Unverfügbarkeit und Resonanz: Über Hartmut Rosa

Ein Hinweis auf Hartmut Rosas große Studie und die kleine Einführung.
Von Christian Modehn
1.
Resonanz heißt das Wort, das viele bewegt: Wir wollen wissen, wie wir in der Beziehung zur Welt leben und damit auch in der Beziehung zu uns selbst. „Resonanz“ ist das Wort, das der weltweit beachtete Soziologe Hartmut Rosa (Uni Jena und Erfurt) im Jahr 2016 in einer umfangreichen Studie wie eine Art Schlüsselwort präsentierte, es macht Strukturen der modernen Lebenswelt verständlich Seitdem sind viele Debatten über die Resonanz geführt worden, viele Studien zum Thema erschienen.
2.
Ich kann die Auseinandersetzung mit dem vielleicht abstrakt wirkenden Begriff Resonanz nur empfehlen, es geht dabei nicht um eine akademische Debatte. Es geht darum, wie wir Menschen in einer Welt seelisch lebendig bleiben können, die als oberste „Werte“ Herrschaft, Verfügung, Macht, Gewalt durchsetzt. Die Auseinandersetzung mit der Resonanz wird jetzt einfacher, weil eine gegenüber dem Originaltext überschaubare Einführung vorliegt: Hartmut Rosa, “Unverfügbarkeit“, Suhrkamp Verlag, 2020, 131 Seiten, 10 Euro.
Hartmut Rosa verbindet als Soziologe philosophische, literarische auch einige theologische Erkenntnisse zu der Basis-Erfahrung eines jeden: Die Menschen stehen immer in einem Austausch mit der Welt und damit auch mit sich selbst, sie fühlen sich angerufen von der Natur, der Kultur und den anderen Menschen, sie sind innerlich manchmal bewegt und lassen sich vielleicht auf Veränderungen ihres bisherigen Verhaltens ein. Resonanz wird also im Umgang mit Welt und mit mir erzeugt, sie ist eine Art Bewegtheit des Geistes durch die Vielfalt der Welt und der Menschen außer uns. Aber sobald der Mensch mit Macht diese Welt festlegen und beherrschen will, bleibt die das Leben erst lebenswert machende Resonanz aus. Herrschaft und Fixierung vertragen sich nicht mit Resonanz. Dann gibt es in der Weltbeziehung nur ein sachliches Verhalten wie zu einem „Material“, das man greift, definiert, beherrscht, einordnet, handelt. Und dann Ausschau halte nach dem nächsten „Material“ der Welt zwecks weiterer Beherrschung und Profite. Diese total verobjektivierte Weltbeziehung bleibt ohne seelische Resonanz, sie ist tot. Aber, dies ist das Problem der Gegenwart der Moderne, diese toten Beziehungen zur Welt und den Menschen, diese toten Beziehungen zu sich selbst sind heute beinahe üblich, Ausdruck der modernen „coolen“ Kultur.
3.
Resonanz als seelische Lebendigkeit ist nur möglich, weil das Unverfügbare erscheint und existiert und es als solches wahrgenommen werden kann. Unverfügbar (also in seinem Dasein von uns letztlich nicht manipulierbare Andere) ist letztlich die gesamte „Außenwelt“, unverfügbar ist auch das seelische und geistige Geschehen, wenn im Menschen wirklich Berührung durch die Welt und die anderen Menschen stattfindet. Das Unverfügbare zu schützen wird zur Aufgabe im Überleben von Menschen, die mehr sein wollen als bloß funktionierende Technokraten und Bürokraten.
Ich breche hier die Hinweise ab.
Religionsphilosophisch bedeutsam ist die Aussage Hartmut Rosas, dass im Nichtverfügbaren auch das Geschenk, die Gabe, aufleuchten kann (S. 111), der Mensch also auch der Empfangende ist, der sich gerade nicht nur als der autonom alles Setzende und Beherrschende verstehen sollte!

Die Bücher von Hartmut Rosa zum Thema:
„Unverfügbarkeit“. Suhrkamp Verlag, 2020, 10 Euro.
„Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehungen“ (Suhrkamp, 2019, 815 Seiten).

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Nur ein konfessionsloser Staat kann Religionsfreiheit garantieren: Erfahrungen in Frankreich.

Die Trennung von Kirchen und Staat: Vor 115 Jahren, am 9. Dezember 1905.
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Wer Frankreichs Kultur verstehen will, muss wissen, was „laicité“ bedeutet. Dieser Begriff ist zentral, er nennt das Selbstverständnisses der französischen Republik und wird wieder einmal, seit Oktober 2020, von staatlicher Seite und den katholischen Bischöfen diskutiert.
Das Wort laicité ist nur mit Mühe, nur mit Umschreibungen, ins Deutsche zu übersetzen. Deutsche, auch deutsche Journalisten und Wissenschaftler, machen es sich zu einfach und behaupten: Laicité sei nichts anderes als „Laizismus“. Dieser „Laizismus“ ist jedoch bekanntlich die kämpferische Haltung eines atheistisch eingestellten Staates gegenüber den Religionen und Kirchen. Diese Identifizierung von laicité und Laizismus ist im Blick auf Frankreich oberflächlich und falsch. Laicité bedeutet: Ein „a-religiöserStaat“, nicht ein anti-religiöser Staat.
Erst seit 1946 definiert sich Frankreich in seiner Konstitution als eine „République laique“, der Sache nach war die Französische Republik schon seit 1905 „laique“.
2.
Die Französische Republik ist bestimmten Werten, als leitenden Idealen – mindestens theoretisch -, verpflichtet: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Diese drei sind philosophisch gesehen geradezu evident für ein humanes Zusammenleben. Man könnte auch sagen, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit haben beinahe die Aura des Heiligen. Sie sind als ein öffentliches republikanisches Bekenntnis unübersehbar wahrzunehmen an allen Rathäusern, staatlichen Schulen, öffentlichen Bibliotheken und auch auf französischen 1 sowie 2 Euro Münzen.
Hinzukommt, und dies ist genauso wichtig, förmlich als Zusammenfassung dieser drei Maximen, der vierte republikanische Wert, die „laicité“.
Die heutige Verfassung sagt im Artikel 2: „Frankreich ist eine unteilbare,= laique=, eine demokratische und soziale Republik“ . „Die Laizität ist der Eckstein des republikanischen Paktes, sie beruht auf drei untrennbaren Werten: Der Freiheit des Gewissens, der rechtlichen Gleichheit aller geistigen und religiösen Optionen, der Neutralität der politischen Macht ihnen gegenüber“. So formuliert im Jahr 2003 eine hochrangige staatliche Kommission das Wesen der laicité, diese Kommission wurde geleitet von dem hoch geschätzten ehemaligen Minister Bernard Stasi.
Keine bestimmte Religion oder Kirche wird in der französischen Republik als Staatskirche anerkannt, keine bestimmte Religion wird bevorzugt. Der Gedanke ist ausgeschlossen, dass der Staat – wie in Deutschland – Kirchensteuern in Milliardenhöhe jährlich für die Kirchen und im Auftrag der Kirchen einziehen könnte. Die laicité will in dieser Neutralität primär für den gesellschaftlichen Frieden, die Toleranz, in Staat und Gesellschaft sorgen.
3.
Es wird in den kommenden Wochen, ab 2021, ein Gesetzesprojekt debattiert werden, das die laicité aktualisieren soll, „republikanische Grundprinzipien“ sind das Programm. Gedacht ist dabei an eine Art philosophisch – ethischer „Basis-Philosophie“ der Republik. Angestoßen zu diesem Projekt wurden Präsident Macron und seine Regierung durch die jüngsten mörderischen Attacken von Terroristen, die sich selbst mit dem islamischen Glauben in persönliche Verbindung brachten. Diese mörderischen Kreise oder einzelnen Personen werden allgemein „radikale Islamisten“ genannt. Wie stark bei denen der Islam oder der Ungeist des Terrors ausgeprägt ist, wird in dieser Pauschalisierung nicht unterschieden.
Keine Frage: Die Französische Republik und viele ihrer Bürger sehen sich (seit einigen Jahren) durch „islamistische“ Kreise bedroht. Eine Zeit der Pauschalurteile, der Feindbilder, hat wieder begonnen, und schnell ist man bei „DEM“ Islam als dem „Feind“ gelandet. Diese Haltung zeigen rechte und liberale Politiker aus wahltaktischen Gründen, um die rechtsextreme Partei von Marine Le Pen nicht noch stärker werden zu lassen. Bekanntlich war ihr Vater Jean – Marie Le Pen als Gründer und Chef des FN ganz offensichtlich Antisemit. Die Tochter gibt sich hingegen, taktisch raffiniert, eher philosemitisch, um dann um so heftiger ihre Anti-Islam-Politik zu beschwören, die aber letztlich als Anti-Ausländer und Anti-Flüchtlingspolitik gemeint ist. „Les Francais d abord“ also die (weißen) Franzosen zuerst ist das Motto….
Dieser vielfältige Hintergrund spielt nun für das Projekt der Macron – Regierung eine wichtige Rolle, eine Art „republikanischen Grundwertekatalog“ zu schaffen. Die Muslime sollen in dieser Sicht umfassend informiert und gedrängt werden, die Werte der Republik Frankreich in der Praxis anzunehmen und zu leben. Dazu gehört selbstverständlich auch, die umfassend geltende Meinungsfreiheit zu respektieren. Tatsächlich geht es darum, allen Bürgern klar zu machen: Auch wenn Karikaturen als Ausdruck von Meinungsfreiheit oder sogar als Kunst – in der Sicht einiger – Blasphemien darstellen, gibt es einen rechtlichen Rahmen, diese Blasphemie zu respektieren. Mindestens solange, als nicht einzelne, ganz bestimmte konkrete Gläubige, in ihrem Glauben beeinträchtigt werden. Interessanterweise hat sich die katholische Kirchenführung in Frankreich auch für eine Einschränkung der umfassenden Meinungsäußerung ausgesprochen, wenn sie denn als Blasphemie öffentlich wird. Katholiken haben sich dadurch mit den entschiedenen Gegnern umfassend freier Meinungsäußerung im islamischen bzw. vor allem islamistischen Bereich in gewisser Weise verbündet.
4.
Die Integration der muslimischen Bevölkerung in die Französische Republik ist natürlich viel mehr als ein philosophisches oder religionspolitisch – „bildungsmäßiges“ Projekt. Das ist eigentlich den meisten Sozialwissenschaftlern, Politologen und auch etlichen Politikern klar: Dass das „Republikanischwerden“ bzw. „Demokratischwerden“ der muslimisch geprägten Bevölkerung bzw. der muslimischen Franzosen nur gelingen kann, wenn die evidente soziale und kulturelle Ausgrenzung der meisten Muslime in Frankreich aufhört. Das betrifft etwa die sehr oft sehr prekären Wohnverhältnisse in der Banlieue, das betrifft die Degradierung „arabischstämmiger“ Mitbürger bei der Arbeitssuche, den bekannten Rassismus etlicher Polizeibeamter usw.
5.
Bei einem neuen Nachdenken über die Werte der Republik heute kann auch der historische Rückblick nicht fehlen: Wie standen die Religionen zur Republik? Darüber wurde im Jahr 1905 nach jahrzehntelangen Debatten entschieden, als das Gesetz zur Trennung von Kirchen und Staat verabschiedet wurde. Dabei ging es damals dem Staat fast ausschließlich darum, sein Verhältnis zur katholischen Kirche festzulegen. Die protestantischen Kirchen und die Juden waren als die einzigen anderen damals aktiven Religionsgemeinschaften in Frankreich kleine Minderheiten, und vor allem: Sie hatten im Unterschied zu den Katholiken traditionell ein positives Verhältnis zur Republik und deren Werten. Protestanten und Juden hatten unter dem sehr katholischen „ancien régime“ gelitten, die Republik bedeutete für sie eine Befreiung von Verfolgung und Degradierung. Für die Katholiken, ihre Bischöfe, Priester und Mönche war die Sache ganz anders: Sie gehörten zur privilegierten Staatskirche. Nur die Armen, in den Dörfern, litten unter der Gier der Mönche und Bischöfe. Die so genannte „Entchristlichung“ in vielen Regionen Zentral-Frankreichs, in Burgund, im Limousin etc. hat in kirchlichen Missständen ihre Ursachen…D.h. die Kirche selbst ist also mit – verantwortlich für die offenbar unumkehrbare „Entchristlichung“ weiter Regionen in Frankreich. Was immer „Entchristlichung“ in der Soziologensprache auch im einzelnen bedeuten mag…
1905, dem Jahr der Gesetzgebung zur Trennung von Kirchen und Staat, waren mehr als 90 % der Bevölkerung katholisch getauft, aber nicht alle waren „praktizierend“. Wer kirchlich gebunden war, klammerte sich, politisch, auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an die Ideen der Monarchie. Schließlich hatten sie im „Zweiten Empire“ unter Louis Napoléon Bonaparte aufgrund vieler Privilegien eine kirchlich – klerikale Blütezeit erlebt, deutlichster Ausdruck dafür waren die vielen Neugründungen von Ordensgemeinschaften und Klöstern. Die meisten Katholiken waren um 1900 zudem mehrheitlich Antisemiten, wie die Ereignisse rund um die Dreyfus – Affäre beweisen. Die katholische Tageszeitung „La Croix“ (aus dem Verlagshaus mit dem hübschen Titel „La Bonne Presse“) war damals ein heftiges antisemitisches Hetzblatt. Das geben die Verleger, die französischen Augustiner, heute ganz offen zu. Denn die Katholiken identifizierten ja durchaus treffend Republik mit der Verteidigung der Menschenrechte. Und gerade diese galten den Katholiken als negativer, „abscheulicher“ Ausdruck des „Wahnsinns“ der Französischen Revolution.
In dieser antirepublikanischen Haltung wurden die Katholiken leidenschaftlich befeuert von den damaligen explizit und stolz sich reaktionär gebenden Päpsten, allen voran Gregor XVI. und Pius IX.
6.
Es ist also durchaus evident, wenn die Republikaner damals die katholische Kirche als Feind der Demokratie erkannten und diese feindliche Kraft politisch möglichst einschränken wollten. Der Katholizismus erschien den Republikanern schlicht und einfach als eine Bedrohung für das Zusammenleben und die Entwicklung fortschrittlicher Konzepte, etwa im Schulwesen, im Sinne einer Schulpflicht für alle…Heute tun manche katholischen Kommentatoren noch so, als seien die französischen Republikaner und nur sie allein, weil antiklerikal und angeblich auch atheistisch, diese üblen Bösewichte gewesen, nur sie wollten dem frommen Volk den Glauben nehmen.Die extremen Schattenseiten der Kirche werden dabei übersehen! Radikale Positionen unter den Republikanern hat es am Ende des 19.Jahrhunderts tatsächlich gegeben. Man denke an den angesehenen Wissenschaftler (Physiologen) und radikal antiklerikalen Politiker Paul Bert und an Emile Combes oder die damals breite Bewegung der „Freidenker“. Aber diese antikirchlichen Positionen haben sich sogar nach den Gesetzen von 1905 nicht durchgesetzt. Man denke nur an die Beiträge des Politikers Aristide Briand: Sein berühmter und gültiger Ausspruch ist: „Der Staat ist nicht antireligiös, er ist a-religiös“. Oder früher noch an den katholischen Philosophen und Sozialisten Jean Jaurès.
7.
Geblieben aber ist bis heute der immer wieder besprochene Eindruck, es gebe noch „zwei Frankreich“. Von einem „guerre des deux France“, einem „Krieg der zwei Frankreich“, spricht etwa der bekannte Forscher der laicité und bekennende Protestant Prof. Jean Baubérot. Es gibt also auch heute noch die republikanisch und entschieden demokratischen gesinnten Franzosen als die überwiegende Mehrheit. Und noch einige, z.T. finanziell starke Kreise, die antirepublikanisch und/oder monarchistisch gesinnt sind, zu denen u.a. auch die Anhänger des katholischen Traditionalismus zählen, der in frommer Treue zu dem erzreaktionären Erzbischof Marcel Lefèbvre immer noch eine starke Bedeutung hat.
Freilich gibt es auch „noch nicht ganz traditionalistische“, aber extrem konservative Kreise, die politisch gegen die Republik mobilisieren, etwa im Fall der „Ehe für alle“ Massen-Demonstrationen organisieren oder gegen die Gesetzgebung zugunsten des gesetzlich geregelten Schwangerschaftsabbruchs protestierten. In diesen Kreisen wurde auch eine „Christlich-demokratische Partei“ gegründet. Und etliche große Klöster, vor allem auch einige bekannte extrem konservative Bischöfe wie Dominique Rey von Fréjus-Toulon oder Marc Aillet von Bayonne, sind nicht gerade dafür bekannt, die französische Republik als eine „laique Republik“ zu unterstützen, um es milde zu sagen. Der französische Katholizismus hat sich immer einen stark konservativen, sehr päpstlichen „heißen“ Kern bewahrt, wenn er auch dialektisch auf der anderen Seite einige hoch interessante eher linke Projekte kannte, wie etwa die Arbeiterpriester oder „Basisgemeinden“, beide sind aber inzwischen fast untergegangen oder „untergegangen worden“ wegen autoritärer bischöflicher Zurückweisung. Dass der einzige wirklich theologisch progressive Bischof, Jacques Gaillot, 1994 abgesetzt wurde, kann hier nur erwähnt werden, an anderer Stelle habe ich über Bischof Jacques Gaillots Degradierung durch Papst Johannes Paul II. und die anderen Bischöfe berichtet.
Nebenbei: Im Pétain Regime unter der deutschen Besatzung siegte noch einmal das antidemokratische und katholisch-reaktionäre Frankreich.
8.
Das Gesetz der Trennung von Kirche und Staat aus dem Jahr 1905 ist also der Startpunkt einer Entwicklung der laicité, die sich dann im Laufe der Jahre immer weiter neu definierte und entwickelte. Und dies wird leider von den heutigen Kritikern der französischen laicité bewusst oder unbewusst übersehen: Im Laufe der Jahre hat die katholische Kirche viele gesetzliche Zusagen erkämpft und auch erhalten, durch die das kirchliche Leben in der Gesellschaft weiter ausgebaut werden konnte. Man könnte also sagen: Bisher hat die katholische Kirche Frankreichs seit 1905, zumal von den Päpsten dann unterstützt und vom Konkordat von 1921 abgesichert, rein rechtlich betrachtet eher eine positive Entwicklung genommen.
Voller Hochachtung sahen die national gesinnten Franzosen auf den Beitrag der Kleriker im Ersten Weltkrieg: Sehr viele Priester und Ordensleute kämpften an der Front (gegen die ebenfalls christlichen Deutschen). 4. 800 Kleriker (!) und 378 Nonnen haben „fürs Vaterland“ ihr Leben gelassen ( https://fr.geneawiki.com/index.php/Guerre_1914-1918_~_Le_Clerg%C3%A9_et_les_Congr%C3%A9gations_dans_la_Grande_Guerre#Statistiques). So viel nationaler Opfergeist gefiel dann selbst den eingefleischten Antiklerikalen…und führte zu einer gewissen Hochätzung der Kirche.
9.
Die Beispiele für die Entwickl ung der laicité sind sehr zahlreich, nur einige werden hier genannt: Katholische Privatschulen entwickelten sich seit 1960 rasant, auch dank der Zuschüsse vom Staat und der vor allem von wohlhabenden Familien unterstützten Schulen. Sie sehen auch heute in den katholischen Privat – Schulen mit SchplerInnen nur „aus gutem Hause“ eine Form der Behütung der Kinder vor den Problemen der Gesellschaft.
Heute besuchen etwa 2 Millionen Schülerinnen und Schüler katholische Privatschulen in Frankreich. Es gibt zudem 5 katholische (ziemlich teure) Privatuniversitäten. Ein gutes Beispiel für eine die Gleichberechtigung der Religionen fördernde laicité ist die Gestaltung religiöser Sendungen im staatlichen 2. Fernseh – Programm: Da beginnt das religiöse Programm an jedem Sonntag morgen um 8.45 mit einer Sendung der Buddhisten Frankreichs, danach folgen die orientalischen Christen, dann die Muslime, die Juden und die Protestanten sowie mit der längsten Sendezeit die Katholiken, die immer um 11 Uhr eine Messe life übertragen. Diese Programme werden in eigener Verantwortung der Religionsgemeinschaften realisiert. Darüber hinaus gibt es von Fall zu Fall auch objektive, aus journalistischer, unabhängiger Sicht realisierte Beiträge zum Zustand der Religionen. Auch das Kulturradio „France Culture“ hat sein eigenes religiöses Programm am Sonntagmorgen, sogar die Freidenker, die Freimaurer und die Gemeinschaft der Rationalisten haben da ihr Programm, das sie selbständig gestalten. Die Militärseelsorge müsste erwähnt werden mit 147 katholischen Geistlichen in einem eigenen Bistum, auch die anderen Religionen, auch die Muslime, habe ihre Militärseelsorger. Die heute recht lesenswerte und aufgeschlossene katholische Tageszeitung „La Croix“ (der Atheist Alfred Grosser war Jahre lang ein Kommentator dort) mit einer Auflage von ca. 100.000 Exemplaren erhält – wie andere Tageszeitungen auch – Unterstützung vom Staat, zur Zeit etwa 4, 4 Millionen Euro pro Jahr.
10.
Problematisch empfinden es viele, dass in den staatlichen Schulen kein Religionsunterricht erteilt wird. Der Staat versucht seit Jahren, überkonfessionelle Religionskunde anzubieten, über die „religiösen Tatsachen“, wie es heißt. Aber es fehlt noch an qualifizierten Lehrern. So erreicht dieses Angebot bisher nur eine Minderheit. Die katholische Kirche hat als eine Art ergänzenden Unterricht den konfessionellen Religionsunterricht am Nachmittag in den Gemeindehäusern eingerichtet, aber angesichts der zunehmenden Belastungen in den Schulen nehmen nur wenige Schüler dieses Angebot wahr.
11.
An üppige Gehälter, wie sie die Bischöfe in Deutschland erhalten, können französische Bischöfe freilich nicht denken: Bischöfe wie alle Priester erhalten – aufgrund von Spenden der Gläubigen – ein Gehalt, das dem offiziellen Mindestlohn entspricht, also etwa 1.500 Euro monatlich. Das ist auch das Gehalt des Pariser Erzbischofs. Zum Vergleich: Die Erzbischöfe von Köln oder München haben ein Gehalt von mehr als 10.000 Euro monatlich. Viele französische Priester sagen, dass sie mit dieser finanziellen Ausstattung zufrieden sind.
12.
Die katholische Kirche aber deutet die Republik manchmal doch noch als „übelwollend“ der Kirche gegenüber. So zeigt die Kirche oft noch ihr kämpferisches Gesicht.
Aktuell (im November 2020) gibt es wieder Konflikte zwischen der katholischen Kirche und dem Staat. Bei den aktuellen Auseinandersetzungen um die Einschränkungen wegen „Corona“ protestieren die Bischöfe gegen die Bestimmungen des Staates, in Zeiten des lock down nur 30 Teilnehmer an den Messen zuzulassen. Man braucht nicht viel Phantasie, dass sich auch in dieser Frage die Kirchenführung gegenüber dem Staat durchsetzt, zumal Papst Franziskus explizit auch die laicité kritisiert hat! Der Drang, die Gesellschaft und den Staat „moralisch“ zu beherrschen, ist in der Kirche immer noch lebendig.
Tatsächlich hat sich also der „conseil d Etat“, der Staatsrat, also eine Art oberstes Verwaltungsgericht, Ende November zugunsten der bischöflichen Forderungen ausgesprochen und die Regierung aufgefordert, viel mehr als nur 30 Personen in den Messen zuzulassen. Der Staatsrat hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese großzügige Haltung des Staates der Kirche gegenüber (und sicher dann im Gefolge auch allen anderen Religionen gegenüber) nicht verglichen werden kann mit Teilnahmebeschränkungen in Kinos, Theater usw. Ob dadurch die Beziehungen zwischen Kirche und Kultur zum Guten befördert werden, ist die Frage.
In Versailles jedenfalls, einem der Zentren des konservativen Katholizismus, fanden dann auch Ende November viele Messen statt mit mehr als hundert Teilnehmern, freilich, so wird betont, unter Beachtung der Hygiene – Regeln. Dass im Osten Frankreichs (Mulhouse) die ersten großen Corona-Ausbrüche nach Massen – Gottesdiensten evangelikaler Charismatiker stattfanden, scheint vergessen zu sein.
Alles Jammern katholischer Kreise, auch außerhalb Frankreichs, über die Schwäche der Kirche in der laicité in Frankreich ist in meiner Sicht also verlogen. Dass immer weniger Franzosen sich heute (etwa 50 Prozent, darunter die meisten ältere Leute) zum Katholizismus bekennen, hängt mit der dogmatischen Unbeweglichkeit der Kirchenführung zusammen. Eine Kirche, die nur zölibatäre Männer als Leiter von Eucharistiefeiern gelten lässt, gräbt sich förmlich ihr eigene Grab: Der Klerus in Frankreich ist im Greisenalter, und viele der wenigen Jüngeren Priester sind theologisch nicht gerade die muntersten. Es gibt Bistümer, wie Sens – Auxerre, wo nur noch 14 Priester laut offizieller Statistik, „jünger als 75 Jahre“ sind. Und diese „Jüngeren“ stammen meist aus Polen oder Afrika…
13.
Noch einmal: Die Sache war ab 1905 klar: Frankreich ist kein konfessionell geprägter Staat mehr. Keine Konfession ist Staatsreligion, wie einst im ancien régime. Die Republik ist religiös und weltanschaulich neutral, und gerade dadurch ermöglicht sie es, den verschiedenen Religionen in einem toleranten Miteinander in der Gesellschaft zu leben. Die französische Republik spricht von Gott, weil sie als Republik schlicht und einfach nichts von Gott wissen kann. Die Republik ist also wirklich gott-los, aber diese Haltung ermöglicht gerade den unterschiedlichen Religionen mit ihrem unterschiedlichem Gottes-Begriff ein Leben in Freiheit. Der gottlose Staat ist kein atheistischer Staat, wie es etwa die Sowjetunion unter Stalin war, die Französische Republik sieht in ihrer eigenen Gott-losigkeit gerade die Ermöglichung des pluralen religiösen Lebens. Wie ein Staat aussieht, der selbst einem konfessionell bestimmten Gott verpflichtet ist, sah man etwa in der verbrecherischen Diktatur des katholischen Staatschefs Franco oder des ultra – brutalen katholischen Diktators Trujillo in der Dominikanischen Republik oder in der Gegenwart etwa in Saudi-Arabien usw. Man möchte also mit vielen Theologen sagen: Gott sein Dank ist die Französische Republik gott – los, aber nicht atheistisch, um es noch mal zu sagen!
Und, nebenbei, wenn sich das Grundgesetz der Bunderepublik Deutschland in seiner Präambel auf „Gott“ bezieht, so ist damit bekanntlich nicht der trinitarische Gott der christlichen Dogmen und Kirchen gemeint. Sondern das Wort Gott wird hier als eine Art transzendentes Symbol verwendet, um den Menschen einzuschärfen: Es gibt eine Begrenztheit staatlicher und damit menschlicher Gewalt! Der Staat und seine Gesetze sind nichts Absolutes. Der Staat darf niemals sich selbst zu etwas Göttlichem erheben und erklären! (siehe dazu die wichtigen Ausführungen des Rechtsphilosophen Horst Dreier in seinem Buch „Staat ohne Gott“, München, 2018, S. 183 f.)
14.
Mit dem Islam tut sich der Staat seit Jahren schwer. Die Republik, der eigentlich nicht in die inneren Angelegenheiten irgendeiner Religionsgemeinschaft eingreifen darf, hat immerhin vor einigen Jahren schon selbst die Initiative ergriffen, die verschiedenen muslimischen Vereine unter einem gemeinsamen Dach zu vereinen. Diese Form staatlicher aktiver Religionspolitik diente dem Zweck, eine zentrale islamische Organisation als Ansprechpartner zu schaffen. Die verschiedenen Vereine der Muslime waren dazu nicht in der Lage. Genaue Zahlen über Muslime in Frankreich liegen nicht vor. Religionsstatistiken zu führen, verbietet das Gesetz der Trennung von Kirchen und Staat. Man schätzt, dass sich etwa 5 Millionen Menschen zum Islam bekennen. Sie werden von ca. 1.200 Imamen betreut, die meist aus arabischen Ländern stammen, ihnen stehen insgesamt 2.000 Gebetshäuser zur Verfügung, manchmal gibt es in größeren Städten ansehnliche repräsentative Moscheen, deren Bau seitens der übrigen Bevölkerung immer hoch umstritten war. Oder es sind meist nur schlichte Säle und einfache Räumlichkeiten. Die neuen Prinzipien der Republik, über die man im Februar 2021 diskutieren will, sollen dafür sorgen, dass Muslime besser gebildet werden, von Imamen, die alle in Frankreich ausgebildet werden, und in Moscheen predigen, die nicht von arabischen Regimen finanziert werden usw. Vor allem gilt es, den rechtlichen Status der islamischen Gemeinden zu verändern: Der Status soll, wie bei den Kirchen, als „association cultuelle“ nach den Gesetzen von 1905 gestaltet sein.
15.
Tatsache also ist, dass Staatspräsident Macron fest entschlossen ist, die muslimischen Vereine stärker zu kontrollieren, Aufrufe zu Hass und Terrror sollen schnell stärker bestraft werden… ein islamistischer Verein mit dem Titel „Barakacity“ wurde bereits aufgelöst.
Es darf aber bezweifelt werden, ob diese Maßnahmen der Politik allein hilfreich sind, „den Islam“ in die französische Republik stärker zu integrieren, um dann sozusagen einen französischen Islam zu schaffen, von dem durchaus auch einige liberale Imame in Frankreich sprechen…
Wenig hilfreich ist die unterschwellig auch in staatlichen Behörden spürbare Meinung: Der Islam und damit die Muslime seien im allgemeinen verdächtig, sie seien eher als andere polizeilich zu überprüfen, sie seien also a priori keine zuverlässigen Menschen. Solch eine Politik hinterlässt tiefe Verletzungen bei den Menschen. Die zerrissene Gesellschaft wird auf diese Weise nicht geheilt. Die Französische Republik hat große demokratische Ideale. Sie werden leider nicht für alle Bewohner und Mitbürger (denn sehr viele Muslime sind französische Staatsbürger!) angewendet. Die Krise westlicher Demokratien wird nur überwunden werden können, wenn die leitenden Prinzipien dieser Demokratien wirklich praktisch gelebt werden. Gerade im Blick auf die Schwachen, die Armgemachten, die Flüchtlinge, die Frauen usw. müssen Politiker darauf verzichten, bloß Sprüche zu machen oder an ihre nächste „Wiederwahl“ zu denken. Laicité ist eigentlich ein Bekenntnis. Und ein Bekenntnis hat nur Sinn, wenn es gelebt wird … auch von den Politikern und Bürokraten.

Copyright: Christian Modehn. www.religionsphilosophischer-salon.de

Friedrich Engels – der Verteidiger des Proletariats. Ein Philosoph, der nur ein verdorbenes Christentum kennenlernte: Friedrich Engels

Ein Hinweis von Christian Modehn

Friedrich Engels, der als “reicher Jüngling” begann, wurde durch die Vernunft, durch philosophische Reflexionen, durch Freundschaft (mit Karl Marx), durch Mitleiden und Empörung angesichts des himmelschreienden Elends (in England) zu einem die Welt-bewegenden Menschen. Aber im 20. Jahrhundert wurde sein Denken missbraucht in den realsozialistischen Regimen.

1.
Der Religionsphilosophische Salon Berlin kann den 200. Geburtstag von Friedrich Engels am 27. November 2020 nicht übersehen (Engels hat Marx überlebt, er ist am 5. August 1895 in London gestorben).
Zu unserem Focus „Philosophie der Religion“ sollen hier einige Stichworte genannt werden. Dabei wird heute von Engels – Forschern immer deutlicher betont: Die eigene intellektuelle, philosophische Leistung Friedrich Engels darf überhaupt nicht zugunsten von Karl Marx heruntergespielt werden. Nur im Zusammenhang mit Engels kann also von einer „marxistischen Philosophie“ gesprochen werden. Dabei bleiben die wichtigen, auch philosophischen Beiträge Friedrich Engels, zumal nach dem Tod von Karl Marx (1883), hier weithin unberücksichtigt.

2. Das fromme Elternhaus und die pietistischen Pastoren

In Wuppertal -Barmen wuchs Friedrich Engels in einer frommen pietistischen Unternehmer – Familie auf. Sie gehörte der calvinistisch – reformierten Tradition an, die Mutter hatte einen niederländischen Hintergrund. Ohne diese tiefe Bindung des jungen Engels an diese pietistischen Kirchen-Praxis ist dessen spätere Kritik an der christlichen Religion und den Kirchen nicht zu verstehen. Andererseits hat die frühe Kenntnis der Lehren der Urkirche, etwa in den Evangelien, durchaus bleibende Spuren bei Engels hinterlassen, nur so wird das ethische und politische Engagement Engels für das Proletariat verständlich.
Wuppertal – Barmen: Diese Stadt war also ein Zentrum extrem frommer Gemeinden und entsprechender Prediger, wie Friedrich Wilhelm Krummacher, den der junge Engels kannte, er schreibt: „Da heißt es: Der und der liest Romane, aber der Pastor Krummacher hat gesagt: Romanenbücher seien gottlose Bücher. Da werden komplette Ketzergerichte gehalten. Da wird der Wandel eines Jeden, der diese nicht besucht, recensiert. Jemand ist vorgestern im Concert gesehen worden – und sie schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Und was sind das für Leute, die so reden? Unwissendes Volk, die kaum wissen, ob die Bibel chinesisch oder hebräisch geschrieben. Ich habe eine rasende Wut auf diese Wirtschaft, ich will mit dem Pietismus und dem Buchstabenglauben kämpfen, solange ich kann.“ (Quelle: Deutschlandfunk vom 13.5.2013, Beitrag von Manuel Gogos).
Als Friedrich Engels in Bremen weitere pietistische Pfarrer kennenlernt, schreibt er: „Ich begreife nicht, wie die orthodoxen Prediger so orthodox sein können, da sich doch offenbare Widersprüche in der Bibel finden. Worauf gründet sich die alte Orthodoxie? Auf Nichts, als auf – den Schlendrian. Wo fordert die Bibel wörtlichen Glauben an ihre Lehre? Das ist ein Tödten des Göttlichen im Menschen, um es durch den todten Buchstaben zu ersetzen.“(ebd.)

3. Die Kirche in England in der Kritik

Vor der wichtigen Publikation „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845) hatte Engels im Jahr 1844 Beiträge für die Zeitung „Vorwärts“ verfasst über „Die Lage Englands“. Darin spricht Engels auch über die Bedeutung bzw. die schwindende Relevanz der englischen Staatskirche, die ja ihre armen und ausgehungerten Untertanen zum Sonntagsgottesdienst gezwungen hatte. Engels erinnert etwa an das Gesetz, „dass jeder, der sonntags ohne gehörige Entschuldigung aus der Kirche bleibt (also nicht am Gottesdienst teilnimmt, CM) mit Geldstrafe und respektive Gefängnis dazu anzuhalten ist… Selbst hier im zivilisierten Lancashire, ein paar Stunden von Manchester, gibt es einige bigotte Friedensrichter, die eine Menge Leute wegen unterlassenen Kirchenbesuchs zu mitunter sechswöchentlichem Gefängnis verurteilten“. Aber Engels sieht genau, dass diese rigiden Religionsgesetze auch im Falle von Gotteslästerung allmählich „veralten“, wie er sagt, während nur die christlichen Gruppen noch an den Gesetzen festhalten, „damit das Damoklesschwert der christlichen Gesetzgebung wenigstens über dem Haupt der Ungläubigen schweben bleibe und vielleicht als Drohung und Abschreckung fortwirke.“ (Quelle. http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_569.htm)

Theologisch ist es klar: Diese verrückten autoritären Verhältnisse in der rigiden Staatskirche erzeugen erst die religiöse Distanz, verursachen also den Atheismus der Arbeiterklasse. Das gilt sicher nicht nur für England, sondern überall, wo Arbeiter in der Profit-Gier-Wirtschaft als „Sachen“ behandelt wurden und werden.
Um den moralischen, politischen und sozialen Verfall in England zu begreifen, der die Armen zur Teilnahme am Gottesdienst zwang, lese man einige Passagen des Buches „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“: „Mir ist nie eine so tief demoralisierte, eine so unheilbar durch den Eigennutz verderbte, innerlich zerfressene und für allen Fortschritt unfähig gemachte Klasse vorgekommen wie die englische Bourgeoisie. […] Für sie existiert nichts in der Welt, was nicht nur um des Geldes willen da wäre, sie selbst nicht ausgenommen, denn sie lebt für nichts, als um Geld zu verdienen, sie kennt keine Seligkeit als die des schnellen Erwerbs, keinen Schmerz außer dem Geldverlieren. […] Und wenn der Arbeiter sich nicht in diese Abstraktion hineinzwängen lassen will, […] wenn er sich einfallen läßt zu glauben, er brauche sich nicht […] als Ware im Markte kaufen und verkaufen zu lassen, so steht dem Bourgeois der Verstand still. Er kann nicht begreifen, daß er mit den Arbeitern noch in einem anderen Verhältnis steht als in dem des Kaufs und Verkaufs, […] er erkennt keine andere Verbindung zwischen Mensch und Mensch an, als die bare Zahlung.“

4. Engels und das Urchristentum

1883 und noch einmal 1894 befasst sich Engels mit der Geschichte des Urchristentums. Die frühe Kirche und die Texte des Neuen Testaments interessieren ihn wieder, aber unter ganz anderen Bedingungen als zu seiner Jugendzeit in Wuppertal – Barmen. Nun sieht Engels, dass es zwischen der Geschichte des Urchristentums und der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts viele Verbindungen gibt. Das Urchristentum ist „im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter: Es trat zuerst auf als eine Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen […]. Beide, Urchristen und Arbeiter, werden verfolgt und gehetzt, ihre Anhänger geächtet, unter Ausnahmegesetze gestellt.“ In einem eigenen Beitrag befasste sich Engels im Juli 1883 mit dem neutestamentlichen Buch der Offenbarung des Johannes (die sogen. Apokalypse). Dabei fällt auf, wie stark Engels die damals entstehende historisch-kritische Bibelforschung kennt und respektiert. Indem Engels das Urchristentum als eine tendenziell revolutions – bereite Bewegung verstand, wurden Perspektiven eröffnet für ein aktuelles Christentum, das mehr ist als eine Ideologie der Bourgeoisie.

5. „Das Zeitalter des heiligen Geistes“

Bemerkenswert ist auch das frühe Interesse Friedrich Engels an der Geschichtstheologie des mittelalterlichen Theologen und Abtes Joachim von Fiore: Für dessen Spekulationen hatte Engels Sympathien (im Jahr 1842), auch er meinte, es könnte eine dritte, vom heiligen Geist allein geleitete Epoche anbrechen, nach den Epochen des „himmlischen Vaters“ und des „Sohnes“… „Das ist unser Beruf“, schrieb Engels, „dass wir dieses Grals Tempeleisen werden, für ihn das Schwert um die Lenden gürten und unser Leben förmlich einsetzen in den letzten heiligen Krieg, dem das tausendjährige Reich der Freiheit folgen wird“ (zit. in Wolfgang Eßbach, „Religionssoziologie I“, Paderborn 2014, S. 619).

6. „Das ökonomische Moment ist nicht das einzig bestimmende…“

Noch etwas, das mir wichtig erscheint: In einem Brief an Joseph Bloch vom 21.9.1890 teilt Engels eine interessante grundlegende Nuance mit im Verstehen dessen, was “man“ bis heute gewöhnlich in der dogmatischen Marx-Engels-Interpretation der sogenannten sozialistischen Staaten verbreitet hat. Joseph Bloch war Redakteur der „Sozialistischen Monatshefte“ in Berlin. Engels wollte in dem Brief zeigen, so der Kulturszoziologe Prof. Wolfgang Eßbach, dass sich nach dem Tod von Karl Marx Verkürzungen der Marxschen Theorie in der deutschen Arbeiterbewegung und somit auch in der Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Opponenten festgesetzt hatten. Diese Verkürzungen wollte Engels „korrigieren“ (ebd. S. 722). Zum Engels – Text selbst: http://library.fes.de/sozmon/pdf/1895/1895_19.pdf .
In dem hoch interessanten Brief schreibt Engels u.a.: „Die ökono¬mische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form…“

7. Das unchristliche Christentum

Die Erinnerung an Friedrich Engels anlässlich seines 200. Geburtstages führen zu einem Menschen, der sich christlich nennende Gesellschaften und einen sich christlich nennende Staaten erlebt, wahrnahm und analysierte. Dieses Christentum bewies in der Praxis nicht die geringste Spur von Menschlichkeit gegenüber den Armen und Unterdrückten, der absoluten Mehrheit der Menschen. Engels wurde auch durch philosophische Reflexionen zu einem Atheisten. Aber der Gott, den er zurecht seit der Jugend ablehnte, hatte mit dem Gottesbild Jesu und dem zentralen Gebot der Nächsten-Liebe nichts zu tun. Insofern ist der Atheismus von Engels auch kirchlich bedingt: Kirchlich verursachter Atheismus – das ist ein Thema, das der Religionsphilosophische Salon schon häufig debattiert hat – auch aus aktuellem Anlass.
Dabei wird nicht geleugnet, dass es auch zu Zeiten von Engels vereinzelt Pastoren, Theologen, kirchliche Gemeinschaften gab, die den Armen Beistand und Hilfe leisteten. Aber sie waren – was ja zunächst nicht zu verachten ist – nur fürsorglich – diakonisch tätig. Sie hatten keinen Mut, keine kritische Intelligenz, die Gesellschaft, auch die Ökonomie, zu untersuchen, die diese elenden Verhältnisse erzeugt. Die Kirchen und ihre Kirchenleitungen waren Teil der herrschenden Oberschicht, die jede kritische Gesellschaftsanalyse unterdrückte und Parteien verfolgte, die die Armen und die Arbeiter organisierten.

8.Ausblick
Der Politologe und Autor Prof. Michael Krätke über Friedrich Engels: „Engels erfand den Marxismus und war doch kein richtiger Marxist. Er war ebenso gut ein Revisionist und damit in guter Gesellschaft“.

Siehe auch die interessante website aus Wuppertal: Engels2000-hotline (LINK: https://www.wuppertal.de/microsite/engels2020/index.php)

Copyright: Christian Modehn. www.religionsphilosophischer-salon.de

Paul Celan: Vor 100 Jahren geboren – lebendig als Zeuge des Grauens

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Hoffentlich nicht nur am 23. November 2020, seinem Geburtstag vor 100 Jahren, erinnern sich nachdenkliche Menschen an Paul Celan. Über sein Leben und Leiden kann man sich anderswo informieren. Schon anlässlich der Erinnerung (am 20.4.2020) an seinen Todestag vor 50 Jahren sind etliche neue Studien erschienen. Jetzt auch: Die Gesamtausgabe seiner Gedichte , kommentiert! Erschienen bei Suhrkamp, 1262 Seiten für nur 34 €.
Celans Gedichte erschließen sich bekanntlich nicht der schnellen Lektüre. Sie sind nicht nur schwierig, sie müssen von der „Sache her“ schwierig sein. Denn die Welt des Grauens, die Welt des systematischen Tötens in den KZs, den Lagern der mordenden Deutschen, der Nazis, ist zwar – im politisch -ideologischen Zusammenhang zu verstehen. Denn nur wer dieses Grauen versteht, kann für die Zukunft neues Grauen verhindern. Aber Paul Celan zeigt: Nur in höchster Konzentration des Geistes, also mit der Entschiedenheit, der Opfer, der Juden, vorbehaltloses zu gedenken, gelingt der Versuch auch eines umfassenden, auch poetischen, d.h. von Empathie geprägten Verstehens.
2.
Gedenken heißt darum die Haltung, mit der alles Sich-Mühen mit den Gedichten Celans beginnt, und diese Haltung begleitet auch alles immer wieder neu versuchte Verstehen . Gedenken! Celan ist ein Zeuge dafür, dass es niemals eine damnatio memoriae (wie man im „alten Rom sagte) geben darf. Also eine öffentliche wie private „Verdammung und Auslöschung des Gedächtnisses und der Erinnerung“. So wurden von Politikern, die nichts mehr galten und gelten sollten, alle Statuen zerstört, alle Bilder vernichtet.
3.
Es darf niemals geschehen, dass politisch und geistig Verirrte in der Politik eine damnatio memoriae durchsetzen: Die also darauf drängen, den Holocaust bzw. die shoa, sollte als ein banales Ereignis abgetan werden, wie dies führende Politiker der AFD und anderer rechtsextremen Gruppen heute propagieren. Dieser massive Versuch einer damnatio memoriae der Juden findet also, wie alle wissen, in den letzten Jahren verstärkt statt. Die Schändungen von jüdischen Friedhöfen bis hin zu antisemitisch motiviertem Mord sind Versuche, eine Auslöschung der Erinnerung an Juden zu betreiben. Diesen totalen Anspruch verfolgte die NSDAP. Paul Celan (und sein Werk) ist ein Zeuge dafür, dass niemals die Erinnerung an das Grauen ausgelöscht werden darf.
4.
Es ist das Wort und die Tat des „Ein-gedenkens“, das gut die Haltung Celans trifft, wenn es um seine eindringliche Gestalt der Erinnerung geht: Es ist das Wort und die Handlung des Ein-gedenkens. Es zielt darauf, das Erinnerte im eigenen Geist zu bewahren, es dort aufzuheben, weil das Erinnerte eben nichts Objekthaft – Neutrales ist. Sondern weil es um Menschen geht, weil es also Erinnerte sind, Menschen, in deren Sein man förmlich im Erinnern ein-tritt. Das Eingedenken als der intensiven Form des Gedenkens ist viel mehr als das Andenken, das oberflächlich bleibt, weil es förmlich nur das Äußere berührt. Wer das Eingedenken übt und lebt, der holt die Vergangenheit (der Opfer z.B.) in seine Gegenwart.
5.
Das lebendige Eingedenken ist sozusagen eine Steigerung des Gedenkens, das oft gerade an „Gedenktagen“ einen bloß äußerlichen, pflichtgemäßen Charakter hat, ohne tiefere Wirkung. Wie viele Gedenktage anlässlich eines Kriegsendes wurden schon veranstaltet mit Sonntagsreden und wie wenig wurden Kriege verhindert durch diese Gedenktage und Gedenkreden. Wer das Eingedenken vollzieht, verbindet sich geistig und seelisch und politisch mit denen, derer man gedenkt. Sie treten ein in die eigene innere Welt. Sie werden „eins“ mit mir. So können sie „wirken“.
6.
Zum Wort „Eingedenken“: Der Philosoph Walter Benjamin (1892 – 1940) hat bekanntlich umfassend vom Eingedenken geschrieben, Paul Celan kannte ihn wohl nicht persönlich. Aber auch Celan, das sei noch einmal betont, lebte in dem Gedanken, dem Eingedenken – durch das poetische Werk – einen Raum und einen Platz zu geben.
7.
Nebenbei: Es wäre reizvoll, zumal für ein freies und spontanes Philosophieren inmitten der deutschen Sprache, Verben mit der Vorsilbe EIN auf deren tiefere Bedeutung zu untersuchen. Das muss ja nicht gleich zu sprachphilosophischem Meinen im Sinne Heideggers führen. Man denke also etwa an EIN-führen, EIN-lassen, EIN-Sehen, auch das: EIN-Schreiben, immer wird durch die Vorsilbe EIN eine Intensivierung des Ausgangsverbs erreicht.
8.
Zum Schluss:
In dem Gedichtband “ATEMWENDE” von 1967 spricht Celan ganz am Ende des Bandes von der rettenden Macht der Hoffnung, von Gott?:

EINMAL,
da hörte ich,
da wusch er die Welt,
ungesehn, nachtlang,
wirklich.

Eins und Unendlich,
vernichtet,
ichten.

Licht war. Rettung.

PS: Das merkwürdig erscheinende Wort „Ichten“ ist mittelalterliche Sprache, es hat wohl die Bedeutung: „wurde es zu etwas gemacht“. Es wurde also etwas vernichtet. So dass Licht war und Rettung.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Welttag der Philosophie 2020: Welche praktische Bedeutung hat Philosophie heute?

Hinweise von Christian Modehn.

Dieser Beitrag wurde von mir vorbereitet als Grundlage für ein Gespräch in unserem religionsphilosophischen Salon am 21.11.2020, dem Welttag der Philosophie. Nun geht das nicht … wegen Corona. Aber vielleicht hat der eine oder die andere doch noch etwas Lust und vor allem Zeit, selbst, in der Einsamkeit des Nachdenkens, oder im Dialog in kleinstem Kreis, sich auf den Weg des Philosophierens zum Thema zu begeben: Was vermag Philosophie eigentlich heute.

1.
Müssen Philosophen – wieder einmal – beweisen, dass Philosophie heute not—wendig und hilfreich ist für die Gestaltung des individuellen Lebens wie für das Miteinander in Gesellschaften und Staaten? Ja, Philosophen müssen mit allem Nachdruck daran erinnern, dass das systematische und umfassend kritische und selbstkritische Denken (das ist Philosophie) auch heute unverzichtbar ist. Wer bitte schön, soll denn diese Fragen beantworten, etwa Geographen, Mathematiker, Ägyptologen oder Architekten? Also lebenswichtige Fragen wie zum Beispiel: Was ist Gerechtigkeit und wie sollte eine menschenwürdige gerechte Gesellschaft aussehen? Was ist der Maßstab, um etwa einen dem Anschein nach demokratischen Politiker als Diktator zu bezeichnen und ihn möglicherweise als Gefahr für die Menschheit in Pension zu schicken? Wer soll überleben in dem Fall, dass die hilfreichen Medikamente (auch Impfstoffe) für alle Betroffenen nicht reichen? Wer kann mir Wege zeigen, in meinem Leben einen Sinngrund zu entdecken, der das Überleben, geistig wie leiblich, ermöglicht? Ist der Mensch in seinem konkreten Dasein wirklich nur ein Resultat von allerlei Genen oder gibt es auch eine Freiheit des Geistes und des Denkens… Das sind Themen, mit denen sich vorrangig Philosophen befassen sollten und befassen müssen, selbst wenn es durchaus in allen (natur-)wissenschaftlichen Fachgebieten Menschen und speziell Forscher gibt, die über ihren nun einmal begrenzten Fachhorizont (diese fachliche Begrenzung muss ja um der Effektivität willen sein, Begrenzung ist also kein Vorwurf) hinausdenken und damit in den Bereich umfassend philosophischen, umfassend kritischen und selbstkritischen Denkens hinein gelangen.
Philosophie ist also über das spezielle „Fach“ hinausgehend eigentlich und wesentlich „Sache aller Menschen“. Nur: Einige betreiben das Philosophieren dauernd und systematisch forschend, andere, und das sind die meisten, philosophieren explizit gelegentlich, haben Einsichten, die sie im Alltagsgeschäft wieder vergessen.
2.
Damit wird schon Wichtiges angesprochen, wenn es um ein angemessenes Verstehen geht, was denn Philosophie ist. Dazu nur einige Hinweise. Sie werden publiziert anlässlich des „Welttages der Philosophie“ (am 21.11.2020), einer Initiative der UNESCO. Auch der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ hatte deswegen in früheren Jahren eigene größere Veranstaltungen gestaltet.
Was also ist Philosophie? Darauf gibt es zahllose Antworten. Einige Elemente einer Beschreibung ihres Wesens scheinen mir gültig zu sein. Denn nicht alles, was behauptet, Philosophie zu sein, verdient diesen Namen. Man denke daran, dass jede Ideologie einer großen Firma sich „Philosophie“ nennt; da ist es fast schon erträglich, wenn Fitness – Studios die eigenen Trainingskonzepte oder Wohlfühlatmosphären als „Philosophie“ bezeichnen.
3.
Angesichts der aktuellen Beliebigkeit im Umgang mit der Philosophie bzw. den Philosophien, betone ich: Es gibt etwas Normatives, das kann nur etwas Geistiges sein, ohne das Philosophie als solche nicht auskommt. Und ohne Normatives ist kein humanes Leben möglich. Jeder Mensch hat seine Normen, die ihm das eigene Leben ermöglichen. Ob diese Normen immer wirklich umfassend human sind, ist eine andere Frage, die sich nur im philosophischen Disput klären lässt. Da kommt es dann darauf an, dass der einzelne der sich zeigenden Vernunft – Erkenntnis tatsächlich für sein eigenes Leben folgt.
4.
Philosophie beginnt immer und lebt immer in allen Gestalten philosophischen Ausdrucks vom Philosophieren. Philosophieren als Denken und Nach – Denken, als kritisches Fragen und sich selbst befragen, ist der lebendige Vollzug, ohne den es keine Philosophie gibt. Dieses zu betonen, mag banal erscheinen, muss aber angesichts der offensichtlichen Vielfalt der „Philosophie – Begriffe“ gesagt werden. So wie die Praxis des Musizierens, also etwas des ständigen Klavier-Übens und Klavierspielens den Pianisten erst „macht“, so wird man Philosoph durch ständiges Fragen, Nachdenken, Innehalten, Prüfen von Begriffen und allgemeinen Selbstverständlichkeiten. Weil nun aber der Mensch, und zwar jeder Mensch, sich durch Geist und Verstand und Vernunft auszeichnet gegenüber allen Tieren, (deswegen ist der Mensch als durch den Geist ausgezeichnet eben KEIN Tier), ist jeder Mensch grundsätzlich in der Lage, zu philosophieren und möglicherweise Philosoph zu werden.
5.
Die Texte, die den Anspruch haben, philosophische Texte zu sein, sind Ausdruck, „Objektivation“, des Philosophierens bestimmter Menschen, die das Philosophieren zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht haben. Auch Dichtung kann Philosophie sein, philosophische Erkenntnisse offenbare, selbstverständlich auch Kunst und auf andere Art auch Musik.
6.
Die Vielfalt der Einsichten, die philosophische Texte offenbaren, ist keineswegs Ausdruck einer gewissen intellektuellen Schwäche der Philosophie. Die Vielfalt philosophischer Einsichten auch zum gleichen Thema ist notwendig und richtig. Denn die Einsichten sind Ausdruck des Geistes einzelner Menschen oder kleiner Gruppen („philosophische Schulen“). Und zum Wesen des Geistes gehört, dass seine Vollzüge, wie Freiheit, Denken, Handeln, Entscheiden, Gerechtsein, Lieben, Hassen usw. niemals auf eine eindeutige Formel für alle Zeiten gebracht werden. Philosophie kann (und will!) niemals die Eindeutigkeit der Mathematik erzielen, und sie darf auch niemals mathematische Eindeutigkeit als Ideal anstreben. Philosophie als Selbstverständnis des Geistes hat es mit der bleibenden Offenheit des Geistes zu tun. Geist ist immer auch geschichtlich, das wissen wir als Individuen genau: Was man als Kind dachte hinsichtlich des Weltzusammenhangs z.B., kann nicht mehr das sich stets wandelnde Weltverstehen eines Erwachsenen sein. Im Disput, im Dialog, wird Wahrheit erschlossen, selbst wenn sie vorläufig ist und weiterer Dialoge später bedarf. Insofern ist Philosophie eine Art unendlicher Prozess. Und dies ist, noch einmal kein Mangel, sondern Ausdruck der Lebendigkeit des Geistes. Auch die exakten Naturwissenschaftler betonen immer wieder: Alle unsere Erkenntnisse sind letztlich vorläufig.
In der herrschenden Mentalität des Machens und Schaffens und Bewältigens hat das Vorläufige von Erkenntnissen keinen Platz. „Man“ will absolute Sicherheit und befragt Wissenschaftler und Ärzte, was sie für die Zukunft, etwa der Gesundheit, denken, man tut so, als könnten Wissenschaftler und Ärzte das so genau wissen. Wir leben in einer Gesellschaft, die das exakte und sichere Wissen, möglichst für alle Zeiten, zum obersten Gott erklärt hat. Man lebt in totaler Unsicherheit und sucht Sicherheit bei den Wissenschaften…
7.
Dem widerspricht Philosophie selbstverständlich. Sie ist nicht nur vielfältig, weil sie sich mit den grundlegenden Fragen des Lebens reflexiv befasst, wie Denken, Fragen, Glauben, Suchen, Wissen etc. Philosophie ist vielfältig, weil alle ihre Antworten – wie sollte es anders sein – in einer bestimmten historisch – kulturell geprägten Sprache gegeben werden.
8.
Das heißt nun aber nicht, dass es in der Philosophie nur um historisch bedingte „relative“ Einsichten gibt. Der einzelne hat als einzelner immer seine (oft unbewusste) Lebensphilosophie, die er naturgemäß ernst nimmt. Dennoch ist der einzelne eben immer auch Mensch, also ein „allgemeines“ menschliches Wesen, das also von bestimmten wesentlichen menschlichen Merkmalen bestimmt ist. Diese allgemeinen Merkmale muss jeder individuelle einzelne mit berücksichtigen für seine eigene Lebensphilosophie. Insofern gibt es immer nur den „allgemeinen Individuellen“. Die Krise auch unserer Gesellschaft besteht sicher auch darin, dass die vielen einzelnen nicht mehr die wesensmäßige Bindung an das Menschlich – Allgemeine sehen und leben wollen.
9.
So sind die Formulierungen des kategorischen Imperativs durch Kant zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort entstanden, wie sollte es auch anders sein? Aber diese historische Eingebundenheit der Formulierungen des kategorischen Imperativs bedeutet auch: Dieser kategorische Imperativ hat allgemeine und universale Bedeutung für jeden Menschen. Dass er erst gegen Ende des 18, Jahrhunderts formuliert wurde, bedeutet: Die Menschheit brauchte lange Zeit, um zu dieser Deutlichkeit zu kommen. Vorher gab es ja in vielen Kulturen, auch in China (Konfuzius), auch in der Bibel, Formulierungen der „Goldenen Regel“, die in ihrer Schlichtheit der Sprache durchaus einem universalen ethischen Imperativ nahekommen. Der Kategorische Imperativ ist zwar universal gültig als Maßstab des Handelns, das heißt aber nicht, dass er auch von anderen philosophischen Ansätzen kritisiert und ergänzt werden kann. Einige (wenige) philosophische Einsichten sind zwar universal gültig, aber sie nicht im Unterschied etwa zu Glaubensdogmen der römischen Kirche unantastbar und in der Sprachgestalt unwandelbar. Philosophieren und Philosophie ist ein lebendiges, sich selbst entwickelndes Geschehen des Geistes.
10.
Philosophieren bietet also für selbstkritisch nachdenkliche Menschen durchaus Gewissheiten, die inmitten des Daseins und zum Überleben unverzichtbar sind. Der kategorische Imperativ wurde genannt. Hinzu kommt die philosophische Abwehr all derer, die sich als Meister vieler absoluter ideologischer Lehren aufspielen, etwa im religiösen, kirchlichen Bereich oder innerhalb atheistischer Kreise, die sich als atheistische Dogmen aufspielen. Hinzu kommt die Einsicht, dass wir oft in Selbst – Widersprüchen leben, das klassische und einfache Beispiel ist etwa der Satz: „Es ist doch alles relativ“. Oder: „Es gibt keine Wahrheit“ Oder „Alles und alle sind sinnlos“. Für Philosophen haben solche Sprüche keinen Bestand vor der Vernunft. Wer kann auf Dauer in Selbstwidersprüchen leben? Offenbar viele, denn sonst würden sie den Einsichten ihrer Vernunft in ihrer Lebenspraxis entsprechen…
11.
Die Hauptaufgabe der Philosophie heute, in Corona -Zeiten zumal, sind die Fragen der Ethik, darauf weist die UNESCO zum diesjährigen Welttag der Philosophie hin. Und dieser Hinweis ist berechtigt, keine Frage.
12.
Ich meine noch dazu In diesen Zeiten der tiefen Krisen: Corona, Demokratie-Abwehr durch Trump und andere Autokraten; Klimakatastrophen, zunehmende Armut usw., ist eine andere philosophische Frage dringend. Und ich sage philosophische Frage und nicht theologische Frage: Wie können wir im philosophischen Denken einen tragenden Sinngrund unseres Lebens entdecken, sozusagen im transzendierenden Nachdenken, das Hegel das „Grenzen-Überschreiten hin zum Absoluten“ nannte? Wenn diese Frage eine gültige vernünftige Antwort findet, werden auch ethische aktuelle Probleme in ein ganz anderes Licht gestellt. Es wird dann nämlich in der Vernunft eine den Menschen, die Welt, gründende „göttliche“ Vernunft wahrgenommen. Sie kann in Zeiten des massiven Zusammenbruchs des alten kirchlich – dogmatischen Glaubens eine neue Gewissheit im Leben geben, ohne dass dabei der alte Vorwurf des „religiösen Opiums“ wiederholt werden muss: Denn dieser vernünftige „göttliche“, „ewige“ „Lebensgrund“ befreit gerade zum Tun, auch zum politischen Tun zugunsten der Gerechtigkeit für alle.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Trump – Wähler: Es sind die fundamentalistisch-Frommen, die wieder für TRUMP stimmten.

Skepsis als Therapie gegen religiös-politischen Wahn der christlichen Fundamentalisten: Ihr Gott heißt “Pro Life”

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Die Tatsachen sind bekannt:
Es ist – wieder einmal – eine Niederlage der Vernunft, dass so viele Millionen US- Bürger für Mr. Trump stimmen. Wie schon 2016 haben vor allem viele Millionen (vor allem “weiße”) Evangelikale, Pfingstler, konservative Katholiken auch 2020 Trump gewählt. Die aktuelle Statistik ist wieder eindeutig: Je gläubiger im klassischen, dogmatischen, fundamentalistischen Sinn Christen fühlen, um so eher wählten sie wieder Trump. Dabei ist für sie absoluter Mittelpunkt ihres Glaubens das leidenschaftliche Bekenntnis zu “Pro LIFE”. Um es klar zu sagen: “Pro Life” ist der so gen.”liebe Gott” dieser Fundamentalisten. Deswegen haben einige katholische Bischöfe der USA auch Jo Biden, weil er ein Gegner von Pro Life ist, als” nicht katholisch” bezeichnet. Darum merke für die Zukunft des immer mehr fundamentalistisch werdenden christlichen Glaubens: Es geht den Glaubenden und ihren Führern eigentlich nicht um mehr um Gott, es geht um Pro Life. Aber Pro Life ist nur ein Vorwand für eine insgesamt reaktionäre, frauenfeindliche, homo-feindliche, Armen-feindliche Politik…
2.
DIE AKTUELLE STATISTIK:
62 Prozent der Katholiken wählten Trump
Protestantische Christen und weiße Evangelikale sind US-Präsident Donald Trump bei der Wahl am 3. November offenbar treu geblieben. Laut einer Nachwahlumfrage des Instituts “Edison Research” für die “New York Times”, die “Washington Post” und andere Medienfirmen haben 76 Prozent der weißen Evangelikalen für Trump gestimmt und 23 Prozent für den demokratischen Herausforderer Joe Biden.
Weiße Evangelikale stellten den Angaben zufolge 27 Prozent der Wählerinnen und Wähler. 2016 hatten sich rund 80 Prozent der weißen evangelikalen Wähler für Trump ausgesprochen.
62 Prozent der Katholiken und 68 Prozent der Wähler in der Kategorie “protestantisch, sonstige Christen” wählten laut dem Edison-Institut Trump. Wähler “ohne Religion” entschieden sich danach zu 36 Prozent für Trump und zu 58 Prozent für Biden.
Trump hat der Umfrage zufolge die Mehrheit der weißen Stimmen bekommen (57 Prozent). Schwarze stimmten danach zu 87 Prozent für Biden und Latinos zu 66 Prozent. Wohlhabende stimmten eher für Trump als für Biden, hieß es weiter. Verheiratete Wähler stimmten zu 54 Prozent für Trump und zu 44 Prozent für Biden. (epd/04.11.2020)
3.
Zu den Prinzipien einer Demokratie gehört, dass jeder selbstverständlich frei ist, seinen Kandidaten zu wählen. Bei dieser anerkannten Liberalität muss aber auch die normative Frage gestellt werden: Ist der Kandidat, den man da wählt, in der Lage, moralisch, intellektuell, das höchste Amt zu übernehmen. Im Falle Trumps ist die Antwort eindeutig nein. Spätestens nach 4 Jahren Trump Herrschaft müsste das allen, die nachdenken können und wollen, klar sein.
Entscheidende Kritik an Trump ist tausendmal gesagt worden: Mr. Trump ist ein Lügner, ein Volksverhetzer, ein kranker Egozentriker eigentlich, könnte man sagen, ein mieser Diktator, jedenfalls kein Politiker, der Demokratie und Menschenrechte hochschätzt. Dieser Herr, auch dies wurde tausendmal gesagt, glaubt nur an sich selbst, dass er seine Show noch einmal 4 Jahre spielen kann. Er ist ein Nihilist, auch dies wurde und wird tausendmal kommentiert.
Und nun sage ich aus philosophischer Sicht, analytisch und nicht arrogant, sondern eben als Beschreibung: Die vielen Trump Wähler sind dumm, begrenzt, dass sie diese Person wieder als Präsidenten ihrer so viel gerühmten, aber gar nicht berühmten, also gar nicht allseitig hochgeschätzten Demokratie wünschen. Diese Wähler können einem leidtun. Nichts gelernt, nichts wahrgenommen, nur an den eigenen kleinen Betrieb gedacht, den Mr. Trump eventuell schützt, den eigenen Vorteil, wenn er den Job verspricht in einer Branche (etwa Kohle), die objektiv keine Zukunft mehr haben wird. Trump Wähler, so darf man fragen, sind selbst so ich-fixiert wie ihr Führer. Das heißt ja nicht, dass aufseiten der Demokraten alle Heilige sind. Aber die Bereitschaft, kritisch zu reflektieren, ist bei Demokraten grundsätzlich ausgeprägter als bei evangelikalen Trump Wählern.
4.
Die Trump Wähler folgen alle nur einem Glauben. Sie glauben ihrem Führer Trump, sie glauben, dass er recht hat, Kraft hat, kämpferisch ist, sie glauben, bei ihm förmlich zu Hause zu sein, weil er genauso denkt wie sie selbst, weil er den eigenen „inneren Schweinehund“ so wunderbar artikuliert: Man denke an den rassistischen Bau der Mauer gegenüber Mexiko, an seine Behauptung, Biden sei Sozialist; Anarchie würde mit hm herrschen usw. Diese Leute haben das „Glauben“ zu ihrer geistigen Haupttätigkeit erklärt: Nicht mehr selber denken und prüfen, nicht mehr sich umfassend informieren, sondern den Sprüchen der Trump Medien blind vertrauen. Sie glauben ihrem Führer Trump, sie glauben damit ihren Vorurteilen, sie glauben, ihre Ressentiments seien wahr.
Und ich behaupte: Der Grund für diese totale Glaubensbereitschaft, die sich dann im Wahlverhalten zeigt, ist begründet im exzessiven religiösen fundamentalistischen evangelikalen oder auch katholischen, aber dann reaktionären Kirchen-Glauben.
5.
Meine soziologisch längst bewiesene These ist also: Je gläubiger in dem beschriebenen religiösen Sinne ein Mensch ist, um so größer ist seine Bereitschaft, Mr. Trump zu wählen. Der religiöse Glaube im fundamentalistisch evangelikalen Sinne ist sozusagen die Basis für eine Haltung, die bereit ist, die Demokratie (in den USA) abzuschaffen mit und durch Trump. Mit dem Glauben geht einher die Bevorzugung des Wunders und des Wunderbaren, die Liebe zum Diffusen und Unsichtbaren, die Einwilligung, Autoritäten zu folgen, gehorsam zu sein. Ich finde es bezeichnend, dass der Mittelpunkt dieser genannten evangelikalen Frommen der Kampf gegen die Abtreibung des ungeborenen Lebens ist. Wann ein ungeborenes Leben die Qualität eines Menschen wird in diesen Kreisen nicht gefragt. Differenzierung ist unerwünscht bei ihnen. Das Ungeborene, wie eine Schimäre, schwebt diese pauschale Idee über den „Pro Life“ Leuten. Das Ungeborene ist der Gott dieser Frommen, es ist ihnen dabei völlig egal, wie es bei rigiden Gesetzen dabei den Frauen ergeht. Das Ungeborene, das insofern Unsichtbare, ist das Zentrum, man möchte fast sagen: der Gott. Und genau dies sagt Mr. Trump, er würde dieses alles verteidigen. Er sagt das, weil er die Stimmen dieser religiösen Kreise braucht. „Sollen diese naiven Christen doch glauben, dass Gott die Erde und die Menschen in 6 Tagen erschaffen hat, sollen sie doch gegen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften wüten“: Solange sie mich wählen, bin ich ihr Freund, denkt Trump. Das geborene Leben aller menschlich zu hüten, zu pflegen, Mitleid und Barmherzigkeit zu praktizieren, die Armen zu fördern, Gerechtigkeit zu schaffen, wäre des Präsidenten oberste Aufgabe, gerade in Corona-Zeiten. Aber Mr. Trump ist dieses „Zeug“ bekanntermaßen völlig egal. Und das stört diese unreflektiert frommen Glaubenden nicht. Sie glauben dumm und blind ihrem Führer. Wird es einen Ausweg geben? Gibt es eine Therapie, die Skepsis erzeugt und das Fragen wieder fördert? Dies ist alles auch ein Problem der Bildung und vor allem des Abschiedes von diesen fundamentalistischen und evangelikalen Kirchen. Werdet unkirchlich, möchte man als Theologe diesen Leuten zurufen. Nur dann werdet ihr etwas reifer als Menschen. Nennt auch Skepsis eure Konfession!
6.
Man verstehe mich recht: Ich habe gar nichts gegen einen vernünftigen religiösen christlichen Glauben, der z.B. in der Sinnfrage eine absolute Dimension entdeckt oder in der Kunst Chiffren der Transzendenz wahrnimmt; der die Bibel als Zeugnis religiöser Menschen von einst historisch – kritisch liest; der Jesus von Nazareth als wegweisendes Vorbild deutet usw…Der dabei aber in der theologischen Aussage einfach und bescheiden und selbstkritisch bleibt, der auch skeptisch ist gegen alle religiösen und politischen Führer.
7.
Es ist also die verblendete Religion, dieser religiöse Fanatismus, der zum Führerkult ausartet. Und selbst wenn er sich 2020/2021 vom Weiße Haus verabschieden muss, die Frommen werden an ihm hängen, als einem der ihren. Trump II. wird darum immer wieder möglich. Wenn nicht Religionskritik zur Tugend religiöser Menschen erklärt wird.
8.
Mein Vorschlag also. Wenn religiös, dann bitte nur vernünftig-religiös, also nachdenklich, selbstkritisch, gebildet. Und skeptisch.
Wäre in den USA die Skepsis die stärkste Religion, Mr. Trump hätte null Chancen gehabt.
9.
Großzügigkeit und Milde sind gewiss christliche Tugenden. Aber sie stehen stets im Konflikt mit der genauso wichtigen Frage: Ist jeglicher theologische Unsinn (nach heutigem wissenschaftlichen theologischen Verständnis) aus us-funamentalistisch – christlichem Mund akzeptabel und ALS christlich zu tolerieren? Ist theologische (!) Liberalität grenzenlos?
Diese Frage wird angesichts des Wahlverhaltens so vieler fundamentalistischer Christen aus allen Konfessionen ganz dringend. Ich stelle zur Diskussion: Diese fundamentalistischen christlichen Kreise nicht ur in den USA sind für ein modernes Christentum völlig inakzeptabel. Man muss als Christ und Theologe diese fundamentalistischen Kreise kritisieren, vor allem auch, weil sie mit ihrem Glauben das Zusammenleben der Menschen gefährden, weil sie als Trump Wähler blind sind für soziale Gerechtgkeit und den grundlegenden Schutz der Ökologie usw. Trump ist ja bekanntlich aus dem “Pariser Klima-Abkommen” ausgetreten. Es sind also nicht allein explizit theologische Gründe, die zu einer heftigen Ablehnung fundamentalistisch – evangelikaler Kreise verpflichten. Es mag ja einige vernünftige Evangelikale geben. Aber sie sollen alles daran setzen, ihre reaktionären GlaubensgenossInnen zur Vernunft zu bringen. Ja, es geht wirklich um die vorrangige Geltung der selbstkritischen, reflektierenden Vernunft im christlichen Glauben und der Theologie. Aber die Chancen, dass dies gelingt, sind gering: Wer, wie die Evangelikalen, glaubt,liebt die Wunder und die Autoritäten! Und glaubt an den Teufel,der z.B. “Wahlbetrug” macht. Also: Ohne die vorrangige Geltung der kritischen Vernunft,kann es keinen religiösen Glauben geben, der als human gelten will.

PS.: Weitere Untersuchungen zum Wahlverhalten der unterschiedlichen christlichen Konfessionen, siehe etwa: https://nationalpost.com/news/world/who-won-the-christian-vote-in-the-2020-u-s-election-its-complicated

Copyright: Christian Modehn. www.religionsphilosophischer-salon.de

Langeweile – Eine Chance, sich selbst wahrzunehmen

Langeweile – Eine Chance, sich selbst wahrzunehmen
Von Christian Modehn

Der folgende Beitrag wurde im Mai 2013 in der Zeitschrift PUBLIK FORUM veröffentlicht. Der Beitrag bleibt anregend, ist nicht veraltet. Denn Langeweile mag sich ja bei vielen mal einstellen in diesen Corona – Zeiten…(Siehe am Ende dieses Beitrags einen Hinweis auf das künstlerische Werk von Edward Hopper).

1.
Ich habe den Zug verpasst. Der nächste wird erst in zwei Stunden fahren. Die Bahnhofskneipe ist geschlossen, sie “lohnt” sich nicht mehr an der Strecke der »Regionalbahn«. Weit und breit kein Mensch. Die Sonne bringt die Wälder und Wiesen fast zum Glühen. Was kann ich bloß machen, wo ich meine Zeitung schon längst »ausgelesen« habe. Ich gehe auf dem Bahnsteig hin und her, betrachte immer wieder den Fahrplan, als könnte er plötzlich Änderungen verheißen. Dann beginne ich die Kiefern vor mir zu zählen, schaue auf die Gleise, blicke in die Ferne: Wann kommt endlich der Zug? Die Minuten dehnen sich, sie werden zur Qual: Was versäume ich bloß alles zu Hause? Ich fühle mich wie aus dem Leben geschleudert.
2.
Als ich dann endlich im Zug sitze, habe ich schon nach einigen Minuten die beiden Stunden verdrängt; mich interessieren nur noch die nächsten Verabredungen, die Familie, die Arbeit. Das Erlebnis der Langeweile wird schnell aus dem Bewusstsein vertrieben. Denn eine leere Zeit ohne jegliche Aktivität sei nicht lebenswert, das haben wir verinnerlicht. So wird dann sofort die Routine des Alltags fortgesetzt. Die Frage wird nur selten gestellt: Kann Langeweile nicht vielleicht auch ein Segen für uns sein?
3.
Aber wir gehorchen offenbar unerschütterlich den »Dogmen« der Moderne, die da heißen: »Es muss etwas geschehen!« Oder: »Du hast nur Bedeutung, wenn du Beschäftigungen hast.« Langeweile darf kaum besprochen werden, sie gilt in unserer Kultur nicht nur als peinlich, sondern von vornherein als schändlich.
4.
Wenn sich mehrere Menschen, vor allem Männer, auch noch als Gruppe langweilen, kann es gefährlich werden. Kriminologen wissen: Gewalttätigkeiten, Überfälle, Einbrüche und Ähnliches entstehen auch aus dem Gefühl der Orientierungslosigkeit und Unfähigkeit, mit der eigenen freien Zeit etwas Sinnvolles anfangen zu können. Davon ist der Psychologe und Sozialarbeiter Kazim Erdogan überzeugt. Er ist als »türkischstämmiger« Berliner seit etlichen Jahren bemüht, sinnvolle Freizeitaktivitäten besonders für Jugendliche und junge Männer im »Problembezirk« Berlin-Neukölln anzubieten: »Ich höre immer wieder von den jungen Leuten, wenn sie negativ auffallen und gewalttätig werden: Das hat mit meiner Langeweile zu tun. Sie hätten halt nicht gewusst, was sie am Samstag machen, und haben sich dann mit anderen auf der Straße getroffen. Und dann sind wir auf ›komische Ideen‹ gekommen, haben dies und jenes angestellt.” Kazim Erdogan bietet Alternativen: Er gründet Gruppen und Gesprächskreise, die sich bemühen, die eigenen Lebensfragen einmal in Ruhe zu besprechen, auch die Erfahrung der Langeweile. Wer mit einer leeren Zeit ohne »Action« und »Betrieb« nicht umgehen kann, fragt sich dann notgedrungen, wie man die freie Zeit totschlagen kann: Aber wer die eigene Lebenszeit totschlagen, auslöschen möchte, der verhält sich, wie die Sprache verrät, aggressiv zum Leben, zu seinem eigenen wie dem Leben der anderen.
5.
Schon die Mönche im frühen Mittelalter wussten, dass Langeweile gefährlich werden kann: Wenn die Ordensbrüder ihre Arbeit in den Klostergärten getan hatten und die Zeit des Studiums beendet war, beteten sie zur Mittagszeit nicht ohne Grund den Psalm 91. Einen Vers sangen sie mit besonderer Inbrunst: »Des Herrn Wahrheit ist Schirm und Schild vor der Pest, die im Finstern schleicht und die am Mittag Verderben bringt.« Diese Pest »am Mittag« nannten Mönche den »Mittagsdämon«. Und den hielten sie für den großen Verführer, der den braven Mönchen einredet: »Gönn dir doch mal die Langeweile, sie ist doch nicht so schlimm, du musst nicht immer nur beten und arbeiten.« Aber nein! Das passte wenig in die Klosterordnung, die auf ständige spirituelle Konzentration fixiert war. Zeigte sich Langeweile, musste der Mönch tätig werden. Abt Cassian hatte schon im fünften Jahrhundert eine Empfehlung parat: »In solcher Anfechtung von Langeweile durch den Mittagsdämon besucht der Mönch die anderen Klosterbrüder. Er besucht die Kranken in der Ferne; er legt sich religiöse Pflichten auf; er beschließt, Verwandte wieder zu sehen und die Menschen in der Umgebung zu begrüßen.«
6.
Das weithin unbefragte Motto heißt: Langeweile gilt es zu verdrängen. Auch viele christliche Philosophen halten sich daran, etwa Blaise Pascal (1623-1662). Er hat in seinem noch heute viel zitierten Hauptwerk, den fragmentarisch hinterlassenen »Pensées«, gelehrt: Nichts sei für den Menschen unerträglicher, als ohne Aufgaben zu leben. Dann stelle sich das Gefühl der Verlassenheit ein, Düsternis und Trauer machten sich breit. Es entstehe die Langeweile, und dies sei eine elende Situation, die nur in einem mutigen Sprung in den Glauben überwunden werden kann, meinte der fromme Pascal. Nur Gott befreie von der »furchtbaren« Langeweile. Gleichzeitig kritisiert Pascal aber alle, die nicht glauben wollen, sondern sich im Amüsement »zerstreuen« (Pensée Nr. 131).
7.
Auch die gläubigen Schriftsteller der Romantik verbreiten dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre tiefe Verachtung der Langeweile. Der Dichter Ludwig Tieck (1773-1853) schreibt in seinem Roman »William Lovell«: »Langeweile ist gewiss die Qual der Hölle. Nenn mir eine Pein, die diesem Krebse gleichkäme: So wie ich dasitzen und im Zimmer die Nägel betrachten, auf- und niedergehen, aus dem Fenster sehen, um sich wieder hin zu setzen, um sich auf etwas zu besinnen … und man weiß nicht worauf: Nenn mir eine Pein, die diesem Krebse gleichkäme. Der nach und nach die Zeit verzehrt, wo die Tage so lang und der Stunden so viele sind.«
8.
Aber weder Abt Cassian noch Pascal oder Tieck kamen auf den Gedanken, die Erfahrung der Langeweile als solche erst einmal anzunehmen und in Ruhe anzuschauen. Und dann zu fragen: Könnte es nicht eine sinnvolle Aufgabe sein, dieses Lebensphänomen Langeweile auch einmal ohne Vorurteile gedanklich auszuhalten?
9.
Mit Nachdruck weist die Psychotherapeutin Verena Kast (Zürich) heute darauf hin: »Wir können von der Langeweile ›profitieren‹, also Nutzen ziehen für unser weiteres Leben, wenn es uns gelingt, uns darauf zu konzentrieren und zu sagen: Ja, es spricht uns jetzt gar nichts mehr an, wir erleben die Langeweile. Wenn man das aushält, dann kann auch eine neue Idee auftauchen. Dann merken wir plötzlich, wo eigentlich unsere Interessen wären, was uns von innen her wirklich ansprechen würde. Aber dazu braucht man eben einen Mut zur Langeweile, sie aushalten zu wollen. Und das wissen Menschen verhältnismäßig gut, die kreativ sind. Sie haben vorher etwas geschaffen, haben eine Idee ausgearbeitet. Und dann fällt ihnen zunächst mal nichts ein. Eine Leere entsteht, sie langweilen sich. Aber sie wissen aus Erfahrung: Wenn ich mich auf diese Langeweile konzentriere, sie aushalte, dann wird wieder etwas Neues entstehen.«
10.
Philosophen unterstützen diese Empfehlung. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813-1855) machte da einen Anfang, betont der Theologe Professor Michael Bongard: »Kierkegaard nennt Langeweile ausdrücklich eine Kunst, nämlich die Kunst, sich selbst zu langweilen! Und das ist schon wieder ein bewusster Akt. Die Langeweile ist dann eine Form des Menschseins, die für sich selbst wertvoll ist. Und wenn sie dann auch nur damit gefüllt wird, dass einem spontan Bilder, Ideen, Gedanken kommen, die man für nichts brauchen kann, die einfach aber auch ihre Qualität darin haben, dass sie für mich bereichernd sind.«
11.
Im 20. Jahrhundert ist dann der Philosoph Martin Heidegger noch viel weiter gegangen. Er ist da ganz radikal: Ohne die ausgehaltene und dann auch reflektierte Langeweile kann es kein wahres menschliches Leben geben. Er hat die Langeweile von der so tief sitzenden negativen, unheilvollen Färbung befreit. Vor allem sein Buch »Die Grundbegriffe der Metaphysik« ist in dem Zusammenhang wichtig. In diesem Text wird deutlich, dass Philosophie durchaus helfen kann, das eigene Leben sinnvoller zu gestalten, wenn wir nur nicht die Langeweile verdrängen! Um den schwierigen Text allgemein zugänglich zu »übersetzen«, könnte man sagen, Heidegger legte den Menschen nahe: Nimm die Langeweile als eine wichtige Grundstimmung an. Dabei ist die Achtsamkeit auf die so genannte »tiefe Langeweile« entscheidend, wo du sozusagen tief erschüttert »den Boden unter den Füßen« verlierst. Die tiefe Langeweile findet ihren sprachlichen Ausdruck in der Alltagssprache, etwa in der Formel »Es ist einem langweilig geworden«. Wer so spricht, nimmt sich in der Langeweile gar nicht mehr als »Ich« oder als Person wahr. Der Mensch ist dann nur noch »einer«, also ein anonymes Wesen, dem es da langweilig wird. Der Mensch erlebt, wie die ganze bisherige vertraute Welt »einem entgleitet«, wie sich das bedrängende Gefühl der Sinnlosigkeit breitmacht. Aber gerade an dem Punkt gilt es, die Widerstandsreserven des Denkens zu aktivieren, meint Heidegger. Gerade im tiefsten Moment der Leere und Langeweile, so hat es der Philosoph selbst erlebt, kann der Mensch noch so viel Energie wecken, dass er diese tiefe Langeweile überwinden kann. Der Mensch muss nur in der tiefsten Not der Langeweile die »Wachheit« des Fühlens und Denkens weiter pflegen. »Höre auf das, was die Langeweile zu sagen hat«, heißt Heideggers Aufforderung. Langeweile ist dann nichts »Schlimmes«, im Gegenteil: Im Sinne Heideggers »spricht« die Langeweile, sie sagt, wieder in freier Übersetzung aus dem Buch »Die Grundlagen der Metaphysik«: »Du bist jetzt mit dem Grund deines Lebens, deines Daseins, konfrontiert. Du siehst, wie du in die stetig weiter laufende Zeit hineingestellt bist. Du kannst der Zeit nicht entkommen. Aber du bist ihr nicht hilflos ausgeliefert: Wenn du Langeweile erlebst, mach daraus eine lange Weile, also eine lange Gegenwart. Erfreue dich der Dinge um dich herum. Etwa auf dem Bahnhof: Zähle nicht die Bäume, sondern bedenke das Geschenk der Natur. So kannst du deine Lebenszeit selbst gestalten. Du merkst: Auch meine Zukunft kann ich mir formen, ich bin nicht der Sklave meines Terminkalenders. Du musst nicht ein Leben führen, das andere dir vorschreiben.
ür Heidegger wird die akzeptierte und bedachte Langeweile zur Chance im Leben, wenn er betont: »Es geht um die äußerste Zumutung an den Menschen. Was ist das? Es ist dieses, dass dem Menschen das Dasein (sein eigenes Leben) als solches zugemutet wird, dass ihm aufgegeben ist – da zu sein.« Mit anderen Worten: In der eigentlich belastenden Langeweile wird mir augenblicklich klar, mir ist mein eigenes Leben übergeben, ich habe es selbst zu leben, nur ich sollte der Gestalter meines Lebens sein. Oder wie Heidegger sagt: »Ich habe mein Dasein auf meine Schultern zu werfen«, muss also mein eigenes Leben wie eine Gabe tragen und manchmal auch ertragen, aber immer bin ich es, der mein Leben selbst gestaltet.
12.
Aber der immer weiter fragende Philosoph Heidegger bleibt auch da noch nicht stehen: Wenn ich mein Leben in der tiefsten Not der Langeweile ergreife, dann nehme ich auch den unergründlichen Grund meines Lebens wahr und sehe: Ich bin in diese Welt hineingesetzt, bin aber getragen und umfangen von einem gar nicht greifbaren Geheimnis allen Seins. Der Weg in eine philosophisch zu denkende Welt der Transzendenz eröffnet sich hier, dank einer neuen, radikal positiven Deutung der Langeweile.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin
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Ein NACHTRAG: Zu Edward Hopper:
Viele Interpreten der Arbeiten des us – amerikanischen Künstlers Edward Hopper (1882 – 1967) weisen darauf hin, dass seine Gemälde zur us – amerikanischen Lebenswelt (und damit wohl auch der westeuropäischen des 20. Jahrhunderts) das herrschende Lebensgefühl kritisch bearbeiten. Langeweile ist dabei ein häufiges Thema der dargestellten Lebenswelt, etwa die Arbeit “Room in New York” von 1932. Es “liefert einen voyeuristischen Einblick durch ein Fenster. Im Zimmer sitzt ein Mann auf einem Polstersessel, über eine Zeitung gebeugt. Im rechten Bidrand schlägt eine Frau auf einem Klavier eine Taste an…Hopper hat offensichtlich Degas`Bild “Bouderie” zum Vorbild genommen, dieses aber umgedeutet. Nicht Missstimmung ist nunmehr der Tenor des Bildes, sondern Langeweile, =ennui=”, so Ivo Kranzfelder in “Edward Hopper”, Taschen Verlag 206, S. 129. Die beiden Personen, nebeneinander und ohne jegliche Verbundenheit, langweilen sich, weil sie ihren eigenen “ennui” nicht als solchen wahrnehmen, sich also ihrer Langeweile nicht bewußt stellen, sondern im Dämmerzustand des “Zeitvertreibens” nebeneinander hockend verharren. Erst die bewusste Langeweile kann hilfreich sein.

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