbst bei einer Vielzahl möglicher Interpretationen von Nietzsches Texten sind doch nicht alle Deutungen vertretbar. „Nietzsches Philosophie öffnet Denkräume. Es entsteht Weite. Abschließendes gibt es bei Nietzsche nicht. Diese Haltung im Denken hat etwas gegenüber der fixierenden Tradition durchaus „Zersetzendes“, betont Sommer. „Diese Zersetzungskraft rückt den Selbstverständlichkeiten abendländischer Moral – und Weltanschauungskonsense auf den Pelz. Auch das bleibt von Nietzsches Philosophie“ (S. 15).
Wie das zu bewerten ist, bleibt eine offene Frage: Das Tote, d.h. das Unmenschliche einer Kultur, kann ja gern „zersetzt“ werden: Aber wenn es dann doch – gegen Nietzsche – bleibend Gutes und Wahres gibt, warum sollte das nicht erhalten bleiben, etwa die Menschenrechte, die so oft missbraucht, aber trotzdem universal geltend für alle Menschen unersetzlich sind…
Für uns am wichtigsten: Nietzsche fördert bei seinen Lesern den eigenen Denkweg zu suchen, die eigene Praxis zu finden. Die fraglich bleibt und nur in der Bewegtheit des Lebendigen selbst das Bleibende sieht.
5.
Freilich: Bestimmte Grund – Überzeugungen“ zur Philosophie Nietzsches haben sich öffentlich durchgesetzt, haben sich als Sprüche in den Köpfen festgesetzt. So etwa die Diagnose, die er im Text „Zarathustra“ verbreitet: „Wir haben Gott getötet“. Dieser Satz gibt nach wie vor zu denken: Kann der Mensch Gott töten, wenn ja: welchen Gott, wer ist „wir“? Über Nietzsches Text „Der Antichrist“ wäre eigens sprechen (erschienen 1895). Darin „verkündet“ Nietzsche doch wohl eine neue, eine explizit antichristliche Moral? Manche Leser haben diesen Eindruck, wenn man das von Nietzsche Geschriebene ernst nimmt. Und auch dies: Die Polemik Nietzsches gegen, so wörtlich, „die Schwachen und Missratenen“, ist nicht nur antichristlich. Sie ist antihuman. Oder muss man auch bei dem Thema das nur „Vorläufige“, wenn nicht „Spielerische“ des Gesagten bedenken?
6.
Man wird also Nietzsche, dann mit den ausführlichen kritischen Kommentaren ausgestattet, sehr vorsichtig, immer mit einem Abstand kritisch lesen müssen und ihn schon gar nicht zu einem „Meisterdenker“ aufwerten, selbst wenn viele seiner Aphorismen anregend sind, zum kritischen Weiterdenken führen. Das gilt sicher schon heute, auch wenn diese großen Kommentare noch nicht vorliegen.

Siehe auch: „Forschungsstelle Nietzsche Kommentar“. 2020 soll z.B. ein Kommentar zum „Zarathustra“ erscheinen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

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2.
Über ein Sonderheft des „Philosophie Magazin“ (Berlin):
Also sprach Nietzsche
Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlich am 9.7.2017

Immer wieder Nietzsche also. Die Einführungen in sein Denken sind heute kaum noch zu überschauen. Liegt es daran, dass Nietzsche sehr oft erstaunlich gut und „eingängig“ schreiben konnte, aber dabei selten doch klar verständlich war? Dass man also bei jedem Nietzsche Zitat oder Aphorismus mit größter Vorsicht umgehen muss, ob denn der „tolle Satz“ im Ganzen des Denkens von Nietzsche noch „stimmt“? Und ob die Nietzsche Überzeugung überhaupt stimmt?

Das Interesse an Nietzsche hat heute sicherlich mit der expliziten oder der verschwiegenen Verbindung seines Denkens mit der alten rechtsextremen Ideologie und der „neuen Rechten“ („La nouvelle Droite“) zu tun und auch mit der postmodernen Ideologie, die da den philosophisch kaschierten Glauben verkündet, „alles ist elativ … und Wahrheit gibt es nicht“.

Darum ist es wohl am wichtigsten, in dem neuen Sonderheft über Nietzsche aus der Reihe des „Philosophie Magazins“ die Interviews zu dem politisch aktuellen Thema zuerst zu lesen.

So sagt gleich am Anfang des Heftes Rüdiger Safranski: „Nietzsche war sehr dezidiert kein Demokrat … Mehrheiten sind für ihn immer töricht“ (S. 18). Dann folgt ein Hinweis Safranskis, dass Mehrheiten (in Demokratien) eben auch irren können, er nennt das Beispiel im Nationalsozialismus, woraus Safranskis schließt: „Es schadet durchaus nicht, auch die radikale Alternative zum demokratischen Denken kennen zu lernen“ (ebd.) Dass es von Herrschern und Medien dumm gemachte Mehrheiten in Demokratien gibt, sieht Safranski nicht. Hätte er sehen können, wenn er die Trump – Wahl studiert hätte. Diese durch idiotische Propaganda dumm gemachten Mehrheiten sind aber meines Erachtens kein Grund, prinzipiell gegen Mehrheitsentscheidungen in einer Demokratie zu sein. Aber das nur am Rande. Befremdlich auch, dass Safranski meint, es habe, so wörtlich, „intelligente nationalsozialistische Philosophen“ (S. 20), wie etwa Alfred Baeumler, gegeben. Heidegger nennt Safranski nicht. Meint Safranski solche Philosophen, die mit der formalen philosophischen Logik, dem „Einmaleins“, gut klar kamen? Dann mag es zu Zeiten der Juden – Vernichtung durch die Nationalsozialisten vielleicht logisch korrekt denkende Nazi – Philosophen gegeben haben. Aber wenn Intelligenz auch Ethik umfasst, dann kann es definitiv keinen „intelligenten nationalsozialistischen Philosophen“ gegeben haben. Sie waren verirrte Ideologen, mehr nicht. Schade, dass solche Auslassungen Safranskis einfach im Interview (geführt wie die meisten Interviews im Heft von der Philosophin Catherine Newmark) unwidersprochen stehen bleiben.

Deutlich ist die Aussage des Philosophen Bernhard H.F. Taureck: „Die Mehrheit der Italo – und Germanofaschisten stand eindeutig auf der Seite Nietzsches“ (S. 105). Es faszinierte die Nazis, „das Nein Nietzsches zur Demokratie, seine Verachtung der Frauen, sein Ja zum Krieg und sein Votum für die Überschreitung des bisher bekannten Menschentypus… (S. 105). Nietzsche war einerseits gegen das Judentum als Träger universalistischer Werte. „Aber er bejahte die jüdische Bevölkerung Deutschlands, um aus ihr und den Germanen eine höhere Menschheit zu züchten“ (S. 107). Kann man sagen, diese Haltung sei nicht antisemitisch? Sie ist es, denke ich. Interessant ist der Hinweis Taurecks, dass etwa 150.000 deutsche Soldaten im 1. Weltkrieg Nietzsches „Zarathustra“ im Gepäck bei sich hatten, als eine Art Religionsersatz.

Wie die Philosophie des Transhumanismus (d.i. kurz gesagt: sehr langes Leben – 150 Jahre – für einige reiche Herrschaften als Lebensziel) mit Nietzsche zurecht kommt, kann man in dem Interview mit dem Transhumanismus – Philosophen Stefan Lorenz Sorgner nachlesen. Sorgner ist auch Mitbegründer des „Beyound Humanism“ – Netzwerkes! Er plädiert für einen „liberalen (was ist das?, CM) Umgang“ mit Technologie in der Hoffnung, durch den Schritt zum Trans- oder vielleicht Posthumanen die Wahrscheinlichkeit des guten Lebens zu erhöhen“ (S. 115). Es ist für mich unverständlich, dass solche Auslassungen vom Interviewer Sven Ortoli nicht unterbrochen werden, nicht nachgefragt wird, so wird ein Interview zur Propaganda, die mit Philosophie nichts mehr zu tun hat.

Der Nietzsche Spezialist Andreas Urs Sommer ist da kritischer: Nietzsche habe einen Hang zum Autoritären, betont er, ein konkretes politisches Programm habe er nicht vorgelegt, insgesamt nennt Sommer Nietzsches Denken wohl sehr treffend „schräg“ (S. 30). Er bezeichnet dann die Provokationen Nietzsches „in hohem Maße verdächtig – verdächtig im positiven Sinne“. Was im positiven Sinn „verdächtig“ denn bedeuten könnte, wird nicht erklärt.

Sehr interessant für mich ist das Interview mit dem Philosophen und Theologen Christoph Türcke über die „Tiefen – Psychologie“, die Nietzsche in seinem Werk ausbreitet: Ausgangspunkt sei, so Türcke, dass Nietzsche „den menschlichen Verstand bloß eine Art Wurmfortsatz der menschlichen Triebnatur auffasst, nicht als eigenständige Kraft“( S. 82). Sind solche Wurmfortsatz – Denker wie Nietzsche noch Philosophen?

Das Nietzsche Heft ist für solche, die bisher wenig von dem Propheten wissen, doch empfehlenswert, zumal auch einige treffende Nietzsche – Zitate versammelt sind. Und auch wird die Rolle von Nietzsches Schwester Elisabeth für die Philosophie durch Kerstin Decker sehr schön dargestellt und neu interpretiert. Auch Stefan Zweig kommt zu Wort und Thomas Mann, so wird zusammen mit der Daten – Übersicht eine inspirierende, Fragen weckende Broschüre veröffentlicht. Schade nur, dass die internationale Relevanz Nietzsches etwa in Italien oder Frankreich nicht dargestellt wird. Wird er etwa in Indien wahrgenommen oder im buddhistischen Kontext? Was denken Menschen in arm gemachten Regionen über ihn, der die Kleinen und Kranken und Armen verachtete? Ohne internationale Bezüge kann heute kein Philosophie – Heft mehr auskommen, denke ich.

Leider fehlt auch der für Nietzsche entscheidende Hass aufs Christentum als eigenes Thema. Es hätte die Rede sein müssen, wie sich dieser blinde Hass des Pfarrerssohnes mit seiner ganz offenen, lyrisch bewegten Zuneigung zu Jesus verträgt.

Es fehlt leider auch die Auseinandersetzung zu der Frage, in welcher Weise denn Nietzsche nun wirklich und ernsthaft als Philosoph angesprochen werden kann. Ist er nicht eher ein literarischer Prophet, etwa in seiner philosophisch wie auch empirisch völlig unbegründeten Verkündigung „Gott ist tot“. Dieses Bonmot geistert durch die Köpfe der Menschen, alle glauben es und keiner weiß, was dieses Predigt – Wort Nietzsches eigentlich bedeutet und ob es wahr ist: Welcher Gott ist denn tot???

Am schwerwiegendsten wohl: Es hätte meines Erachtens dem Heft sehr gut getan, auch Vittorio Hösle zu Wort kommen zu lassen, der ja bekanntlich in seiner Studie „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (Beck Verlag 2013) gezeigt hat: Nietzsche war philosophisch gesehen ein „Dilettant“, es gibt keine „Konsistenz“ seiner Aussagen (S. 185), Nietzsche „verdeckt in seinem einzigartigen Stil von verführerischer Schönheit den Mangel an Argumenten und Evidenzen“ (S. 186). „Schopenhauer war der einzige Philosoph, den Nietzsche neben den Vor – Sokratikern wirklich kannte“, sagt Hösle. (S. 188). Auch Hösle weist darauf hin, dass Nietzsche tatsächlich neue „Werttafeln“ aufstellte, als „Verkünder“ (S. 201). Zurecht sagt Hösle, „dass Nietzsche sich selbst mit seiner allgemeinen Leugnung der Wahrheitsfähigkeit der Menschen schädigt“ und sich „die eigenen Beine wegsprengt und geistig am Verbluten ist“ (S. 202 f.)

Über den Übermenschen wäre zu sprechen, diese maßlose Behauptung, die sich Philosophie nennt. Der Philosoph und Nietzsche Spezialist Volker Gerhardt hat recht, wenn er den bloßen Behauptungscharakter der Nietzsche Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen dadurch beiseite schiebt, wenn er sagt, dass wir uns heute ja nicht an frühere Leben in dieser ewigen Wiederkehr erinnern können. Wichtig dann die Schlußfolgerung: „Aus meiner Sicht liegt der größere Ernst im Bewusstsein der Einzigartigkeit der jetzt gegebenen Situation“. Man kann also sagen: Nietzsche Lehre von der ewigen Wiederkehr ist Predigt, ist Ideologie.

www.philomag.de

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

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3.
Nietzsches Philosophie – gefährlich anregend

Von Christian Modehn, Berlin, veröffentlicht am 23.9.2012, anlässlich der Sitzung des religionsphilosophischen Salons, auf vielfachen Wunsch publiziert.

PS: Es handelt sich um ein einführendes, zur Diskussion führendes Statement, das keineswegs umfassend ist.

Der Titel deutet bereits das Spannungsverhältnis an, dem man sich stellen muss, wenn man sich mit Nietzsches Philosophie befasst. Er selbst hat sein eigenes Denken gefährlich genannt, weil es in die Weite einer neuen Kultur führen soll, was einen Bruch mit der vertrauten alten Kultur bedeutet.

In seinem relativ frühen Text „Fröhliche Wissenschaft“ (von 1881) gibt Nietzsche selbst die Losung aus, „gefährlich zu leben“. Gerade in dieser Infragestellung unserer bisherigen kulturellen Selbstverständlichkeiten ist Nietzsche anregend – und aufregend. Sein Denken kann niemanden unbewegt lassen.

Warum gerade jetzt eine Auseinandersetzung mit N. Philosophie? Vielleicht, weil viele seiner Analysen und Prognosen heute von vielen als zutreffend erlebt werden. Sie sind entschieden von einer radikalen, das bisherige christliche System vernichtenden Religionskritik geprägt und von dem äußerst eindringlichen Vorschlag, sich neu religiös zu orientieren. Das gilt es wahrzunehmen, ohne gleich zuzustimmen!

Die entscheidende Perspektive heißt bei Nietzsche: Gott ist tot. Da muss man genau hinhören: Er sagt in diesem Satz, der seiner Analyse seiner Gegenwart entspringt, dass Gott tot ist. Das ist etwas anderes als zu sagen: Gott gibt es nicht; oder: Gott existiert nicht. Wer sagt: Gott ist tot, und er sagt auch: Er war mal lebendig. Nun ist er tot, ein bestimmter Gott ist nicht mehr am Leben.

Da sind wir schon beim aktuellen Bezug: Jeder sieht in Westeuropa und unter allen gebildeten Menschen weltweit: Dass der alte bekannte überlieferte und eingeprägte Gott der Christen, etwa die Trinität oder Jesus als „Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinweg nimmt“, ist nicht mehr nachvollziehbar lebendig, wird nicht mehr innerlich verehrt und akzeptiert. Der alte dogmatische Glaube ist tot. Jeder macht sich seine persönliche „Glaubensmelange“… Das ist eine Tatsache, und war wohl früher schon eine Tatsache. Welcher bayerische Bauer glaubte im 17 Jahrhundert z.B. dogmatisch korrekt, etwa, laut Glaubensbekenntnis, dass der Heilige Geist von Vater und Sohn ausgeht?

Man werfe heute nur ein Blick in die Kirchen am Sonntag: Der Gottesdienstbesuch lässt in ganz Europa ständig nach; in manchen Ländern geht er gegen Null; die dort verbreiteten Gotteslehren und oft auch in eins mit Morallehren sind nicht mehr nachvollziehbar. Das Mönchsleben und die Orden sterben aus; große Begeisterung, Pfarrer zu werden, ist kaum zu spüren, viele theologische Fakultäten stehen etwa in Deutschland vor der Schließung. Was Nietzsche empört, ist, dass alle so weiter machen und weiter leben wie bisher, als sei dieser Gott gerade nicht tot. Sie flüchten in den Schein und den Selbstbetrug.

Aber dieser verstorbene Gott war früher sozusagen der oberste Garant einer Werte – Ordnung: „Für Gott und Vaterland“, man erinnert sich an den Spruch; Gott ist die oberste Wahrheit; alles Erkennen geschieht in göttlichem Licht; Gott ist der Schöpfer der Welt usw.

Wenn dieser Gott der obersten Werte und vertrauten Weltbilder tot ist: Dann bricht eine Welt zusammen. Dann wird den Menschen der Boden entzogen.

Das Schwierige im Umgang mit Nietzsches Texten ist nur: Es sind in den umfangreichen Büchern viele, meist kurze knappe Texte hintereinander gestellt, es sind meist keine systematischen Abhandlungen, zumindest im Spätwerk (ab 1880) ist das so. Da sollte man nie isolierte Aphorismen für die ganze Wahrheit von Nietzsche Aussagen nehmen.

Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) ist zweifellos einer der ungewöhnlichsten Philosophen. Er schreibt in einer Sprache, die musikalisch – poetisch ist, keineswegs abstrakt und nur in Theorien – versponnen. Nietzsche ist heute einer der am meisten gelesenen und philosophisch bearbeiteten Denker. Er wurde rezipiert von Künstlern, wie Picasso, Kandinsky, Klee, Schriftstellern wie Rilke, George, Thomas Mann, Proust; Richard Strauss („Also sprach Zarathustra“) Gustav Mahler…

In Deutschland begann die gründliche kritische Nietzsche Forschung erst in den sechziger Jahren.

Nietzsche spricht als persönlich Erschütterter und Leidender. Seine Texte sind mit dem eigenen Leben verbunden, sind niemals Erkenntnisse, die am „grünen Tisch“ entstanden sind oder sich lediglich als Beiträge akademischer Debatten oder gar als „Glasperlenspiel“ verstehen. Wichtig ist der extrem hohe Anspruch seines Denkens, das sich besonders in der späten Phase, vor der Umnachtung im Januar 1889, als prophetische Stimme, als Weisung und radikale Lebenserneuerung präsentiert. Das ist in dieser, man möchte sagen, „missionarischen Sendung“ durchaus selten innerhalb der Philosophiegeschichte.

Nietzsche will mehr sein als ein Philosoph, er will als Ausnahmeexistenz des Umstürzlers und Neues Stiftenden ein Beispiel geben. Er möchte eine neue Renaissance einleiten, Geburtshelfer einer neuen Kultur sein. Dabei kommt es gerade in den letzten Jahren zu einer extremen Stilisierung des eigenen Daseins und Denkens. Er will aus seinem Leben ein Kunstwerk machen. Er schreibt Worte, die Taten sein wollen. Er will ein Philosoph „mit dem Hammer“ sein: D.h. wohl: Es ist der „Hammer“ gemeint, mit dem der Arzt den Körper des Patienten abklopft, so will Nietzsche sinnlich wahrnehmen, hören, was unter „uns“ geistig – religiös krank ist.

Ich will kurz einen, vielleicht das Wesentliche treffenden biographischen Hinweis geben: Hier kommt es nur darauf an, zentrale menschliche Lebens – Erfahrungen Friedrich Nietzsches zu erwähnen, die unmittelbar für sein Denken und Schreiben wichtig wurden: Vor allem ist da zu nennen der schmerzvolle Tod seines Vaters im Alter von 36 Jahren, ihn erlebte Friedrich Nietzsche als 5 Jähriger. Sein Vater war evangelischer Pfarrer, er stammte aus einem alten „Pfarrergeschlecht“, in der Familie gab es schon in der 5. Generation Pastore. Zuhause wurde auf strenge Befolgung der kirchlichen Lehren geachtet.

Friedrich Nietzsche wandte sich angesichts des Leidens und frühen Sterbens seines Vaters an Gott, betend und bittend; aber ohne göttliche Antwort blieben seine Bitten.

Kein Gott antwortet: Nietzsche lernt daraus: Gott erhört uns nicht; die Frommen verehren eine Art Phantom, ein illusorisches Himmelswesen, unerreichbar und tyrannisch. Dieser Glaube, sagt Nietzsche später, führt die Menschen dazu, das Beste ihrer Ideen und Energien an einen illusorischen Himmel zu verschleudern … anstatt „fröhlich“ auf Erden zu leben. Es kommt für Nietzsche entschieden darauf an, dass die Menschen die Freude am Lebendigen bewahren, dass sie sich am Genuss der Sinne erfreuen, dass sie Stärke erleben…Bleibt der Erde treu, heißt dann sein Prinzip.

Ich will hier nur kurz erwähnen, dass Nietzsche in Basel schon als hochbegabter junger Mann – ohne Promotion, ohne Habilitation – Professor für Altphilologie wird. Aber in den Baseler Jahren wird schon die Philosophie für ihn immer wichtiger: Er gibt die Professur auf und lebt fortan ziemlich bescheiden als freier Philosoph und – kaum erfolgreicher – Schriftsteller bis zu seinem geistigen und körperlichen Zusammenbruch Anfang 1889. Nietzsche ist 1900 gestorben, seit 1889 von seiner Mutter in Naumburg liebevoll versorgt, ab 1897 von seiner Schwester Elisabeth in Weimar betreut, die sich – als Antisemitin schlimmster Art – erdreistete, unveröffentlichte Texte ihres Bruders nach eigenem ideologischen Gusto zu veröffentlichen (etwa: „Der Wille zur Macht“). Sie hat auch dafür gesorgt, dass von Nietzsche ein paar Sprüche durch die Stammtisch Gesellschaften geisterten und geistern. Etwa: Nietzsche propagiere den Machtmenschen, den Übermenschen, die blonde Rasse usw, Dinge, die im Faschismus aufgegriffen wurden. Erst die kritischen Gesamtausgaben von Colli und Molinari ab 1960 haben eine ernsthafte differenzierte Nietzsche Lektüre möglich gemacht.

Nietzsche hat eher „anti – systematische“ Werke hinterlassen, aber er hatte systematische Absichten, schreibt der Philosoph Volker Gerhardt.

Ein Wort zur „Methode im Denken Nietzsches:

Wichtig ist das radikale Hinterfragen und Bezweifeln der überlieferten kulturellen und religiösen Traditionen. Er fragt, was ist das VERBORGENE in dem, was sich kulturell zeigt. Der Verdacht spielt bei ihm eine große Rolle, ihn interessiert der Schleier, der sich über die Wahrheit legt, die Rolle des Unbewussten wird von Nietzsche klar gesehen. Nietzsche als Psychologe wäre ein Thema!

Also: Hinter dem, was sich öffentlich als gut zeigt, kann etwas anderes, etwas Böses lauern. Der Schein trügt, ist seine Devise. Und hinter dem, was wir als Böse hingestellt bekommen, kann sich gerade das Gute und das Wahre verbergen. Wir müssen also immer skeptisch bleiben, nicht auf alle Sprüche aller möglichen Herrschaften reinfallen. Wir müssen damit rechnen, so Nietzsche, dass uns auch in den entscheidenden Begriffen und Dogmen, wie Gott z.B., nur Masken begegnen.

In Nietzsches späterem Werk, also etwa seit 1880, kehren bestimmte Themen und Motive immer wieder, z.T. mit unterschiedlicher Schärfe und Intensität.

Ich will versuchen, eine Art kleinen systematischen Durchblick zu bieten:

Stichwort Nihilismus: Da zeigt sich Nietzsche als der große Analytiker der Gegenwart und als „Wahrsagevogel – Geist“, wie er sich selbst nannte.

Er sieht einerseits die große Öde, das nur glitzernde Phantom, den routinierten und öden „Kulturbetrieb“, wie Adorno später sagt.

Die alten Werte werden nicht mehr als solche respektiert. Sie werden zwar pro forma mit dem Anspruch der absoluten Wahrheit verkündet, aber, so Nietzsche, diese absolut geltenden Wahrheiten gelten eigentlich nicht mehr. Die meisten wissen längst: Alles Erkennen ist perspektivisch, also ausschnitthaft. Es gibt keine rund herum absolut wahre Erkenntnis des „Dinges an sich“.

Aber die alte Welt der Kultur und Religion redet uns ein, wir müssten absoluten Werten folgen, diese Einrede ist obsolet geworden. Diese Bindung an die alten Werte wird passiv hingenommen, der oberste Wert, Gott und Christus, werden als Aufforderung verstanden, das Leiden hinzunehmen, alles zu ertragen.

Aber Nietzsche fragt: Woher kommt der Nihilismus. Es sind die Priesterklassen und Asketen, die ihre Werte verbreitet haben, Werte des Jenseits, die mit dem Leben nichts zu tun haben. Den dort gepredigten passiven Nihilismus will Nietzsche überwinden.

Aber zuvor, damit zusammen hängend, muss erkannt werden:

Gott ist tot: ist das entscheidende Stichwort. Aber alle tun so, als sei er nicht tot.

In der „Fröhlichen Wissenschaft“ kündigt der tolle Mensch den Tod Gottes an. Wichtig ist zu sehen, dass der Tod Gottes nicht als bedauernswertes, zwar als überwältigend erschütterndes Ereignis gesehen wird, sondern im letzten als große Befreiung. Später auch, in seinem Zarathustra Buch, wird der Tod Gottes als das zentrale Ereignis beschrieben. Jedenfalls liegt da kein Plädoyer pauschal für den Atheismus vor, eher die Aufforderung der Suche nach einem neuen Gott, von dem schon der junge Nietzsche sprach.

Differenzierter sollte man sehen: Jesus bejaht Nietzsche als die vorbildliche menschliche Gestalt und die menschliche Lehre des Jesus von Nazareth. Jesus habe ein Nein gesprochen gegen alles, was Priester und Theologen sagten. Er hat zum Widerstand aufgerufen, die kleinen Leute sollten widerstehen…

Nietzsche sieht den Ursprung der Verfälschung der Jesus – Lehre mit Paulus beginnen. Durch die Lehre von der Auferstehung verschiebe sich das Interesse am Dasein ins Jenseits, in weite Fernen.

Nietzsche sieht die Kirche wegen dieser monströsen dogmatischen Lehren, so wörtlich, als Irrenhaus.

Er spricht davon, dass die „Kirchen zum Grab Gottes“ werden, eine sehr hellsichtige Analyse, wenn man bedenkt, wie heute viele (katholische) Kirchenmitglieder, „eigentlich“ durchaus gläubig, durch die Verbrechen der Kircheninstitutionen, der Päpste, der Priester usw. usw., zu Atheisten werden.

Nietzsche sieht sich als Überwinder des Nihilismus.
Er ist alles andere als ein nihilistischer Denker, der sozusagen in das Nichts verliebt ist. Nietzsche macht konkrete Vorschläge, wie denn eine neue Kultur und eine neue Religion aussehen könnte: Dabei sieht er sich wie einen Narren, der Unbequemes sagt, wie ein Hanswurst, sagt er wörtlich, wie einen tollen Mensch. Insgesamt aber sieht sich Nietzsche als FREIER GEIST und befreiter Geist (von der alten Religion).

Aber zunächst noch: Es gilt, nach dem Tode Gottes neue Tafeln, so wörtlich, neue Gebote also, zu setzen. Die andere Möglichkeit wäre, im Alten zu verharren und beim „letzten Menschen“ zu bleiben. Der Begriff der letzte Mensch ist sehr vieldeutig, es ist auch der „letzte“ im moralischen und zeitlichen Sinne. Diese Menschen folgen noch dem untertänigen Geist der alten Sklavenmoral. Sie ersetzen Gott durch neue Idole, für Nietzsche sind das Demokratie, Fortschritt, Wissenschaft.

Der erste Vorschlag: der Mensch muss den Menschen überwinden und zum Übermenschen werden.
„Tot sind alle Götter, nun wollen wir, dass der Übermensch lebe“. (Zarathustra). Der Übermensch ist ein belasteter und oft missverstandener Ausdruck. Mit dem Übermenschen meint Nietzsche entschieden den Menschen, der sich von dem immer wieder aufgedrängten und eingeübten Selbsthass der alten religiösen Kultur befreit hat, der sich nicht mehr untertänig verhält, sondern stolz ist auf sein Leben. Und der dieses Leben als einen Prozess der ständigen Steigerung versteht. Der Übermensch lebt das Leben auf immer tiefere Erfahrungen hin. Der sich ständig überschreitet und wächst.

Da spielt die aktuelle Diskussion hinein, es herrschen die Slogans: Mach aus deinem eigenen Leben ein Kunstwerk. Werde schöpferisch. Höre auf mit der verordneten Selbstverarmung. Deine Tugenden sollen Selbstaufwertung und Selbstüberbietung sein. Hört auf mit der von den Religionen diktierten Selbstverschwendung. Und hört auf mit der Idee der Gleichheit aller Menschen. Das ist die hoch problematische Seite an diesem Begriff, wie ihn Nietzsche vorträgt.

Mit Nietzsche wird ein „Gegenevangelium“ formuliert, wie der katholische Theologe Eugen Biser sagt. Nietzsche will lehren, dass nach dem Tode Gottes die Menschen und die Welt den Platz Gottes einnehmen müssen. Es gilt, sich in einer irdischen Welt einzurichten und umfassend Freude am Leben zu haben. Es wird eine Alternative zur bisherigen Welt geplant. Das Leben ist der Höchstwert als nur menschliches Leben. Dabei sollen nach Nietzsche, und das macht ihn problematisch, die Starken als die Herrscher, entscheidend den Ton angeben. „Wie kann der Übermensch Ja sagen zum umfassenden Leben und gleichzeitig die anderen, die Schwachen, verachten?“, darauf macht der Philosoph Schönherr Mann aufmerksam. Dennoch bleibt die Auseinandersetzung mit der Frage wichtig: Wie können Menschen sich selbst überschreiten und alle positiven Kräfte in sich entwickeln.

Dahinter steht der Begriff „Der Wille zur Macht“. Dieses Thema hat Nietzsche selbst nicht vollständig ausführen können. Aber deutlich wird: Die neue Macht der neuen Welt können nicht die einstigen Sklaven, die Unterlegenen, die kleinen Leute übernehmen. Die sind ohnehin von Ressentiments, von Neid, geprägt, aber Nietzsche sah, wie der gelebte Wille zur Macht tatsächlich auch zu einem großen Durcheinander verschiedener Willen führen kann. Darauf hat er keine Antwort gegeben. Aber für ihn hat alles Lebendige in sich den Willen zur Macht, zur Steigerung und Gestaltung.

Darum sein Vorschlag für eine neue Sinnorientierung: Die ewige Wiederkunft des Gleichen. Dies ist eine heroische Haltung, die Annahme des unausweichlichen Schicksals. Da tritt Nietzsche wie ein Stifter eines neuen Glaubens auf. Ewige Wiederkunft: Da ließe sich auch an das Nirwana des Buddhismus denken. Aber im Buddhismus gibt es einmal den Ausstieg aus dem Kreislauf, eben den definitiven Schritt ins Nirwana.

Das ist bei Nietzsche nicht gemeint. Das ist der Versuch, die lineare Geschichte aufzugeben, also die Idee einer unbekannten Zukunft vor uns aufzugeben, zugunsten eines Kreises, der Wiederkehr der bekannten irdischen Welt. Diese Vorstellung hat Nietzsche selbst für die schwerste unter allen Erkenntnissen gehalten; sie setzt auch den einzelnen ein in die Wiederkunft des schon einmal Erlebten. Das wird von Nietzsche durchaus als Last angesehen, wer will schon alles Leid, das er einmal durchmachte noch einmal und noch einmal später erleben? Aber diese heroische Annahme der Wiederkunft lobte Nietzsche als amor fati. Was sich ständig wiederholt, hat einen zwanghaften Charakter, ohne Ziel und ohne Ende dreht sich die Welt. Ob das eine bessere Lösung ist als die klassische Lehre von der himmlischen und zukünftigen Erlösung ist eine andere Frage!

Das Buch „Der Antichrist“ ist die heftigste Anklage und Verurteilung des Christentums. In einer scharfen Tonart geschrieben! Es geht ihm, wie Eugen Biser sagt, um einen Vernichtungsschlag“. Luther habe bloß den Papst kritisiert, jetzt kommt es darauf an, das Christentum und die Kirche zu vernichten. (§ 57, Antichrist). „Ich heiße das Christentum den einen großen Fluch, die ein große innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig. Heimlich, unterirdisch, klein genug ist, ein Schandfleck der Menschheit“.(§ 62)

Sein letztes, aber erst nach seinem geistigen Zusammenbruch veröffentlichtes Bekenntnisbuch autobiografischen Charakters heißt Ecce Homo, ein biblischer Titel. Darin erklärt er sich selbst zur Person, an der sich das Schicksal der Menschheit entscheidet. Er sieht sich als dionysischer Erlöser. Er leidet, aber nimmt alles an als eine amor fati, als eine Liebe und Annahme des Schicksals.

Nietzsche verstand sich selbst als Experimentalphilosoph, und das ist seine bleibende Leistung: Neuland zu betreten

Aber es ist verfehlt, Nietzsches Schriften unmittelbar für eine Lebens- Orientierung zu halten, dafür ist seine Konzeption einer neuen Kultur und neuen Religion mit einem neuen Gott noch viel zu abhängig von dem, was er selbst überwinden will. Er verharrt innerhalb der Dialektik „Gott – Nicht Gott“ auf der Stufe der bloßen Negation. Wichtiger wäre eine neue Position, eine neue Synthese, sozusagen als das Dritte jenseits von klassischem Theismus und Atheismus. Vielleicht wäre dies die Mystik.

Was bleibt nach Nietzsche für ein Denken des Unendlichen, des Ewigen? Das menschliche Leben ist Geheimnis. Das Leben, auch das leibliche, soziale und sinnliche und erotische, gilt es in höchstem Maße zu schützen und zu pflegen und zu lieben. Wir können das Geheimnis des Lebens niemals umgreifen und damit niemals endgültig definieren. Wir sind sozusagen im ständigen Schwebezustand des Ungewissen. Das ist unsere Gewissheit, unser „Getragensein“. Gott ist dabei unser Symbol für dieses Schweben im Geheimnis, für dieses Ausgesetztsein dem Geheimnis gegenüber und IM Geheimnis. Wir brauchen dieses Symbol der Öffnung, der Weitung, weil wir wissen: Unsere Welt ist niemals nur irdische Welt. Der Mensch ist niemals nur Mensch, aber er wird wohl nie Übermensch. Er bleibt Mensch, ewig auf der Suche nach dem unergründlichen Geheimnis, allein und in (religiösen) Gemeinschaften, die für diese undogmatische Position Verständnis haben.

Copyright: Christian Modehn, Berlin.

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4.

Man muss Jesus als das wärmste Herz denken«
Was Friedrich Nietzsche den Christen heute schreiben würde

Von Christian Modehn, veröffentlicht am 18.7.2009

Einige Freunde haben mich gebeten, einen kleinen Beitrag über Nietzsche aus dem Jahr 2001 noch einmal zugänglich zu machen, es handelt sich um den Versuch, einige wichtige Gedanken Nietzsche vor allem gegenüber spirituell und kirchlich Interessierten –provokativ – deutlich zu machen. Dass ich dabei einige Vorschläge Nietzsches als „kompatibel“ mit christlichem Denken darstelle, wäre eine eigene Debatte wert, die mir jetzt, im Rückblick auf diesen Text, im Juli 2020, interessant erscheint.

100 Jahre bin ich nun tot. Aber meine Ideen, meine Vorschläge, meine Polemiken: Sie leben, sie sind wichtiger denn je. Nicht nur Martin Heidegger hat betont, dass man sich an mein Denken noch erinnern wird, wenn mein Name längst vergessen ist. Aber ich bin nicht vergessen. Ich bin heute wie früher auch umstritten, und das freut mich. Ihr wisst, dass ich nie zur Bescheidenheit neigte. Ängstlichkeit lag mir fern, und Autoritäten hab’ ich meist verabscheut. Ich wusste, was ich kann; und ich weiß, dass ich heute Euch Christen etwas zu sagen habe. Darum wende ich mich an Euch. Ihr wisst, dass ich deutliche Worte liebe und manchmal übertreibe, einfach nur, um die Wahrheit besser hervortreten zu lassen. Darum freue ich mich über Eure Toleranz und vor allem über Euren Mut, mitzudenken und keine falschen dogmatischen Barrieren aufzustellen. Denn ich hatte immer ein deutliches Gespür dafür, Dinge zu sagen, die niemand sonst so treffend formuliert hat. Typisch Nietzsche, werdet Ihr denken … Euer Neid sei Euch verziehen. Dass ich mich manchmal als Prophet fühlte, als Künder neuer, epochaler Wahrheiten, mag ein bisschen übertrieben gewesen sein, aber ganz Unrecht hatte ich ja oft nicht.

Darf ich darum zuerst an einen Satz aus meinem Zarathustra-Buch erinnern? »Ich beschwöre Euch, meine Brüder (und Schwestern), bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche Euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.« Ihr wisst, das ist mein Programm: »Bleibt der Erde treu!« Wie oft habe ich als Sohn eines evangelischen Pfarrers erleben müssen: Fromme Leute, die ihre ganze Existenz auf dieser Welt schon auf den Himmel ausrichteten. Sie hatten kein Gespür für die schöne Welt, für die Natur, den Leib, die Sexualität, die Lust, ja, durchaus auch den Spaß; sie hatten keinen Sinn für die Befreiung und Entwicklung des ganzen, des leibhaftigen Menschen. Sie gönnten sich nichts, sie waren Asketen und schwärmten nur vom Himmel. »Bleibt der Erde treu«, heißt mein Programm. »Schaut nicht hinauf in den Himmel«, hat das nicht schon Jesus den Jüngern im Moment seiner Himmelfahrt zugerufen? Ich meine nach wie vor: Bleiben wir irdisch, bleiben wir menschlich, hüten wir uns, auf der Seite Gottes zu stehen und als Agenten seiner Wahrheiten aufzutreten. Hat nicht Joseph Ratzinger schon in München das Kardinals – Motto gewählt: „Mitarbeiter der Wahrheit“? Welch ein Wahn, würde ich sagen…Wer uns von der Erde loslösen und in himmlische, charismatische, fromme, transzendente Regionen entführen will, der vergiftet uns: Das wollte ich mit meinem Wort »Giftmischer« sagen. Geistliche Meister des Jenseits vergiften unser Leben, nehmen uns langsam dosiert unsere Lebensenergie weg. Sie verderben unser Dasein, weil sie uns in der angeblich ewigen Spaltung von Diesseits und Jenseits festlegen wollen. Das Diesseits ist das Jammertal, das unsichtbare Jenseits das Paradies, diese Ideen leben noch heute. Warum hat eigentlich der Vatikan so sehr gegen die Befreiungstheologie polemisiert und ihre Verteidiger schikaniert? Weil diese Christen der Erde treu bleiben wollten. Weil „Seelsorge“ als der einzige Auftrag der Kirche endlich, endlich, zurückgewiesen wird. Weil es auf Leibsorge ankommt, auf eine bessere Gesellschaft. Weil die Befreiungstheologen Nahrung für alle und gerechte Verhältnisse einklagen und das zumindest genauso wichtig fanden wie die Welt der Dogmen. Oder irre ich? Ein Papst, der einmal eine Enzyklika mit dem Titel »Bleibt der Erde treu« schreibt, wird sicher danach auf allen sakralen, barocken Pomp verzichten und anstelle von kostspieligen Weltreisen Gesundheitsprogramme in Afrika, vor allem die Aids-Prophylaxe, massiv und wirksam fördern. Jetzt werden Aids betroffene Afrikaner von vielen Katholiken nicht mit Leben schützenden Kondomen versorgt, sondern in Sterbekliniken aufs Jenseits vorbereitet. Sehr löblich, diese Sterbebegleitung, aber sollte man nicht zuerst das Leben schützen? Den Homosexuellen verbietet der Papst zu lieben, also im umfassenden Sinne zu leben; sie sollen sozusagen ihre Lebensenergien unterdrücken, als »Nobody« leben. Wer der Erde treu bleibt und auch seinem Leib, wird Sexualität als Form der lebendigen Transzendenz erleben. Wie schreibt doch der Professor für evangelische Theologie Manfred Jossutis so schön, in meinem Sinn denke ich: »Menschliche Sexualität hat eine transzendierende Tendenz. Wer die Sexualität verweltlicht, fördert die Verarmung des menschlichen Lebens.« Deswegen noch einmal: Hören wir auf mit der Trennung von Diesseits und Jenseits, von schlechtem Weltlich-Menschlichen (Sexuellen) einerseits und gutem und reinem Jenseitigen. Bleiben wir vielmehr der Erde – ganzheitlich – treu!

Ihr wisst, dass ich, Friedrich Nietzsche, mich gerade in der letzten Phase meines klaren Daseins, also vor meinem Zusammenbruch 1889, besonders entschieden gegen die Macht der Kirchen gewandt habe. Ich kam in »Rage«, wie die Franzosen sagen. Ich war ein Philosoph mit Wut im Bauch, aber das immer nur als Durchgangsstadium hin zu einer »Fröhlichen Wissenschaft«, wie ich sagte, zu einer Philosophie als fröhlicher Lebenskunst. Das war mein Lebensziel. Tatsächlich sah ich mich aber selbst am Sterbebett des Christentums sitzen; die Institution Kirche war für mich »fragwürdig und furchtbar«, sie war für mich »zum Grab Gottes geworden«. Denn ich spürte intensiv: Die alte religiöse Welt geht zu Ende, die alte Glaubenswelt bricht zusammen, die früher den Menschen Halt und Richtung gab. Aber ich habe dann doch das Ende des institutionalisierten Christentums als Hoffnung und Befreiung gedeutet, weil alle Energie nun auf die Erde, auf das glückliche Leben im Hier und Jetzt gerichtet werden kann. »Weil wir unser Dasein heiligen können«, wie ich sagte, weil wir als Menschen von unendlichem Wert werden. Darum habe ich ja den Vorschlag gemacht, dass wir Menschen zu Übermenschen werden müssten. Der Übermensch: Ein Wort, das leider oft völlig missverstanden wurde, vielleicht habe ich mich aber nicht immer klar genug ausgedrückt. Aber PhilosophInnen wie Annemarie Pieper (Basel) oder Günter Figal (Freiburg) und andere haben Euch darauf hingewiesen: Mit dem Übermenschen meine ich, dass wir auf eine neue Art leben sollten, dass wir sozusagen den »alten Menschen«, von dem ja auch schon das Neue Testament voll ist, hinter uns lassen. »Übermensch ist ein Name für die menschliche Freiheit«, sagt Günter Figal. Der Übermensch hat nichts mit der »Herrenmoral« zu tun; er ist vielmehr der Mensch, der sich gegen den um sich greifenden Nihilismus wendet und seinem Leben selbst einen Sinn gibt. Er ist dabei, die Einheitlichkeit im Leben zu schaffen, Göttliches und Menschliches als Einheit zu gestalten.

Denn Ihr müsst wissen: Ich habe dem Begriff des Übermenschen, des »freien Menschen«, der aus seinem Leben ein »Kunstwerk« macht, stets den »letzten Menschen« gegenübergestellt. Der »letzte Mensch« ist für mich der alltägliche Mensch, der sich um nichts anderes kümmert als um das banale Leben. Er ist sozusagen der Materialist, der keine Fragen mehr nach dem Sinn und Zweck des Ganzen stellt. Der »letzte Mensch« ist von mir durchaus im qualitativen Sinne gemeint, so etwa, wenn Ihr abschätzig sagt: »Na, der ist ja der Letzte.« Für mich ist dieser klein karierte Menschentyp Inbegriff des Nihilismus, von dem ich immer wieder gesprochen habe. Ich habe ja unsere Epoche insgesamt als nihilistisch bezeichnet. Ich hatte die tiefe Erfahrung der modernen Menschen gespürt und gesagt: Unsere Epoche ist nihilistisch. Die tragenden Werte, der gründende Sinn, der transzendente Horizont, alles das ist »nichts«. Vor allem der alte Gott im Himmel, der Herrscher, der Richter, der Ursprung der Moral, dieser Gott gilt nichts mehr, lebt nicht mehr, weckt keine Lebensenergie. Ich habe den »tollen Menschen« in meinem Buch »Fröhliche Wissenschaft« diese Erfahrung in Form einer Parabel sprechen lassen, fast wie einen biblischen Text. Ich habe gesagt, dass Menschen den bisher geglaubten Gott getötet haben, eben weil sie nicht länger die Zerrissenheit von Diesseits und Jenseits ertragen konnten. Ich habe den »tollen Menschen« sagen lassen, dass mit dem Tod Gottes ein Chaos eintreten wird, von Absturz, Kälte, Finsternis habe ich gesprochen als Konsequenzen dieses Erlebens, dass der »alte Gott« nichts mehr gilt. Der bisher übliche transzendente Horizont ist »weggewischt«. Wir nach dem „Tod Gottes“ ein neuer, ein „göttlicher Gott“ erscheinen, wie Martin Heidegger sagte? Die Frage ist offen. Sehnen sich die Menschen nach einen „göttlichen Gott“? Sehnen sich die Christen nach dem göttlichen Gott oder bevorzugen Sie Pater Pio und den Landpfarrer Johannes Vianney und Lourdes und Fatima und den Papst-Kult???

Darüber hinaus sage ich, Friedrich Nietzsche, gar nicht so viel Neues zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Der Nihilismus ist – zumindest in Europa und Amerika, in Japan und Australien – die allgemeine Religion geworden. Aber Ihr versteht mich völlig falsch, wenn Ihr denkt: Der Nietzsche will doch nur, dass es bei diesem Nihilismus bleiben soll. Das Gegenteil ist wahr: Ich habe mich immer gegen den platten Nihilismus, gegen die banale Weltlichkeit gewehrt. Der letzte Mensch, der Nihilist, »macht alle klein«, habe ich im Zarathustra geschrieben, einen hartnäckig dahinvegetierenden »Erdfloh« habe ich ihn abschätzig-übertreibend genannt. Ihm habe ich, ich komme noch mal darauf zurück, den Übermenschen gegenübergestellt, den freien Menschen, von dem ich schrieb: In ihm selbst »tanzt der Gott«. Im Leben erlebt er Göttliches, Heiliges…

Ich meine also: Wir müssen unsere Transzendenz nach innen verlegen, der göttliche Funke ist in der Seele, als Lebensspender, gewiss auch als Trost, vor allem aber als Energie zu lachen und zu leiden, zu lieben und zu tanzen. Diese Umkehrung der Transzendenz vom fernen, äußeren Gott in den inneren Gott: Davon sprechen ja auch schon einige Theologen. »In einer säkularisierten Welt hat die Beschäftigung des Menschen mit sich selbst und seiner Leib-Geistigkeit einen neuen Rang erhalten. Dem kann nur der Gott-in-uns, nicht der Gott-außerhalb-von-uns eine Entdeckungsreise wert sein«, schreibt zum Beispiel der katholische Theologe und Jesuit Hans Waldenfels. Aber wahrscheinlich stehen wir noch am Anfang dieser Entdeckungsreise zum neuen Gott in uns.

Wie sehr meine Lehre vom Übermenschen als dem »freien Geist« schon angekommen ist, zeigt mit das zunehmende Interesse der Europäer und Amerikaner am Buddhismus. Sich selber meditativ auf den Weg machen, die große Harmonie suchen, das Ziel der Erleuchtung als der vollendeten Menschlichkeit anstreben: Buddha-Sympathie und Nietzsche-Sympathie reimen sich gut, das ist viel zu wenig beachtet! Und vielleicht, das fällt mir jetzt ein, ist »der Heilige« für Euch der Übermensch, mit dem Ihr Christen leben könntet. Nur wünsche ich mir einmal Heilige nicht der Lebens- und Lustentsagung, sondern Heilige sozusagen des prallen, auch erotischen Lebens. Die »heilige Hure« war bisher nur ein Film. … Wenn es wenigstens ein erotisches Paar gäbe, das heilig gesprochen wäre …

Ihr seht, der alte Nietzsche hat noch was zu sagen und Euch Fragen zu stellen. Vielleicht lest Ihr mal wieder mein umfangreiches Werk? Und lasst Euch nicht abschrecken von Widersprüchen, die ich in meinem Eifer als »experimentierender Philosoph« verfasst habe. Die Nazis haben mein Denken missbraucht; dass ich alles andere als ein Antisemit bin, das haben ja nun zahlreiche Studien belegt; nur so ganz herumgesprochen hat es sich bei Euch noch nicht. Hört endlich auf, den Nazi-Ideologen mehr zu glauben als den wissenschaftlich arbeitenden Philosophen.

Zum Schluss will ich Euch noch auf eine bislang unbekannte Seite von mir aufmerksam machen: Ich bin nämlich, wie der katholische Theologe Eugen Biser, einer meiner Interpreten, schreibt, »ein kritischer Nachahmer Jesu«. Wenn ich auch das institutionalisierte Christentum meiner Zeit als eine lebensverneinende Macht verurteilte, so habe ich doch stets für Jesus von Nazareth viel Sympathie gehabt. Man muss ihn sicher als »wärmstes Herz« denken, als den »edelsten Menschen«. Seine Botschaft der Ganzheitlichkeit lautet: »Das wahre Leben, das ewige Leben, ist gefunden. Es wird nicht verheißen, es ist da! Es ist in Euch: Als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz.« Diese Erfahrung der innersten Nähe des Göttlichen »hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in tausend Jahren. Es ist eine Erfahrung in einem Herzen, es ist überall da, es ist nirgends da …« Schaut Euch die Jesus-Bilder an, die den Mann aus Nazareth wie einen heiligen Narren zeigen, etwa die Arbeiten von Otto Dix, George Rouault oder Herbert Falken, dann ahnt Ihr, was es mit meiner Jesus-Vorliebe auf sich hat. »Für mich gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz«, das habe ich schon vor 120 Jahren geschrieben: Inzwischen ist eine heftige Diskussion im Gange, wie Jesus-nah denn die Kirchen sind. Heute frage ich, Friedrich Nietzsche: Was hat der Petersdom mit Jesus zu tun? Was haben die Milliarden Kirchensteuereinnahmen mit dem Mann aus Nazareth gemeinsam? Was hat die Hütte von Bethlehem mit den Palästen der Kirchenbürokratie zu tun? »Ja, aber«, schreien sie bereits, die Pröpste und Prälaten. Mit diesem ewig wiederholten »Ja, aber« der Kirchenbeamten werdet Ihr Christen Euch auseinander setzen. Ich denke nur, dass ich als Philosoph für Euch nur eines tun kann: Ich kann zu denken geben.

copyright:Christian Modehn

Ein TEXTAUSZUG AUS DER “FRÖHLICHEN WISSENSCHAFT”
»Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ›Ich suche Gott! Ich suche Gott!‹ – Da dort gerade viele von denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? Ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ›Wohin ist Gott?‹ rief er, ›ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet –, ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet –, wer wischt dies Blut von uns ab?

Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat –, und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!‹ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. ›Ich komme zu früh‹, sagte er dann, ›ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert –, es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.«

Aus der »Fröhlichen Wissenschaft« von 1882

„Bolsonaro treibt Menschen in den Tod“ – also ist er ein (Massen-) Mörder!

Die indigenen Völker Brasiliens werden mit den „Corona Maßnahmen“ des Präsidenen ermordet … und die Welt schaut zu.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Scharfe und klare, auch politisch radikale Worte hört man aus katholischen Kreisen Deutschlands eher selten. Nun erklärt einer der leitenden Mitarbeiter des katholischen Hilfswerkes ADVENIAT (Zentrale in Essen), Thomas Wieland, am 9.7.2020: „Mit dem Stopp der Corona-Maßnahmen in Brasiliens Indigenengebieten treibt Bolsonaro die Indigenen in den Tod. Ohne den Zugang zu Trinkwasser, Hygieneprodukten und einer angemessenen Gesundheitsversorgung sind ganze indigene Völker vom Aussterben bedroht.“
Damit schließt sich ADVENIAT der Überzeugung des weltweit bekannten Theologen und Philosophen Leonardo Boff an. Er hatte am 6.6.2020 erklärt: “Präsident Jair Messias Bolsonaro ist angesichts der rasch steigenden Corona-Opferzahlen ein Völkermörder”. Leonardo Boff rief zum Sturz Bolsonaros auf. Über diese Erkenntnisse wird man mindestens debattieren müssen.

Zweierlei ist wichtig in dieser Erkenntnis:

Wie nennt man jemanden, der andere in den Tod treibt? Nach meiner Kenntnis nennt man ihn einen Mörder. Also muss man – der treffenden Einschätzung des Lateinamerika Spezialisten – den Präsidenten Bolsonaro einen Mörder nennen, den letztlich Verantwortlichen für ein mörderisches System. Und diese Einschätzung ist seit längerer Zeit bekannt. Nur wird Bolsonaro in der internationalen Politik – auch aus ökonomischen Gründen, wegen der Holz – Spekulanten usw. – immer noch höflich, verlogen als Präsident angesprochen. Und nicht als Mörder. Wann beginnen sich die großen internationalen Konzerne sich von diesem Mörder und seinem auch ökologisch tödlichen Regime zu distanzieren? Es ist soweit gekommen, dass ich höre: Viele fromme, aber kritische Leute beten für den Tod dieses Herrn Bolsonaro. Sie üben sich förmlich in einer spirituellen Variante der alten katholisch – ethischen Lehre vom Tyrannen – Mord, vorgeschlagen u.a. von dem großen Thomas von Aquin. Aber würde „dann“ das mörderische Regime aufhören? Wohl nur, wenn seine Freunde, die evangelikalen Gemeinden mit ihren Pastoren /d.h. Millionären aufhören, solche rassistischen Typen wie Bolonaro zu wählen.
Und rein jurisisch betrachtet: Was tun Demokratien und Rechtsstaaten mit Mördern? Sie werden bestraft und eingesperrt. Geschieht aber nicht im Fall Bolsonaros, weil Brasilien – wieder mal – kein Rechtsstaat ist!

Zweitens: Ein Mord an vielen hilflosen indigenen, „indianischen“ Völkern geschieht vor unser aller Augen. Ein neuer Holokaust hat begonnen: Der erste große lateinamerikanische Holocaust startete 1492 mit der Eroberung und Plünderung der „amerikanischen Länder“, als viele „Ureinwohner“, viele Millionen „Indianer“, von den katholischen Kolonisten ermordet wurden. Nun also scheint die letzte Phase des Holocausts in Brasilien zu beginnen: Wieder sind es Christen, sehr heftige sogar, fundamentalistische, ewig Lobpreisungen und Halleluja grölende Christen. Auch konservative Katholiken, auch Erzbischöfe Brasiliens, gehören bekanntlich zu Bolsonaros, des Mörders, Freunden.

Aber zurück zu der wichtigen Presserklärung von ADVENIAT vom 9.7.2020:

„Im Amazonasgebiet haben sich bereits haben sich bereits 519.465 Menschen (nicht ausschließlich indigene Menschen) infiziert, 15.939 sind daran gestorben (Stand: 8. Juli 2020, Quelle: redamazonica.org). In Brasilien sterben Indigene doppelt so häufig an Covid-19 wie der Rest der Bevölkerung. Es wird immer wieder deutlich, dass das Immunsystem der Indigenen nicht auf einen solchen Virus vorbereitet ist und die Indigenen aufgrund der schlechten Gesundheitsversorgung deutlich häufiger an den Folgen der Infizierung mit dem Covid-19-Virus sterben“, sagt Thomas Wieland von ADVENIAT. Gleichzeitig sei die Abholzung im brasilianischen Regenwald im Schatten der Corona-Pandemie im April um 171 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen. Der rechtsextreme Präsident Jair Messias Bolsonaro hatte am 8. Juli ein Veto gegen 16 Maßnahmen eines von Parlament und Senat beschlossenen Gesetzesvorhabens (PL 1142/2020) zur Bekämpfung der Verbreitung von Covid-19 in Territorien der Ureinwohner eingelegt. Dazu gehört die Verpflichtung der Regierung, den Indigenen Trinkwasser, Hygieneprodukte sowie Krankenhausbetten zur Verfügung zu stellen. Auch gegen den erleichterten Zugang zu Sozialhilfe und gegen Hilfsgelder für die Landwirtschaft legte Bolsonaro sein Veto ein.
Bolsonaros Stopp der Corona-Maßnahmen ist auch für den Adveniat-Projektpartner Cimi, den Rat der Katholischen Kirche für die Indigenen Conselho Indigenista Missionário, fatal: „Die Vetos des Präsidenten bekräftigen die Vorurteile, den Hass und die Gewalt der gegenwärtigen Regierung gegenüber indigenen Völkern, Quilombolas und traditionellen Bevölkerungsgruppen“, heißt es in einer Pressemitteilung des Cimi. Ein alarmierendes Zeichen in Zeiten der Corona-Pandemie, da Grundrechte und Garantien für das Leben traditioneller Völker verweigert würden. Der Präsident missachtet laut Cimi auch den Nationalkongress, indem er ein Gesetz stoppt, das bereits fast einstimmig verabschiedet wurde. „Diese Haltung des Präsidenten zeigt völlige Unempfindlichkeit gegenüber der gefährdeten Situation Tausender indigener und Quilombola-Familien und traditioneller Gemeinschaften auf dem gesamten Staatsgebiet in dieser schweren, lebensbedrohlichen Krise“, kritisiert der Cimi. Die ausschließlich finanzielle Rechtfertigung Bolsonaros sei aufgrund des bereits genehmigten „Kriegshaushaltes“ zur Bekämpfung der Corona-Pandemie nicht nachvollziehbar“.

(Die Presseerklärung von Adveniat fährt fort:
Gemeinsam mit seinen Projektpartnern hat Adveniat bereits mehr als 4 Millionen Euro Corona-Nothilfe geleistet – davon ging über eine Million Euro nach Brasilien. Mit dem Geld wurde zum Beispiel der Kauf von auf Essgewohnheiten und Mangelerscheinungen abgestimmte Lebensmittelpakete für die Madihadeni unterstützt. Das indigene Volk lebt am Rio Cuniuá im westlichen Amazonasgebiet. Auch für Indigene in Manaus sind mehr als 2.000 Lebensmittelpakete und Hygienekids mit Desinfektionsmitteln und Seife bereitgestellt worden.
Adveniat, das Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland, steht für kirchliches Engagement an den Rändern der Gesellschaft und an der Seite der Armen.

Weitere Informationen zur Corona-Pandemie sowie Berichte aus den Ländern Lateinamerikas finden Sie unter: www.adveniat.de/corona.)

Christian Modehn schreibt: Man bedenke bitte: Es werden jetzt viele Milliarden ausgegeben, damit die reichen Europäer, die wohlhabenden Deutschen vor allem, auch nach der Corona-Pandemie reich und wohlhabend bleiben, dass die großen Konzerne uns bitte bestens privilegiert bleiben usw. Natürlich müssen sich Politiker um die eigenen Leute kümmern. Aber wir leben in einer WELT-Gesellschaft. Da muss ökonomischer Egoismus als Problem dargestellt werden.

Die geringe Bedeutung christlicher Solidarität für die sich doch immer noch ein bisschen christlich fühlenden Staaten der westlichen Welt wird an den lächerlichen “Milliönchen” sichtbar, die dem Holocaust an den Indigenas in Brasilien trotzen sollen. Gegen die Macht der Konzerne in Brasilien sind europäische Politiker offenbar hilflos oder bleiben gern hilflos. Ich möchte einmal wissen, wie viele Millionen Euro die ultrakatholische PIS – Regierung in Polen zum Beispiel für Brasiliens Indigenas in Brasilien zur Verfügung stellt.

Wer eher eine Analyse zum Thema auf Englisch bevorzugt, dem empfehle ich einen Beitrag von Eduardo Campos Lima, entnommen der us-amerikanischen, kritisch-katholischen zeitschrift „National Catholic Reporter“ vom 9.7.2020:

Brazil’s Indigenous communities are being devastated by COVID-19
Amazonian region is an epicenter of pandemic

By Eduardo Campos Lima

A young Yanomami is examined by a member of a medical team with the Brazilian army in the state of Roraima July 1, 2020. (CNS/Reuters/Adriano Machado)
SAO PAULO, Brazil — Since the beginning of the COVID-19 pandemic in Brazil, Catholic organizations have warned that protective measures should be taken to keep the virus away from the country’s Indigenous population — or the consequences would be disastrous.
The surge in the number of cases among Indigenous since the end of May appears to demonstrate that the worst has happened.
With at least 367,180 cases of infection and 12,685 deaths, the Amazonian region is one of the epicenters of Brazil’s COVID-19 pandemic. The disease is not only impacting large cities such as Manaus and Belém but has also infiltrated many communities in the countryside, including the villages of traditional peoples that live in the rainforest.
The coronavirus has infected at least 6,626 members of Indigenous groups in the region and killed 157 of them. In the whole country, there are at least 9,500 cases involving Indigenous persons, with about 380 deaths, according to the Association of the Indigenous Peoples of Brazil.

The spread of COVID-19 among Indigenous groups reflects a general lack of governmental protection of their rights, said Antônio Cerqueira de Oliveira, executive secretary of the Brazilian bishops’ Indigenous Missionary Council (known by its Portuguese acronym CIMI).
“In previous administrations, Indigenous rights were not fully secure … but at least there was some kind of dialogue with those peoples,” Oliveira told NCR. “President Jair Bolsonaro has closed all doors and established an anti-Indigenous policy.”
Since his 2018 presidential campaign, Bolsonaro has repeatedly criticized the policy of establishing land reservations for Indigenous groups that are able to prove their historic ties with the territory they are claiming. Although it’s mandated by the constitution, Bolsonaro has claimed that Indigenous peoples already have too much land in Brazil, and promised that he wouldn’t grant any new territory to them.
At the same time, Bolsonaro has declared on various occasions that he would loosen the environmental and legal restrictions for economic activities in the country — especially in the Amazon.
Since he took office in January 2019, there has been an intensification of land invasions and destruction of the rainforest, perpetrated by illegal loggers and miners and by ranchers who want to expand their farming areas. The process often involves violence against Amazonian laborers and Indigenous.
Bolsonaro has also downplayed the severity of COVID-19, even as Brazil has the second-highest number of cases, nearly 1.7 million as of July 8, after the U.S. He tested positive for the disease July 6.

“With the pandemic, the already insufficient number of monitoring agents in the Amazon almost disappeared and invasions quickly increased,” said Oliveira. “The intruders are not only destroying the forest and threatening the Indigenous peoples, but they’re also taking the virus with them.”
Porto Velho Archbishop Roque Paloschi, CIMI’s president, said that wildfires set by invaders also have the potential to increase the dissemination of respiratory diseases. “The removal of such intruders from the Indigenous lands is urgent,” he told NCR.
But the governmental agency for Indigenous affairs, the National Indian Foundation, seems to be going in the wrong direction. According to Oliveira, the foundation has removed its agents from Indigenous lands that are awaiting official recognition from the government, leaving many peoples unassisted.

Young Yanomami try on protective masks as members of a medical team with the Brazilian army examine members of the tribe in the state of Roraima July 1, 2020. (CNS/Reuters/Adriano Machado)
The protection for isolated Indigenous groups — which live in the rainforest and avoid any contact with non-Indigenous people — has also been severely weakened, said Oliveira. “The doors are wide open for invaders,” he said.
Catholic missionaries — at least the ones connected to CIMI — stopped visiting the rural villages at the beginning of the outbreak. They advised Indigenous groups to avoid contact with people from the outside and to remain in their reservations as much as possible.
But eventually, some of the members of the communities go into the city in order to receive their salaries or governmental assistance and to buy groceries. That’s when spread of the virus might occur.

“People have not been properly oriented to use hand sanitizers after leaving a store, for instance, or to always wear face masks, at least when they leave their villages,” said Fr. Aquilino Tsiruia, a member of the Xavante people in Mato Grosso State.
“The healthcare authorities should have told the Indigenous peoples about it, but they failed to do it,” said Tsiruia.
At least 32 Xavante people died from COVID-19, most of them in June. “The local healthcare system is very precarious, with only a handful of ICU beds available,” said Tsiruia. “Our people has a considerable population of elders, many of whom with diabetes. Everybody is very frightened.”
Reports of a lack of physicians and equipped hospitals abound among the Amazonian Indigenous peoples. According to Oliveira, the healthcare situation has deteriorated since Bolsonaro canceled an agreement with Cuba that allowed hundreds of Cuban doctors to work in remote areas in Brazil.
The program had been created during the administration of left-wing former President Dilma Rousseff and was ideologically targeted by the far-right Bolsonaro.
“In many Indigenous reservations, the Cuban doctors were the only professionals available. Now, there’s a total absence of healthcare specialists,” said Oliveira.
This is one of the reasons why many Indigenous people report that they have been treating COVID-19 cases with traditional healing herbs and teas.
“If we only count on regular medicines, there won’t be enough for everybody,” said Fr. Justino Rezende, a member of the Tuyuka people who lives in the city of Santa Isabel do Rio Negro, in Amazonas state.

Rezende came down with COVID-19 in June. “The number of cases here is going up,” he said. “Many elderly people are dying.”
Given that most villages are near small cities, the most serious cases are often taken to the state capitals, where the hospitals are a little better. Deaths occurring so far away from patients’ families lead to other complications.
“The disease is disrupting millennium-long life systems, given that it impedes the practice of very important rituals — especially the funereal ones,” explained Sr. Laura Vicuña Manso, a CIMI missionary. “The Indigenous groups feel deeply like they are doing something wrong when they can’t perform their traditional rites.”
Manso described the despair of a few leaders of the Karitiana people from Rondonia State when the first COVID-19 victim of their village died.
“The healthcare authorities wanted to bury the body in the city,” she said. “In the end, after much discussion, we were able to take the body to the village, but they couldn’t perform the whole traditional ritual.”

Yanomami follow members of Brazil’s environmental agency during an operation against illegal gold mining on indigenous land in the heart of the Amazon rainforest. (CNS/Reuters/Bruno Kelly)
Alberto Brazão Góes, a member of the Yanomami people from the village of Maturacá, in the city of São Gabriel da Cachoeira, said that more than 60 people of his community have shown signs of COVID-19, but only two people have died.
“The health professionals told the families not to take the bodies to the village, but they insisted,” said Góes. “I persuaded them to break the tradition and do a quick burial. We usually would cry for at least two days and then do a cremation. Fortunately, they agreed.”
Paloschi said the impossibility of performing their cultural rites generates serious unbalances in Indigenous societies. “It’s a turmoil in their cultural universe,” said the archbishop. “This is a situation of real violence against them.”
Besides CIMI, local dioceses and parishes have been active in providing help to the Indigenous villages. In São Gabriel da Cachoeira, the diocese is part of a committee to deal with the disease, and one of its buildings is being used to shelter patients during treatment.
“Luckily our region began to fight the pandemic from the start,” said Fr. Geraldo Baniwa, who lives in Assunção, an area away from the city center.
“When there’s a serious case in my community, the patient can be taken to the city and undergo treatment,” he said. “About 80 families live here, and nobody died until now.”
Despite the growing numbers of the pandemic in the Amazon, the major cities in the region started to reactivate the economy and to loosen social distancing measures.
“There’s a considerable circulation of Indigenous peoples in the cities,” said Oliveira. “Such an irresponsible reopening will certainly worsen the situation.”
[Eduardo Campos Lima holds a degree in journalism and a doctorate in literature from the University of São Paulo, Brazil. Between 2016 and 2017, he was a Fulbright visiting research student at Columbia University. His work appears in Reuters and the Brazilian newspaper Folha de S. Paulo.]

Quelle: Pressedienst des “National Catholic Reporter”, 9.7.2020

Dieser Beitrag wurde zusammengestellt von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Kirchenmitglied sein – ohne Kirchensteuer zu zahlen

Die Kirchen in Deutschland müssen sich neu erfinden
Ein Vorschlag von Christian Modehn

1.
Noch länger sollten die Kirchen die immer höher werdenden Austrittszahlen nicht ignorieren oder nur mutlos kommentieren in immer denselben üblichen Floskeln. Radikale Reformen, die ein Überleben und vielleicht wieder lebendiges Leben der Kirchen sichern könnten, sind notwendig. Ob diese Reformationen (also nicht bloß oberflächliche „Reformen“ oder „Reförmchen“) getan werden, ist bei der Behäbigkeit der Kirchenbürokraten unwahrscheinlich. Dennoch kann ja noch einmal von den Reformationen gesprochen werden. Sozusagen als Übungen derer, die sich dem heiligen Sisyphus verpflichtet wissen.
2.
Es könnte ja sein, dass die Kirchen als Orte der Kommunikation und einer vernünftigen, reflektierten christlichen Spiritualität weiter bestehen wollen: Dann gibt es nur eine Chance, dies wurde schon hundertmal von Theologen und Soziologen gesagt, dann gibt es nur eine Chance: Ein radikaler Wandel nicht nur der Strukturen, sondern auch der klerikalen Mentalitäten und vor allem: Eine Entrümpelung der Kirchenlehre, also der Dogmatik und der Ethik, und damit eng verbunden: Eine heutige, nachvollziehbare Sprache, auch in Gottesdiensten ist die Konsequenz. „Der Herr sei mit euch“ als Grußwort in Gottesdiensten versteht heute nur noch ein gebildeter Theologe oder Historiker. „Welcher Herr denn“, fragte mich kürzlich ein Freund, „soll denn mit mir sein?“ Mit anderen Worten: Die Kirchensprache sollte nicht länger esoterisch sein bzw. mit einer frühmittelalterlichen Sprachwelt verbunden bleiben.
3.
Die Zahlen, eine Erinnerung:
Immer mehr Christen in Deutschland geben ihre Kirchenmitgliedschaft auf: Im Jahr 2019 sind mehr als eine halbe Million Mitglieder der evangelischen und katholischen Kirche aus den Kirchen ausgetreten. Sie sind in die Amtsstuben staatlicher Behörden gegangen und haben dort in einem gar nicht spirituellen, sondern sehr nüchternen, wenn nicht banalen Akt gegen eine Gebühr ihren Kirchenaustritt erklärt. Basta. Kirchenaustritt und Aufkündigung, die Kirchensteuer zu bezahlen, sind bekanntlich identisch. Und keine Kirchengemeinde oder gar ein Bischof interessiert sich für den „Ausgetretenen“, kein Kleriker fragt nach. Ist ja auch egal, noch geht es den Kirchen (materiell) sehr gut… Und eine Nachfrage, ein Interesse, wäre bei der hohen Anzahl der Ausgetretenen auch zu viel verlangt?
4.
Mehr als eine halbe Million Kirchenmitglieder allein im Jahr 2019 weniger: Wenn dieser Trend anhält, und alles spricht dafür, werden in 10 Jahren die Kirchen mindestens 5 Millionen Mitglieder durch Austritt verloren haben, ganz abgesehen von den „Sterbefällen“ der ohnehin älteren Mitglieder. Natürlich werden einige Beobachter zurecht froh sein, wenn die bestens ausgestatteten Kirchen in Deutschland mit ihren prächtig bezahlten Bischöfen (z.B.: Monatsgehalt von Kardinal Marx, München: 11.500 Euro) dann auf Macht, Privilegien und Einfluss wohl verzichten müssen. Das wäre theologisch gesehen auch eine gute Entwicklung, wenn die Kirchen sich wieder etwas dem Vorbild, dem armen Jesus von Nazareth annähern, den auch die Bischöfe bekanntlich als „Kirchengründer“ verehren.
Andererseits gibt es auch einige Soziologen und Theologen, die den allgemeinen und prinzipiellen menschlichen Wert von Kirchen-Gemeinden als Orten des Zusammenseins unterschiedlicher Menschen hoch einschätzen. Und den Zusammenbruch solcher kommunikativen Orte (schon heute) sehr bedauern. Dass Kirchengemeinden auch Räume einer kritischen, reflektierten Spiritualität sein sollten, ist für mich selbstverständlich, aber eben einer kritisch – reflektierten christlichen Spiritualität, jeglicher christliche Fundamentalismus, jegliches charismatisch-naive Verhalten ist für mich ausgeschlossen.
5.
Der zentrale Vorschlag: „Du brauchst keine Kirchensteuer mehr bezahlen und trotzdem Mitglied der Kirche bleiben!“
Also: Jeder und jede kann Kirchenmitglied bleiben, auch wenn sie keine Kirchensteuern mehr zahlen wollen. Und die Kirchen und ihre Gemeinden freuen sich darüber. Weil ihnen das Dabeisein spirituell interessierter Menschen wichtiger ist als die Tatsache, dass diese als Christen auch die staatlich eingezogene Kirchensteuer bezahlen. Auf den Geist, die Gemeinschaft, kommt es dann den Kirchen an, nicht aufs Geld. Welch ein Kontrastprogramm inmitten der kapitalistischen Gier. Die Gemeinden und Kirchenleitungen freuen sich also über diese endlich vollzogene Entkoppelung von Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer, weil sie eben wirklich gern finanziell ärmer ausgestattet sind, aber menschlich und spirituell eine große Weite und Großzügigkeit leben.
6.
Es muss also jetzt in dieser Zeit eines beginnenden Untergangs der so genannten Volkskirchen die Möglichkeit gegeben werden, eine Variante zur bisherigen absoluten Verklammerung von Mitgliedschaft und Kirchensteuer-Zahlung zu realisieren. Und zwar sehr schnell, alsbald, weil es sich ja in der Sicht der Kirchenleute selbst um die Einschränkung einer „Katastrophe“ handelt. Davon sprach etwa Gabriele Höfling am 19.7.2019 auf der (offiziell katholischen) website katholisch.de bezogen auf die Ergebnisse Austritte im Jahr 2018. Verwendet wurde neben „Katastrophe“ treffend auch die Qualifizierung „Desaster“.
7.
Es wäre dann im Laufe der Zeit zu prüfen, ob diese Möglichkeit einer alternativen Kirchenmitgliedschaft (ohne Kirchensteuerzahlung !) von den „Austrittswilligen“ angenommen und entwickelt wird. Es muss damit gerechnet werden, dass sogar viele, die nicht an einen Kirchenaustritt direkt dachten, dann doch diese Variante „Kirchenmitglied ohne Kirchensteuer-Zahlung“ bevorzugen. Wäre das schlimm? Spirituell gesehen auf keinen Fall!
7.
Mit diesem „alternativen Modell“ der Kirchenmitgliedschaft wird sich selbstverständlich ein Umbau der Strukturen der Kirchen wie von selbst vollziehen müssen: Die Gehälter der Pfarrer werden sinken, die großen Apartments und Dienstwohnungen der Bischöfe, Kirchenräte, Ordinariatsräte usw. werden aufgegeben müssen zugunsten kleinerer billigerer Wohnungen. Die alten schönen Behausungen, Paläste, werden teuer vermietet. Es wird also ein ganz anderes Finanzierungs-System der deutschen Kirchen realisiert. Das finanzielle Niveau der Kirchen in Deutschland wird sich etwas dem Niveau anderer europäischer Kirchen anpassen. In Frankreich erhält ein Bischof ein Monatsgehalt von 1.300 Euro. Europäische Kirchensolidarität könnte so real werden.
8.
Noch wichtiger: Die Gemeinden, nun freiwillig etwas verarmt, bieten nun, im Geiste aber erneuert, reformiert, viel Raum für Initiativen verschiedener Art, spirituell, sozial, politisch usw. Wenn es so ist, dass viele der „Ausgetretenen“ auch mit den dogmatischen Lehren und ethischen Weisungen der Kirchenführung nicht einverstanden waren, dann wird man als Gemeinde und Kirche dies respektieren und sie einladen, wo sie nun in der Kirche bleiben wollen, dass sie ihre eigenen Ideen gestalten und durchsetzen. So kann gemeinsam auch eine reformierte, „verschlankte“, auf das Wesentliche begrenzte Theologie und Dogmatik entwickelt werden.
9.
Keine Gräben ziehen zwischen Glaubenden und Atheisten
Dies scheint mir dringend zu sein, dass die Christen endlich aufhören, sich gegenüber den so genannten Atheisten, Skeptikern, Humanisten, „Ausgetretenen“ abzugrenzen. Wichtiger ist: Alle Menschen, was sie auch immer glauben, (auch Atheisten glauben ja an etwas, an das Nichtvorhandensein Gottes z.B.), sind zuerst Menschen. Sie haben die Humanität gemeinsam, sicher auch eine gemeinsame philosophische Haltung des Humanismus.
10.
Christliche Gemeinden sollten darum auch offene Gesprächsforen sein für Atheisten, Skeptiker usw. Christen sollen entdecken, was sie von diesen Menschen lernen können. Vielleicht sind sie „Fremd-Propheten“, wie der katholische Theologe Edward Schillebeeckx sagte, also „Propheten“ für die Christen, die eine neue Fraglichkeit erzeugen, und damit eine neue Lebendigkeit.
11.
Eine Zusammenfassung: Sie wurde angeregt durch die Ausführungen von Malte Lehming im “Tagesspiegel” vom 5.7.2020, Seite 4.
Fromme Christen stehen nicht automatisch frommen (was heißt das schon) Muslimen näher als etwa den Atheisten, wie Malte Lehming vermutet. Nein: Alle Menschen stehen als Menschen einander nahe und schätzen sich als Menschen, wenn sie denn die Menschenrechte als die oberste Norm für ihr Leben anerkennen.
12.
Entscheidend ist also: Was den Zusammenhalt einer Gesellschaft und eines Staates leistet, ist nicht zuerst die unterschiedliche religiöse Überzeugung. Entscheidend und an oberster Stelle stehen die universal geltenden Menscherechte, die Vernunft und der Respekt des demokratischen Rechtsstaates. Erst danach, an zweiter Stelle der Relevanz, kommt, förmlich als private Überzeugung, der je unterschiedliche religiöse Glaube. Und der kann nur so lange öffentliche Geltung beanspruchen, als er eben die universal geltenden Menschenrechte und den demokratischen Rechtsstaat respektiert.
13.
Ökumene unter Christen, Juden, Muslimen ist theologisch interessant, weil da Unterschiede deutlich werden in den Dogmen usw.. Aber diese Ökumene hat vor allem Sinn, wenn alle drei Religionen erkennen: Nicht unser unterschiedlicher Glaube, sondern unser Menschsein im Sinne der Menschenrechte verbindet uns. Und die Vernunfterkenntnis befreit uns alle von Glaubenstraditionen, die dem heutigen Empfinden von Menschlichkeit widersprechen…Eine Ökumene von drei fundamentalistischen Religionen wäre ein Horror. Erst müssen Religionen sich durch Vernunfterkenntnis vom Fundamentalismus befreien, dann können sie miteinander beten und plaudern.
13.
Insofern haben diese Kirchensteuer/Kirchenaustritts-Debatten auch zu einer tieferen Erkenntnis der Rolle der Kirchen, Weltanschauungsgemeinschaft und Religionen im Staat gebracht: Religionen stehen gegenüber den Menschenrechten an zweiter Stelle. Das heißt: Keine religiöse Weisheit, kein religiöses Prinzip, kann beanspruchen, unmittelbar als solche politische und gesetzliche Geltung zu haben.
14.
Am wichtigsten ist: Wer aus der Kirche austritt, nimmt nicht unbedingt “Abschied von Gott”, wie der Titel von Malte Lehming suggeriert. Im Gegenteil: Wer aus der Kirche austritt, sucht seinen eigenen Gott, weil der offiziell verkündete und von den Kirchen gelebte “Gott” leider irgendwie “passé” ist. Vielleicht aber findet er ihn in den Kirchen doch wieder, wenn Kirchen Orte der Freiheit des Geistes werden.

Copyright: Chrisian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Hans Blumenbergs Philosophie entdecken

„Nachdenklichkeit heißt: Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war“. (Hans Blumenberg) (1)

Ein Hinweis von Christian Modehn zum 100. Geburtstag Blumenbergs am 13. Juli

1.
Hans Blumenberg lebt. 24 Jahre nach seinem Tod, werden Schriften von ihm entdeckt und veröffentlicht. Viele machen sich auf, den schwierigen Philosophen zu entdecken. Allein das ist erstaunlich! Blumenberg regt an und regt auf mit seinen Thesen und Erkenntnissen. Dabei hat er sich mit den vielen aktuellen Fragen der Ethik oder der politischen Philosophie im engeren Sinne gar nicht befasst. Seine zahlreichen Publikationen vertiefen sich in die europäische Geschichte der Philosophie und Religion, sie versuchen – oft in feinsten sprachlichen Analysen – begriffliche Klarheit zu schaffen über den Zustand der europäischen Kultur „heute“ im Unterschied zu Zeiten, als die Metaphysik und die christliche Religion noch wie selbstverständlich Geltung hatten.
Blumenberg hatte zu Beginn seiner philosophischen Laufbahn noch stärkere Bindungen an die katholisch geprägte Welt, etwa in der Gestalt der scholastischen Philosophie. Man denke daran, dass er in den 1950Jahren Mitarbeiter der angesehenen katholischen Kulturzeitschrift „Hochland“ war. Dogmatische Bindungen an die Kirche gab er später auf, ohne dabei auf seine spirituellen, vor allem philosophischen Interessen an der Christentumsgeschichte aufzugeben.
Bei aller begrifflichen Prägnanz liebt Blumenberg auch die Mitteilung „kurioser Geschichten und Anekdoten“, wie Franz Josef Wetz in seiner Blumenberg Studie( Junius Verlag, 2011, S. 179) bemerkt. Blumenberg war überzeugt: „Menschliches Dasein ist eine riskante Angelegenheit, wozu nicht nur zahlreiche Fallgruben der Peinlichkeit und Lächerlichkeit, sondern auch ebenso viele Lebensgefahren gehören“ (ebd. S. 182).

2.
Über sein extrem zurückgezogenes Leben (als „Nachtarbeiter” in Altenberge bei Münster), besonders nach seiner Emeritierung, ist wenig bekannt, seine Biografie kann leicht anderswo vertieft werden.
Was bedeutete ihm als emeritierten Philosophen der Dialog, der Disput mit anderen? Fand er den Dialog mit anderen Menschen/Philosophen nur noch im “Dialog” mit Texten, Büchern? Interessante Fragen, zumal, um Blumenbergs “Spätwerk” zu verstehen. Die dann zur gundsätzlichen Frage führt: Kommt Philosophieren ohne die leibhaftige Begegnung mit anderen Menschen aus?
Hätte sich Blumenberg mit einem kritischen, gebildeten Theologen und Bibelwissenschaftler etwa über die “Matthäuspassion“, also auch über das Evangelium des Matthäus, unterhalten, wäre dann sein Buch “Matthäuspassion” anders, sagen wir “besser”, ausgefallen? Ich vermute es. (Siehe in diesen Hinweisen die Nr.7)

3.
Ich will nur auf vier zentrale Themen im Denken Blumenbergs aufmerksam machen. Diese Themen sind nur dem ersten Anschein nach „akademische“ Erörterungen. Vielmehr sind sie eng verbunden mit Fragen der Lebensgestaltung bzw. eines möglichen Selbstverständnisses des Menschen heute. Denn was Blumenberg zum angeblichen Ende „der“ Metaphysik oder dem Ende „des“ Christentums sagt, berührt ja mehr als bloß akademische Interessen. Dass es hier nur um Hinweise handelt, die zur Lektüre seiner Werke Blumenbergs führen können, ist vorausgesetzt.

Blumenberg und die Metaphern.
Blumenberg und die Interpretation der Neuzeit.
Blumenberg und die Mythen sowie der Polytheismus.
Blumenberg deutet die Matthäus-Passion von Bach.

4.Die Metaphern
Für mich sind die Studien zur Bedeutung und Grenze der Metaphern besonders interessant und anregend. Blumenberg schätzt diese „Sprachbilder“, er hält sie eigentlich für unverzichtbar
Er hat die Grenzen des in Begriffen sich vollziehenden Denkens klar erkannt und als Ausweg eine umfassende Analyse der Metaphern angeboten, er selbst sprach von Metaphoro-Logie und verfasst schon 1960 die Studie „Paradigmen zu einer Metaphorologie“. Weitere zum Thema folgten.
Metaphern sind ein altes Thema der Philosophie: Sie beschreiben Inhalte, etwa in der Philosophie und der Religion, die sich durch klare „eindeutige“ Begriffe nicht aussagen lassen. Es gibt Metaphern, die auf grundlegende Fragen der Menschen überraschende Antworten geben, auf Fragen, die sich aufdrängen und sogar unausweichlich sind. Sie beziehen sich auf die begriffliche, definitorische Unmöglichkeit, etwa das „Weltganze“ zum eindeutigen Ausdruck zu bringen. Blumenberg spricht in dem Zusammenhang dann von „absoluten Metaphern“. Er erwähnt durchaus einen Mut des Geistes, wenn dieser mit den Metaphern seinen eigenen Bedeutungsradius erweitert und sich selbst in seiner Fähigkeit des Transzendierens förmlich vorausläuft. Unsagbares im Sinne des Undefinierbaren etwa über Gott, das Ganze, den Kosmos, wird auf diese Weise irgendwie sagbar. Wo man Definitionen entbehren muss, haben Metaphern ihre Bedeutung: Man könnte deswegen meinen, die ganze religiöse Welt mit ihren Lehren lebt in der Sprachgestalt der Metapher, ohne dass die religiösen Menschen dabei realisieren, dass sie in ihrem religiösen Sprechen de facto immer schon in Metapher-Welten sprechen. Wie viel dogmatischer Streit, wie viele Häresie – Vorwürfe/Prozesse wären der Menschheit erspart geblieben, hätten die religiöser Führer die Bedeutung der Metaphern erkannt. Man kann die Vorstellung der umfassenden, heilvollen göttlichen Gnade mit der Metapher vom „himmlischen Jerusalem“ ausdrücken; eine „Stadt“ ist ja damit nicht gemeint.
Selbstverständlich eigentlich. Dieses metaphysisch, religiös usw. Unsagbare, das eine Metapher aussagt, darf nicht wörtlich verstanden werden, was leider oft passierte und zu großen Missverständnissen führte und führt: Man denke an die „Bibel-treuen“ Evangelikalen: Etwa: „Gott ist ein Vater“. Wer das wörtlich versteht, malt diesen Vater dann als alten Herren mit Rauschebart.
Trotzdem: Mit der Metapher, so Blumenberg, gelingt es dem Menschen etwas Vertrautes für eine Antwort auf die schwersten Fragen zu verwenden. Der Mensch „sieht weg von dem, was ihm unheimlich ist, (er sieht) auf das, was ihm vertraut ist“ (so in: „Wirklichkeiten, in denen wir leben“, S.116). Man darf freilich die Bedeutung der Metapher nicht „zu hoch, nur für Religionen gültig“ ansetzen. Metaphern prägen das sprachliche Leben im Alltag. Es gibt freilich auch die Erwartung einiger Philosophen (der Aufklärung) das „Provisorium“ der Metapher zu überwinden.

5. Die Interpretation der Neuzeit
Das Buch „Die Legitimität der Neuzeit“ wurde 1966 veröffentlicht, es hat viele heftige Diskussionen ausgelöst. Warum ist die Neuzeit „legitim“, also berechtigt, richtig, also etwas Anerkanntes und Anzuerkennendes? Und nicht, wie manche Verteidiger der mittelalterlichen Welt betonen, etwas Schädliches, Nicht-Sein-Sollendes, Zu-Überwindendes? Die Neuzeit, so Blumenberg, setzt ihre eigenen Gesetze und Maximen. Ihre weltlichen Prinzipien sind NICHT umgewandelte theologische Grundsätze. Vielmehr hat das Mittelalter sein eigenes philosophisches, theologisches Ende bereitet und so den Übergang in eine neue Welt, in die „Neuzeit“ vermittelt. Dieses selbst verursachte Ende der spätmittelalterlichen Welt wird für Blumenberg an der Philosophie des Nominalismus deutlich, vor allem an zentralen Aspekte im Denken Wilhelm von Ockhams. Er lehrte ein Gottesbild, das Gott außerhalb jeglicher Vernunft setzte. Es ist der willkürliche, unberechenbare, tyrannische Gott, der da vorgestellt wird. In dieser Situation löst sich der nachdenkliche Christ von Gott; der Mensch wird auf sich zurückgeworfen und geht seinen eigenen, nicht mehr kirchlich vorgeprägten Weg. Insofern ist die Neuzeit angesichts des spätmittelalterlichen Nominalismus unvermeidlich und legitim. Und diese „unvermeidliche“ Neuzeit hat auch ihre eigene Prinzipien, die sich im Begriff der Säkularität, der Weltlichkeit der Welt, äußern. In dieser Position lehnt Blumenberg die im 20. Jahrhundert von Theologen unternommenen Versuche ab, Säkularität bzw. Säkularisierung als Konsequenz des christlichen Glaubens zu verstehen. Auch Carl Schmitt hatte betont, zentrale Begriffe der modernen Staatslehre seien nichts anderes als verweltliche Begriffe aus der Theologie und dem Christentum. Dass Blumenberg die Neuzeit mit ihrer Dominanz von Technik und Naturbeherrschung eher als Segen denn als Problem deutete, kann hier nur angedeutet werden.

6. Die Mythen und der Polytheismus
Die Studie „Arbeit am Mythos“ wurde 1979 publiziert.
Dabei wird deutlich: Blumenberg will die Mythen nicht als eine neue Ideologie aufwerten oder gar die Götter alten Mythen neu beleben. Götter erscheinen mit einem großen Brausen oder einem stillen Wehen nun einmal nicht im modernen Horizont des Denkens und Lebens. Wenn sich Blumenberg für Mythen interessiert, dann nur um zu fragen: Was bewirken Mythen, wenn sich Menschen mit ihnen befassen? Indem Menschen sich Geschichten erzählen, also Mythen verbreiten, steuern sie gegen das Gefühl, auf dieser Welt verloren zu sein, sie setzen die Mythen als Hilfen ein gegen die Lebensangst. Mythen „beantworten jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen“ (Paradigma einer Metaphorologie, Bonn 1960, S. 19).
Darum werden Geschichten erzählt, die Abstand schaffen zu der fremden, bedrohlichen Welt und der Natur. Ohne Distanzierung von der Welt kann der Mensch sich nicht entwickeln und als Mensch überleben.
Aber die Zeit der Mythen ist für Blumenberg vorbei. Trotzdem verlangt der Mensch in seiner Selbstbehauptung nach Geschichten und Symbolen, um in dieser Welt zu bestehen.
In der Welt des Mythos denken, bedeutet für Blumenberg eine Art „imaginative Ausschweifung“ , Mythos hat für ihn so etwas wie eine poetische Leichtigkeit, die dann zu einer anthropomorphen Aneignung der Welt und zu einer theomorphen Steigerung des Menschen führt. Durch diese Leistungen kann der Mensch in diesem Kosmos, meint Blumenberg, in seiner Einsamkeit überleben.
Blumenberg weiß, dass diese Thesen den Widerspruch der strengen Monotheismus und der Metaphysiker finden. Der jüdische Emmanuel Lévinas hat dieses Konzept heftig kritisiert und daran erinnert, dass im Monotheismus der Mensch in die Verantwortung für den anderen gesetzt ist, der Gerechtigkeit und Schutz auch von mir zurecht unbedingt beanspruchen kann.

7. Blumenberg und die Matthäuspassion
Dieser Beitrag wurde in etwas kürzerer Form schon 2018 veröffentlicht.

Hans Blumenberg (1920 bis 1996) ist ein sehr „vielschichtiger“, gerade darin aber ein sehr anregender Philosoph. Auch wenn er in einer Distanz zur christlichen Religion und den Kirchen lebte: Die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach war ihm wichtig.
Der Text der Matthäuspassion, das Gottesbild, das da erscheint, ist Blumenberg sehr befremdlich. Darüber hat er 1988 ein recht umfangreiches Buch, eine Art „Meditation“, veröffentlicht (bei Suhrkamp). Die Bibel-Sprüche und Texte der Arien usw. aus der “Matthäuspassion” Bachs sind ihm, dem modernen, kritischen, aber für grundlegende Sinnfragen sehr aufgeschlossenen Hörer letztlich kaum erträglich. Blumenberg deutet die Botschaft der Matthäus-Passion als traurige, irritierende abstoßende Botschaft. Sie enthält den unerträglichen Gedanken, dass Gott seinen eigenen Sohn aufopfert in dem grausigen Tod. “Sonst verlassen die Söhne die Väter. Dieses Mal lässt der Vater den Sohn in dem Elend, das er ihm auferlegt hat”(S. 249). Und mit dem Schrei Jesu am Kreuz “Mein Gott, warum hast du mich verlassen?” deute Jesus an, meint Blumenberg: Gott selbst ist in dem Moment gestorben..

ABER: Der heutige Hörer der Matthäus-Passion Blumenberg kann, trotz dieser Einwände, die Matthäuspassion doch noch hören und schätzen lernen. Er kann die Texte als Metaphern verstehen. Und allein durch die Musik wird der Hörer bewegt. Er kommt selbst z.B. in eine eigene Stimmung des eigenen Leidens und Mitleidens. Er wird in eine Schwebesituation geführt. Musik bringt etwas zum Tönen, was Blumenberg ergreifend/tröstlich findet. Es gibt für ihn diese transzendierende Erfahrung. Franz Josef Wetz schreibt in seiner Blumenberg Studie (Junius Verlag, Hamburg, 2011,S 64): “Sie (die Matthäuspassion Bachs) mache das Unerträgliche erträglicher und tröste den Menschen selbst dann noch, wenn die Auferstehung Christi niemals stattgefunden haben sollte… Die Musik sei so stark, dass sie den Menschen selbst über den Verlust dieses Trostes hinwegzutrösten vermöge”.
Zu diesen Einsichten kommt aber Blumenberg, indem er die historisch kritische Bibelwissenschaft eigentlich ablehnt und in der unmittelbaren Reflexion auf die Bibeltexte seine eigenen, sehr persönlichen Einsichten gewinnt. Eine ungewöhnliche Bibellektüre, die eigene Fragen aufwirft. Der Philosoph Franz Josef Wetz hat in seinen Blumenberg-Studie den sehr eigenwilligen Umgang des kirchenkritischen, aber religiös “suchenden” Philosophen mit den Texten der Bibel treffend beschrieben: “Geradezu ratlos steht man vor seiner (Blumenbergs) gewaltsamen Auslegung biblischer Texte …und dann diese merkwürdigen Exegesen und irrationalistischen Erzählungen im schlechtesten Sinn des Wortes” (S. 64 f.) Wetz bezieht sich dabei etwa auf eher esoterisch wirkende Vorstellungen Blumenbergs von einer misslungenen Schöpfung, also einem letztlich unvollkommenen Gott…
Aber es bleibt wohl dabei: Über die Ästhetik der Musik allein findet der Mensch einen Halt, selbst in einer Matthäus-Passion, deren Texte sehr fremd erscheinen.
Nebenbei gefragt: Wie viele Gläubige und Ungläubige weinen beim Hören der Matthäuspassion oder der Johannespassion? Entsprechende “Geständnisse” sind bekannt. Was bedeutet diese Sprache der Tränen? Wird ein Verlust beweint? Was aber hat man vor dem Verlust im Umgang mit den Texten erlebt? Was hat den Menschen zum Abschied von diesen Texten, diesen Inhalten, geführt, zu einem Abschied, den der Mensch jetzt als Verlust erlebt? Eine Rückkehr in die alte Glaubenswelt war für Blumenberg ausgeschlossen, für ihn, der zu Beginn seiner philosophischen Laufbahn noch die klassische katholische Scholastik kannte und mit vollzogen hatte. Der alte Glaube gehörte für ihn zu einer “alten Welt” mit einem alten, im Sinne des nicht mehr erträglichen Weltbildes. Dieser Sprung in die “alte Welt” war ihm – wie vielen anderen – nicht möglich. Wäre Blumenberg der Glaubenswelt der Kirche verbunden geblieben, wenn diese Glaubenswelt reformiert und “modernisiert” wäre? (Nebenbei zum Thema Tränen: Der Philosoph Herbert Schnädelbach hat in seinem Aufsatz “Der fromme Atheist” darauf hingewiesen, dass ein “frommer Atheist” – also er selbst – etwa den Schlusschoral der Johannes-Passion von Bach “nicht anzuhören vermag, ohne mit den Tränen zu kämpfen. Was sich da einstellt, ist eine Mischung aus Trauer und Wut, dass das alles (also die kirchliche Botschaft, CM) nicht wahr ist” (Herbert Schnädelbach, „Religion in der Moderne“, 2009, S. 80).

Die Frage aber bleibt: Sollen Gläubige und Ungläubige sich der Tränen beim Hören von Bach schämen? Bitte nicht! Vielleicht ist das (gemeinsame) stille (ungetröstete?) Weinen eine sonderbare Form eines momenthaften, verbal gar nicht artikulierten „Halt gefunden haben“? Darüber wird kaum gesprochen.

Nicht gesprochen habe ich hier über andere wichtige Themen des Philosophen Blumenberg, wie etwa über seine eigenständigen Arbeiten zum Thema „Lebenswelt“ oder über seine Heidegger Kritik…

(1)
Zit. aus der Rede von Hans Blumenberg anlässlich der Übergabe des Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, 1980. Im Internet verfügbar: https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/sigmund-freud-preis/hans-blumenberg/dankrede

Eher leicht zugänglich sind die kleinen Essays Blumenbergs, posthum veröffentlicht, unter dem Titel „Die Verführbarkeit des Philosophen“, Suhrkamp, 2005.

Ich empfehle die Studie des Philosophen Franz Josef Wetz „Hans Blumenberg zur Einführung“, erschienen 2011 im Junius Verlag Hamburg. 237 Seiten. 14,90 EURO.

Sehr wichtig sind auch die Studien und Aktivitäten der Hans Blumenberg Gesellschaft: http://blumenberg-gesellschaft.de/

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der Gott der (meisten) Christen: Die Dreifaltigkeit, ein einziges „Wesen“ in drei „Personen“

Ein Hinweis zu einem spekulativen Thema
Von Christian Modehn (Siehe auch meinen Hinweis zum Thema, veröffentlicht am 3.6.2020)

1.
Dies ist eine zentrale Frage der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie: Wer oder was ist der (offizielle, von der Kirchenhierarchie gelehrte) Gott der Christen? Da gibt es ja bekanntlich mit Juden und Muslims gewisse Auseinandersetzungen, auf die ich hier nicht eingehe.
Noch einmal einige Hinweise zum Verstehen der Dreifaltigkeit des einen Gottes der (meisten) Christen. Zumal im „Kirchenjahr“ alle Sonntage nach dem „Dreifaltigkeitssonntag“ (dies ist der Sonntag nach Pfingsten) als „Sonntage nach Trinitatis“ bezeichnet werden. In diesem Jahr 2020 heißen so 26 Sonntage bis zum „Ewigkeitssonntag“, dem 22. November. Wer will, hat also viele Wochen Zeit, sich mit der Trinität zu befassen…
2.
Dabei nenne ich hier nur einige weitere Erkenntnisse, die das kleine, aber sehr anregende und empfehlendwerte Buch des bekannten Mittelalter-Historikers Jacques Le Goff bietet: “Der Gott des Mittelalters“ (Herder, 2003, antiquarisch noch zu haben). Die Seitenzahlen beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf dieses Buch
3.
Dies ist für Le Goff der Ausgangspunkt:
Der offiziell verkündete Gott der (meisten) Christen ist „einer“ in drei verschiedenen Personen: Gott „besteht“ aus drei Personen, „hat“ aber nur ein Wesen, sagt auch Le Goff (43), bei gleichzeitiger Betonung des christlichen Monotheismus (28, auch 31, 43). (Dabei wäre über den Begriff „Person“ in der Trinität noch eigens zu sprechen: Gemeint ist nicht der Begriff der Person, der auf die menschlichen begrenzten Wesen zutrifft. Menschen haben jeweils ein einmaliges, eigenes „Wesen“. Bei Gott Vater, Jesus Christus (dem „Logos“) und dem Heiligen Geist, also den „Dreien“, handelt es sich jedoch um ein einziges Wesen. Trotz dieser begrifflichen Verschiebung und Undeutlichkeit halten die Kirchen an den drei göttlichen Personen fest. Dies führt zu blühender Phantasie, darauf weise ich später hin.
4. Die „Personen“ im einzelnen:
Der Gott – Vater wird als der thronende, sitzende, richtende Gott gedacht (10, 32). Wie schon die ersten christlichen Könige und Kaiser thront auch der höchste Herrscher, dies ist Gott-Vater. „Wir dürfen nicht vergessen, dass ein Teil der Eigenschaften des Gottes der Christen vom Römischen Reich geprägt wurde“ (63). Gott Vater sitzt auf einem Gnadenstuhl (46) Damit deutet Le Goff die ideologische Abhängigkeit des religiösen, christlichen Gottesbildes von den politischen-ökonomischen Bedingungen an.
Dieser thronende, herrschende Gott (mit Bart, manchmal) bestimmt als Bild bis heute das Denken und Vorstellen sehr vieler Menschen. Mit anderen Worten: Das christliche Gottesbild ist weithin mittelalterlich bestimmt.
5.
Das Bild von Christus als der 2. Person in der Trinität ist im Mittelalter vom leidenden Christus bestimmt.
ABER es gibt auch eine unausgeglichene Ambivalenz, eine „Konkurrenz“ zu Gott-Vater, wenn Christus als „thronender Gott des Jüngsten Gerichts“ (66) dargestellt wird.
6.
Über den Heiligen Geist: Dieser eine Gott delegiert „seine Macht in gewisser Weise an eine der drei Personen“ (43). Das heißt: Le Goff nennt den Heiligen Geist eine Art „deus ex machina“, der je nach Bedarf als Gott eingesetzt wird (36), etwa als Gott, der in den Spitälern verehrt wurde.
Es ist ein Vogel, die Taube, die als Symbol für den gar nicht darstellbaren Heiligen Geist verwendet wird. Die Wahl der Taube als Symbol des heiligen Geistes ist den meisten heute wohl fremd und befremdlich und dieses Symbol bedarf eigener Erklärungen, die leider Le Goff in dem Buch nicht bietet! Schon in den alten Kulturen galten Tauben als Götterboten; sie waren Symbole der Sanftmut, aber auch der Einfalt. Noah bediente sich der Tauben in seiner Arche. Und vor allem: Bei seiner Taufe durch Johannes sah Jesus den „Geist Gottes wie eine Taube auf sich herabkommen“ (so Markus Evangelium, 1, 10), Man denke auch daran, dass die Taube (oft mit Olivenzweig im Schnabel) als Symbol der Friedensbewegung gilt: Pablo Picasso hat sie entworfen für den Pariser Weltfriedenskongress 1949…
Es gab dann theologische Debatten, in welcher Beziehung der im Christen anwesende Heilige Geist zu dem allgemein menschlichen Geist hat. Gerade in der praktischen Ethik, der Tugendlehre, ist diese Frage wichtig. Thomas von Aquin fand in dem Zusammenhang den Heiligen Geist entscheidend (42) gegenüber dem bloß menschlichen Geist. Eine unbefriedigende Antwort. Denn wer sich auf diese Vorstellung einlässt, muss sich fragen: Ist das, was ich tue, denke, plane nun „mein“ Geist oder, sozusagen in Doppelung, Verstärkung, der Heilige Geist. Diese Frage berührt das große Thema der Gnadenlehre und der Erlösungslehre der dogmatischen Kirchen, die ja immer von einer begrenzten, sündigen „Natur“ des Menschen ausgeht und der Gnade, dem Heiligen Geist. Das ist ein kirchliches Konstrukt, um die Notwendigkeit der Taufe und damit die Notwendigkeit der Kirche zu begründen… Aber diese Perspektiven zeichnet Le Goff nicht in diesem Buch!
Hingegen: Beim Heiligen Geist spricht etwa der (häretische) mittelalterliche Mönch Joachim von Fiore von dem „göttlichen Beweggrund der Geschichte“, eine Idee, die bei Hegel wiederkehrt.
7.
Das ist wichtig für Le Goff:
Das Gottesbild hängt immer von den Positionen derer ab, die sich von Gott ein Bild machen (9), also gibt es einen Gott der Armen und der Reichen, der Kleriker und der Laien usw. (9). Dieses Thema wird leider nur angedeutet, es ist so aktuell wie im Mittelalter.
8.
Mit der Trinität als Vorstellung von dem einen Gott hatten die Menschen, allen voran die Theologen, die Künstler, die Literaten ihre große Mühe. Es kam und kommt zu absonderlichen Vorstellungen, Ideen, Bildern:
9.
Le Goff spricht davon, dass es eine „Einführung einer weiblichen Person in und neben der Trinität gab, dies ist die Jungfrau Maria“(10).
Ein bislang eher verdrängter Hinweis: „Maria – die vierte Person der Trinität“, den übrigens auch der Theologe Josef Imbach bestätigt, in seinem Buch „Marienverehrung zwischen Glaube und Aberglaube“(2008, Patmos Verlag.). Imbach nennt etwa den Glauben katholischer Bruderschaften im 17.Jahrhundert: „Man verlieh der Mutter Jesu den Ehrentitel einer Göttin und betrachtete sie – innerhalb dieses Denkschemas durchaus folgerichtig, aber arithmetisch absolut unlogisch – als vierte Person der Dreifaltigkeit“ (67).
Ein Beispiel für viele: Das Erzbistum München –Freising bietet auf seiner Website ein Beispiel; Ein Gemälde, das Maria als Königin inmitten und als Teilnehmerin der Trinität zeigt: Und zwar ein Gemälde aus der Kirche in Gelbersdorf. (https://www.erzbistum-muenchen.de/spiritualitaet/cont/83681)
10.
Aber selbst wenn die Trinitäts-Vorstellungen sich oft auf die drei göttlichen, davon zwei männlich gedachten (!) Personen beschränkten: Da kam es im Laufe der Zeit zu allerhand Absonderlichkeiten:
Es gab Vorstellungen, Bilder, eher eine „Binität“ als eine „Trinität“ darstellten: Etwa: Gott Vater hält Jesus auf seinem Schoß. Ohne heiligen Geist.
Es gab Bilder der trikephalen, also der dreiköpfigen Trinität: Das heißt: Ein Körper mit drei Köpfen.
Es gab Bilder der dreigesichtigen Trinität: Ein Kopf, mit vier Augen, drei Nasen, drei Münder. Also drei verschiedene, aber identische Gesichter. Le Goff schreibt: „Dies sind Bilder eines monströsen Gottes, die heftigen Protest hervorriefen, beispielsweise beim heiligen Antoninus (1389-1459), dem Erzbischof von Florenz und Protektor Fra Angelicos. (48).
Eine Studie von Leopold Kretzenbacher (Graz) beschreibt diese hoch merkwürdige „Dreigesichter – Trinität“ ausführlich auch mit vielen anschaulichen Beispielen: (https://www.historischerverein-stmk.at/wp-content/uploads/Z_Jg83_Leopold-KRETZENBACHER-Steirische-Dreifaltigkeitsbilder-als-%E2%80%9EDreigesicht%E2%80%9C-und-ihre-Verwandten.pdf)
11.
Diese Bilder sind Ausdruck einer großen Verlegenheit: Christen wissen selbst nicht so richtig, wie sie mit dem Begriff des einen Gottes als Trinität umgehen sollen. Durch diese offizielle Vorstellung der Dreifaltigkeit ist der Phantasie Tür und Tor geöffnet. Das ist ja nicht schlecht. Aber der Kirchenführung entgleitet dabei die Hoheit der Definition, was zu glauben ist. Sie schafft also selbst ein Stück Freiheit und fördert förmlich mit ihrem mysteriösen Dogma Andersdenkende, die sie dann Häretiker nennt und . mindestens – ins Abseits stellt. Und von daher kann man verstehen, wenn der große katholische Theologe Edward Schillebeeckx, Nijmegen, gestehen muss: Der Trinität sehr skeptisch gegenüberzustehen.
12.
Der eine und dreifaltige Gott der Christen wurde politisch massiv und heftig durchgesetzt: Um den Glauben der poly – theistischen Heiden zu beseitigen, wurden heidnische Tempel zerstört, Bücher heidnischer Philosophen verbrannt, Bäume gefällt und Quellen zerstört, weil die Bischöfe meinten, darin seien heidnische Götter tätig. Christentum und Naturzerstörung hat darin einen Aspekt!
All das wiederholte sich etwa in Südamerika seit dem16. Jahrhundert, die Tempel der Maya, Azteken usw. wurden zerstört und auf deren Boden barocke Kirchen mit dem trinitarischen Gott den „Indianern“ präsentiert……Es fand also als Missionsstrategie eine Art Entzauberung statt, die dann wieder neuen Schwung bekam durch eine neue, dann christliche und kirchlich gesteuerte Verzauberung: Denn was anderes ist denn der Marien-Kult, der Reliquienkult, die Messe mit der „Wandlung“ etc…, ist die Idee einer Trinität für den einen Gott nicht auch eine Form von Verzauberung, eine uneingestandene Verneigung vor dem Polytheismus?
13.
Der Kampf um die Durchsetzung der Trinität, die den Kaisern/Königen wie den Päpsten gleichermaßen gefiel, war heftig: Es gab die Verteufelung und Verfolgung der Christen, die dem Glauben an den einen Gott in drei Personen nicht folgten, wie etwa Arius oder Nestorius oder Pelagius… (29 f bei Le Goff nur angedeutet).
14.
Die Kirche wollte nicht nur ihre äußere Macht stärken, und stärker als die weltliche Macht der Könige erscheinen. Sie wollte auch in ihrer inneren Gestalt, der Lehre, nur eine Einheitsmeinung zulassen, was ihr natürlich nicht gelang. Deswegen die ständigen Ketzerprozesse in der ganzen Kirchengeschichte. Die Bischöfe und Päpste, die sich die absolute Hoheit in der Deutung der Bibel selber zugesprochen hatten, duldeten keine Abweichler. Und durch ihre Sakramente, wie die Taufe, machte sich der die Taufe spendende Klerus absolut unersetzlich für das ewige Heil der Menschen. Diese engste Verbindung von Klerus und Sakramentenspendung (Taufe, Firmung, Feier der Messe durch Priester allein, usw..) hat bis heute die Allmacht des Klerus gestärkt.
15.
Die große Frage der kritischen Theologen ist heute: Ist ein christlicher Glaube denkbar und lehrbar, der auf die klassische Beschreibung der Trinität verzichtet? Und der einfach nur nachvollziehbar sagt: Gott, das Göttliche, das bzw. der Ewige sind ein bleibendes Geheimnis, das der Menschen in seinen Emotionen und im Denken berührt, berühren kann. Aber niemals umgreifend definieren kann, wie es die klassische Trinitäts – Lehre betont. Zudem ist ihre Bindung an politische Umstände so groß, dass man wohl eher von einer klassischen Trinitäts-Ideologie sprechen sollte.
16.
Aber zu diesem Akt einer theologisch-ideologischen Befreiung sind die großen, herrschenden Kirchen(führer) wohl nicht in der Lage. Sie können und wollen nicht eingestehen: Was einmal einst vor Jahrhunderten von Christen gelehrt wurde, ist historisch zwar interessant, aber heute von keiner spirituellen und theologischen Gültigkeit mehr. Denn der christliche Glaube ist keine museale Veranstaltung, keine Repetition uralter metaphysischer Thesen, sondern ein lebendiges, ein offenes, eine kritisches Geschehen.
17.
Meine These, mein Vorschlag: Ein vernünftiger christlicher Glaube (kann er denn anders als vernünftig sein bei denkenden Menschen, die sich der „Gottes-Gabe“ Vernunft erfreuen) kommt selbstverständlich ohne die klassischen Formeln des trinitarischen Dogmas aus. Darin folge ich der Trinitäts – Skepsis des katholischen Theologen Edward Schillebeeckx. Das Motto also ist: Christen sollten sich hüten, von Gott zu viel wissen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon