Alleinsein überwinden … durch Einsamkeit!

Ein provozierender, aber hilfreicher Hinweis: Einsamkeit als reflektierte Lebensform
Von Christian Modehn am 3.1.2025

Berlin – Stadt der Einsamen oder der Menschen, die allein sind, die niemanden haben? Siehe dazu Nr. 10 in diesem Hinweis.

1.
Über den Unterschied von Alleinsein und Einsamkeit muss erneut gesprochen werden. Nicht nur, weil die deutsche Sprache zwei unterschiedliche Begriffe für dieses Phänomen des „Auf sich-Selbst-Gestelltseins“ des Menschen anbietet. 2013 hatten wir zum Thema schon einige Hinweise publiziert. LINK . Nun muss aus aktuellem Anlass erneut darüber gesprochen werden: 20 Prozent der Weltbevölkerung, so das Meinungsforschungsinstitut Gallup im Jahr 2024, seien „häufig von Einsamkeit betroffen.“ (Fußnote 1). Diese Einsamkeit sei für die Betroffenen auch eine gesundheitliche Gefährdung und für den politischen und sozialen Zusammenhalt eine Belastung. „Etwa ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland fühlt sich zumindest teilweise einsam, knapp 20 Prozent fühlen sich sogar sehr einsam.“ LINK
Dieses Phänomen, in dem Zeitungsbericht „Einsamkeit“ genannt, wird dann sozialwissenschaftlich definiert: „Unter Einsamkeit wird ein negatives Gefühl verstanden, nach dem die individuellen sozialen Beziehungen qualitativ oder quantitativ als nicht ausreichend empfunden werden. Bleibt dieses Gefühl über längere Zeiträume erhalten, können z.T. schwerwiegende psychische und physische Krankheitsbilder die Folge sein.“

2.
In der Presse wird – einer populären Üblichkeit folgend – von Einsamkeit gesprochen, wobei tatsächlich Alleinsein gemeint ist. Unsere These ist: Das weit verbreitete Alleinsein können Gesellschaft, Organisationen, der Staat überwinden helfen. Einsamkeit ist hingegen die Erfahrung und die Erkenntnis dessen, was den Menschen ausmacht, klassisch gesagt, was sein „Wesen“ ist. Um diese Einsamkeit kann sich nur jeder einzelne Mensch selbst bemühen. Dann findet er erneut in die Gemeinschaft der anderen. Schon jetzt zusammenfassend gesagt: Einsamkeit als menschliche Lebensform ist das überwundene Alleinsein. Insofern ist es wünschenswert, wenn Alleinsein zur Einsamkeit wird. Einsame Menschen sind allein.

3.
Menschen, die allein sind, sind die Alleinlebenden, diejenigen, die „niemanden (mehr) haben“, die „Allein-Stehend“ sind, oft isoliert und nicht beachtet. Sie werden inmitten so vieler Leute eher nur wie etwas Anonymes, wie eine Nummer, wahrgenommen. Alleinlebende können diese Lebensform natürlich auch vorübergehend selbst frei gewählt haben, gemeint sind in den sozialwissenschaftlichen Studien die Alleingelassenen, Abgeschiedenen und Abgeschriebenen, die Isolierten… oft wegen des Alters, des Abbruchs von Beziehungen und Freundschaften, wegen der Fremdheit in der umgebenden Kultur. Oder weil sie zu einer sexuellen Minderheit gehören in einem letztlich immer noch repressiven, oft feindlichen System.

4.
Auf diesen Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein hinzuweisen ist keine philologische oder philosophische Pedanterie oder Spitzfindigkeit, das Thema hat politische Bedeutung:
Die isolierten, die etwa wegen ökonomischer Zwänge oder persönlicher schicksalhafter Entwicklungen alleinlebenden Menschen, solche die „niemanden haben“, sind das unerfreuliche Gesicht der individualisierten Gesellschaft. Vereinzelt, allein lebende Menschen sind eben auch in ihrer Lebensenergie geschwächt, sie organisieren sich nicht, kämpfen nicht für bessere Lebensbedingungen, haben nicht die Kraft, für umfassende Gerechtigkeit einzutreten, die bei einer Reform des ökonomischen und politischen Systems auch ihnen zugute kommen könnte. Allein-Lebende sind als vereinzelte Menschen für jede Form von Staatlichkeit letztlich ungefährliche Bürger, vielleicht ist dies sogar willkommen und erwünscht, wenn auch die sozialen Kosten zur Unterstützung der depressiv gewordenen Alleinlebenden beträchtlich sein können, falls diese Menschen denn Therapieplätze überhaupt noch finden. Rebellion zugunsten besserer, kommunikativer Lebensverhältnisse sind von Alleinstehenden, Menschen die allein sind und niemanden mehr haben, nicht zu erwarten.

5.
Früher waren in Europa die Kirchengemeinden Orte, in denen sich Alleinlebende wohlfühlen konnten: Diese Orte, Gemeindezentren, Kirchen mit ihren Gruppen(veranstaltungen) verschwinden aber zunehmend. Der Grund: Weil es – etwa in der katholischen Kirche – immer weniger Pfarrer gibt, werden kommunikative Gemeindezentren geschlossen oder abgerissen. Und kein Alleinlebender (etwa älterer Mensch) protestiert gegen diese Zerstörung von Kommunikation durch klerikale Kirchenbehörden. Aber das ist ein anderes großes Thema…

6.
Was ist Einsamkeit? Allgemein und gebotener Kürze gesagt: Der einsame Mensch hat gerade im Rückzug auf sich selbst das Fühlen und Denken des Selbst geübt und dabei zu seinem eigenen individuellen Leben gefunden. Der in dieser Weise einsame Mensch ist der reife, reflektierte Mensch, der als Einsamer natürlich mit anderen lebt und sich der Gemeinschaft erfreut. Aber ehe es dahin kommt, soll die Selbst – Reflexion geübt werden. Der Philosoph Michel de Montaigne (1533-1592) hat in seinem umfangreichen Bekenntnis, „Essays“ genannt, ein Kapitel (Nr. 39 im „Ersten Buch“) der Einsamkeit gewidmet. (Fußnote 2). Montaigne brauchte den Rückzug angesichts der Belastungen und Gefährdungen durch die politischen Verhältnisse, er brauchte den Rückzug in seine Bibliothek. Und dort fand er im Alleinsein zur Einsamkeit: Sie war die Erfahrung, im reflektierten Rückzug als Mensch wesentlich zu leben, die Tiefe des Lebens zu sehen, auf den eigenen Geist zu achten und die eigene Seele zu spüren. Montaigne wollte sich als einsamer Mensch erkennen, um sich selbst annehmen zu können, er schreibt: „Es ist eine höchste und gleichsam göttliche Vollendung, sich seines eigenen Wesens redlich froh werden zu können“. Und: „Die größte Sache der Welt ist, dass man sich selbst zu gehören weiß“.

7.
Einsamkeit ist also für Philosophien, Spiritualitäten, Traditionen der Literatur und der Kunst eine produktive Lebensform, die jeder entwickeln kann. Gesprächskreise können dabei Inspirationen bieten. Dabei ist Einsamkeit kein Zustand, der einmal definitiv erreicht wird: Ein einsamer Mensch wird in Gemeinschaft leben, aber er wird sich dabei schützen vor dem ständigen Gerede und den aufgezwungen Aktivitäten durch andere. Er sucht immer wieder den Rückzug, denn nur in der Stille kann der Mensch reflektieren, nur in Ruhe kann er das tun, was für ihn wichtig ist, was ihn leben lässt: Meditieren, malen, musizieren, schreiben, sich im Nachdenken, Philosophieren üben, das immer um die entscheidende Frage geht: Wer bin ich eigentlich, wie will ich mit anderen leben, wo will ich hin, woher komme ich? Welche (falschen) Entscheidungen habe ich getroffen, wie bereite ich mich auf mein Lebens-Ende vor? Einsamkeit ist also ein Begriff, der menschliches Leben im emphatischen Sinne meint.

8.
Der Philosoph Martin Heidegger legt in seinen Vorlesungen unter dem Titel „Die Grundbegriffe der Metaphysik“ (1929) allen Nachdruck darauf, die Einsamkeit einzuüben. Und diese Übung beginnt damit, meine eigene begrenzte Lebenszeit anzunehmen, also die eigene Endlichkeit anzunehmen. Und da wird mir deutlich: Dass ich immer ein einzelner bin, einmalig für mich die Möglichkeit habe, mein eigenes Leben zu gestalten. Heidegger schreibt: „Diese Vereinzelung ist jene Vereinsamung, in der jeder Mensch allererst in die Nähe zum Wesentlichen aller Dinge gelangt, zur Welt“ (Fußnote 3.)

9.
Das Alleinsein lässt sich überwinden mit Hilfe von (Therapie-) Gruppen, durch gerechtere Sozialhilfen, bessere Wohnungen usw. Dann können alleinlebende Menschen zu einsamen Menschen, die als einsame gerade in Verbindung mit anderen leben, weil sie die Tiefe des Lebens erfahren und verstehen.
Das Einsamsein als kommunikative Lebensform lässt sich einüben durch philosophische Gesprächskreise, Lektüregruppen…
Warum kommt der Staat nicht auf die Idee, diese „Basis-initiativen“ zu fördern? Warum gibt es keinen eigenen philosophischen Studiengang mit dem Ziel: ModeratorIN von philosophischen Gesprächssalons zu werden?
Solche Gesprächskreise in aller respektierten Freiheit an vielen Orten und Stadtteilen zu fördern ist genauso wichtig und für die Menschen hilfreich wie die Finanzierung großer Opernhäuser und Theater, an deren unglaublich teuren Aufführungen nur noch die sehr wohlhabenden Leute teilnehmen (können).

10.

BERLIN – die Stadt der Einsamen oder der alleinlebenden Menschen, der Menschen also, die “niemanden haben”, niemanden kennen… Ein wichtiges Interview dazu mit dem Psychiater Mazda Adli, Berlin, im TAGESSPIEGEL vom 1.Februar 2025, Seiten B 10 und 11.  Dass auch hier, wie so oft, Einsamkeit und Alleinsein verwechselt werden und eigentlich unserer Meinung immer Alleinsein (“Niemanden-Haben, Isoliertsein …”) gemeint ist, wenn von Einsamkeit die Rede ist, finden wir bedauerlich.

Im Interview also betont der Chefarzt für Psychiatrie Mazda Adli sehr treffend: “Kaum ein Thema ist so tabulisiert wie Einsamkeit.” “Großstädte sind eher anonyme Orte”. “Einsamkeit hat einen größeren negativen Effekt auf die Lebensdauer als Rauchen, Alkoholmissbrauch oder Fettleibigkeit”, sagt der Psychiater Mazda Adli.

Wichtig ist vor allem seine Forderung: “Wir brauchen mehr nicht-kommerzielle Begegnungsflächen, wo die Menschen auch sponatan zusammenkommen können…Ein wichtiger Schutzfaktor gegen Einsamkeit sind zum Beispiel unsere Kultureinrichtungen, wie Theater, Museen, Galerien, Kulturzentren… Jedes Theater erfüllt einen Gesundheitsauftrag! Jetzt erleben wir durch die Kürzungen (der CDU/SPD Koalition) einen Rückbau an Kultur und das ist aus meiner Sicht ein Gesundheitsrisiko.”

Uns fällt auf, dass bei der Aufzählung der hilfreichen, also gesundheitsfördernden “nicht-kommerziellen Begegnungsflächen” kirchliche Gemeindezentren (in Berlin) gar nicht mehr erwähnt werden. Sie spielen tatsächlich wohl jetzt in Berlin keine bedeutende Rolle, weil etlich der bestehenden Gemeinden, Kirchengebäude, Gemeindezentren meist – wegen Personalmangel, Finanzproblemen – geschlossen sind oder bereits aufgegeben wurden. Das sollte exakt soziologisch nachgewiesen werden!

Die katholische Kirche im Erzbistum Berlin etwa nennt diesen ihren seit Jahren betriebenen Abbau von kommunikativen Orten (Gemeinden, Pfarreien) ganz offiziell und wohl auch zynisch gemeint “Wo der Glaube Raum gewinnt”. Man sollte aber treffender sagen: “Wo der Glaube und die offenen kommunikativen Orte sich im weiten Raum verlieren und alsbald ganz verschwinden.” Das  ist auch gemeint, wenn hierzulande Religionssoziologen von Entkirchlichung sprechen. Und es ist natürlich die Frage, ob etwa dogmatisch bestimmte Veranstaltungen in den noch bestehenden katholischen Gemeinderäumen eine Lebenshilfe für Einsame (d.h. Alleinlebende, Verlassene, isolierte  Menschen) sein können. Und ob die Pfarrer, die sich manchmal noch Seelsorger nennen, tatsächlich die Qualität von Seelsorgern haben. Wir befürchten: Die Antwort ist Nein. Pfarrer und Priester sind Verwalter bzw. Sakramenten-Spender und “Messe-Leser”, sie eilen von einer Kirche zur anderen, um die Messen zu lesen, die nur Priester (Männer) – so die offizielle Lehre – leiten dürfen. Die Macht des Klerus bleibt also erhalten … das ist bekanntlich am wichtigsten in der römischen Kirche.

Fußnote 1:
Tagesspiegel, 27.12.2024, Seite 3.

Fußnote 2:
Montaigne, “Essays”, Eichborn Verlag, Übersetzt von Hans Stilett, 1998, Seite 124ff. Bes. S 126.

Fußnote 3:
Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Frankfurt am Main 1983, Seite 8.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

 

“Die Hoffnung stirbt zuletzt”. Widerstand gegen die Verzweiflung!

Kant lehrt uns, die Hoffnung zu bewahren.
Ein Hinweis von Christian Modehn am Ende der Kant – Jahres 2024 … in der Hoffnung, dass Kant weiter intensiv diskutiert wird.

Die Erkenntnisse des Philosophen Immanuel Kant wollen unbedingt verhindern, dass die Hoffnung wirklich “zuletzt stirbt”. Denn das wäre das Ende. Wir sollen gemeinsam alles dafür tun, dass wir die Berechtigung, das Recht, haben die Hoffnung zu leben und die Hoffnung niemals aufzugeben.

Diese Hoffnung ist alles andere als ein naiver Optimismus. Sie ist alles andere als eine politische nationalistische Ideologie, die den Menschen in den USA einen “amerikanischen Traum” empfiehlt und einredet. Siehe dazu die Nr.10 und 11 in diesem Hinweis.

1.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Wie ein Slogan hat sich dieser Satz in unseren dunklen Zeiten verbreitet und durchgesetzt.
Die Frage ist: Was ist eigentlich zuvor schon alles gestorben, an Weisheiten, Einsichten, Überzeugungen, wenn man einen solchen Satz sagt? In der christlichen Tradition spricht der Apostel Paulus von „den menschlich entscheidenden Dreien“, also von „Glaube, Hoffnung und Liebe.“ Um bei unserem Thema zu bleiben: Dann sind offenbar Glaube und Liebe schon gestorben. Dann bleibt nur noch die Hoffnung als das Letzte vor einem definitiv gedachten Ende, dem Nichts … oder dem Himmel?

2.
Immanuel Kant kann bei dem Thema weiterhelfen: Hoffnung und aktives Hoffen ist ein zentrales Thema seiner Philosophie. Auch Hoffen und Hoffnung führt ihn selbstverständlich über den Bereich des wissenschaftlich exakt Erkennbaren hinaus. Und so wird auch hier sichtbar: Kant hat zwar als Anhänger des Physikers Newton seine Karriere begonnen, aber er musste als Philosoph über die Physik hinaus denken … in eine vernünftig begründete Metaphysik: Kant als den „Zermalmer der Metaphysik“ zu bezeichnen, ist also falsch. Kant war ein Metaphysiker und Religionsphilosoph (und Kirchenkritiker LINK (2024)  LINK)
Nur als ein Metaphysiker konnte er auch die heute so dringende Frage beantworten: „Was darf ich hoffen?“ Sie steht im Zusammenhang mit der Frage Kants: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Und: Was darf ich hoffen?“

3.
Für Kant kann es Hoffnung nur geben, weil wir Menschen hoffen DÜRFEN, wie er ausdrücklich sagt. Das Hoffen – „Dürfen“ ist eine Art rechtlich begründeter Erlaubnis zu hoffen. Ich habe also also aufgrund meine Menschsein die Berechtigung zu hoffen. „Also hoffen wir doch“, möchte man etwas aufdringlich fordern. Oder:„Habe den Mut, deine in dir vielleicht noch versteckte Hoffnung zu leben“…

4.

“Hoffnung ist für Kant die entscheidende moralische Einstellung der Vernunft. Die richtige moralische Einstellung gegenüber der Zukunft ist (für ihn) Hoffnung.” Schreibt die Soziologin Eva Illouz in “Explosive Moderne”, Suhrkamp 2024, S. 43. Moralisch bedeutet für Kant: “Der Würde des Menschen entsprechend”.

5.
Hoffen zu dürfen ergibt sich für Kant in der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem SINN meines und der anderen Menschen Leben. Dieser alles gründende Sinn des Lebens eröffnet sich, zeigt sich, für den einzelnen inmitten des Tuns des Gerechten: Im Eintreten für Gerechtigkeit und gerechte Gesetze darf der Mensch das alles Entscheidende hoffen: dass sich die vorhandene Welt mit ihren Staaten langsam aber sicher der Utopie des Reiches Gottes annähert. Und zum Reich Gottes gehört für Kant auch der Frieden in der ganzen Welt. Seine bis heute vielbeachtete Schrift „Zum ewigen Frieden“ konnte Kant 1795 veröffentlichen.

6.
Dass Welt – Frieden nur in „republikanischen Staaten“ möglich wird, ist eine der wichtigen Voraussetzungen Kants. Es sind die freien Staatsbürger, die entscheiden, ob ein Krieg sein soll oder nicht. Es liegt also in der Entscheidung der Menschen, dass sie die Hoffnung auf einen Weltfrieden aktiv politisch fordern und gestalten! Kant betont, dass nur moralisch gesinnte Politiker dieses große Hoffnungsprojekt realisieren können, nicht etwa solche, die sich ihre Moral unabhängig vom Kategorischen Imperativ egoistisch erfinden.

7.
Eine menschliche Organisation, die uns lehren kann, Hoffnung haben zu dürfen und praktisch Hoffnung zu gestalten, ist für Kant grundsätzlich die (protestantische) Kirche. Wenn Kant in dem Zusammenhang von Kirche spricht, meint er damit die Vereinigung aller rechtschaffenden Menschen, die den Frieden auf dieser Welt schrittweise befördern. Politisches Handeln ist in der Kirche notwendig, sofern es dem Weltfrieden dient.

8.
Der dogmatische Glauben der Kirche wird bei Kant also aufgehoben zugunsten einer Gemeinschaft derer, die den Frieden der Welt als Ausdruck ihres Glaubens an das Reich Gottes verstehen. Und dieses Handeln ist nur möglich in der Kraft der Hoffnung. Die Theologen sollen also den Glaubenden sagen: „Ihr habt alle Berechtigung zu hoffen“. Und diese Hoffnung dürfen sich die Menschen (in der Kirche) nicht zerstören lassen, durch zynische Einwände, etwa: „dass doch alles nichts nützt“ usw. „Diesem Zynismus dürfen wir niemals erliegen“, betont Kant. Zynismus kann tödlich sein. „Es ist für Kant ein Gebot der moralischen Selbstachtung, an den politischen Zielen von Rechtsstaat, liberaler Demokratie, Gerechtigkeit, internationaler Kooperation und globalem Frieden festzuhalten. Denn ohne Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Frieden ist ein menschenwürdiges Leben nicht möglich. Wir können (und dürfen CM) diesen Anspruch nicht aufgeben, sonst geben wir unsere Menschlichkeit auf“ (Marcus Willaschek, „Kant“, München, 2024, S 42f.).

9.
Dieser politische Aspekt der Hoffnung im Denken Kants ist oft eher übersehen worden. Viele LeserInnen konzentrierten sich auf Kants eher individualistische Überzeugung: Dass der rechtschaffene Mensch in dieser Welt mit so vielen Übeltätern zwar scheitert und darüber zu verzweifeln droht. Aber, so meint Kant, aufgrund der von ihm als Postulat konzipierten Unsterblichkeit der Seele, habe der gescheiterte, aber rechtschaffene Mensch die begründete Hoffnung: einen Zustand des (göttlichen) „Höchsten Gutes“ zu erleben. Den „der gegenwärtige Zustand der Welt, in dem viele Menschen unverschuldet leiden, ist nach Kant eine moralische Zumutung“ , also etwas zu Überwindendes. (Marcus Willaschek, Kant, a.a.o. S.138).

10.

Die Soziologin Eva Illouz analysiert in ihrem neuen sehr empfehlenswerten Buch “Explosive Moderne” (Berlin, Suhrkamp, 2024) auch die falsche, weil unmenschliche “Hoffnungs” – Propaganda etwa in den kapitalistischen USA: Dort wird Hoffnung als reflektierte vernünftige Lebensorientierung zugunsten eines aktiven Handelns im Sinne der Menschenrechte völlig umgedeutet in den “amerikanischen Traum”: Und der verspricht den Armen und dem Mittelstand eine glänzende materielle Zukunft, einen Aufstieg nach oben mit einem Leben in unbegrenztem Reichtum. “In Gesellschaften, die so von Ungleichheit bestimmt sind wie die USA, ermöglicht diese Hoffnung es, Klassenkonflikte zu verwischen und die vielfältigen Weisen, in denen die Gesellschaft ihre Versprechen bricht, unkenntlich zu machen” (Eva Ellouz, a.a.o. S. 67). Wer dem amerikanischen Traum folgt, lebt also als Mensch, der von dem ewigen Erfolgsstreben nicht lassen kann und dann doch in dieser falschen Hoffnung scheitert. Der amerikanische Traum verändert die Hoffnung in die Erwartung künftigen materiellen Wohlstands, in die Hoffnung auf ein Leben , “das nie Zufriedenheit erlangen kann und in vergeblichem Warten versandet. ” (a.a.O. S. 71).

11.

Von dieser politischen Ideologie der Hoffnung als einem reduzierten, nur ökonomisch – kapitalistischen Traum kann  philosophische Reflexion befreien, die Überlegungen Kants oder auch die Erkenntnisse Václav Havels , des entscheidenden Denkers der “Samtenen Revolution” in der Tschechoslowakei. Im Jahr 1985, noch unter kommunistischer Herrschaft, reflektierte Havel über die wahre Hoffnung in dem Buch “Kreuzverhör”: “Hoffnung ist ein Zustand des Geistes…Hoffnung ist eine Dimension unserer Seele…Hoffnung ist keine Prognostik. Sie ist eine Orientierung des Herzens, die die unmittelbar gelebte Wwlt übersteigt und irgendwo in der Ferne verankert, hinter ihrn Grenzen…Hoffnung ist nicht Optimismus… Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht” (zit. in Illlouz S. 55). Die Nähe der Erkenntnisse Havels zu denen Immanuel Kants müssten hier weiter ausgearbeitet werden, sie sind offensichtlich:  “Hoffnung ist die Gewissheit, dass etwas Sinn hat…”

12.
Wer das neueste Buch des Historikers und Autors Rutger Bregman (Niederlande) liest mit dem Titel „Moralische Ambition“, Rowohlt – Verlag, 2024, hat den Eindruck: Da werden Kants Erkenntnisse aktualisiert, da wird das Hoffen – DÜRFEN als Erlaubnis und Aufforderung, zu hoffen und politisch tätig zu werden, für heute kreativ aufgegriffen und weiter geführt. “Wer wird leben im Gedächtnis der Menschen?” Ein zentraler Satz Rutger Bregmans: „Nicht die reichsten, sondern die hilfreichsten Menschen werden von der Geschichte erinnert“.

13.
Nebenbei:
Über die Bedeutung des in der Hoffnung erschlossenen höchsten Gutes wird diskutiert: Die einen Kant – Kenner betonen: Im Sinne Kants werde dann Gott im „Jenseits“ die moralische Qualität eines jeden Menschen prüfen und die Bösen bestrafen und die Guten belohnen. Im Laufe der Zeit, betont der Kant – Forscher Marcus Willaschek, habe sich „Kants Verständnis des höchsten Gutes immer weiter von einer `religiösen` zu einer `säkularen` Konzeption verschoben“ (S. 142). Gott werde nicht mehr als himmlischer Richter gesehen, sondern als ein Schöpfer, „der die Natur so geschaffen hat, dass wir Menschen in ihr das höchste Gut aus eigener Kraft realisieren können“ (ebd.).

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Von der Tiefe in die Stille – Wege in die Freiheit: Durch Musik!

Ungewöhnliche neue Klänge der Orgel: Die Komponistin Claire M. Singer.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.12.2024

1.
Musik führt ins Nachdenken … eigener Art, Musik erweckt den Geist und ermuntert die Sinne, führt ins Schweigen. Erst dann werden wieder wahre Worte wirklich. Musik ist deswegen unverzichtbar. Aber Musik hat in sich selbst ihren eigenen Sinn, dient keinem „Nutzen“, keinem greifbaren Zweck. Und auch dies ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Musik – auch in der Rolle der ZuhörerInnen – ist eine Vielfalt von eigenen Sprachen, die wir nicht in die Begriffssprachen übersetzt können. Oder nur in Andeutungen und Metaphern.

2.
Wir empfehlen heute im „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ das Werk einer Komponistin und Performerin von Orgel – Musik, es geht um eine Verbindung von klassischen Klängen und elektronischer Musik. Die Orgel – Komponistin Claire M. Singer (sie spielt auch Cello) lässt sich dabei von ihrer Heimat Schottland inspirieren. Ohne in Klischees zu geraten: Es ist wohl das Erleben dort von dramatisch zu nennenden Landschaftsformen… in einer Natur der Stille und der Widersprüche gleichzeitig. Werden sie sich versöhnen? Musikalisch vielleicht. Und wenn man schon versucht, diese Musik in Worten weiter zu geben: Es werden eher “Flächen” präsentiert, also lang andauernde, oft gleichbleibende Klänge, die in Abgründe weisen oder sanft in eine Höhe streben. “Flächen”, auf denen sich oft eine Art sanfter Gesang zeigt…Hoffnungszeichen vielleicht, Wege in die Freiheit auf einem dunklen “Boden”, auf “Flächen”…

3.
Claire M. Singer LINK hat für ihre Kompositionen (erschienen als CD bei TOUCH Music UK) zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Seit 2012 ist Claire M. Singer Musikdirektorin für Orgel am preisgekrönten Veranstaltungsort Union Chapel in Islington, London.
Sie gründete das Festival „Organ Reframed” zur Präsentation experimenteller Orgel- Musik.

4.
Wir empfehlen Claire M. Singers CD mit dem Titel „Saor“, ein Wort aus der Irischen Sprache: Es bedeutet “frei”.

5.
Thaddeus Herrmann, Redakteur bei DASFILTER,  LINK , dem Medium und der Plattform für Kultur und Gesellschaft der Gegenwart, hat eine „Plattenkritik“ verfasst:

„Wie 2023 plötzlich auszuhalten war“
Aus den Ohren, aus dem Sinn. Sechseinhalb Jahre ist es her, seit ich zuletzt über die schottische Komponistin Claire M Singer schrieb. Nun ist seitdem auch tatsächlich wenig von ihr erschienen: „Saor“ ist ihr drittes reguläres Album, dazwischen gab es noch eine EP und eine Compilation mit Stücken, die in der Zwischenzeit purzelten.
„Saor“ ist mein Album des Jahres. Es reißt mich mit wie nichts anderes mich in den vergangenen zwölf Monaten mitgerissen hat. Die Art und Weise der konzertanten Entschleunigung, die Singer in und mit ihrem Orgelspiel entfaltet, war mein Rettungsanker in den vergangenen Monaten, in denen es familiär einiges durchzustehen gab, eine Periode der Vorbereitung auf die nächste Phase in meinem Leben. Das unendliche Glück, das mir persönlich widerfuhr (und anhält) war der eine Kraft gebende Ruhepol, die Stücke auf „Saor“ der andere.
Für Singer markiert „Saor“ den Beginn einer Alben-Trilogie, in der sie die Eindrücke langer Wanderungen durch ihre schottische Heimat verarbeitet. Sie schreibt: „Saor follows two narratives: my trekking across the Cairngorm mountains in Aberdeenshire through the granite plateaux, corries, glens and straths, and my exploration of the 1872 Conacher organ in Forgue Kirk Aberdeenshire where many of my ancestors lie.“ („Saor folgt zwei Erzählungen: meiner Wanderung über die Cairngorm-Berge in Aberdeenshire durch die Granitplateaus, Kare, Täler und Senken und meiner Erkundung der Conacher-Orgel von 1872 in Forgue Kirk, Aberdeenshire, wo viele meiner Vorfahren liegen.“)
Mit ihrer Liebe zur Orgel als Instrument ist längst nicht mehr allein. Viele Musiker:innen – gerade die :innen – haben die Kraft der Pfeifen, egal ob groß oder klein, in den vergangenen Jahre für sich entdeckt. Singer putzt sie alle weg. Die langgezogenen Aufbauten, die schiere Kraft und Macht der sich Schritt für Schritt und Akkord für Akkord entwickelnden durchkomponierten Drones legt einen Mantel des Schweigens über alles mit Beats. „Saor“ ist eine hymnische Superlative der euphorischen Zurückhaltung. Wie die Musikerin ihr Orgelspiel mit Mellotron, Trompete, Cello, Klarinette und Elektronik verbindet absolut meisterhaft. Mal hell und strahlend, mal dunkel und dräuend, mal auch bewusst noisy. „Saor“ („frei) ist ein kammerspielerischer Befreiungsschlag.

Quelle: LINK.

Claire M. Singer „Saor“, Published by Touch Music, UK, 2023. Im deutschen Internet für 13,80 € erhältlich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin,    www.religionsphilosophischer-salon.de .

Soll man Menschen wirklich “menschliche TIERE” nennen?

Die 22. Frage der “unerhörten Fragen”…

Von Christian Modehn am 27. November 2024

1.
Manchmal stolpert man bei der Lektüre wichtiger Bücher sogar angesehener AutorInnen über verstörende Formulierungen. Man muss jetzt die unerhörte Frage stellen: „Sind Menschen denn wirklich nur menschliche Tiere?“

2.
Dies ist keine Frage, sondern eine Erkenntnis der prominenten Soziologin Prof. Eva Illouz (Paris/Jerusalem) in ihrem lesenswerten Buch „ Explosive Moderne“ (Berlin, 2024). Dort schreibt Eva Illouz auf Seite 106 eher nebenbei, so dass man die Worte leicht ignoriert: “Sogar bei nichtmenschlichen Tieren lässt sich beobachten…“ usw. Sie spricht von Versuchen mit „nichtmenschlichen Tieren“, mit Affen. Bei den Affen – Tests geht es um ein gewisses Vorhandensein von Neid und Gleichheit unter den Affen. Also ein Thema, um im Sprachspiel zu bleiben, dass nicht nur bei nichtmenschlichen Tieren, sondern auch auch bei „menschlichen Tieren“ (den Menschen) sehr relevant ist.

Wenn es, wie Eva Illouz schreibt, „nichtmenschliche Tiere“ gibt, dann muss es auch menschliche Tiere geben.

3.
Es ist keine Frage: Menschen sind Teil der Natur, sie haben sehr viele Verbindungen mit der Tierwelt. Es geht gar nicht darum, die Erkenntnisse der Evolution zu ignorieren. Differenziertes Denken und Sprechen mit Sinn für Nuancen ist erforderlich.
Trifft es die Bedeutung des Menschen im Gesamtzusammenhang der Natur, ihn, den Menschen, als „menschliches Tier“ zu beschreiben?

4.
Wenn – leider – viele Tiere in den Zoologischen Gärten zu besichtigen sind, sollten dann nicht auch wieder menschliche Tiere, also Menschen, dort ausgestellt werden? Das wurde schon in den Zoologischen Gärten und Tierparks im 19. Jahrhundert praktiziert, bei den sehr beliebten „Völkerschauen“ im „Menschenzoo“ in allen Staaten Europas, die Kolonien „besaßen“. LINK:

5.
Doch über diese ironische Frage hinaus: Man stelle sich vor, die Definition des Menschen als „menschliches Tier“ setzt sich in den Köpfen und Gefühlen der Menschen fest: Wir sind als Menschen eben „letztlich“ Tiere… Das heißt: Als “Tiere” eben nicht gebunden an Vernunfterkenntnis und Respekt vor ethischen Grundsätzen.

6.
Die philosophische Anthropologie hat schon sehr früh, mit Aristoteles etwa, den Menschen als „Zóon lógon échon“ definiert, auf Latein dann „animal rationale“, also „vernünftiges Lebewesen“ bzw. als „vernünftiges Tier“. Aber durch die Qualifizierung dieses Lebewesens, dieses Tieres, durch die Vernunft, durch den Geist, wird der Mensch als etwas Besonderes und Einmaliges gegenüber der Naturwelt der Tiere herausgestellt. Ich weiß, in dieser Sonderrolle des Menschen haben viele unvernünftige Menschen viel Unsinn und Unheil in die Welt gebracht durch ihre nationalistischen, egoistischen, kriegerischen Ambitionen.

7.
Aber diese traurigen Erfahrungen mit der praktizierten Unvernunft so vieler Menschen sind kein Grund, das Tierische als den gemeinsamen Nenner von Tieren und Menschen zu propagieren. Mir scheint, diese Beschreibung des Tierischen als der gemeinsamen Grundlage von Tier und Mensch, ist eine unsinnige und falsche Anbiederung an den Naturalismus.

8.
Wer die nichtmenschlichen Tieren ganz dicht an die menschlichen “Tiere” rückt und etwa schwärmend von den intelligenten Affen spricht, sollte bitte zeigen, wie diese nichtmenschlichen Tiere kulturelle Leistungen der Musik und Dichtung hervorbringen, wie sie Gesellschaft politisch durch Gesetze organisieren und so weiter.

9.
Sollen die universell gelten Menschenrechte etwa nun im Rahmen einer naturalistischen Korrektheit „Rechte der menschlichen Tiere“ heißen …?

10.
Wenn man heute zurecht von Tierrechten spricht und diese fordert und fördert, dann sind es immer Menschen, die diese Gesetze formulieren. Tiere als Tiere können für sich selbst keine universell geltenden Tier – Rechte formulieren. Das wäre nicht „artgerecht“… sie sind halt bloß Tiere.

11.
Dass es hingegen unter den „menschlichen Tieren“ viele „tierische Menschen“ gibt, ist zweifelsfrei. Es sind Menschen, die wie aggressive Raub – Tiere handeln, nur an der Befriedigung des eigenen maßlosen „Hungers“ interessiert. Man denke an alle Kriegstreiber und gewalttätigen Autokraten, die sich moralisch auf einem tierischen, d.h.unvernünftigen Niveau bewegen. Sie wieder in die humane vernünftige Menschenwelt zurückzuholen, wird eine mühsame Sisyphus – Arbeit werden.

12.

Warum also diese etwas ausführliche “unerhörte Frage”? Wir Menschen sollten uns nur dann “menschliche Tiere” nennen, wenn dies in biologischen, genetischen, evolutionsgeschichtlichen Studien geboten erscheint. Sonst eben bleiben wir Menschen und nennen uns Menschen (die sehr gern die Natur und die Tiere wirksam respektieren müssen). Nebenbei: In den Kirchen werden die Christen ja gern als “Christen-Menschen” angesprochen. Ziemlich problematisch wäre es z.B., wenn die PfarrereInnen die Christen ansprechen “liebe menschliche Christen- Tiere”…Oder wenn man eine prominente Autorin vorstellen würde mit den Worten: Sie ist ein prominentes nicht-tierisches Tier. Welch ein Blödsinn wäre dies. Wichtiger wäre es zwecks politischer Aufklärung, von tierischen Menschen unter den brutalen und verblendeten Dikatoren dieser Welt zu sprechen. 

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

 

 

 

Moral und Unmoral bestimmen die Politik: (K)ein ewiges Thema

Zu spät handeln – das Hauptproblem der Demokraten im Kampf gegen unmoralische Politiker.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 19.11.2024.

1.
Die USA werden sich unter Präsident Trump „in ein egoistisch agierendes Imperium“ verwandeln. Diese richtige Erkenntnis setzt sich weltweit durch, auch unter Politologen, etwa bei Professor Herfried Münkler, dem „Theoretiker der Politik“. Er kann auf den Begriff Egoismus nicht verzichten, wenn er ein weiteres Regime Donald Trumps bewertet. (Fußnote 1). Egoismus ist eine Kategorie der Moral, und das muss unterstrichen werden.

2.
Politik hat mit Moral zu tun, Politiker handeln als Menschen immer moralisch. Aber ihre Moral kann zur Unmoral werden, zum schädlichen Egoismus (Fußnote 2). Entscheidend ist: Dieser Egoismus hat einen Namen: Nationalismus. Und Nationalismus/Egoismus einer Nation, eines Staates, äußert sich heute immer in den gleichen Parolen und Slogans: „America first“. „Deutschland zuerst“, „La France d` abord“ und so weiter.

3.
In diesem schädlichen und schändlichen Egoismus als Nationalismus gilt den „einheimischen“ Bürgern wie deren gewählten Politiker (um bei den Demokratien zu bleiben) das eigene Wohl als absolut entscheidend. Wohlergehen (es sind immer Minderheiten, den es auch in den Demokratien umfassend „wohl ergeht“) gibt es für Wähler wie deren Politiker nur in der absoluten Bevorzugung der eigenen Nation. Und dafür werden Feinde im Innern des Staates wie außerhalb der Nation fixiert, als auszugrenzende Störenfriede konstruiert, zu Un – Menschen degradiert, die das angeblich selbst erarbeitete Eigentum bedrohen. „Die Nation braucht Feinde, weil das die Suche nach der eigenen Identität erleichtert“, schreibt Peter Alter in seinem Beitrag „Nation“ in der „Enzyklopädie Philosophie“ Band II, (Hamburg 2010, Seite 1702.)

4.
Nationalismus als Ideologie und Praxis ist trotz aller militärischen Aufdringlichkeit immer auch ein Zeichen der Schwäche der Nationalisten: Sie brauchen ihre Feinde (wie üblich seit Jahrhunderten „die“ Ausländer, die Flüchtlinge, Muslime, Juden, Homosexuelle, linke Intellektuelle usw.), um Stärke und Bestand zu demonstrieren. Eine Einsicht, der sich übrigens auch der Sozialethiker Kardinal Reinhard Marx (München) nicht verschließen kann: „Nationalismus bedeutet Krieg“ sagte er 2019 in München. Aber er vergaß dabei zu beklagen, dass die katholische Kirche, selbst ein uraltes Imperium, auch ihre Feinde brauchte (und braucht). Vor allem die Ketzer und Häretiker und Schismatiker, die sie verurteilte und vernichtete und … die Juden und so viele andere. (Fußnote 3).
Weil die Egoisten/Nationalisten sich bedroht fühlen von vielen Seiten, müssen sie Kriege führen. Sie müssen zeigen, dass sie stärker sind als andere Nationen und deren Nationalisten. Sie wollen auf fremdes Land zugreifen oder das eigene Land mit Mauern und Stacheldraht einzäunen.

George Orwell, Autor des Romans “1984”, hat im Jahr 1945 einen Essay mit dem Titel “Notes on Nationalism” (“Über den Nationalismus”, 2020, DTV, 62 Seiten) veröffentlicht. Dieser Text verdient viel Aufmerksamkeit. Der Nationalist so Orwell – steigert obzessiv und kämpferisch die eigene Nation ins Erhabene, bis hin zur Ignoranz gegenüber der Wirklichkeit. Wichtig ist Orwells Erkenntnis: Die Ideologie des Nationalismus als maßlose und obzessive Überschätzung der eigenen Nation ist eben nicht nur auf die Nation bezogen, sondern auch auf politische Gesellschaften, Parteien, Kirchen: Auch sie werden ins irrational Erhabene gesteigert, um dann verehrt, heilig gesprochen, als absolute Wahrheitgewaltsam verteidigt zu werden.

5.
Die aggressiven politischen und ökonomischen Egoisten/Nationalisten sind vor allem in den rechtspopulistischen Regierungen zu finden, bei Trump in den USA und bei Orban in Ungarn oder in Parteien (FPÖ Österreich, AFD Deutschland, Le Pen „Rassemblement National“ Frankreich, Wilders in Holland, Meloni in Italien usw.). Auch demokratische Parteien haben nationalistische Ambitionen, aber diese Parteien verhalten sich dabei diskreter, man denke an liberale Parteien und deren Eintreten für ihre superreiche Klientele.

6.
Demokratische Parteien übernehmen jedenfalls – aus taktischen Gründen – allzu oft auch zentrale Propaganda – Sprüche der rechtsextremen Parteien. Vor allem schließen sie sich gern der Vorstellung an von der „furchtbaren Gefahr“, die angeblich von „dem“ Problemausgehen, und das sind Ausländer, Fremde, Flüchtlinge…
Demokratische Parteien wollen mit der Übernahme gewisser rechtsextremer nationalistischer/egoistischer Parolen ihr eigenes Land wie eine Festung gestalten, die eigene Nation wie die EU: Das europäische Bollwerk gegen die Fremden soll wehrhaft aufgebaut werden. In dieser Fixierung auf die Konstruktion einer europäischen Festung (EU) erliegt die Vernunft der Angst. Die Vernunft wird eingeschläfert und blind, so dass die wahren Feinde der Demokratie – etwa Putin -Russland – nicht rechtzeitig als Gefahr erkannt und benannt und den Bürgern/Wählern deutlich gemacht werden.
Wenn auch demokratische Parteien egoistisch – nationalistisch werden, ist das Ende dieser Demokratien absehbar.

7.
Die viel besprochene große „Zeitenwende“ ist also weltweit heute die Wende zum Egoismus als Nationalismus. Egoismus wird die politische Agenda bestimmen wird bzw. bestimmt sie schon längst. Wer für eine gerechte Gesellschaft und einen demokratischen Staat noch eintreten will, kümmere sich bitte intensiv um den allseits vorherrschenden Egoismus als Nationalismus.

8.
Zurück zum Thema „Egoismus als ein Begriff der Ethik“.
Ethik ist die Erforschung von allem, was aus freien menschlichen Entscheidungen an Gestaltungen und Taten folgt. Und dabei kann viel Unheil gestaltet werden als Ausdruck freier, aber gewissenloser Entscheidungen. Ethik hat also auch Unmoral zu untersuchen. Dadurch zeigt sich: Ethik ist eine normative Wissenschaft, sie hat als universelles Kriterium zur Beurteilung moralischen Verhaltens die universell geltenden Menschenrechte.

9.
Warum sollen diese Erkenntnisse zu den Normen der Moral nicht auch für Politiker gelten? Demokratische Politiker müssen sehr „jonglieren“, und dabei mal mehr mal weniger die Menschenrechte ignorieren, zumal, wenn sie mit undemokratischen Herrschern und Diktatoren verhandeln müssen. Die offene Frage ist: Wann beginnt dabei der Verrat an den Menschenrechten, wann beginnt die Unmoral im Verhandeln mit den Diktatoren oder illiberalen Herrschern? Diese Frage wird heute meines Erachtens nicht ausführlich in der politischen Ethik und der Philosophie reflektiert.

10.
Man hat den Eindruck: Demokratische Politiker realisieren „ein bißchen noch“ die universal geltenden Menschenrechte im Verhandeln mit Autokraten, Diktatoren usw. In diesem Verhalten demokratischer Politiker kann sich eine Angst vor den Autokraten verbergen, vielleicht sogar ein gewisser Respekt vor deren errungener Allmacht. Deswegen wohl verschieben demokratische Politiker immer wesentliche Aktivitäten zugunsten der Menschenrechte im Umgang mit Autokraten usw. auf bessere, spätere Zeiten: Sie überschätzen dabei die angebliche Allmacht der Autokraten und Diktatoren. Und je länger demokratische Politiker zögern, um so stärker werden Autokraten und Diktatoren.

11.
Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Angriffskrieg Russlands (Putins) gegen die Ukraine. Hätte die westliche Welt schon in den ersten Wochen nach dem Beginn der Aggression, also im März 2022, Putin – Russland mit aller ihrer zur Verfügung stehenden militärischen Kraft eingeschränkt und niedergeschlagen, gäbe es wahrscheinlich diesen Krieg gegen die Ukraine und die demokratische Welt heute gar nicht mehr.

12.
Und jetzt müssen vernünftige Beobachter wie einige selbstkritische Politiker der Demokratien die entscheidende Erkenntnis zugeben: Es ist jetzt (20.11.2024) schon zu spät, um Russland noch zurückzudrängen und die Ukraine in ihrer ursprünglichen Gestalt von 2021 zu retten und die Demokratien zu verteidigen. In solchen Fällen sagen die zu spät handelnden Demokraten gern: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“. Aber diese populäre „Weisheit“ meint ja auch: Hoffnung kann wirklich sterben (eben zuletzt)…Und das wäre das Ende menschlichen Lebens, eines humanen geistvollen, vernünftigen Lebens, das den Namen verdient. Dann hat der Nihilismus total gesiegt.

13.
Das aktuelle politisch – moralische Thema Egoismus/ Nationalismus spitzt sich angesichts des mörderischen Wahns des nationalistischen Putin – Russlands zu der Frage zu: Wann lernen Demokraten und demokratische Politiker, rechtzeitig das Rechte und Richtige zu tun! Also den historischen Augenblick richtig einzuschätzen? Und natürlich auch ein Risiko einzugehen, indem man – selbstverständlich in einer Situation von Ungewissheit – rechtzeitig handelt. Dieses Risiko ist aber geringer als das Risiko des Zuwartens, das die Lage nur weiter verschärft und für Demokraten verschlechtert. Man muss dabei klar sehen, welche politischen Kräfte in Demokratien das Zuwarten in einer Kriegs- und Krisensituation fordern und fördern. Sie haben ökonomische Interessen, denn langandauernde Kriege verlangen eben auch umfassende Waffenproduktionen und entsprechende Gewinne…

14.
Das ist die entscheidende Lebenskunst bzw. Philosophie auf dem weiten Feld des Egoismus als Nationalismus: Es gilt immer rechtzeitig im Sinne der Menschenrechte das Richtige zu tun, und unbedingt zu vermeiden, dass man sich eines Tages wieder einmal sagen muss: Es ist zu spät für die Vernunft und für vernünftiges humanes Handeln.

15.
Rechtzeitig Handeln, bevor es zu spät ist, so heißt der entscheidende ethische Imperativ für die wenigen noch verbliebenen Demokratien in dieser Welt. Diese Erkenntnis gilt für die Außen- (Kriegs)-Politik wie für die Innenpolitik, die sich konzentrieren muss nicht nur auf die Überwindung rechtsextremer Parteien, sondern auch auf die Rückgewinnung demokratischen Denkens und Handelns bei undemokratisch denkenden rechtsextremen Wählern.

Fußnote 1:
Herfried Münkler, „SPIEGEL“, Nr. 47, 2024, Seite 116.

Fußnote 2:
Es gibt auch einen gesunden Egoismus, verstanden als die reflektierte Sorge um sich selbst im Zusammensein mit anderen Menschen. Die natürlich den gleichen Anspruch haben, sich um sich selbst zu sorgen…

Fußnote 3:
https://www.katholisch.de/artikel/19834-kardinal-marx-nationalismus-das-bedeutet-krieg

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

Jacob Böhme – ein Religionsphilosoph für unsere Zeit.

Ein Hinweis von Christian Modehn, am 1.9.2017, erneut veröffentlicht am 15. Nov. 2024, anläßlich des 400. Todestages Jacob Böhmes am 17.11.2024! Geboren wurde Jacob Böhme am 24.4.1575 in Stary Zawidów (Schlesien), gestorben ist er am 17.11.1624 in Görlitz.

1.

Jacob Böhme verdientBeachtung, Lektüre, Mitdenken und Debatte vielleicht heute noch mehr als im 16. und 17. Jahrhundert. Hegel sagt in seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ (Band 3, Suhrkamp 1971, Seite 94) sehr treffend: “Böhme ist genannt worden der philosophus teutonicus, und in der Tat ist durch ihn erst in Deutschland Philosophie mit einem eigentümlichen Charakter hervorgetreten. Es ist uns wunderbar zumute beim Leben seiner Werke; und man muss mit seinen Ideen vertraut sein, um in dieser höchst verworrenen Weise (der Texte Böhmes, CM) das Wahrhafte zu finden“. Eine mühsame Aufgabe auch heute! Immerhin widmet Hegel in seiner Vorlesung Böhme viel Aufmerksamkeit! Das Böhme Kapitel in dem genannten Buch umfasst immerhin 28 Seiten! Dabei ist Hegel aus seiner Position durchaus kritisch gegen Böhme, spricht von der „Barbarei in der Ausführung der Böhmeschen Gedanken“ (S. 118), von „gewaltsam sinnlichen Vorstellungen“ in Böhme Sprache. Dabei respektiert aber Hegel die “größte Tiefe“ von Böhmes Gedanken, „diese Tiefe hat sich mit der Vereinigung der absolutesten Gegensätze herumgeworfen“ (ebd.).

2.

Denn der Philosoph und Mystiker aus Görlitz hat eine zentrale Erfahrung gemacht und zu Wort gebracht, auch wenn seine Sprache, seine Begriffe heute manchmal sehr vermischt und schwer zugänglich erscheinen: Aber es gibt eine zentrale Einsicht, sie berührt genau den heutigen globalen Umbruch der religiösen Situation in einer säkularisierten Welt. Gleichzeitig bieten Erfahrungen und Erkenntnisse Böhmes gerade auch Auswege an, angesichts des langsamen, aber sehr deutlichen Verschwindens der orthodoxen, katholischen oder evangelischen, aber in allen Fällen dogmatisch versteinerten Kirchenformen in Europa.

3.

Was ist also inspirierend in Böhmes Erkenntnis? Dass Gott als der Ewige in jedem Menschen lebt. Und dass dies das einzig Wichtige und Entscheidende ist: Alle bürokratischen Kircheninstitutionen, aller Klerus, alle feierlichen Messen und Gottesdienste, alle Lehrschreiben usw. sind gegenüber der ewigen Präsenz des Ewigen IM Menschen mindestens sekundär! Was ist entscheidend? Die Achtsamkeit auf diesen Gott IN mir und IN uns. Und folglich wäre dann die Einrichtung von Gruppen, Kreisen, Salons usw., die diese Qualität des Menschseins in aller Freiheit auch mit so genannten Atheisten besprechen.

Man möchte meinen, dass Böhme mit seinem absoluten Plädoyer für den Gott IN mir und IN uns eine gewisse Form moderner liberaler, d.h. auch freisinniger Theologie da formuliert. Dem wäre später eingehend einmal nachzugehen.

4.

Die Gottesbeziehung ist nach Jacob Böhme also nichts Äußerliches, keine zuerst durch Worte. Lehren und Dogmen vermittelte Lebenshaltung. Das setzt ihn heraus aus der lutherischen Orthodoxie. Manche Überzeugungen wirken gar katholisch, etwa wenn er die Weisheit verehrt wie eine jungfräuliche, weibliche Seite Gottes.

Auf Gott als der inneren und ewigen und ungeschaffenen und damit vom Tod nicht berührten Wirklichkeit bezieht sich der Mensch, wenn er sich auf sich selbst, seinen Geist und damit seine Freiheit bezieht.

5.

Diese eine entscheidende Grundeinsicht wurde Jacob Böhme förmlich geschenkt: Alles gründet bei ihm auf einer mystischen Erfahrung, d.h. einer plötzlichen Einsicht, einer Erleuchtung: Die er aber nicht spinös oder fanatisch herausschreit, sondern in einem langen Reflexionsprozess gedanklich und sprachlich bearbeitet und – dem Thema angemessen – mühsam zu Papier bringt. Man nennt ja manche Komponisten, wie Mozart, mit dem etwas altertümlichen Wort „Genie“. Ebenso ist es ja sicher treffend, Dichter, wie Goethe, genial zu nennen, ohne dabei in einen säkularen Heiligenkult umzukippen. Mit diesem Vorbehalt kann man selbstverständlich auch Philosophen genial nennen in der Konzentration ihres Gedankens. Jacob Böhme könnte wohl zu diesen Philosophen gehören. Er, der kluge Autodidakt, der ja bekanntermaßen das Schusterhandwerk gelernt hatte, also alles andere als ein stolzer, klerikal gebildeter Pfarrer oder gar Theologieprofessor war. Er hat sich alle Kenntnis selbst erworben und sich in damalige Theologie, Philosophie und die Wissenschaften eingearbeitet. Dass er dabei auch auf die Alchemie in gewisser Hinsicht zurückgriff, hängt ab von seiner Bindung an die gängige Kultur seiner Zeit. Er kannte die Arbeiten des damals hoch geschätzten Naturphilosophen Paracelsus (also Theophrastus Bombastus von Hohenheim, 1493 – 1541). Schon Paracelsus legte – wie Müntzer – allen Nachdruck auf eine Kirche, die vom Geist, nicht aber vom toten Buchstaben, regiert wird. Die theologischen Auffassungen (seine Abweisung der gewaltsamen Mission, der Bekehrungen, sein Eintreten für die Gleichheit aller Stände) verdienen viel mehr Aufmerksamkeit als ihn bloß in die Ecke von Astrologie oder Magie zu stellen).

6.

Jacob Böhme, der „Laie“ also, störte den dogmatischen Betrieb der lutherischen Kirche in Görlitz und anderswo. Nicht weil er stören wollte, sondern weil seine Erkenntnis so universal ist, dass sie den Frieden in der Welt, mitten im Dreißigjährigen Krieg, hätte bringen können: „Gott ist kein Gott der Christen“, sagt Böhme sehr treffend, Gott gehört keiner Konfession, Religionskriege sind Gotteslästerung, könnte man fortfahren. Religionskriege haben bis heute ihre Ursache in der Bindung an Dogmen, die der Vernunft nicht zugänglich. Dogmenferne und Friedfertigkeit gehören also auch für Böhme zusammen!

7.

Er, der sich auf die Erfahrungen des heiligen Geistes berief und diese wichtiger fand als die ewige Wiederholung und das ständige Nachsprechen von Bibelworten, Böhme also, hat die Menschen seiner Zeit bewegt, weil er keine trockene Bücherlehre verkündete, sondern aus dem Leben selbst stammende Erweise des Wirkens Gottes im Menschen. Diese starke Bindung an die Wirkkraft des Geistes – gegen den trockenen Buchstaben der Bibel – erinnert an Thomas Müntzer, den Böhme sicher nicht kennen konnte: Denn Luther und seine Nachfahren hatten auch für den geistige Berschwinden des Reformators Müntzer gesorgt.

8.

Aber auch Böhme wurde verfolgt, geschmäht, diffamiert. Die Herren der Kirche machten ihm das Leben sehr schwer. Seine Texte duften in Deutschland nicht gedruckt werden, als Abschriften von Hand wurden sie weitergereicht. In Holland, dem liberalen Land, konnten Böhmes Texte gedruckt werden, nicht nur auf Deutsch oder Niederländisch, sondern auf Englisch. Eine feste „Böhme – Gemeinschaft“ oder gar “Böhme – Kirche“ hat sich langfristig nicht gebildet, auch wenn eine kleine Begleitbroschüre zur Ausstellung (in Dresden 2017) auf S. 6 betont: „Viele Anhänger Böhmes gingen wegen religiöser Verfolgung ins niederländische Exil“.

9.

Der bekannte Spezialist für westliche esoterische Philosophie, Prof. Wouter J. Hanegraaff, UNI Amsterdam, erwähnt immerhin kleine „Böhme-Gruppen“: wie die „Angelic Brethren“ von Johann Georg Gichtel (1638 – 1710) oder die „Philadelphian Society“ von John Pordage (1607-1681) oder Jane Leade (1623- 1704), die erste `philosophisch – esoterische` Frau, wie Hanegraaff erwähnt (in: „Western Esotericism“, Bloomsbury, 2013, Seite 32). Die Ideen einer „christlichen Theosophie“ (so Hanegraaff) verbreiteten sich dann weiter über Friedrich C. Oetinger, Louis – Claude de Saint Martin und Franz von Baader…

Ein eignes Thema ist die Frage, die Böhme nicht zur Ruhe kommen ließ: Wie kommen Leiden und Böses in die Welt? Böhme denkt in diese Richtung: Wenn Gott der Schöpfer von allem ist, dann müssen auch das Böse, das Leiden, ihren Grund in Gott selbst haben…

10.

Im ganzen gesehen hatte Böhme keine „philosophischen“ Schüler, die – wie etwa im Falle Hegels – nach dem Tod sein Werk „fortsetzten“.   Das ist eine Mangel, zumal wenn man bedenkt, dass bis heute meines Wissens keine ins moderne Deutsch übertragene kritische Gesamtausgabe von Böhmes umfangreichen, verstreut vorliegenden Werken gibt. So müssen viele LeserInnen die veraltet – sprachlichen Zitate durcharbeiten, das ist auch angesichts der an Symbolen reichen komplexen Sprache des Görlitzer Mystikers nicht einfach. Immerhin gibt es eine „Internationale Jacob Böhme – Gesellschaft“ in Görlitz, Vorstandsmitglied ist Sibylle Rusterholz, die insgesamt über die barocke Mystik forscht. Wir sind gespannt auf die Veröffentlichungen dieser Böhme – Gesellschaft.

11.

Es bleibt natürlich ein Problem: Böhme setzt die „Existenz“ Gottes in seinem Denken voraus. Er wird ja förmlich in seiner mystischen Erfahrung von einer Wirklichkeit überwältigt, die er dann Gott bzw. etwas befremdlich „finsteres Tal“ bzw. „UNGRUND“ nennt. Und die Spekulationen zum inneren Leben Gottes selbst sind sozusagen auf Anhieb nur mitvollziehbar für jene, die schon eine reflektierte Kenntnis der „göttlichen Wirklichkeit“ haben. Böhme selbst wollte ja über die Naturerfahrung zur inneren göttlichen Wirklichkeit „durchstoßen“.

Damit will ich sagen: Um die aktuelle Relevanz Jacob Böhmes auch für die modernen Skeptiker und Zweifler deutlich zu machen: Da müsste man wohl versuchen, einen tragenden Sinn-Grund in jedem geistigen Leben gedanklich aufzuweisen und diesen Sinngrund dann gedanklich mit jener Wirklichkeit zu verbinden, die klassisch „Gott“ genannt wurde und wird.

12.

Was mich bei meinen aktuellen Studien besonders freut, dass Böhme selbstverständlich den Menschen als freies Wesen definiert, weil er ja Ebenbild Gottes ist, des – sozusagen „absolut“ – freien Wesens. Wenn der Mensch frei ist, kann er sich selbst für das Gute entscheiden. Die zerstörerische Macht der alle Freiheit und alles Denken vernichtenden Erbsünde ist also für Böhme hinfällig. Nur wenige Jahrzehnte nach Luthers und Calvins Reformation ist Böhme also eine Stimme der Freiheit, eine Stimme der Ablehnung dieser grässlichen Erbsünden-Lehre. Böhme ist deswegen tatsächlich kein treuer Lutheraner, er ist sozusagen ein weiterer, ein radikaler Reformator der Freiheit. Und eines universalen Gottes IM Menschen.

13.

Gleichzeitig, zu Beginn des 17. Jahrhunderts, stand in den Niederlanden der Theologe Jacob Arminius auf, um die Freiheit zu retten in der dogmatischen Starre des Calvinismus. Daraus entstand dann die theologisch liberale und freisinnnige Remonstranten Kirche…Über diesen Zusammenhang Böhme – Arminus müsste auch weiter studiert werden.

14.

Zum Schluss ein zentrales Zitat von Böhme: “Ich trage in meinem Wissen nicht erst Buchstaben zusammen aus vielen Büchern; sondern ich habe den Buchstaben in mir; liegt doch Himmel und Erden mit allem Wesen, dazu Gott selber, IM Menschen“ (in dem genannten Aufsatzband, S. 16).

Und ein hermeneutischer Hinweis zur angemessenen Lektüre: “Hermann Hesse schreibt über Böhme:  Die Lektüre seiner Texte erfordere `ein vorübergehendes Leerwerden`, eine völlig freie Aufmerksamkeit und Seelenstille`“.

Für religionsphilosophisch Interessierte ist es wichtig, den Aufsatzband: „Grund und Ungrund – Der Kosmos des mystischen Philosophen Jacob Böhme“ zu lesen. Der 216 Seiten umfassende, schön gestaltete Band wurde von Claudia Brink und Lucinda Martin herausgegeben, im Sandstein Verlag 2017.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

 

 

Herbert Schnädelbach – ein “frommer Atheist”?

HERBERT SCHNÄDELBACH: Ein freier Denker.

Von Christian Modehn.

Das Interview wurde in der Zeitschrift PUBLIK – Forum Oktober 2009 publiziert.

Wir veröffentlichen das Interview mit Herbert Schnädelbach am 12.11.2024 noch einmal, wenige Tage nach dem Tod des Philosophen. Das Interview fand viel Interesse (allein mehr als 1.200 Seitenaufrufe). Keine Frage: Die philosophischen Stellungnahmen Schnädelbach sind auch heute noch von großer Aktualität.

Herr Schnädelbach, Sie haben als Philosoph den Begriff »frommer Atheist« geprägt. In welcher Weise trifft er für Sie selbst zu?

Herbert Schnädelbach: Ich habe damit zunächst einen Typus von Atheismus beschreiben wollen. Sehr verbreitet ist ja die Vorstellung, dass Atheisten vor allem Menschen sind, die militant den Gottesglauben bekämpfen, sich also als Anti-Theisten gebärden. Aber: Die meisten Atheisten sind vielmehr Menschen, die einfach ohne Gott leben wollen. Diese nachdenklichen Atheisten sagen: Ich will gar nicht lauthals vertreten, dass es Gott nicht gibt, sondern ich glaube einfach nicht an seine Existenz. Und der fromme Atheist ist dann derjenige, der nicht anders kann als die Glaubensinhalte, die er nicht vertritt, doch ernst zu nehmen. In diesem Sinne bin ich ein frommer Atheist. Ich bin einer, der sich darüber aufregt, dass die religiösen Inhalte heute verschleudert werden durch Kommerzialisierung oder durch Instrumentalisierung seitens der Politik. So nach dem Motto: Wir brauchen wieder Werte, wir brauchen sozialen Kitt, und deswegen benötigen wir auch die Religion.

Leiden Sie als frommer Atheist darunter, dass Sie religiöse Glaubensinhalte für sich selbst nicht realisieren können, etwa im Gebet, in Riten?

Schnädelbach: Ich würde das nicht mit »Leiden« beschreiben. Was mich betrifft, so ist mein Atheismus zum großen Teil das Ergebnis einer Befreiung. Ich habe eher das Gefühl, vom Glaubenmüssen erlöst zu sein. Aber natürlich ist da auch ein Bedauern: Menschen mit einem festen Glauben haben es offenbar im Leben leichter. Sie können viel mehr Nöte »wegschieben«, alle Sorgen auf Gott werfen, wie es in der religiösen Sprache heißt. Ich bin mehr auf mich selbst gestellt. Es gibt schon Augenblicke, wo ich es schade finde, dass ich nicht religiös leben kann. Auf der anderen Seite will ich als frommer Atheist diesen Glauben auch nicht. Ich weiß, dass ich nicht glauben kann. Der authentische religiöse Glaube rechnet ja mit Gott, verlässt sich auf ihn. Für mich gilt: Ich kann das nicht. Oder besser: Ich kann das nicht mehr. Es ist eine falsche Vorstellung, dass man sich zum Glauben einfach entschließen kann.

Waren Sie denn in Ihrer Kindheit oder Jugend gläubig?

Schnädelbach: Der Glaube war in meiner Familie ganz selbstverständlich. Die Eltern waren mit einer pietistischen Freikirche verbunden. Da gehörte der Glaube »an den Vater im Himmel« zum Alltag. Wir haben als Kinder schlimme Situationen erlebt bei der Flucht aus Schlesien und dann auch beim Angriff der Alliierten auf Dresden. Zu dem Zeitpunkt wusste ich genau: Wir werden sterben, aber ich hatte keine Angst, denn da war ja diese Stabilität des Kinderglaubens. Bei meinen Eltern war übrigens der Glaube nicht mit äußerem oder innerem Druck verbunden. Der kam dann für mich später im Umfeld der Gemeinde; und mit diesem Druck kamen die Zweifel. Es waren Unstimmigkeiten und Widersprüche in der Lehre, die man so hörte, die mich nachdenklich gemacht haben. Ich fing deshalb an, mich um Theologie zu kümmern. Aber letztlich war das Zweifeln die Triebkraft, mich immer mehr mit Philosophie zu beschäftigen. So ist mein Weg zur Philosophie ein Ausgang aus der kindlichen Geborgenheit im christlichen Glauben gewesen.

Welche Glaubenslehren fanden Sie damals besonders fragwürdig oder belastend?

Schnädelbach: Es waren merkwürdige Ängste, mit denen ich konfrontiert war. Wir hatten zum Beispiel in Leipzig eine Gemeindeschwester, die sagte: »Wir müssen so leben, als wenn Jesus jeden Augenblick wiederkäme.« Und dann haben wir uns Gedanken gemacht: In welches Kino dürfen wir jetzt gehen? Wenn Jesus wiederkommt, will er uns sicher in diesem oder jenem Film nicht antreffen. Wir haben uns ernsthaft den Kopf zerbrochen, ob wir die »Sünde wider den Heiligen Geist« schon begangen hätten. Und dann diese dauernde Pflege von Schuldgefühlen, die gerade im Pietismus sehr ausgeprägt war! So nach dem Motto: »Du musst dich erst bekehren, bevor du glücklich sein darfst.« Diese Lehre hat bei mir nicht funktioniert, Bekehrungserlebnisse habe ich nicht gehabt. Dann kamen Fragen zur Autorität der Bibel und Ähnliches; trotzdem habe ich damals sehr viel von der Bibel gelernt. Aber es stellte sich mir die Frage: Was ist wahr an der Religion?

Könnten Sie nicht auch sagen: Ich habe diesen Pietismus erlebt, aber vielleicht sollte ich eine andere, eine vernünftigere Form von Christentum suchen?

Schnädelbach: Das weiß ich nicht, man kann aus seiner Biografie ja nicht aussteigen. Aber als ich dann später meine Kritik am Christentum formulierte, handelte es sich jedenfalls nicht um eine Verarbeitung meiner religiösen Sozialisation. Meine Religionskritik, die mir so wichtig ist, kann nicht ins Biografische abgeschoben werden!

Sie denken an Ihren viel diskutierten Beitrag »Der Fluch des Christentums«, der den Untertitel trägt: »Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion«?

Schnädelbach: Ja, da habe ich eine kulturelle Bilanz des Christentums zu ziehen versucht, und dies vor allem auf der Grundlage meiner Beschäftigung mit der Philosophie und Kulturgeschichte der Neuzeit. Ich zeige, welche »Geburtsfehler« oder folgenreichen Hypotheken mit der Ablösung des frühen Christentums vom Judentum verbunden waren. So ist meine Streitschrift »Der Fluch des Christentums« entstanden.

Zwei »Geburtsfehler«, die Sie nennen, sind die Erbsündenlehre und der dominierende Einfluss des Platonismus auf das Christentum. Sind diese Geburtsfehler für Sie immer noch ein Fluch?

Schnädelbach: Die Erbsündenlehre hat die Menschen jahrhundertelang tyrannisiert. Da wurden Halbtot- und Totgeborene noch schnell getauft, da gab es diese Vorhölle für die ungetauften Kinder. Niemand kann einem erklären, warum Neugeborene schon Sünder sein sollen. Diese kirchliche Lehre vom Menschen muss man infrage stellen. Dass alle Menschen als Sünder geboren werden, als Schuldige, ist für mich eine verhängnisvolle Weichenstellung des frühen Christentums. Das ist negative Anthropologie, keine Anthropologie des aufrechten Ganges. Die Menschen werden hier von vornherein klein gemacht. Es heißt: Sie seien zum Guten gar nicht fähig, sie bräuchten dafür die Gnade, und die Gnade kommt durch die Taufe, also durch die Kirche. Und der christliche Platonismus mit der Überordnung der Seele über den Leib, mit der Verachtung der Frauen wirkt bis heute. Dazu gehört der Kult um Maria als Jungfrau. Abgesehen von der dahinterstehenden Zurückweisung gelebter Sexualität: Maria wird nicht nur als Helferin im Himmel verehrt, sondern häufig genug selbst angerufen, ja angebetet: Bleibt da der Monotheismus eigentlich noch gewahrt? Der jetzige Papst ist ferner in der Nachfolge Augustins ein Vertreter des christlichen Platonismus; man denke nur, wie er die Vernunft mit dem fleischgewordenen, göttlichen Logos des Johannesevangeliums identifiziert: So wird Christus zum Inbegriff der Vernunft, die alle bestimmen soll.

Von diesen Vorstellungen haben Sie sich als Philosoph verabschiedet. Was haben Sie jetzt für Ihr Leben gewonnen?

Schnädelbach: Der Verlust des Glaubens ist nicht größer als das, was ich dazugewonnen habe. Ich stelle mir nicht mehr die Frage: Gehöre ich zu den Erlösten, oder gerate ich in die ewige Verdammnis? Wenn man das mal losgeworden ist und sich sagt: »Es gibt ein Leben vor dem Tod« – wenn also die Angst vor der Hölle verschwindet –, dann kann ich auch auf den Himmel verzichten. Das gilt sicher auch für viele junge Leute. Sie wollen intellektuell auf eigenen Füßen stehen, während ein sehr enges Christentum ja aus lauter Denkverboten besteht.

Sie können es sich als Philosoph nicht vorstellen, die Transzendenz, das Göttliche, das Umgreifende durch die Reflexion zu erreichen?

Schnädelbach: Es gibt keine Argumente, durch die man jemanden fromm machen kann. Wir haben zwar eine neue Konjunktur von sogenannten Gottesbeweisen, aber die funktionieren nicht. Wir sind endliche Wesen, wir haben eine kurze Lebenszeit, wir haben das meiste vergessen, was die Menschheit schon mal gewusst hat. Wir leben in Verhältnissen, wo wir angewiesen sind auf andere, wir verfügen nicht über unser Lebensschicksal. Natürlich denken wir über diese begrenzten Gegebenheiten hinaus. Gedanklich überschreiten wir die Grenzen des Endlichen, aber dieses Überschreiten können wir nicht wieder positiv denken, so, als kämen wir dann in der Transzendenz an. Immanuel Kant ist da für mich ein moderner Denker. Er hat klar gesehen: Im Bereich dessen, was unserer Vernunft zugänglich ist, können wir uns nicht auf Gott beziehen. Das ist Ausdruck unserer Endlichkeit.

Es gibt aber doch die Erfahrung des Erhabenen und Unendlichen, zum Beispiel in der Kunst.

Schnädelbach: Ich bin überzeugt: Man muss sehr deutlich unterscheiden zwischen religiösen Erfahrungen und ästhetischen Erfahrungen. Heute glauben zwar viele Menschen, religiöse Erlebnisse im ästhetischen Bereich zu haben. Leute, die sich gar nicht als Christen verstehen, gehen jedes Jahr in die Matthäuspassion und weinen immer an derselben Stelle. Aber da wird das Religiöse bloß in ästhetisierter Form konsumiert, und das hat nichts mit authentischer religiöser Erfahrung zu tun. Die hat man vielmehr dann, wenn man zum Beispiel erlebt, dass etwas wider Erwarten gut ausgegangen ist. Dann möchte man sich bei jemanden bedanken. Oder auch dann, wenn einem eine ganz schlimme Ungerechtigkeit passiert oder man eine schwere Krankheit bekommt: Da möchte man sich bei jemanden beklagen. Aber bei wem? Religiöse Menschen können sich dann an Gott wenden. Ich kann das nicht.

Angesichts dieser Erfahrungen könnten Sie sich doch sagen: Ich kann dem christlichen Glauben als dogmatisch formulierter Lehre nicht folgen, aber ich halte mir die Wirklichkeit eines absoluten Geheimnisses offen.

Schnädelbach: Nur weil wir nicht alles wissen, kann man von Geheimnis sprechen. Aber dieses Geheimnis kann man nicht einfach als das religiös Bedeutungsvolle definieren. Ich sehe dahinter den Versuch, die Begrenztheit unseres Lebens wieder ins Positive zu wenden, und das finde ich nicht vertretbar.

Aber inwiefern äußert sich dann bei Ihnen »das Fromme« in Ihrem Atheismus?

Schnädelbach: Fromm zu sein heißt ja, einer Sache treu zu bleiben und diese auch ernst zu nehmen. Ich frage mich immer wieder: Warum interessierst du dich eigentlich noch für die Religion? Du hast sie doch hinter dir? Und warum regst du dich auf, wenn mit der Religion so viel Missbrauch getrieben wird, wenn sie instrumentalisiert wird? Meine Frömmigkeit ist wohl am ehesten zu beschreiben als ein Widerstreben gegen diesen Missbrauch. Ich bleibe den authentischen Überlieferungen treu.

Meinen Sie damit die Lehren des historischen Jesus? Das »Jesuanische«?

Schnädelbach: Ja, da ist bei mir etwas geblieben, das es mir möglich macht, mir diesen bedeutenden Menschen zur Richtschnur zu nehmen. Aber ich kann auch noch auf andere verweisen. Manchmal habe ich zum Beispiel zu meinen Studenten gesagt: »Das hat Kant formuliert, und weil er es gesagt hat, stimmt es« (lacht) – aber das ist nicht ernst gemeint. Ich beschäftige mich auch viel mit dem alten Bach und finde es unglaublich, dass er ein solches Lebenswerk hinterlassen hat. Oder ich denke an den Dirigenten Georg Solti, der in einem Interview erklärt hat: »Für mich gibt es zwei Gottesbeweise: Das sind Mozart und das Lächeln meiner Kinder.« Aber mit solchen Aussagen sind wir meines Erachtens noch nicht im religiösen Bereich angekommen. Ich sage also: Insoweit ich Jesuaner bin, bleibe ich dabei im Humanen und Kulturellen.

Auch im Politischen?

Schnädelbach: Ob wir das, was wir für authentisch jesuanisch halten, auch politisch verwenden können, weiß ich nicht.
Haben Sie als frommer Atheist auch eine Poesie, die Sie Gebet nennen könnten?

Schnädelbach: Nein. Fromme Poesie, Gebete, habe ich nicht.

Haben fromme Atheisten Interesse an einer Gemeinschaft Gleichgesinnter?

Schnädelbach: Nein. Wenn ich sage: Ich glaube nicht, dass Gott existiert, dann ist die Debatte eigentlich zu Ende. Ich muss nicht noch weiter begründen, dass ich das nicht glaube.

Warum eigentlich nicht?

Schnädelbach: Ich habe ja nichts zu vertreten, und es wäre ein Missverständnis, wenn mein Unglaube als ein anderer dogmatischer Glaube aufgefasst würde. Ich sage nur: Ihr Glaubenden bezieht euch auf etwas, das ich nicht teilen kann. Es ist doch ganz normal in einer Welt so vieler verschiedener Überzeugungen zu sagen: Diese Meinung kann ich nicht teilen.

Wie schätzen Sie die Rolle der Kirchen in Deutschland heute ein?

Schnädelbach: Ich denke angesichts der genannten Probleme im Bereich der Lehre der Kirchen: Das institutionelle Christentum hat sein Ende erreicht, ohne es bemerkt zu haben. Wer versteht noch die Lieder, Predigten, Bibelverse? Das soziale Engagement der Kirchen verdient Respekt. Aber die positiven Energien des Christentums sind übergegangen in einen profanen Humanismus.

Lesetipp: Herbert Schnädelbach: Religion in der modernen Welt. Fischer. 192 Seiten, 12,95 €.

Prof. Herbert Schnädelbach hat sich oft auch mit kirchlichen und theologischen Themen auseinandergesetzt, so auch mit dem Opus von Manfred Lütz “Skandal der Skandale” LINK . Dazu meinte Herbert Schnädelbach LINK
Herbert Schnädelbach wurde 1936 im thüringischen Altenburg geboren. Der Philosoph kommt aus der Schule der Kritischen Theorie, von der er sich aber später abgrenzte. Er veröffentlichte Bücher über Kant, Hegel, Geschichts-, Kultur- und Sprachphilosophie. Sein Kernthema war stets die Frage nach der Vernunft. Immer wieder bezieht er sich auf aktuelle Debatten, zum Beispiel über die Rolle der Religionen oder die Bedeutung der Neurowissenschaften. Er lehrte in Frankfurt am Main, Hamburg und an der Humboldt-Universität in Berlin. Der emeritierte Professor lebt in Hamburg.

Herbert Schnädelbach ist am 9. November 2024 gestorben. Siejhe auch die Würdigung des Philosophen Geert Keil (Berlin): LINK

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