Gegen den Verschwörungswahn hilft Philosophie!

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Philosophieren, das lebendige Geschehen von Philosophie – wie Musizieren das lebendige Geschehen von Musik ist –, hat zweifelsfrei immer einen praktischen, auf die Lebensgestaltung bezogenen Sinn. Mag ja sein, dass „l art pour l art“ manchmal einen gewissen Überraschungseffekt hat(te). Für die Philosophie gibt es dieses „Philosophie um ihrer selbst willen“ nicht.
Darum ergeben sich aus dem Philosophieren auch unter den Bedingungen heutigen Lebens praktische Anregungen, man möchte sagen „Denk – Hilfen“ angesichts der vielen Krisen und Katastrophen der Gegenwart.
Ein Verbrechen an der geistigen Verfassung und Autonomie der Menschen begehen die Leute, die Verschwörungstheorien verbreiten. Sie spinnen sich aus politischen oder ökonomischen oder bloß privat-neurotischen Krankheiten Dinge zusammen. Sie verbreiten permanent Lügen, die auch viele, je länger sie diese Lügen hören, irgendwann dann doch glauben. Dies ist die Macht ideologischer Bombardements durch Lügen-Verbreiter. Das ist schon oft passiert, man denke nur an den skandalösen Lügenglauben im Umfeld des „berühmten“ Dreyfus-Prozesses.
Jetzt haben die aus den USA kommenden und dort sehr heftig rezipierten Verschwörungstheorien Hochjunktur. Sie sollen beitragen, dass Mister Trump noch weitere vier Jahre die USA mit seinen Lügen spalten und die Demokratie ruinieren kann. Ich erwähne hier nur die dort unter dem Titel „QAnon“ verbreiteten Wahnideen. Darüber wurde vieles geschrieben, siehe etwa im „Tagesspiegel“ am 6. September 2020 auf Seite 6, den „Report“ hat Sebastian Leber verfasst.
2.
Inwiefern kann in dieser Situation, in der die Lüge zur Gewohnheit, wenn nicht zur Normalität zu werden droht, Philosophie eine Hilfe sein? Für weite Kreise nachvollziehbar nur einige Hinweise.
Philosophieren ist bekanntlich das selbstkritische Nachdenken des einzelnen bzw. das Gespräch in kleinem Kreis. Philosophieren dient, wenn man das Wort verwenden will, der „Reinigung“, der kritischen Analyse des Geistes und innerhalb des umfassenden Geistes der begrifflichen Vernunft. Und diese ist eine Selbst-Reinigung des Geistes, also der lebendigen kritisch reflektierenden Vernunft. Die Vernunft erkennt selbst ihre Irrwege, ihre Sackgassen, ihre Widersprüche. Sie muss nur bereit sein, auf eigene Widersprüche in den eigenen philosophischen Entwürfen und selbst gebastelten Ideologien zu achten! Die Vernunft braucht also zur Klärung und Selbstkritik und „Reinigung“ ihrer selbst keine äußeren Autoritäten, keine Parteien, keine Politiker, keine Religionsführer, die autoritär mit ihren subjektiven Weisheiten und Sprüchen kommen, um andere, manchmal ganze Staaten und Gesellschaften ideologisch zu vergiften.
3.
In unserer aktuellen Situation kann Philosophie die Vernunft retten, die Wahrheit vor der zerstörerischen Macht der Lüge freilegen. Wer die Vernunft rettet, der rettet das vom Geist immer gesteuerte Überleben der Menschen. Das sind große Worte, gewiss, aber sie formulieren die Herausforderung der Gegenwart.
4.
Wenn wir wieder lernen, das SKEPTISCHE Philosophieren zu üben, ist der erste Schritt getan. Auch die populistischen Ideologen der Lügen und Wahnideen nennen sich oft Skeptiker. Aber ihre Skepsis ist nur ein in sich widersprüchliches Instrument, um die Geltung von Wahrheit zu vernichten oder um die Bedeutung der universal geltenden Menschenrechte zu vernichten. Skepsis ist für diese Ideologen ein Kampfbegriff und nicht die Beschreibung einer umfassenden Lebenshaltung, die auch skeptisch ist gegenüber der eigenen Person und ihren Vorlieben.
5.
Skepsis als Prinzip des Denkens und als Form der Lebensgestaltung ist innerhalb der Geschichte der Philosophie ein sehr vielfältiges Phänomen. Hier schlage ich vor, sich eher an den von Hume genannten „gesunden, mehr moderaten Skeptizismus“ zu halten, eine Haltung, die alles prüft, die also keine noch so populären Meinungen und Ideologien unbesehen annimmt. Diese Lebenshaltung schaut also genau hin, sie schaut um sich (dies ist eine Bedeutung des griechischen Verbs skeptein), und verlangt für eine Wahrheit oder Überzeugung nichts als Argumente, die nachvollziehbar-begründet sind und widerspruchsfrei erkannt werden und gelten. Also populistische, demagogische Behauptungen und willkürlich gewählte Sprüche wie „Alle Demokratien haben versagt“ oder „Dieser demokratische Politiker ist vom Teufel besessen“ oder „Es gibt keine Wahrheit“ haben in dieser skeptischen Haltung keinerlei Chance, überhaupt ernstgenommen zu werden.
Schnell können diese Propaganda-Sprüche von der Logik aus einander genommen und als unhaltbar dargestellt werden.
6.
Wenn dann Verfechter diese logischen Widersprüche ihrer eigenen Lebenshaltung einsehen und sogar sagen: „Ja, genau, wir halten trotzdem uns an diese widersprüchlichen Sprüche“, wird man ihnen sagen: Dann lebt ihr in einem geistigen Selbst-Widerspruch: Ihr wollt also als Personen zu einem Teil widersprüchlich, unlogisch, denken und leben. In dem übrigen Alltag, etwa beim Autofahren und Essen, verhaltet ihr euch noch logisch und dem Verstand entsprechend. Ihr esst zum Beispiel keinen Schmutz. Oder respektiert schon aus Selbstschutz die Verkehrsregeln. Aus welchen Gründen also seid ihr dann aber bewusst partiell unvernünftig? Um eurer Wut zur Zerstörung von Demokratie und Humanität und universal gültigen Menschenrechten einen ideologischen Ausdruck zu geben, in der Hoffnung, dass viele den Blödsinn glauben und mit diesem Wahn politisch Unheil anrichten.
7.
Diese hier nur kurz skizzierte Argumentation wird nur jene Verschwörungsideologen von ihrem Wahn abbringen, die es einfach nicht ertragen wollen, sozusagen schizophren zu leben. Die anderen nehmen es in Kauf schizophren zu leben… bis der Arzt dann eingreift oder die hoffentlich noch funktionierende Justiz.
8.
Was also ist eine skeptische Lebenshaltung? Es ist das Misstrauen gegenüber den vielen Sprüchen, die heute auf uns einhämmern.
Es ist das Misstrauen gegenüber Leuten, die uns einreden, hinter die Kulissen geschaut zu haben, die dafür aber nur abstruse Behauptungen und keine faktisch begründeten Argumente haben.
Wer in einer skeptischen Lebenshaltung lebt, betrachtet sich selbst skeptisch und weiß, dass Erkenntnis der Dinge stets einen Fortschritt macht. Hingegen gibt es sozusagen ewig gültige Maximen, wie „Die Goldene Regel“ oder die Prinzipien des Kategorischen Imperativs von Kant. Damit lässt sich schon elementar prüfen, ob die eigenen Maximen, als die eigene Lebenshaltung, ethisch vertretbar, also menschlich gütig ist oder nicht.
9.
Die klassische Skepsis in Griechenland hatte das Ziel, dass sich der skeptische Philosoph sich letztlich eines jeden Urteils enthält, weil er jedes Urteil in Frage stellt. Nur so glaubte der antike Skeptiker, seine Seelenruhe finden zu können.
10.
Darum geht es der hier beschriebenen, heutigen skeptischen Lebenshaltung nicht. Zwar ist für sie auch eine gewisse Form einer geistigen, vernünftigen Ruhe inmitten dieses permanenten Einprasselns von Halbwahrheiten und fake news und Verschwörungstheorien wichtig. Aber eine definitive Seelenruhe (atarexia) ist im menschlichen Leben nicht zu erreichen. Es geht nur darum, die inneren geistigen Reserven wachzurufen, um das ständige Hinschauen auf die Phänomene zu üben, die beständige Prüfung und Infragestellung. Dabei halten sich Skeptiker auch an unaufgebbare Erkenntnisse, wie die universal geltenden Menschenrechte. Diese werden zwar leider selten beachtet und realisiert. Sie sind aber trotz der Labilität demokratischer Politiker in dieser Frage unverzichtbar. Wer auf sie als Leihorizont verzichtet, versinkt im totalen Chaos.
Und der Skeptiker weiß zudem: Selbst wenn diese universal gültigen Menschenrechte in der westlichen Welt 1948 formuliert wurden, sind sie doch trotz einer regionalen Herkunft universal gültig. Wo kämen wir denn hin, wenn wir die universale Gültigkeit bestimmter Erkenntnisse aufgrund ihrer nun einmal regionalen Herkunft, die sich aber einer langen „multikulturellen“ Geschichte verdankt, beiseite setzen würden?
11.
Halten wir uns also um unserer eigenen geistigen Gesundheit und unserer Menschlichkeit willen z.B. an die vernünftigen Erkenntnisse der „Goldenen Regel“ und des Kategorischen Imperativs von Kant. Vor diesen Erkenntnissen haben Verschwörungstheorien keinen Bestand. Sie erscheinen nicht nur als lächerlich, sondern als verwerflich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit) – eine politische Tugend und eine weltliche Spiritualität

Ein Hinweis von Christian Modehn (Siehe auch einen Kommentar zur Enzyklika “Fratelli tutti” vom 7.10.20: https://religionsphilosophischer-salon.de/13031_die-neue-enzyklika-fratelli-tutti-unglaubwuerdig-und-ueberfluessig_religionskritik)

1.
Von Brüderlichkeit sollte wieder öffentlich debattiert werden, weil sie in Vergessenheit geraten ist oder „obsolet“ wurde: Sie ist eine schwierige Tugend, schwer zu realisieren, sie kann nicht in Gesetze geformt werden wie die „Ideale“ der Freiheit oder die Gleichheit. Brüderlichkeit ist eine Art der Gesinnung, als weltliche. Allgemeine, säkulare Spiritualität, möchte man sagen, in der Vernunft erreichbar für alle, nicht nur für besonders spirituelle oder fromme Menschen. Als die Revolutionäre 1789 eine gerechte Gesellschaft, einen besseren Staat, durchsetzen wollten, schwebte ihnen ja nichts „Technokratisches“ vor, sondern eine neue, eine geistvolle humane Welt ohne Hierarchien, eine Welt, die spirituell geformt sein sollte… durch die Erkenntnis: Jeder Mensch ist des anderen Bruder…Dazu später mehr…
2.
Brüderlichkeit sieht heute jeden anderen Menschen als Bruder und Schwester, als zugehörig zu der einen Familie der Menschheit. Genau so müsste eigentlich jeder und jede betrachtet und entsprechend gewürdigt werden. Bei diesem Denkmodell wird freilich vorausgesetzt, dass es unter den Brüdern/Geschwistern keine Konkurrenz gibt, sondern lautere Eintracht herrscht. Man sieht an diesem Hinweis schon, dass der Begriff der Brüderlichkeit etwas Forderndes, Wegweisendes enthält, etwas, das den Menschen größer macht, als er de facto jetzt ist. Brüderlichkeit ist jedenfalls keine Zustandsbeschreibung!
3.
Das Prinzip der goldenen Regel könnte das Miteinander der vielen gleichberechtigten Brüder/Geschwister bestimmen und als Basistext angesehen werden für den Umgang der Menschen untereinander als Brüder/Geschwister. Aber die tiefe Zuneigung zum anderen, zur anderen, als Bruder (Schwester), ist mit dieser eher bloß respektvollen Haltung, die die „Goldene Regel“ beschreibt, nicht erreicht. Brüderlichkeit weist also auf die enge Verbundenheit, das Mitfühlen und das Besorgtsein um den anderen… Der Philosoph Ernst Bloch hätte wohl Brüderlichkeit in seiner Sprache eine Art „Wärmestrom“ genannt in dieser Zeit emotionaler Kälte, bedingt durch den egoistischen Wahn der Diktatoren und verrückt gewordenen Präsidenten und der populistischen Lügner allerorten sowie durch die neoliberalen Milliardäre und deren erkaltete Seele. Brüderlichkeit kann die notwendigerweise „warme“ Energie liefern, in aller vernünftigen Freiheit gegen den genannten Wahn heute vorzugehen.
4.
Nun wird auch Papst Franziskus eine Enzyklika, also ein offizielles Lehrschreiben, zum Thema veröffentlichen.
Auch wenn man den päpstlichen Text über die „Brüderlichkeit“ noch nicht lesen konnte, er wird erst am 3. Oktober 2020 in Assisi, der Stadt des heiligen Franziskus, publiziert, klar ist: Die Wahl des Ortes in Umbrien/Italien ist nicht zufällig, weil der heilige Franziskus (1182 – 1226) mit seinem Orden dort ein Modell der Brüderlichkeit gelebt hat, so die offizielle Interpretation. Dabei wird vergessen, dass die Päpste den armen Mann (einen „Laien“) aus Assisi damals zwangen, seine radikale Bruderschaft, bestehend „nur“ aus Laien, zu verändern zugunsten eines klerikalen, in die Hierarchie eingebundenen „Bettelordens“. Der Historiker Friedrich Heer (Wien) schreibt: “Franz von Assisis Leben ist der größte, gewagteste Versuch, im Jahrtausend der Herren-Väter die Brüderlichkeit in allen Dimensionen zu praktizieren. Die Päpste brechen diese lebendige Achse (radikale Armut und Friedensbewegung) aus seiner Ordensregel heraus. Der verfolgte, geschändete Franziskus irrt, halb blind, seelisch zutiefst versehrt, in langer Agonie durch die umbrischen Lande…“ (In: „Brüderlichkeit, die vergessene Parole, Gütersloh, 1976, Seite 23).
5.
Aber abgesehen davon: Es ist zu vermuten, dass mit viel Enthusiasmus ein päpstlicher Text über die Brüderlichkeit sowieso nicht aufgenommen werden kann. Zurecht klagen feministische katholische Frauen in den USA gegen diesen männlich bestimmten Titel. Wenn schon, dann also bitte eher von Geschwisterlichkeit sprechen oder von Schwesterlichkeit. Man sieht aber an diesen neu geschaffenen Begriffen, wie mühsam sich die gemeinte Haltung, die Tugend „Brüderlichkeit“, sprachlich und sachlich erweitern bzw. neu übersetzen lässt. Aber wenn mal ein Papst den versucht wagte, von Schwesterlichkeit zu schreiben, dann würde es wohl bald endlich PriesterInnen geben. Passiert aber nicht in dieser erstarrten Männer-Institution. Erst wenn die letzte katholische Frau aus der Kirche ausgetreten ist, wird von Schwesterlichkeit im ergreisten Vatikan die Rede sein… Aber lassen wir das…
6.
Schwerer wiegt: Dass eigentlich kaum noch jemand aus vatikanischem Munde etwas über Brüderlichkeit hören und lesen und lernen will: Es ist ja, gelinde gesagt, ein bisschen komisch, wenn ausgerechnet der Papst Brüderlichkeit für alle Gesellschaften und alle Staaten fordert, aber in der eigenen Institution Kirche alles tut, dass das Ideal Brüderlichkeit gerade NICHT gelebt wird. Auf politischer Eben ist es ja so, dass der Vatikan als Staat die Menschenrechtserklärung von 1948 nicht unterzeichnet hat und auch die universal geltenden Menschenrechte in der eigenen Kirchen-Institution nicht realisiert. Man denke an die nicht vorhandene umfassende Gleichberechtigung der Frauen oder an die Degradierung von Homosexuellen. Über das Fortbestehen des § 175 in der römischen Kirche siehe diesen Link: (https://religionsphilosophischer-salon.de/8029_der-175-besteht-noch-in-der-katholischen-kirche_religionskritik )
7.
Kurzum: Die nachdenklichen Leute glauben einfach nicht mehr, dass ein solcher päpstlicher Text von Papst Franziskus noch ernst genommen werden kann. Das ist sozusagen das gar nicht abzuweisende Vorverständnis für den päpstlichen Text! Man glaubt zu recht einfach nicht mehr, dass diese Kirche als machtvolle „Mega-Institution“ und ebenso machtvolle Bürokratie tatsächlich Brüderlichkeit in den eigenen Reihen verwirklichen kann und will. Denn alles, was entscheidend ist in der römischen Kirche, entscheiden nach wie vor Männer, Kleriker, Priester, Kardinäle, Päpste usw. Und die kleben an ihrer Macht, an ihren Privilegien, die ihnen angeblich der liebe Gott selbst gegeben hat. Welch ein theologischer Unsinn, der sich ungebrochen seit Jahrhunderten hält! Mag sein, dass diese Herren im Vatikan sich untereinander wie Brüder ansehen und untereinander wie Brüder behandeln, Papst Franziskus hingegen sprach ja schon früh von widerwärtigen Intrigen dieser Kirchenfürsten. Bei den Vertuschungen des tausendfachen sexuellen Missbrauchs durch Priester haben sich ja diese „Mitbrüder“ gegenüber den mitbrüderlichen Tätern oft sehr brüderlich, eben familiär-solidarisch-vertuschend, verhalten. Und brüderlich alles „unter den Teppich“ kehren wollen.
8.
Aber das ist nur ein Grund, dem Reden von Brüderlichkeit in der Kirche zu misstrauen: Denn sonst wären ja die Ober-Brüder in Rom auch mal in der Lage, den kleinen Brüdern, also den Katholiken in der Kirche in Deutschland z.B., brüderlich-freundlich-großzügig zu begegnen und etwa die Kommunion unter Katholiken und Protestanten zu gestatten und den anderen Brüdern, den kompetenten theologisch gebildeten Laien, auch die Leitung einer Pfarrgemeinde anzuvertrauen. Aber nein, die großen bürokratischen Brüder im Vatikan verachten die kleinen Brüder in Deutschland und anderswo. In Holland z.B. haben die großen Brüder seit 1970 dermaßen auf die „kleinen Brüder“, die ihre kleinen Brüder, die niederländischen Katholiken eingeprügelt, dass diese Kirche dort de facto heute scheintot ist. Die ist die Schuld der maßlos herrschsüchtigen großen Brüder. Darin sind sich Historiker einig. Aber das ist ein anderes Thema: Das vatikanische System zerstört den lebendigen Glauben.
9.
Alle wissen, dass die Brüderlichkeit, die fraternité, zum ersten Mal von den Revolutionären der Französischen Revolution als Stichwort verbreitet wurde. Hingegen gehörte die fraternité nicht von vornherein zur offiziellen Revolutionsparole! Diese bestand weitgehend nur aus „liberté“ und „égalité“. Lediglich in Grußformeln, etwa in Briefen, war die Rede von „Salut et Fraternité“. Allerdings hat Robespierre am 18. Dezember 1790 erklärt: „Les gardes nationale porteront sur leur poitrine ces mots gravés : LE PEUPLE FRANÇAIS, et, en dessous : LIBERTÉ, ÉGALITÉ, FRATERNITÉ. Les mêmes mots seront inscrits sur leurs drapeaux, qui porteront les trois couleurs de la nation“. Also: „Die Nationalgarden werden auf ihrer Brust graviert diese Worte tragen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Dieselben Worte werden auf die Fahnen geschrieben…“
Erst in der Verfassung der Zweiten Republik vom November 1848 wurde die „fraternité“ den beiden anderen revolutionären und republikanischen Prinzipien beigefügt. Weite Kreise des Klerus schlossen sich dieser – so kurzen – Zweiten Republik an, sie segneten die „Bäume der Freiheit“, sie waren eingeladen zu den „banquets patriotiques“: Einige wenige Kleriker entdeckten 1848 in der Revolution von 1789 eine bleibende, hoch zu schätzende Bedeutung. Abbé Couchoud veröffentlichte am 10.5. 1848 in der Zeitschrift „Voix de l Eglise“ einen Text über die Fraternité: „Wir sind Kinder aus dem einfachen Volk. Aber sind wir denn nicht auch Kinder des himmlischen Vaters? Die Bande des Blutes verbinden uns mit allen, die arbeiten, die leiden, sie sich verloren fühlen“ (zit. in Pierre Pierrard, „L Eglise et la Revolution 1789 – 1889“, Paris 1988, S. 154):
Seit 1880 wird diese „revolutionäre-republikanische“ „Trinität“ etwa auf den Fassaden der Rathäuser als Bekenntnis zur „laicité“ ganz groß sichtbar. Diese Devise wird so zum französischen Kulturerbe, auf Briefmarken und münzen verbreitet, aber nicht immer, eher selten bis heute in die politische Praxis „umgesetzt“. Man denke an den offenen und latenten Rassismus (gegen „Schwarze“) und den Antisemitismus.
Alle wissen zudem: Die katholische Kirche hat die republikanischen Prinzipien seit der Französischen Revolution nicht nur immer ablehnt, sondern auch mit allen Mitteln der ideologischen Propaganda und der Bestrafung von republikanischen Katholiken bekämpft. Erst im 2. Vatikanischen Konzil 1974 wurde etwa die Religionsfreiheit von der Kirche als Wert anerkannt.
10.
Die wohl mögliche Förderung der Brüderlichkeit durch Papst Franziskus kommt also mindestens 231 Jahre zu spät. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ (Gorbatschow).
11.
Nur eines von vielen Beispielen, wie Brüderlichkeit in der katholischen Kirche praktiziert wird, und zwar in den Orden und Kongregationen. Diese Praxis habe ich selbst von 1968 bis 1973 in einem großen Kloster als „Frater“, also als Theologie studierendes Ordensmitglied, erlebt:
Im Kloster gelten offizielle Mitglieder als, so wörtlich, „Mit – Brüder“.
Tatsächlich haben die Leitung im Orden immer die Patres.
Aber: Die Patres, sind wörtlich die Väter. Manche Patres waren wohl auch wirkliche Väter. (Alimente zahlt üblicherweise die Ordensleitung bzw. bei Weltpriestern der Bischof)
Dann gibt es die Brüder. Diese Brüder sind Laienbrüder, gehören also nicht zum Klerus, wie die Patres. Sie verrichteten die handwerklichen (oft Dreck) Arbeiten. Nur einige wenige Brüder konnten sich aus dem Bruder/Laienstatus erheben und entweder Diakone werden, also zu einer unteren Stufe des Klerus gehört oder sogar Priester, „Pater“, werden..
Und dann gibt immer noch die fratres. Der lateinische Titel deutet schon die höhere Dimension als „die Laien-brüder“ an, denn eines Tages, nach ca. 7 Jahren, werden diese Fratres auch Patres, falls sie das Klosterleben durchhalten…
Übrigens gab es auch in den Frauenorden diese Hierarchie unter den „Schwestern“. In den alten Orden gab es die so genannten „Chorschwestern“, die beteten und studierten. Und dann gab es die „Laienschwestern“, die sich um alles Praktische kümmerten, Landwirtschaft, Hausputz etc. Es gab und gibt also sogar unter Frauenorden die „besseren“ und die „dienenden“ (wirklich arbeitenden) Nonnen….
Brüderlichkeit ist also selbst in den sich explizit brüderlich nennenden Orden oft nur ein schönes Wort…
12.
Eigentlich ist es, schon soziologisch betrachtet, schade, dass die Kirche als glaubwürdiges „Vorbild“ der Brüderlichkeit auch heute ausfällt. Die ganze innere Krise der Kirche wird da sichtbar: Sie ist, so wie sie ist, einfach nicht mehr glaubwürdig. Nicht schöne erbauliche Enzykliken helfen weiter, sondern eine neue Praxis, die aus der üblichen katholischen Nicht-Brüderlichkeit endlich Brüderlichkeit, Geschwisterlichkeit, Schwesterlichkeit als Basis-Haltung lebt.
Sonst bleiben Enzykliken nur „Druckerzeugnisse“…
13.
Manch einer wünscht sich Gemeinschaften der realen Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit. Aber diese Gemeinschaften sind wohl auch außerhalb der großen Kirchen noch zu finden, vielleicht in den Formen gemeinschaftlichen alternativen ökologischen oder friedenspolitischen Miteinanders. Vielleicht in NGOs? Wie stark diese Gruppen eine Spiritualität leben und zur Sprache bringen, wäre ein interessantes Projekt…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

Mit Hegel über Hegel hinausdenken – Für eine vernünftige christliche Spiritualität.

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 20.9.2020

(Dieser Hinweis ist eine Zusammenfassung eines Vortrags, den ich kürzlich in Berlin gehalten habe)

Ein Vorwort:
Warum sollen wir uns heute mit Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie befassen und von ihr Inspirationen erwarten für unser Leben? Diese Frage lässt sich nicht in einem Halbsatz beantworten.
Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, wie sie u.a. in seinen Berliner Vorlesungen zur Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie deutlich wird, „entspringt“ einem praktischen „Bedürfnis“, also einer aus dem Leben selbst stammenden Fraglichkeit, wie er selbst immer wieder betont.
Hegel hatte die damalige religiöse Situation (also im ersten Drittel des 19.Jahrhunderts) im sich christlich nennenden Europa vor Augen. Diese Religiosität war bestimmt von einer ganz aufs Gefühl setzenden Frömmigkeit, die über alles das Diffuse, Beliebige, Subjektivistische, Verschrobene, Esoterische liebte und deswegen den „begriffsfeindlichen“, also den nachvollziehbare Argumentationen ablehnenden Glauben empfahl. So wurde der christliche Glaube auch gesellschaftlich und politisch hilflos, weil er ohne Argumente dastand gegenüber der Allmacht der sich immer mehr durchsetzenden reaktionären Politik im „Vormärz“. Auch die heutige „religiöse Situation“ wird als postmoderne Beliebigkeit, als Sieg des Charismatischen und Evangelikalen, der wortwörtlichen, also gedankenlosen Wiederholung von Sprüchen der Bibel oder des Koran beschrieben.
In einer unserer Situation also in gewisser Hinsicht verwandten Problematik entwickelt Hegel seine Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie.

Und gleich zu Beginn dieser Überlegungen muss betont werden: Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie zeigt uns einen „einfachen“, aufs „Wesentliche“ befreiten, vernünftigen, also wissenden christlichen Glauben. Darum sollten wir uns mit Hegel befassen!
Dieser Glaube, wie Hegel ihn zeigt, ist eine Entwicklung der Tatsache, dass der Mensch im Unterschied zu den Tieren wesentlich vom Geist bestimmt ist. Dieser Begriff des menschlichen Geistes „ist eben selber das Göttliche im Menschen“, wie der Hegel – Forscher Walter Jaeschke in seinem Buch „Hegels Philosophie“ (Hamburg, 2020, Seite 285) schreibt. Eine Grundeinsicht, die sozusagen zum Standard jeglicher Hegel Lektüre gehört … und diese Grundeinsicht Hegels ist keineswegs obsolet geworden ist… Die philosophisch sich gebenden Propagandisten, die „Naturalisten“ oder „Materialisten“ , werden kaum noch philosophisch ernst genommen.

Das heißt: Ohne den Mitvollzug der Erkenntnis, dass der Mensch für Hegel wesentlich Geist ist und dieser Geist die Teilhabe am göttlichen Geist ist, bleiben die folgenden Hinweise unverständlich. Dass der Mensch Geist ist und dieser mit dem göttlichen Geist in gewisser Hinsicht eins ist, hat Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“, der „Enzyklopädie“ und der Logik gezeigt. Dies wird hier vorausgesetzt.

Und grundlegend ist auch: Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie als „Rettung der Vernunft des Christentums“ ist alles andere als eine „christliche Philosophie“, wie sie von Friedrich Schlegel und anderen damals entwickelt wurde. Diese „christliche Philosophie“ wollte die Sprüche der Bibel nicht nur, wörtlich verstanden, als Leitlinien des individuellen Lebens propagieren, sondern auch unmittelbar der staatlichen Ordnung als Prinzip vorsetzen. Solche unmittelbare Geltung religiöser Texte kam für Hegel nicht in Frage!

1.
Die Erkenntnis nach Hegels Tod war für seine Schüler verwirrend und wohl erschütternd, aber vorauszusehen: „Eigentlich hat Hegel mit seiner Philosophie alles gesagt, was er in (s)einer Philosophie sagen konnte“. Das gilt, selbst wenn er es noch vorhatte, einige seiner Vorlesungen etwa über Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie selbst zu publizieren oder schon veröffentlichte Werke mit neuen Vorworten zu versehen. Dazu kam Hegel nicht mehr wegen seines plötzlichen Todes 1831.
2.
Wenn man nur die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Hegels betrachtet, die ja bekanntlich eine zentrale Dimension seines Denkens überhaupt ist, dann ergeben sich aus der Beobachtung: „Alles hat Hegel eigentlich gesagt“, doch noch weitere Perspektiven … und mit Hegel denkend über Hegel hinaus.
Diese Perspektiven können hier nur skizziert werden. Das Problem ist: Wenn von Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie die Rede ist, dann muss, seinem Denken folgend, notwendigerweise auch von Gott die Rede sein, ein Name, ein Begriff, der damals noch selbstverständlich war, wenn denn von dem Unendlichen, dem Ewigen, dem schlechthin Schöpferischen philosophisch gesprochen werden sollte. Hegel wusste, wie viele Philosophen auch heute wissen, dass von dieser Dimension des Ewigen im geistvollen Leben gesprochen werden muss, wenn denn das Leben als geistiges Leben umfassend erkannt
werden soll.
3.
Grundlegend für alles ist die Erkenntnis Hegels: Gott ist Geist. Gott als Geist: Was denn sonst sollte Gott sein, wenn man denn den Begriff Gott ernst nimmt? Hegel hat nie religiöse Menschen vergangener Zeiten verachtet, die ihren Gott in den Bäumen, in Naturgewalten usw. sahen oder Bildnisse der Götter als deren reale Repräsentanten über alles verehrten. Hegel wusste aber: Diese Formen der Gottesverehrung waren „nur“ notwendige Entwicklungsschritte hin zu einem Gottesbegriff, der in dem Begriff (und damit für Hegel in der Wirklichkeit) absoluter Geist seinen unübertrefflichen Ausdruck findet. Das Höchste kann nur Geist sein. Noch einmal: Was denn sonst? Denn selbst wenn man, nur einmal spielerisch angenommen, eine chemische Substanz für das Höchste und alles Begründende hält, wäre diese als solche in dieser Bedeutung doch wieder über den Geist erkennend und seine Begriffe vermittelt. D.h. ohne den Geist und seine Begriffe gäbe es diese chemische Substanz als solche gar nicht.
4.
Zu diesem göttlichen Geist steht der Mensch als Wesen des Geistes nicht nur in Verbindung, sondern er ist mit dem göttlichen Geist – bei bleibender Differenz – eins. Diese Erkenntnis wird in Hegels Werken lang und breit entwickelt und braucht hier nicht wiederholt zu werden.
Entscheidend ist das Wissen: Jeder Mensch ist durch seinen Geist eins mit Gott. Im Geist ist diese Einheit da.
Hegel erschließt mit dieser Erkenntnis ja nicht etwas „bloß Philosophisches“, also etwas eher „gedanken-spielerisch Spekulatives“. Seine ganze Philosophie ist vielmehr eine Antwort auf „praktische Probleme im Leben“, auf die Zerrissenheit des modernen Menschen, den Bruches zwischen religiöser Welt und Alltagswelt, die Herrschaft der abstrakten Verstandes-Kategorien.
5.
Wenn Hegel betont: Der Mensch ist mit Gott – in gewisser Hinsicht – identisch: Dann erschließt diese Erkenntnis auch etwas Spirituelles, „Hilfreiches“. Der Mensch weiß sich hineingenommen in den absoluten Geist, also hineingenommen in Gott. Dies hat Konsequenzen für die ganze Lebensgestaltung, weil der Geist Vernunft ist und diese Vernunft ist Freiheit.
(Dieser Zusammenhang ist zentral, hier nur einige Hinweise: Die menschliche Vernunft bezieht sich auf sich selbst, weiß sich selbst in dem Selbstbewusstsein, das immer zugleich auch Bewusstsein des anderen (in der Welt der Objekte) ist. Darin weiß sich die Vernunft frei, weil sie immer auch bezogen ist auf mögliche andere Objekte und sich dabei immer auch frei weiß in der Beziehung auf sich selbst. In dem Zusammenhang entwickelt die Vernunft Begriffe, die sich auf die Objektwelt beziehen. Diese Begriffe haben für Hegel -bei der Identität von Denken und Sein – keinen unbestimmten Inhalt, sondern sie haben auch, etwa bei dem Begriff Mensch, Gesellschaft, Staat, Religion, Kirche usw., einen normativen Inhalt. Nicht jeder Staat ist von vorherein schon ein wahrer Staat, bloß weil er den Begriff Staat für sich selbst verwendet; ein den Menschrechten entsprechender Staat z.B. als Norm muss erst noch entwickelt werden… Insofern also kann man sagen: Geist ist Vernunft, und Vernunft ist Freiheit)
Freiheit als Freiheit des Menschen hat nur Sinn, wenn sie Freiheit aller Menschen ist, sanktioniert in den universal zur Geltung zu bringenden Menschenrechten.
6.
Wer also bewusst im Zusammenhang des göttlichen Geistes lebt, ist ständig mit der Freiheit befasst und aufgerufen, für die politische Freiheit wie für die individuellen Selbstbestimmung einzutreten. Dieser Zusammenhang war Hegel sehr deutlich! Dieser Zusammenhang, also die Verbindung von ewigem, göttlichen Geist und Geist im Menschen, hat viel mit der Frage zu tun hat: Was ist nach dem/meinem Tod – angesichts der Einheit mit dem Ewigen.
7.
Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie hat den Anspruch, begriffliche Erkenntnis also Wissen von Gott zu sein. Dadurch wird die Frage: Was ist Glauben? neu beantwortet: Die Beziehung zu Gott, zum Göttlichen, wird eher in der Form des Wissens erreicht, wobei diese Beziehung eine bestimmte Praxis verlangt, siehe den 5. Hinweis. Und dieses Wissen kann zwar seinen Ausgang nehmen in (religiösen) Gefühlen, die aber nur dann ernst genommen werden, also allgemein erhellend sein können, wenn diese aus der Unklarheit und Diffusität befreit und zur Sprache gebracht, also begrifflich gefasst werden. (Nebenbei: Psychotherapien sind ja erst dann hilfreich, wenn nach Freilegung der Gefühle diese sprachlich gefasst werden).
8.
Und dieses Wissen von Gott ist eigener Art: Es ist nicht das herrschaftliche, selbstherrliche Wissen als Verfügen über die Dinge, etwa sogar über einen als ein „Ding“, „Objekt“, interpretierten Gott. Dieses Wissen von der Einheit mit dem Göttlichen weiß sich selbst als ein verdanktes Wissen: Es verdankt sich letztlich dem alles „gründenden“ unendlichen Göttlichen, dem Gott als Geist. Diese Geist -Philosophie, das muss nicht eigens betont zu werden, ist keine spinöse „Geister-Philosophie“, nichts Esoterisches, sondern Resultat von Argumenten und Beweisen. Hegels Philosophie ist eine Analyse und eine Kritik des Endlichen, also der Dinge der Welt, die der Geist des Menschen als Endliche erkennt. Und dabei weiß der endliche, aber stets über das Endliche hinaus denkende Geist: Der Geist geht über das Endliche stets hinaus, und diese Qualität ist darin begründet, dass das Unendliche selbst wirksam ist in ihm, dem Endlichen. Es ist also der unendliche Geist, der alles Endliches als endlich erkennt und es je neu überschreitet…Es geht also zentral um den unendlichen Gott, „immanent“ im Endlichen.
9.
Das Wissen vom Christentum ist für Hegel vor allem ein Wissen von den Grundlagen der christlichen Lehre. Die historischen und zufälligen Details der biblischen Geschichten stehen nicht im Mittelpunkt seines Interesses. Hegel will diese Lehren des Christentums, die sich sozusagen als objektiver Geist literarisch verfestigt haben, in philosophische Begriffe überführen, in Begriffe, von denen Hegel meinte, dass sie allgemein verstanden werden und die deswegen das Christentum als relevant für die Moderne erweisen. So glaubte er, das Christentum aus der Nische der esoterischen Abgesondertheit, der Welt nur der frommen Gemüter, befreien zu können und zur Sache aller und damit zur weltgestaltenden vernünftigen Kraft zu machen.
10.
Damit vollzieht Hegel eine Konzentrierung der Fülle der christlichen Lehren (etwa im Neuen Testament und im Alten Testament) auf wenige zentrale Begriffe, diese sind Geist Gottes, Geist Gottes im Menschen, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, Kreuz, Auferstehung und Sendung des Geistes als ein einziges Geschehen.
11.
So ist auch klar, dass Hegel in seinen Berliner Zeiten sich ganz auf diese genannten Begriffe (von den Kirchen als Dogmen verstanden) bezieht und damit die sich irgendwie biographisch gebende Vielfalt der Erzählungen, etwa vom „irdischen Leben“ Jesu von Nazareth, beiseite legt. Diese Abwehr des Historischen, Individuellen, Persönlichen, etwa bei Jesus oder den Gestalten des Alten Testaments, mag heute problematisch erscheinen, weil ja für viele die sehr persönliche Lebensgeschichte Jesu von Nazareth faszinierend sein kann, sofern man denn viele Details als historisch bezeugt überhaupt erkennt. Man lässt sich halt von einer konkreten Person und deren Lebensschicksal eher berühren als von der philosophischen begrifflichen Einsicht: Dass in diesem Jesus als dem Gottmenschen die Einheit Gottes mit dem Menschen sichtbar wurde.
12.
Aber diese Einsicht Hegels kann auch „berühren“ und „bewegen“, weil sie, wie er meint, allgemein nachvollziehbar begründet ist, und nicht mehr abhängig ist von einzelnen Wundergeschichten oder einzelnen Ereignissen im Alltag Jesu. Dass dabei aber auch Hegel auf eine Art politisches Porträt des Menschen Jesus von Nazareth verzichten muss, ist auf den ersten Blick klar. Oder doch nicht? Denn, wie schon betont, führt das Wissen von der Einheit des Menschen mit dem Göttlichen in der einen gemeinsamen Vernunft auch zu politischem Einsatz zugunsten der Freiheit aller…
13.
Welche praktischen Hinweise für eine christliche Spiritualität ergeben sich aus der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Hegels? Die folgenden Überlegungen, sozusagen Konsequenzen aus seinem Denken, können hier nur angedeutet werden:
Das Wesentliche ist und bleibt die Erkenntnis für den einzelnen: Er/sie ist mit dem göttlichen Geist verbunden.
14.
Was wäre eine Gemeinde?
Eine Gemeinde ist die Versammlung der Menschen, die sich auf diesen göttlichen Geist gesprächsweise und feiernd beziehen und im praktischen Tun zugunsten der Freiheit /der Menschenrechte/ sich verabreden, als Engagement in der Gesellschaft und im Staat. Dabei werden, wie schon einmal betont, nicht unmittelbar religiöse Prinzipien durchgesetzt, sondern allgemein geltende, vernünftige.
In dieser christlichen Gemeinde selbst, in ihrer inneren Gestaltung, ist selbstverständlich die Gleichheit aller Mitglieder. „Es gibt keine Hierarchie“, wird von Hegel mehrfach betont. In der heutigen Zeit ist damit auch die völlige Gleichberechtigung der Frauen gemeint.
15.
Damals wie heute aktuell ist die heftige Kritik Hegels am Katholizismus, als einer letztlich im mittelalterlichen Geist fixierten und insofern „stehen gebliebenen“ christlichen Kirche. Hegel nennt viele Grundsätze des Katholizismus wesentlich korrupt.
16.
Über den „Kultus“, also die Gottesdienste der Gemeinde, hat Hegel gesprochen, aber immer in Bezug auf die real bestehenden lutherischen Gemeinden.
Hegel hat weitere Konsequenzen nicht beschrieben, wie denn Gemeinden, die sich aufgrund der Verbundenheit mit dem göttlichen Geist versammeln, sich weiter praktisch gestalten.
Man könnte meinen:
Diese Gemeinden aber haben alle Freiheit, auch religiöse Traditionen von einst reflektiert mit zu vollziehen, sofern sich diese Gemeinden nicht an die alten Bräuche klammern oder diese gar für wesentlich halten: Also etwa Wallfahrten, die meditative Spaziergänge, sind kommunikativ wichtig, aber nicht mehr „heilswirkende“ Unternehmungen. Oder das Hören von alten, warum nicht auch lateinischen Messen als Form der „Erhebung“ zum Göttlichen kann anregend sein oder die Feier von Brot und Wein als Form der sinnlichen Gegenwart Jesu von Nazareth (die er selbst empfohlen hat) usw.
17.
Und das Gebet? Es ist ein auch sprachliches Sichbeziehen auf den umfassenden göttlichen Geist. Es ist eine Form des Innewerdens, auch in der Form des sprachlichen Austausches mit anderen. Aber Bittgebete im klassischen Sinn werden überflüssig, weil sich der glaubende Mensch in dem göttlichen Geist bereits geborgen weiß (und diese Geborgenheit meditativ pflegt) und gar nicht egozentrisch um besondere Wunder Gottes zu des eigenen, individuellen Nutzens erbittet.
Gebete sind dann Ausdruck meiner spirituellen Poesie, in die meine Lebensgeschichte einfließt. Diese explizite Poesie kann mir selbst Klarheit über mich selbst bringen. Gebet ist auch das geistige Verbundenheit mit anderen, den Freunden, den Menschen in Not usw: Gebet ist dieses DENKEN AN DICH/EUCH, das keine Wunder bewirkt bei den anderen. Das aber das Wunder des Betenden/Meditierenden/Sprechenden/ wirkt, aus der Verkapselung des Ego herauszutreten.
18.
Was also ist eine Spiritualität, die sich von Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie inspirieren lässt?
Es ist eine einfache Spiritualität, die die Macht der großen Kirchen-Institutionen nicht mehr als zentral einschätzt und sich an der oft nur noch sinnlos erscheinenden Reform der großen „Volkskirchen“ (des Katholizismus zumal) auch nicht mehr abarbeitet. Diese Spiritualität hat Sinnvolleres zu tun, als etwa gegen die Mauern des Vatikans ad aeternum anzurennen.
19.
Diese hier nur skizzierte „einfache“, philosophische Spiritualität, inspiriert von Hegel, hat Chancen, eine Spiritualität der Zukunft sein, weil sie auch Menschen aus „anderen“ Religionen anzusprechen vermag. Und vor allem, weil sie von der Last und dem Ballast der Berge von Dogmen und kirchlichen Vorschriften befreit. Nur die geistvollen, freien und befreienden Impulse des Christentums werden für die Moderne gerettet. Und die Menschen werden eingeladen, Wesentliches zu leben: Dies ist die Beziehung zu Gott als dem die Menschheit, alle Menschen, verbindenden einen, gemeinsamen Geist. Und die Verbundenheit mit anderen Menschen, mit der Pflicht, für die Freiheit und Gleichheit aller einzutreten… und die Welt vor der drohenden Klimakatastrophe, wenn es denn noch möglich ist, zu retten…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der heilige Rummelplatz der guten Bürger: Über den Maler Hans Baluschek

Ein Hinweis von Christian Modehn
Hans Baluschek wurde am 9.Mai 1870 geboren; er starb am 28.9.1935 in Berlin

Ergänzung am 28.8.2024: Im Bröhan Museum in Berlin (-Charlottenburg) findet bis zum 1. Sept. 2024 wieder eine Ausstellung einiger wichtiger Arbeiten von Hans Baluschek statt. Wer diese Ausstellung nicht mehr besuchen kann, sollte sich in jedem Fall das wichtige Begleitbuch zu dieser Ausstellung besorgen mit dem Titel “Geheimcodes. Hans Baluscheks Malerei NEU LESEN!” (hg. von Tobias Hoffmann und Fabian Reifferscheidt.) Das Buch ist über das Bröhan Museum zu beziehen. Es umfasst 136 Seiten, (16 €) , mit etlichen Wiedergaben von Baluschek Gemälden und vor allem: Es bietet weiterführende Bild – Interpretationen: Baluschek ist eben mehr als “nur” ein sozialkritischer realistischer Maler…Das Bröhan Museum sorgt dafür, dass Baluschek allmählich immer “bekannter wird”…

………………

1.
Kaiser Wilhelm II. liebte über alles den schönen Schein, also die Ignoranz der Wahrheit. Er sagte in seiner berühmten „Rinnsteinrede“ 1901: „Kunst soll erheben und erbauen…und nicht das Elend noch scheußlicher darstellen“. Dass das soziale Elend vieler tausend Menschen in Berlin scheußlich war, wusste der Kaiser also. Nur sollten bitte die Künstler davon ablenken und nur Erbauliches, Erhebendes zeigen, also das gute Bürgertum und das Militär beruhigen. Künstler sollten also wohl ins Religiöse ausweichen. Das Religiöse bzw. das offiziell Christliche verstand das protestantische Kirchenoberhaupt, der Kaiser also, eher als etwas Beruhigendes, Marx sprach treffend von Opium.
Mit der offiziellen „schönen“ Kunstpolitik waren etliche Maler nicht einverstanden, sie opponierten und gründeten 1898 die Berliner Secession, unter ihnen Käthe Kollwitz und Hans Baluschek.
2.
Hans Balluschek hat sein ganzes Werk der Darstellung der inhumanen sozialen Realität gewidmet.
Bis zum 27. September 2020 gibt es noch die Chance, ein breites Spektrum seines Werkes im Bröhan Museum in Berlin – Charlottenburg zu betrachten und zu studieren. „Zu wenig Parfüm, zu viel Pfütze“, ist der Titel der Ausstellung.
Baluschek ist für viele, die nicht gerade Kunsthistoriker sind, auch heute eher noch eine Entdeckung! Und was für eine! Betrachter seiner Bilder werden sich die Frage: stellen: In welcher Weise hat sich die soziale Realität des Lebens der Armen in Europa, vor allem aber in den Ländern der sogen. „Dritten Welt“ verbessert? Die Antwort wird sicher alles andere als euphorisch ausfallen.
3.
Ich habe schon 2018 auf eine Ausstellung ebenfalls im Bröhan – Museum hingewiesen und dabei an Baluschek erinnert. „Das unsoziale Berlin“ war der Titel. LINK:
4.
Hier will ich nur auf ein Meisterwerk Baluscheks aufmerksam machen: „Berliner Rummelplatz“, gemalt 1914, also im unmittelbaren Umfeld des 1. Weltkrieges. Die feinen Bürger bzw. fein gemachten Leute mit prächtigen Hüten und Kleidern im „Sonntags-Staat“ stehen voller Staunen und Ergriffenheit vor einem grell erleuchteten Pavillon. Er erscheint wegen seiner dominanten goldenen Farben wie ein Tempel, wie ein mysteriöses Heiligtum, hinter dem allerhand überweltliche Dinge passieren könnten.
Zwei Posaunen-Bläser stehen wie Engels-Gestalten auf der Bühne, sind sie die Engel des Gerichtes oder die Boten guter Nachricht? Deutsche Flaggen in den damals üblichen Farben Schwarz Weiß Rot umrahmen den „Tempel“. Im unmittelbaren Vordergrund des Gemäldes sitzen zwei Jungen aus der armen Welt, die zu diesem Gold – und Glanztempel eigentlich keinen Zugang haben und von der feinen Welt ignoriert werden.
5.
Es ist kein billiger Rummelplatz für das kurze Vergnügen, den Baluschek da malt, sondern eine Art säkularer heiliger Ort, zu dessen Empore die Bürger aufschauen wie in einer Kirche, in der die Gläubigen bekanntlich ihre Augen auf den Altar oder die Kanzel hingebungsvoll fixieren.
Dies ist also die faktische, die „religiöse“ und auch die ethische Bindung der Bürger, der Reichen: Sie blicken wie fasziniert auf Zaubereien in einem vergoldeten Kitschtempel. Diese Interpretation legt Baluschek selbst nahe: Links an einer anderen Bude (an einem anderem Haus?) ist in Großbuchstaben das Wort MYSTIK zu lesen: Mystik, also die höchste Form der Verbundenheit mit dem Göttlichen, ist auf dem Rummelplatz gelandet, als billiger vergoldeter Kram, umgeben von den Flaggen des deutschen „heiligen“ Nationalismus. Diese Menschen verehren letztlich den goldenen Zirkus, ihr Kirchplatz ist der Rummelplatz.
6.
Hans Baluschek hat diese religiösen Dimensionen eher nur angedeutet. Sein Hauptinteresse war auch ein politisches im Rahmen der SPD. Deswegen wurde er von den Nazis verfolgt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Von den Abgründen der Seele und dem Wahnsinn der Politik: Francois Mauriac.

Die Abgründe der Seele und der Wahnsinn der Politik

Über den Schriftsteller Francois Mauriac
Hinweise von Christian Modehn

1.
Wer heute an den Schriftsteller Francois Mauriac erinnert, bezieht sich nicht auf eine Gestalt und ein Werk von vorgestern, wie dies jetzt gern behauptet wird! Mauriac ist doch erst vor 50 Jahren gestorben. Aber die Distanz – wie ist sie zu dieser nahen und doch fern wirkenden Zeit und ihrer Kultur mit dem Schriftsteller Mauriac zu verstehen? Unter den Jüngeren, zumal in Deutschland, ist Mauriacs Name kaum noch ein Begriff. Können Gedenktage wieder zur lebendigen Erinnerung, zum Denken, führen? Der Nobelpreisträger für Literatur (1952) Francois Mauriac wurde vor 135 Jahren, am 11. Oktober 1885 geboren und vor 50 Jahren, am 1.9.1970, ist er gestorben.
2.
Mauriacs Romane werden, selbst in seiner Heimat,in Frankreich, wie die Tageszeitung „La Croix“ (Paris) kürzlich schrieb, kaum noch gelesen, genauso seine Gedichte, auch seine Theaterstücke werden nicht mehr aufgeführt. Aus einem eher politischen Interesse werden seine berühmten, oft spitzen und polemischen, journalistisch – literarischen „Bloc-Notes“, seine „Notizblöcke“, neu herausgegeben, Notizen, die er über viele Jahre (von 1952 -1970) in verschiedenen Zeitungen veröffentlichte (jetzt im Verlag Laffont als „Bouquins“ neu herausgegeben).
3.
Mauriac gehört prominent zu einer Epoche der französischen Kultur, die etwa von den 1930 Jahren an einen Aufschwung ganz eigener Art erlebte: Es gab damals in Frankreich parallel und dialektisch – disputierend verbunden mit der vorherrschenden säkularen, agnostisch – atheistisch und politisch oft kommunistisch orientierten Kultur eine starke, sichtbare und durchaus auch respektierte intellektuelle katholisch geprägte Literatur und Philosophie. Und dies in einem Staat, der bekanntlich seit 1905 von der Trennung von Kirchen (Religionen) und Staat bestimmt war, mit einer einflussreichen antiklerikalen Mentalität und militanten atheistisch – freidenkerischen Organisationen. Diese stark wahrgenommene Präsenz katholischer Schriftsteller, Journalisten und Philosophen in Frankreich von etwa 1930 bis 1970 ist aus heutiger Sicht nichts anders als erstaunlich zu nennen: Da gibt es Intellektuelle, die sich dem katholischen Glauben anschließen, von Bekehrungserlebnissen sprechen, obwohl sie wissen, welche konservativ – reaktionären Positionen im Vatikan vertreten werden. Schriftsteller, wie Mauriac, haben in ihren Werken zentrale Themen des Glaubens und der katholischen Dogmatik literarisch bearbeitet und individuell geformt. Und das haben damals viele Leser begeistert aufgenommen. Mauriac hat die Bürokratie der Kirche, die Verlogenheit ihrer offiziellen Theologie, öffentlich kritisiert, aber an seiner Verbundenheit mit der Institution Kirche im allgemeinen hat er dennoch festgehalten. Aus einem vielleicht letztlich „kindlichen“ Glauben, den ihm seine fromme Mutter vermittelt hatte…
4.
Aber: Ich denke, es gehört einfach zum Verstehen „unserer“ Gegenwart, den tiefen Bruch hinsichtlich der religiösen Mentalitäten im 20.Jahrhundert wahrzunehmen. Ich habe vor einigen Jahren auf spirituelle Aspekte heutiger französischer Literaten hingewiesen, aber es sind eben „nur“ spirituelle Aspekte, keine direkt christlichen, geschweige denn katholische. (Siehe den LINk: https://religionsphilosophischer-salon.de/10014_auf-der-suche-nach-dem-verlorenen-gott-religioese-fragen-franzoesischer-schriftstellerinnen-von-heute_gott-in-frankreich)
Das ist eine Beschreibung von Tatsachen, keine Wertung, wobei natürlich zu fragen wäre: Welchen Anteil die katholische Kirchenführung über all die Jahre hat, dass sich eigentlich kaum noch ein französischer Intellektueller mit der Kirche und ihrer Lehre identifizieren kann. In Deutschland, ja in ganz Europa ist das genauso. Unter den großen französischen Historikern gab es bsi vor kurzem noch einige wenige bekennende Katholiken, wie Prof. Jean Delumeau, aber auch er hatte zur Kirche insgesamt ein gut begründetes kritisches Verhältnis.
Nebenbei: Das noch katholische Milieu Frankreichs ist heute geprägt von Angestellten und Beamten, Mitarbeitern aus der Wirtschaft und Technik … und sehr vielen Rentnern…
5.
Auch wenn nicht alle Romane Mauriacs explizit die Verbundenheit seiner ProtagonistInnen mit dem Thema Sünde, Gnade, Schuld, Strafe, Gottes Gericht bezeugen: Die innere Welt dieser „Mauriac-Menschen“ ist ohne die katholische Prägung des Autors nicht zu begreifen. Und das Erstaunliche ist ja, dass Mauriacs Romane damals auch außerhalb Frankreichs viel gelesen wurden, schließlich hat Mauriac 1952 für dieses sein katholisches Werk den Literatur Nobelpreis erhalten: „Für die tiefe spirituelle Reflexion und künstlerische Intensität, mit der seine Romane eingedrungen sind in das Drama des menschlichen Lebens“, wie es in der Begründung aus Stockholm heißt.
6.
Zu den Romanen: Der Theologe und hervorragende Kenner der Literatur, Pater Jean-Pierre Jossua aus dem Dominikaner – Orden in Paris, hat darauf hingewiesen: Es gibt nur wenige Romane Mauriacs, die nicht unmittelbar von Themen der christlichen Glaubenswelt und katholischen Tradition geprägt sind, dazu gehört wohl das Meisterwerk „Thérèse Desqueyroux“ (1927). Ein Roman, der die leere und moralisch miserable Welt in Mauriacs Heimat, Bordeaux und die Umgebung mit den großen Weingütern und deren Chateaux, beschreiDer Roman zeigt „la misère de l homme sans Dieu“, schreibt Mauriac und, wie Kritiker betonen, „die gefrorene Oberfläche der Seele“…Über die Protagonistin Thérèse Desqueyroux hat Mauriac später noch weitere Texte verfasst, wie „La fin de la nuit“ (1935)…
Als Meisterwerk gilt auch „Le Noeud de Vipères“ (Natterngezücht) von 1932, auch dieser Roman führt in das menschlich so zerstörerische bourgeoise Milieu, voller Bosheit, eine Welt, die Mauriac bestens kannte.
7.
Seine tiefe spirituelle Bindung an zentrale Dogmen der katholischen Kirche war für Mauriac überhaupt kein Hindernis, ausdrücklich für Reformen und Neuansätze in der französischen Kirche einzutreten. Insofern wird er durchaus zurecht als „linker Katholik“ dargestellt. Konflikte mit der Kirchenleitung scheute er nicht, sein literarisches, nicht exegetisches Jesus-Buch „Vie de Jesus“ (1936) zeigt den Mann aus Nazareth in seiner ganzen Menschlichkeit, was der auf „Göttlichkeit“ bedachten Hierarchie gar nicht gefiel und erwartungsgemäß Mauriac attackierte. Wichtig ist in dem Zusammenhang bis heute sein Vortrag „Die Nachahmung der Henker von Jesus Christus“, den er am 15. November 1954 vor der „Vereinigung katholischer Intellektueller“ (auch das gab es damals!) hielt und darin zeigte: Eigentlich sind die sich brav fühlenden Christen in ihrer rassistischen und kolonialistischen Haltung ebenfalls Henker („bourreaux“) wie die Misstäter, die Jesus Christus ans Kreuz geschlagen haben. Die sich katholisch nennenden Henker sah Mauriac damals in weiten Kreisen der französischen Politiker und Militärs, die etwa brutal den Freiheitswillen der Marokkaner niederknüppelten. Dieser Vortrag Mauriacs wurde erst 1984 als Buch veröffentlicht (bei Desclée de Brouwer).
Schon 1933 hatte sich der eigentlich konservativ geprägte Katholik Francois Mauriac aus großbürgerlichem Hause zum Verteidiger der Menschenrechte entwickelt, als er die Aggressionen Mussolinis in Äthiopien verurteilte und sich den links-katholischen und vatikankritischen Zeitschrift „Temps présent“ (ab 1937 mit einem Beitrag jede Woche auf der ersten Seite vertreten) anschloss. Heute werden diese Ideen fortgesetzt in der Revue „Parvis“ an der sich auch liberale Protestanten beteiligen. (https://www.reseaux-parvis.fr/)
8.
Ein eigenes Kapitel ist die Unterstützung Mauriacs für die in den 1940 bis 1950 Jahren „berühmten“, aber vom Vatikan letztlich verurteilten Arbeiterpriester. „Der Arbeiterpriester ist für Mauriac vor allem die Möglichkeit, das Christentum von der bourgeoisen Korruption zu befreien“ (zit. in dem großartigen von Jean Louis Schlegel u.a herausgegebenen Buch „A la Gauche du Christ“, ed. du Seuil, 2012, S.128 f). Mauriac kennt gut die Arbeiterpriester, etwa in der Wohngemeinschaft in Montreuil bei Paris mit André Depierre und Geneviève Schmitt. Er schätzt deren Versuch, einen nicht bürgerlichen Katholizismus mit den Arbeitern und den Armen zu leben. Aber, als Rom unter Papst Pius XII. im Jahr 1954 das „Experiment der Arbeiterpriester“ stoppt, ist Mauriac hin – und hergerissen zwischen der Treue zur Institution und dem von vielen anderen geforderten Widerstand gegen diese römische Entscheidung. Mauriac entschied sich dann doch für die Treue zur Institution. „Es ist ihm unendlich viel leichter, sein Talent zu entfalten im Namen der Caritas und der Gerechtigkeit, etwa in seinem Kampf gegen die Folter (von Franzosen ausgeübt) in Nordafrika als in der Anklage der katholischen römischen Bürokratie. In letzter Instanz führt ihn seine Gläubigkeit immer dazu, diese kirchliche Bürokratie zu rechtfertigen“ (a.a.O., S. 130).
9.
Mauriac, wie gesagt, großbürgerlicher, „bourgeoiser“ Herkunft und in einer letzten frommen Anhänglichkeit mit der Institution Kirche verbunden, war kein politisch militanter Verteidiger der Menschenrechte, sicher kein Linker, aber bekannt ist sein Einsatz zugunsten der Résistance. Wegen seiner Haltung in der Résistance gehörte er im Herbst 1945 zu dem „Conseil National des Ecrivains“ (CNE), der die Aufgabe hatte, mit dem Pétain Regime und mit dem französischen Nazis verbundene Schriftsteller zu überprüfen, zu „säubern“ und den Strafen zuzuführen, wenn sie denn Verbrechen der Okkupation begangen hatten. Mauriac gehörte zu diesem Kreis der mit den „Säuberungen“ Beauftragten neben Malraux, Camus, Sartre, Aragon und anderen. Er war in diesem Kreis des CNE eher ein Gemäßigter. Mit Claudel, Anouilh, Colette hatte er sogar ein – letztlich vergebliches – Gnadengesuch für den Nazi-Schriftsteller Brasillach unterschrieben. Brasillach wurde hingerichtet; ein anderer rechtsextremer Poet, Céline, konnte fliehen und wurde 1951 begnadigt. Unter de Gaulle wurde alles unternommen, Frankreich als Land der Résistance zu etablieren, was den Fakten nicht entsprach.
Interessant ist in dem Zusammenhang Mauriacs Beziehung zu Camus. Mauriac schätzte Camus, auch wenn es mit ihm Streit gab in der Einschätzung der épuration. Mauriac war überzeugt: Absolute Gerechtigkeit kann es in der Welt nicht geben. Anläßlich des plötzlichen Todes des großen Humanisten Camus konnte Mauriac nicht darauf verzichten zu sagen: „Schade, dass Camus kein Christ war“.
10.
Meine Hinweise haben nur an einige Aspekte im Werk Francois Mauriacs aufmerksam machen wollen. Über Mauriacs Verehrung für de Gaulle wäre zu sprechen genauso wie über die nun deutlicher diskutierte homosexuelle Neigung Mauriacs, die Jean Luc Barré in seiner „Biographie intime“ (im Verlag Fayard) ausführlich würdigt. Barré stellt auch die Frage, wie diese von Mauriac niemals öffentlich gemachte homosexuelle Neigung (er war bekanntlich verheiratet und hatte vier Kinder) das eigene Werk, die Romane etwa, verschwiegen, aber „strukturell“ auch prägt…Dass die tiefe Verbindung zum bourgeoisen Milieu und die von der Mutter vermittelte Abhängigkeit von der katholischen Lehre auch nicht gerade förderlich war für ein öffentliches Bekenntnis (Coming-out), ist auch klar. (vgl.: https://www.lemonde.fr/idees/article/2010/10/29/jean-luc-barre-mauriac-a-lutte-contre-le-feu-qu-il-portait-en-lui_1432937_3232.html)
11.
Um noch einmal an den Anfang dieser Hinweise zurückzukommen: Kulturwissenschaftlich betrachtet, ist das „Verschwinden“ katholischer Intellektueller (Schriftsteller, Philosophen usw.) in Frankreich, aber auch in vielen europäischen Staaten im 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ein philosophisch zu bedenkendes „Zeichen der Zeit“. In Paris wurde das schon erwähnte „Zentrum der katholischen Intellektuellen Frankreichs“ in der Rue Madame in Paris im Jahr 1977 aufgelöst… weil es so viele katholische Intellektuelle einfach nicht mehr gibt …Und vielleicht ist manch ein „säkularer“ Autor tatsächlich auch von „christlichem“, jesuanischen Geist geprägt…
Noch einmal: Für diesen hier nur angedeuteten kulturellen – religiösen Umbruch als Vertreibung Intellektueller aus der Kirche ist die katholische Kirchenführung, also der alles bestimmende Klerus, selbst mit verantwortlich: Sie hat sich über all die Jahre trotz mancher Reformen bzw. Reförmchen als hierarchisch-antidemokratische und letztlich auch Frauen- und Homosexuellen feindliche Institution etabliert. Sie hat die Kritik von Mauriac in seinem schon zitierten Vortrag über die „Nachahmung der Henker von Jesus Christus“ nicht beantwortet: „Ich bin wie besessen von all den Kreuzen, die immer noch errichtet werden von dieser blinden und tauben Christenheit…“(Seite 17). “Und der Lauf der Geschichte wurde nicht von Heiligen bestimmt. Sie haben zwar Herzen und Geist bewegt. Aber die Geschichte ist kriminell geblieben“ (Seite 21).
12.
Das Schloss und der Park der Domaine Malagar, Mauriacs „Landsitz“, ist heute das „Centre Culturel Francois Mauriac“ http://malagar.fr Oder: https://monumentum.fr/domaine-malagar-actuel-centre-culturel-francois-mauriac-pa00083896.html

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Über universale Werte, die alle Menschen respektieren sollen: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“.

Das neue Buch des Philosophen Markus Gabriel
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Warum ist ein philosophisches Buch, also ein Buch zum Philosophieren, wichtig und bedeutend? Wenn es die LeserInnen zum Nachdenken, Weiterdenken, Erstaunen, Kritisieren und schließlich auch zur Anerkennung überraschender Erkenntnisse führt … und dann eine Erschütterung hinterlässt, z.B.: Wie sehr man als LeserIn bisher hinter dem philosophisch klar bewiesenen Guten zurückgeblieben ist… und eigentlich zum neuen Handeln aufgerufen ist: Also der Erkenntnis folgend, man müsste Neues zu tun, auch in der eigenen Lebenspraxis, die ja nie nur privat, sondern immer auch politisch ist.
2.
Ich bin überzeugt, das neue Buch des inzwischen bekannten Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel erfüllt die oben genannten Kriterien. Schon der Titel weist in die politische Gegenwart: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“, und dies ohne Fragezeichen. Dass die Zeiten dunkel sind, dürfte allgemeine Zustimmung finden. Erst der UNTER – Titel macht den philosophischen Ansatz dieser Gegenwartsphilosophie von vornherein brisant:„Universale Werte für das 21. Jahrhundert“. Eine provozierende Formulierung! Provozierend für alle, die noch in der postmodernen Beliebigkeit und dem totalen Relativismus befangen sind und nun zur Erkenntnis universaler Werte geführt werden sollen. Und diese universalen Werte werden nicht religiös begründet oder in den Rahmen einer politischen Ideologie gestellt: Sie werden aus der Vernunft, der allgemeinen, begründet. Markus Gabriel geht von der These aus: Die Menschen als von der Vernunft bestimmte Wesen haben eine gemeinsame, allgemeine Vernunft, aus der sich selbst bestimmte universale Werte ergeben. Damit wird eine elementare Einheit der in sich pluralen Menschheit anerkannt. Rassismus in welcher Form auch immer ist also definitiv als vernunftwidrig ausgeschlossen.
Problematisch mag der Anspruch des Autors erscheinen, wenn er pauschal vom „21. Jahrhundert“ spricht, wo doch dieses 21. Jahrhundert gerade mal erst mit allen Problemen begonnen hat und mancher befürchtet: Wenn alles politisch (populistisch, antidemokratisch), ökologisch und damit neoliberal so weitergeht wie bisher, ist es vielleicht das letzte Jahrhundert für einen Teil der Menschheit.
Die philosophischen Erkenntnisse Markus Gabriels sind zudem von Gewicht, weil sie auch deutlich auf die Corona – Pandemie bezogen sind. Diese hat einerseits Solidarität wachgerufen, andererseits schwierige ethische Fragen, wie die Triage aufgeworfen.
3.
Im Zentrum seiner Argumentation steht also der Hinweis auf „moralische Tatsachen“, die, wie Gabriel betont, „einzig in der universalen Menschenvernunft begründet werden können und müssen“ (343)..
Diese universal für alle Menschen geltenden moralischen, also das geistige Wesen des Menschen auszeichnenden, „Tatsachen“ sind für Gabriel identisch mit einigen universalen Werten. An diese zu erinnern und sie zu beleben ist der Zweck des Buches, das sich nicht zuletzt wegen der leichten „Lesbarkeit“ an weite Kreise richtet.
Es erstaunt dabei, dass Markus Gabriel mit aller Vehemenz auf den allgemein geltenden universalen Werten beharrt. Er sieht die ganze Menschheit unter die Aufforderung gestellt, universale Werte zu realisieren, also das jeweils gebotene Gute zu tun und das durch die Vernunft deutlich gewordene Böse zu unterlassen. Dass sich dabei das Gute bzw. das Böse jeweils inhaltlich auf konkrete Situationen bezogen bleibt, also alles andere als abstrakt bleibt, ist klar.
Wenn das Gute immer mehr realisiert wird, dann wird auch der moralische Fortschritt befördert, von dem Gabriel überzeugt ist. Moralischer Fortschritt ist eine eigene Realität, ist grundlegend, der allen selbständigen Fortschritt in Wissenschaften und Technik und Naturbeherrschung wie eine Art Leitplanke bestimmen sollte.
Aber dieser dringende moralische Fortschritt gelingt nur in der Kraft der Reflexion. „Gegen dunkle Zeiten hilft (philosophische) Aufklärung. Sie setzt das Licht der Vernunft und damit moralische Einsicht voraus…Moralischer Fortschritt besteht darin, dass wir besser erkennen, was wir tun bzw. was wir unterlassen sollen“ (19).
4.
Moralische Tatsachen sind die Normen fürs Handeln der Menschen, sie zeigen differenziert, aber doch allgemein, „was erlaubt ist“ (12). Deutlich wird dabei das Gute und das Böse, aber auch der Bereich dazwischen, den Gabriel „das Neutrale“, das „Indifferente“, nennt (43, auch 103). Also jenen Bereich des alltäglichen Handelns, in dem wir uns oft routiniert bewegen und tun, was nicht moralisch von Bedeutung ist, etwa das Aufräumen oder das Säubern der Wohnung, wobei ein übermäßiger Wasserverbrauch wieder in den Bereich des moralisch Verwerflichen führen kann: man sieht, es gibt Übergänge auf der Skala „Gut-neutral-böse“…
5.
Es überrascht angesichts der Debatten über Relativismus und Postmoderne sicher, mit welcher Bravour Gabriel von den objektiv bestehenden moralischen Tatsachen spricht. “Es gibt moralische Tatsachen, die vorschreiben, was wir tun und was wir unterlassen sollen“ (39). Diese Tatsachen erkennt die Vernunft als solche mit absoluter Gewissheit: Etwa: „Keine Kinder quälen“ (40, noch einmal 91); „die Umwelt schützen“, alle Menschen möglichst gleich behandeln“, also allen die gleichen elementaren Lebensrechte zugestehen (40). Diese moralischen Tatsachen sind universal, gelten kulturübergreifend. Man möchte sagen, sie gelten ewig, wenn damit nicht ein Anklang an religiöse Maßstäbe wach würde, die Gabriel zurecht als Begründung ablehnt, weil sie eben einer bestimmten Tradition entstammen und nicht von der allgemeinen Vernunft erzeugt sind.
6.
Diese moralischen Tatsachen, diese Maßstäbe zur Beurteilung von gut und schlecht, nennt Gabriel WERTE“ (44).
Wie im einzelnen die universal geltenden Werte tatsächlich Schritt für Schritt aus der Vernunft entwickelt werden, zeigt Gabriel meines Erachtens nicht deutlich. Er setzt sie gleich am Anfang als gegeben voraus: „Die Geltung moralischer Aufforderungen liegt vielmehr in ihnen selbst begründet“ (92). Sie zeigen ihre Lebendigkeit und ihre Kraft im Gewissen. Erst später erinnert Gabriel an die Formen des „Kategorischen Imperativs“ von Kant als den Maßstab moralischer Orientierung (144 ff). Aber es hätte meines Erachtens noch deutlicher gezeigt werden können, dass aus dem kategorischen Imperativ die von Gabriel universal geltenden moralischen Tatsachen entwickelt werden können.
7.
Gabriel nennt praktische Forderungen, die sich aus seiner Erkenntnis ergeben: „Wir brauchen eine neue Aufklärung. Jeder Mensch muss ethisch ausgebildet werden, damit wir die gigantische Gefahrenlage erkennen, die darin liegt, dass wir moralisch verblendet fast ausschließlich Naturwissenschaft, Technik und der neoliberalen Marktlogik folgen“ (311).
Gabriel nennt es einen Skandal, dass die Mehrheit der Deutschen ethische Analphabeten sind (339). Es gilt also, die „rationale Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens zu lernen“ (342)
Gabriels Kritik richtet sich gegen Darwin ( „seine Schriften sind gelinde gesagt, keine besonders geeignete Quelle moralischer Einsicht“ (317) oder gegen Peter Singer (322): Gabriel betont gegen Singer: „Der Mensch ist mehr als ein wenn auch komplexer Zellhaufen“ (322)
Politisch deutlich und sehr treffend ist Gabriel, wenn er über neoliberale Weltordnung schreibt: „Sie beruht auf asymmetrischer Verteilung materieller und symbolischer Ressourcen“ (333), sie „versetzt letztlich sehr viele Menschen in extreme Armut. Und dieser elende Zustand so vieler widerspricht den obersten Werten, die nur „eigentlich“ (also bloß in Sonntagsreden etc.) anerkannt werden…
8.
Gabriel argumentiert durchaus kosmopolitisch:
„Es kann prinzipiell keine Ethik geben, die sich exklusiv damit befasst, was Einwohner eines einzigen Nationalstaates tun bzw. unterlassen sollen“ (335).
9.
Ich finde es bedauerlich, dass sich Gabriel in seiner Ethik ausschließlich auf den Begriff der Werte bzw. der moralischen Tatsachen bezieht und dabei die Fragen und Ansätze einer Tugendethik außer acht lässt, die ja viel älter ist als die „Wertethik“. Und eine etwas breite kritische Debatte über die Werte-Philosophie, prominent vertreten etwa durch Max Scheler, fehlt ohnehin in dem Buch. Aber Gabriels Leistung ist es in diesem Buch, Pflichtethik mit einer bestimmten Wert-Ethik zu verbinden.
10.
Das Problem philosophischer Erkenntnisse in ihrer Beziehung auf die Lebenspraxis ist natürlich auch Markus Gabriel nicht verborgen. Bezeichnend sind deswegen die letzten Worte seiner Studie: „Hören wir den (also Gabriels, CM) Weckruf? Oder fallen wir bald wieder übereinander her wie raffgierige Raubtiere? Es liegt an uns. Der Mensch ist frei“ (344).
Der Philosoph kann also offenbar nur appellieren, kann nur einen „Weckruf“ loslassen, an die unabweisbare Tatsache erinnern, dass wir Menschen eben im allgemeinen frei sind, das Gute zu tun. Also etwa den im Buch beschriebenen Werten in der eigenen Lebenspraxis zu folgen.
Natürlich hängt alles Handeln von der Freiheit des Menschen ab. Aber bei Gabriel werden philosophische Erkenntnisse (Werte, moralische Tatsachen) wieder einmal, so mein Eindruck, als zunächst dem Menschen bloß gegenüberstehend und damit fremd und befremdlich entwickelt. Es ist dies die Position der puren „Sollens-Forderung“. Anders gesagt: Es könnt doch auch alternativ gezeigt werden: Indem man zuerst eine Lebenspraxis beschreibt, in der „immer schon“ Werte jeweilig gelebt werden, vielleicht unthematisch und fragmentarisch…um aber dann von diesem Immer-Schon-Gelebten zu einer vertieften Erkenntnis zu gelangen, auch zur umfassenden Erkenntnis der immer schon (etwas) gelebten Werte. Mit allen den möglichen Korrekturen, um sich von Un-Werten zu lösen und sich den wahren Werten zuzuwenden. So wäre der Übergang zu einer „umfassenderen Werteerkenntnisse“ harmonischer und „vermittelter“, würde Hegel sagen. Von einem solchen Ansatz bei den de facto immer schon gelebten Werten verspreche ich mir eine größere praktische Wirksamkeit. Theorie und Praxis werden und sind eins.
11.
Nebenbei: Über die Kritik einer nur auf Werte fixierten Lebenshaltung – also ohne Einbezug der Pflichtethik im Sinne Kants – hat bekanntlich der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich das hoch interessante Buch „Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur“ (Wagenbach Verlag) geschrieben.
12.
Im ganzen möchte ich aber das Buch von Markus Gabriel empfehlen, auch als Grundlage für philosophische Gesprächskreise.

Markus Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ullstein Verlag, 3. Auflage 2020, 368 Seiten, 22 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche in Berlin wird umbenannt!

Ein Hinweis von Christian Modehn, am 1.9.2020 erneut publiziert.  Siehe auch: LINK.

Die Kaiser Wilhelm Gedächtnis Kirche feiert nun ihr 125. Bestehen. Bzw. es werden die Ruinen-Reste der alten Kaiser – Kirche einerseits und die schöne neu erbaute Kirche daneben gefeiert. Der Eindruck drängt sich auf: Diese Kaiser-Kirche ist ruiniert, so wie das deutsche Kaisertum mit den beiden Wilhelms politisch-ethisch-moralisch-religionspolitisch ruiniert ist. Kritisches und gründliches Erinnern an diese beide kaiserlichen Herren gewiss, aber bitte nicht noch in einer Kirche. Dann soll man bitte auch heute gelegentlich das Gesangbuch aus Kaiserszeiten benutzen…Und sich bitte auch daran erinnern: Die offizielle Flagge unter Kaiser Wilhelm I. und dem II. war in den Farben Schwarz-Weiß-Rot; diese Flaggen in diesen Farben verwenden heute Neonazis auf ihren Demos und Veranstaltungen; diese Flagge in diesen Farben stand schon bereit, als Neonazis am Samstag, 29.8.2020 versuchten, den Bundestag/das Reichstagsgebäude zu besetzen. Entsprechende Fotos belegen dies. Es ist die Frage, ob die Kirche insgesamt sich mit dem Namen Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche und mit dieser dem Kaiser damals und den Ndeonazis heute so lieben Flagge schwarz-weiß-rot sich nicht sehr blamiert!

Aber man glaube ja nicht, dass nun anläßlich der Festwoche ab 1.9.2020 ein Gedanke von den Veranstaltern darauf öffentlich verwendet wird, diese Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche UMZUBENENNEN. Also endlich auf den für eine Kirche heute unwürdigen Titel zu verzichten, denn dieser Kaiser und sein Sohn waren Kriegstreiber, Kolonialherren, Rassisten. Die heutige evangelische Kirche in Berlin weiß natürlich genau, was für einen unsäglichen Namen ihre zentrale Kirche am Kurfürstren Damm hat. Darum nennt die Kirche selbst diese Kaiser-Ruine-Kirche meist schamhaft und verlogen nur “Gedächtniskirche” (als gäbe es ein heiliges allgemeines Gedächtnis oder einen “Sankt Geäächtnis”) oder, noch sinnloser, “KWG”. Klingt irgendwie nach KaDeWe oder KSZE usw…. Man schämt sich also des offiziellen langen Titels eigentlich und verbreitet dieses furchtbare Kürzel für ein Haus des Gebets und der Meditation.

Aber es nützt nichts: Diese Kirchenleitung bleibt stur und denkt nicht im entferntesten daran, auf KWG, Gedächtniskirche oder eben “Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche” zu verzichten. Die Hohenzollern werden danklbar sein für diese alte Treue der Kirche heute zu den einstigen kaiserlichen Kirchenchefs.
An würdigen neuen Titeln mangelt es ja nicht: Dietrich Bonhoeffer wäre ein möglicher guter Titel.

Dieser Texte wurde schon im Juni 2020 publiziert:

Na also, endlich: Die „Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche“ am Kurfürsten Damm in Berlin wird umbenannt. Nicht länger soll ein weltweit bekanntes evangelisches „Gotteshaus“ den Namen dieses Kaisers tragen. Er war 1870/71 ein ziemlich begeisterter Kriegsherr und bekanntermaßen auch als Kolonialherr der Organisator der berüchtigten „Afrika—Konferenz in Berlin“ 1884/85. Ab 1884 beteiligte sich Deutschland unter des Kaisers Führung am Imperialismus, in der Etablierung deutscher Kolonien in Kamerun, Togo, Namibia, in Teilen von Tanzania und Kenia…Zudem berief Kaiser Wilhelm I., als Oberhaupt der evangelischen Kirche, den Pfarrer Adolf Stoecker im Jahr 1874 zum Hof – und Domprediger, Stoecker “entwickelte” sich in der Zeit zu einem der heftigsten Antisemiten…

Es wird also keine Kirche mehr mit dem Titel „Kaiser Wilhelm“ (Regierung von 1858 – 1888) geben. Die evangelische Kirche will sich damit auch aus dem Schatten eines Kolonialherren befreien. Dies ist eine logische Konsequenz auf die antirassistischen Initiativen weltweit.

ABER: Diese Sätze beschreiben leider keine Nachricht, sie beschreiben keine Tatsache, sondern sind im Augenblick nicht mehr als eine Hoffnung, eine Erwartung, dass es öffentliche Debatten und Aktionen gibt, diese Kirche „umzubenennen“. Denn dass den Verantwortlichen eigentlich der volle Titel dieser Kirche nicht gefällt, zeigt sich in der üblichen Kurzformel „KWG“ oder in dem sterilen, aber ständig gebrauchten Titel „Gedächtniskirche“…

In vielen Ländern Europas finden jetzt Aktionen statt gegen die öffentliche Dominanz von höchsten prominenten Kolonialherren, die etwa durch massive Statuen und Denkmäler ihren Ausdruck findet. Man denke jetzt an Belgien, wo es der kritischen Öffentlichkeit gelingt, „die öffentliche Ehrung von König Leopold II. zu beenden“. Mit dem Sturz der Statuen dieses grausigen Kolonialherren soll ja nicht die dunkle Vergangenheit Belgiens ausgelöscht oder ins Vergessen geführt werden. Es geht, wie es in Belgien heißt, darum: „Réparons l histoire“, „Reparieren wir die Vergangenheit“. Das heißt: Befreien wir unsere Öffentlichkeit von dominanten Bildern, Statuen usw., die das Image der Untaten dieses Gewaltherrschers und Rassisten verdecken. Sie fördern den Ungeist des Nationalismus und Rassismus.

„Reparieren wir also auch in Berlin die Geschichte“. Und beginnen wir damit, und suchen gemeinsam nach einem angemessenen humanen Namen für dieses „Gotteshaus“. Das „Gedächtnis“, die Erinnerung an diesen Kaiser und Kolonialherren kann ja nach der Umbenennung eigens kritisch dokumentiert werden, etwa in einem Nachbarraum zur Kirche. Der Titel für diese Ausstellung müsste heißen: “Die evangelische Kirche Deutschlands: Von einem Kriegsherren und Kolonialherren einst geleitet und geführt“.

Ich habe schon Ende Dezember 2016 für die Umbenennung der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche plädiert, damals nach den Terror-Anschlägen auf den Weihnachtsmarkt neben dieser Kirche.

Ich habe den Pfarrern dieser „KWG“ bzw. „Gedächtniskirche“ vor Monaten schon meinen Vorschlag mitgeteilt und auch dem neuen Bischof in Berlin, und erwartungsgemäß selbstverständlich keine Antwort erhalten. Es fällt vielen Christen in Deutschland schwer, sich nicht nur der dunklen „kaiserlich“ geprägten kirchlichen Vergangenheit zu stellen, es fällt noch schwerer, Schritte der Befreiung zu tun. Zum Beispiel durch neue Kirchen-Titel als Ausdruck für ein neues Denken. Ist denn erst einmal „KWG“ als Titel verschwunden, können weitere Befreiungen von unerträglichen Titeln für Kirchen folgen: So sollte die Kaiser Friedrich – Gedächtnis –Kirche in Berlin – Tiergarten, bezeichnenderweise auch schamhaft nur KFG genannt, auch einen neunen Namen erhalten. Und was soll eigentlich eine Königin – Luise – Gedächtniskirche in Schöneberg oder eine Ernst-Moritz-Arndt-Kirche in Zehlendorf: Ist denn die evangelische Kirche spirituell wirklich so arm, dass sie keine anderen, würdigen Namen für ihre Kirchengebäude findet? Hängt diese offensichtliche Schwierigkeit damit zusammen, dass sie keine „Heiligen“ kennt? Aber: Bei der viel besprochenen evangelischen ökumenischen Offenheit könnte es doch eine Erzbischof – Romero – Kirche geben oder eine Ernesto – Cardenal – Gedächtniskirche. Auch eine Jan Hus Kirche täte den Christen in Deutschland gut oder eine Petrus-Valdes-Kirche…Warum nicht eigentlich auch eine Erasmus-Kirche? Da würde endlich der Mief der alten preußischen Königsfamilien aus „Gotteshäusern“ verschwinden und etwas mehr freier Geist dokumentiert werden.

Aber, wie gesagt, bei der Schwerfälligkeit auch der kirchlichen Bürokratie sind diese Zeilen nicht mehr als eine Hoffnung, eher sogar „nur“ eine ferne Utopie.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin
Christian Modehn, M.A. in Philosophie,  ist Diplom-Theologe und Journalist.