75 Jahre Grundgesetz: Für eine Demokratie, einen Rechtsstaat, der sich verteidigt

Radikale Gruppen wollen in Deutschland anstelle der Demokratie das Kalifat, den Gottesstaat.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 6. 5. 2024.

1.
Vor 75 Jahren, am 24. Mai 1949, trat das „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ in Kraft. Der 23. Mai wird als „Verfassungstag“ gefeiert und auch „bedacht“: Vom 24. bis 26. Mai 2024 wird es rund um das Bundeskanzleramt und den Deutschen Bundestag ein großes Demokratiefest geben.

2.
„75 Jahre Grundgesetz“ : Das Ereignis ist bei aller Anerkennung der insgesamt „stabilen“ Demokratie, auch nach dem (übereilten?) Beitritt der DDR zur BRD-Verfassung, jetzt von der Erkenntnis bestimmt: Wir leben zunehmend in einer „gefährdeten Demokratie“. Darin sind sich die meisten Demokraten in Deutschland einig.

3.
Es geht jetzt entschlossen darum, in politischer Tat, für die Bewahrung der Demokratie und die demokratische Weiter – Entwicklung Deutschlands einzutreten. Eine Herausforderung, die alle wenigen, noch verbliebenen demokratischen Staaten, in irgendeiner Weise gestalten müssen. Neue Formen des Dialogs, der Überzeugung, der Debatte, der Teilhabe der Bürger am politischen Geschehen sind wichtig. Alles schon hundertmal gesagt. Auch über den Ausschluss (das Verbot) bestimmter gewalttätiger Gruppen aus dem Ganzen des demokratischen Zusammenhangs muss debattiert und dann wirksam entschieden werden.

4.
Die AFD nennt sich „Alternative für Deutschland“. Diese Partei ist aber nichts anderes als eine Alternative zu Deutschland, d.h. zur Demokratie in Deutschland. Ein autoritärer Staat ist das Ziel dieser rechtsradikalen Partei mit Führern, die man nun offiziell Faschisten nennen darf. Um so verlogener, wenn die AFD jetzt – angesichts der Grundgesetz Feierlichkeiten – groß tönend die Demokratie in Deutschland lobt: Die AFD ist also dankbar, dass sie in unserer Demokratie wachsen und gedeihen kann … bis sie dann eines Tages die Demokratie abschafft. Wer das sieht und auch noch „einfach so“ hinnimmt, begeht einen kontinuierlichen Suizid der Demokratie. Die Rechtsextremen sind in Deutschland und in den anderen europäischen Demokratien und Rechtsstaaten die größte Gefahr für eine humane Zukunft.

5.
Die Debatte über Formen des Widerstands gegen die AFD und andere rechtsextreme Parteien und Gruppen wird also – hoffentlich – im Mittelpunkt des Gedenkens „75 Jahre Grundgesetz“ stehen.

6.
Den „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ interessiert die Frage: Wie geht die Demokratie in Deutschland mit religiösen Gruppen und religiös sich nennenden Organisationen um, die die demokratische Verfassung ignorieren und Demokratie abschaffen wollen, etwa zugunsten eines Gottesstaates, eines Kalifates. Ob diese Gruppen hinsichtlich der Form ihrer angedachten Herrschaft selbst rechtsextrem zu nennen sind, ist eine Frage, die hier nicht diskutiert wird. Hier geht es um fundamentalistische religiöse Gruppen, in denen so genannte Kleriker herrschen sollen: Sie wollen die angeblich von Gott selbst übermittelten menschenrechtsfeindlichen Grundsätze durchsetzen. Jegliche Trennung von Religion und Staat ist in einem politischen Kalifat ausgeschlossen.
Das Thema steht im Mittelpunkten Debatten, weil etwa eine – zwar – nicht repräsentative Studie zeigt: Fast die Hälfte einer in Niedersachen befragten Gruppe muslimische Schüler meinte, ein islamischer Gottesstaat sei die beste Staatsform. Noch problematischer: Während einer Demonstration in Hamburg am 28. April 2024 sind einige hundert Menschen ganz offen für die Einführung des Kalifates in Deutschland eingetreten: „Kalifat ist die Lösung“, hieß es auf einem der Plakate. Oder: „Kalifat ist die Lösung“. (Nur eine von vielen Quellen: https://www1.wdr.de/nachrichten/dieanderefrage-scharia106.html)

7.
Man kann diese aktuellen Forderungen nach einem Gottesstaat in Deutschland im Jahr 2024 nicht in Verbindung bringen mit dem bekannten Spruch aus dem Neuen Testament: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte, 5,29). Dieses Bekenntnis der Apostel richtet sich gegen die Umgangsformen der hohen Vertreter des Judentums: Die kleine Gemeinde der Jesus – Gläubigen wollte mit dieser Forderung auf ihrem eigenen Verständnis der göttlichen Wirklichkeit bestehen, gegen andere Deutungen der religiösen Mehrheit der Juden. Dieser Spruch des Neuen Testaments bezieht sich also auf einen inter-religiösen Streit, er hat gar nichts mit der radikalen Profilierung bestimmter Religionsgemeinschaften in einer modernen Demokratie zu tun.
Wenn man schon diesen Spruch aus der Apostelgeschichte des Neuen Testaments verallgemeinern will, kann er nur lauten: „Christen sollen im Konflikt mit autoritären, diktatorischen (!) Staaten ihrem Gewissen folgen und nicht den ungerechten Gesetzen dieser Staaten.“ In einer Demokratie, einem Rechtsstaat, hat dieser genannte Bibelspruch keine politische Bedeutung. Dass etwa die Päpste als „Stellvertreter Christi auf Erden“ (katholische Kalifen ?) auch maßlos politische Herrschaft beanspruchten, ist historisch evident. Dass es Katholiken heute noch gibt, die von der Durchsetzung katholischer und für göttlich gehaltener moralischer Forderungen träumen, ist genauso zweifelsfrei. Aber diese Kreise sind – bis jetzt – nicht bestimmend im Katholizismus innerhalb demokratischer Staaten.

8.
Mit unserem Hinweis auf Forderungen, das politische Kalifat in Deutschland zu errichten, wird selbstverständlich überhaupt nicht und ganz und gar nicht unterstellt, „der“ Islam in seiner Vielfalt halte das Kalifat in Deutschland für wichtiger als das Grundgesetz. Es gilt aber wachsam zu sein: „Die wachsame, weil bedrohte Demokratie“ ist das Motto der Gegenwart:
Und dann gilt es, endlich umfassend wahrzunehmen: Auch innerhalb der Religionen machen sich rechtsradikale, fundamentalistische und gewalttätige Tendenzen stark. Das gilt etwa für evangelikale Christengemeinden in den USA, man denke an den Sturm auf das Kapitol in Washington am 6.1.2021: Fundamentalistische Christen waren an der Gewaltaktion maßgeblich beteiligt. Man denke auch an die gewalttätigen Aktionen evangelikal – charismatischer Unterstützer für Präsident Bolsonaro in Brasilien usw. Von der religiös motivierten Gewalt in Diktaturen soll hier gar nicht die Rede sein: Religion ist für diese Herrscher sozusagen die himmlische, absolut geltende Entschuldigung für alle ihre Untaten gegen die Menschenrechte. In solchen Fällen denkt der Demokrat oft: Gäbe es doch bloß diese (fundamentalistischen Interpretation der) Religionen nicht, wie „nackt“ und blamiert und geistig hilflos würden dann die totalitären Herrscher dastehen.

9.
Zu unserem aktuellen „Scharia“ – Kalifat – Problem in Deutschland: Den Autoren des Grundgesetzes stand dieses Thema 1949 überhaupt nicht vor Augen. Dennoch muss das Problem mit den Mitteln des Grundgesetzes von 1949 gelöst werden.

10.
Es galt und es gilt: Artikel 4, Absatz 1 des Grundgesetzes: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“. In Absatz 2 heißt es: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Das heißt: Religiöse Menschen, nicht-religiöse Menschen, Atheisten … haben gleichberechtigt Anteil an dieser Freiheit des Glaubens.
Der Artikel 140 des Grundgesetzes folgt weithin den Artikel der Reichsverfassung von Weimar (WRV, 1919), darin wird das Kirche – Staat – Verhältnis in Deutschland definiert. Es „besteht keine Staatskirche“ (Art. 137). Das Grundgesetz sieht eine milde zu nennende Form der Trennung von Kirche und Staat vor, aber das speziell ist nicht unser Thema. Wichtig in unserem Zusammenhang: Artikel 137, § 3: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig“, und zwar, wie es ausdrücklich heißt, „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“

11.
Das Grundgesetz ist also bestimmt von einer weltanschaulichen, religiösen Neutralität des Staates. Kein Vertreter irgendeiner Religion darf sich ermächtigt fühlen, politisch zu herrschen. „Staat ohne Gott“ ist also der richtige, für eine Demokratie einzig angemessene Titel, des Buches des Rechtsphilosophen Horst Dreier zur Verhältnisbestimmung von Religion und demokratischem Staat: Die Demokratie braucht keinen Gott irgendeiner Religion. (Zum Buch von Horst Dreier, siehe Fußnote 1).

12.
Das heißt aber nicht, das dieser demokratische Staat selbst eine gottlose Ideologie entwickeln und vertreten darf: Der demokratische Staat hat deswegen keinen eigenen Gott, weil er – prinzipiell – alle Götter aller Religionen und Konfessionen gleichberechtigt sich entfalten lässt. Weil die Demokratie zu ihrer eigenen Legitimierung keine (Staats -) Religion braucht, kann sie umfassende Religionsfreiheit gewähren. Die Demokratie pflegt und anerkennt die religiöse Pluralität. Und die Demokratie in der deutschen Verfassung steht zu allen Religionen in der gleichen Distanz. Um das „Seelenheil“ des Bürgers, seine innere, persönliche religiöse Ideologie kümmert sich die Demokratie nicht. Die Gestaltung des Seelenheils eines Bürgers geht den demokratischen Staat nichts an. Jeder und jede suche selbst auf seine Weise sein „Seelenheil“ in irgendeiner der Religionen oder auch atheistischen Weltanschauungen.

13.
Diese Bestimmungen des Grundgesetzes entwerfen förmlich eine ideale Situation des Miteinanders von Staat und Religionen in Deutschland. Die Gefährdung der Demokratie in Deutschland durch radikale, extreme und tendenziell gewalttätige religiöse Gruppen war selbst für den renommierten Staatsrechtler Horst Dreier kein Thema, als er sein Buch „Staat ohne Gott“ im Jahr 2018 veröffentlichte.
Dreier schreibt auf Seite 63 die heute brisant wirkende Einschätzung: : „Religionsfreiheit stellt eine radikal individuelle Rechtsposition dar, die ohne jede Verpflichtung auf den Staat gewährleistet wird und auch bei inhaltlicher Fundamental – Opposition ihm (dem Staat) gegenüber ohne Abstriche garantiert wird.“ Religionsfreiheit soll also auch „bei inhaltlicher Fundamental – Opposition ihm (dem Staat) gegenüber ohne Abstriche garantiert“ sein?
Hintergrund für diese Aussage ist zunächst die richtige und gültige Erkenntnis: Der Staat darf die innere religiöse Gesinnung seiner Bürger nicht prüfen, geschweige denn bewerten und kontrollieren. „Rechtsgehorsam muss genügen“, also die formale Befolgung der Gesetze, auch wenn der Handelnde gar nicht die Grundsätze der Verfassung und der ihr folgenden Gesetze schätzt.. . und etwa nur aus Angst vor Strafe die Gesetze respektiert…

14.
Natürlich entspricht es dem Geist der Demokratie und des Rechtsstaates: Zuerst mit allen Gegnern und auch Feinden der Demokratie und des Rechtsstaates zu sprechen. Doch wie „unendlich“ darf dabei die Geduld der Demokraten mit den Verweigerern der vernünftigen Argumente sein? Wie soll die Demokratie mit religiösen Gruppen umgehen, die Rechtsstaat und Demokratie abschaffen wollen? Muss also dieser prinzipiell religiös neutrale Staat dann doch die zur Gewalkt aufrufende Lehre einer bestimmten Religion zurückweisen (etwa das politische Kalifat und die politische Herrschaft der Scharia) und diese Gruppe zum Schutz der Demokratie öffentlich anklagen und dann verbieten? Es zeigt sich hier ein gewisses Dilemma der Demokratie: Sie soll dann also ins innere Leben einer Religion eingreifen, hinsichtlich der irrigen Vorstellungen vom Gottesstaat usw., obwohl solche Eingriffe, also mit dem Ziel inhaltlich begründeter Verbote, von der eigentlich religiös neutralen Demokratie nicht möglich sein dürften. Es ist für die Demokratie in Deutschland untersagt: „die parteiergreifende Einmischung in die Überzeugung, die Handlungen und in die Darstellung Einzelner oder religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften“ (Dreier, Seite 98).

15.
In der Not der gefährdeten Demokratie muss sich der Rechtsstaat vor den im „Innern“ agierenden Zerstörern der Demokratie wehren. Gegen Aggressoren von außen wehrt sich die Demokratie bekanntlich selbstverständlich.
Es ist offensichtlich, dass die AutorInnen des Grundgesetzes (1949) nicht sahen und noch nicht sehen konnten, wollten, dass es Religionen, Konfessionen etc. geben kann, die die Demokratie abschaffen wollen. Dabei hätten sich die AutorInnen doch an die Ideologie der evangelischen Nazis und Hitler Freunde, der „Deutschen Christen“ (gegründet 1931), erinnern können. Diese nicht gerade minoritären Kreise wollten im Dienste Hitlers religiös die Weimarer Republik zerstören. Komisch, diese Vergesslichkeit damals 1949…

16.
Jetzt geht es darum: Der demokratische Staat, nun in einem Notfall der Bedrohung durch gewalttätige antidemokratische religiöse Gruppen, kann seine grundlegende Religionsfreiheit nur am Leben erhalten, wenn er selbst eine Ausnahme macht hinsichtlich der sonst umfassend geltenden Anerkennung der Religionsfreiheit. Konkret also: Die religiöse Vereinigung derer verbieten, die ein politisches Kalifat in Deutschland errichten wollen. Wenn eine Rechtsordnung von religiösen Fanatikern angestrebt wird oder bereits realisiert wurde, “die die Menschenwürde untergräbt, kann es unsere Pflicht sein, diese (angestrebte oder bereits reale) Ordnung in Frage zu stellen. Die Menschenwürde bezeichnet exakt die Grenze der Souverenität des Staates”(Omri Boehm, “Die Zeit”, 10. 8.2023, S. 45)

17.
Im Grundgesetz gibt es den Artikel 9, der sich – im allgemeinen – auf Vereine und Gesellschaften bezieht. Darunter könnte man ja auch religiös (sich nennende) Vereine zählen. Sie könnten vom Absatz 2 dieses Artikels 9 mit gemeint sein, dort heißt es in Absatz 2: „Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.“

18.
Der demokratische Rechtsstaat ist bei der Verteidigung gegen rechtsextreme und religiös fundamentalistische Gruppen selbst an die geistige, aber wirkliche Verpflichtung gebunden, den Prinzipien der Gerechtigkeit und der universellen Menschlichkeit zu entsprechen. Dieser Gedanke geht von der Erkenntnis aus: Was alle Menschen erst zu Menschen macht, ist die Verpflichtung, universellen ethischen Gesetzen zu folgen. Und denen können Menschen in der Tat auch entsprechen, weil sie in ihrer Vernunft selbst den Aufruf zu diesem moralischen – ethischen Handeln erleben. Diese sich also in jedes Menschen Geist zeigende Idee einer universellen Menschlichkeit „leuchtet“ im Geist auf als eine solche, die „nicht von Menschen gemacht ist“ (Omri Boehm, Radikaler Universalismus, S. 17): Die Idee der universell für alle Menschen geltenden Menschlichkeit weist jegliche sich abkapselnde identitäre Ideologie einer Gruppe, wie die der „Kalifen – Freunde“, entschieden ab: Diese Identitäten Ideologien sind letztlich tödlich für den Bestand einer humane Menschheit. (Zum Buch von Omri Boehm, siehe Fußnote 2)

19.
Diese sich in jedes Menschen Vernunft zeigende Idee der universellen Menschlichkeit kann also prinzipiell nicht von Menschen abgeschafft und ausgelöscht werden. Denn sie gehört zur immer schon gegebenen inneren Verfassung des menschlichen Geistes.

20.
Diese Erkenntnis, dass die sich verteidigende Demokratie selbst einem universellen geistigen Gesetz der für alle geltenden Menschlichkeit untersteht, mag für einige „Ungeübte“ zunächst nur mit Geduld nachzuvollziehen sein. Aber ohne diese anspruchsvolle Erkenntnis sind Demokratie und Rechtsstaat nicht zu verstehen. Es gilt, wie Omri Boehm sagt, „die Verpflichtung auf die universelle moralische Wahrheit“ (S. 78) zu erkennen und zu realisieren: Und diese wollen Vorkämpfer des Kalifates wie die Rechtsextremen zugunsten ihrer totalen Herrschaft zerstören… Die identitären Ideologien (des Kalifates und der Rechtsextremen), die man mit Immanuel Kant „Maximen“ nennen kann, haben in der Konfrontation mit dem ethischen Kriterium „Kategorischer Imperativ“ keinen Bestand. Diese Ideologien, „Maximen“, werden durch die Erkenntnis des „Kategorischen Imperativs“ zurückgewiesen: „Handle so, dass die Maxime deines Handelns allgemeines Gesetz für alle sein können“ (Kant). Welcher Kalifats Fanatiker, welcher Rechtsextreme, möchte schon selbst erleben, dass sein eigenes Dasein in einem totalen, identitären Staat bedroht, gegängelt und ausgelöscht werden kann.

21.
Ohne universell geltende Grundsätze der Menschlichkeit können selbst die fanatischen Kalifats – Ideologen und die Rechtsextremen (Faschisten) wie auch Linksextremen (Stalinisten) gar nicht überleben. Um ihres eigenen Überlebens willen sollen sie sich von ihrer verbrecherischen Ideologie befreien oder sich von Demokraten befreien lassen.

Fußnote 1. Horst Dreier, „Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne“, C.H.Beck Verlag, München, 2018.

Fußnote 2: Omri Boehm, „Radikaler Universalismus“. Propyläen Verlag, Berlin, 2022.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Karl Kraus – Sein „Dienst am kritischen Wort“

Ein Hinweis anläßlich des 150. Geburtstages
Von Christian Modehn am 18.4.2024

1.
Es gilt, vorsichtig zu sein, wenn wir aktuell an Karl Kraus, den Autor, Satiriker, Schriftsteller, den Kritiker der Sprache und der Wörter mit einem Hinweis erinnern:
Geboren wurde Karl Kraus am 28. April 1874 in Gitschin, Böhmen, gestorben ist er am 12.Juni 1936 in Wien.

2.
Warum eine besondere Vorsicht bei dem, hier nur sehr kurz gefassten, Erinnern an Karl Kraus?
Seine politische Haltung in etlichen seiner Lebensphasen haben Kenner oft reaktionär genannt, (so etwa Sigurd Paul Scheffel, in „Literaturen”, Heft 1/2 2004, S. 36). Manche betonen wohl zu recht, die Haltung Karl Kraus` gegenüber der liberalen Presse („Neue Freie Presse“, Wien) sei von Hass bestimmt gewesen. Sein Eintreten für den österreichischen Politiker und späteren Diktator Engelbert Dollfuß (1933/34) ist bekannt.„Dass er die ‚Bewegung’ (Nationalsozialismus) lange unterschätzt hat, lässt sich nicht leugnen“   LINK  
Karl Kraus hat sicher auch die Moderne und damit wohl auch demokratische Strukturen heftig attackiert.
Und auch dies: Karl Kraus, in einer liberalen, bürgerlichen jüdischen Familie großgeworden, hat später dieses elitär empfundene jüdische Milieu seiner Herkunft und Umgebung abgelehnt und öffentlich kritisiert. Er war gegen den Zionismus und erhoffte sich die Überwindung jeglicher Getto – Existenz der Juden von einer vollständigen Assimilierung der Juden an ihre Umgebung.
Karl Kraus ist 1899 aus der „jüdischen Kultgemeinschaft“ ausgetreten, er konvertierte im Jahr 1911 zum Katholizismus, sein Taufpate war in der Wiener Karls-Kirche der Architekt Adolf Loos. Kraus löste sich aber im Jahr 1922 wieder von der Kirche, wohl auch aus aktuellem Ärger darüber, dass in einer Salzburger Kirche weltliche Theateraufführungen stattfanden.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass Kraus keineswegs nur der scharfe und streitbare Polemiker, er war durchaus hilfsbereit, unterstütze großzügig z.B. Autoren in finanzieller Not… (vgl. „Karl Kraus“ von Paul Schick, Rowohlt Monographien, 1978, S. 58).

3.

Das umfangreiche Werk von Karl Kraus hat seinen Mittelpunkt in der satirischen Zeitschrift „Die Fackel“, sie erschien von 1899 – 1936, seit 1911 mit dem Zusatz “Sämtliche Beiträge von Karl Kraus“. „Die Fackel“ wurde in unregelmäßiger Folge publiziert, war im Sinne des Gründers und dann einzigen Autors eine Art anti-journalistische Zeitschrift, also eine, die gegen alle sprachliche Oberflächlichkeit argumentierte und polemisierte, sie legte Korruption und Verblendung frei – im Unterschied zu den damals üblichen führenden Presseerzeugnissen.

4.
Trotz der Probleme und Irritationen zu Karl Kraus sind für uns zwei Aspekte seiner Publikationen wichtig: Es ist seine SPRACHKRITIK, die auch in seinen zahlreichen Aphorismen Ausdruck findet.
Und wichtig ist es für uns, auf das berühmte Theaterstück, die Tragödie in 220 (!) Szenen, mit dem Titel „Die letzten Tage der Menschheit“ (verfasst von 1915 – 1922) hinzuweisen.

5.
Die Sprachkritik von Karl Kraus kann heute eine Anregung sein, kritisch mit dem eigenen Sprechen und dem Erleben der Sprache anderer umzugehen und zu einer neuen Wahrhaftigkeit des Sprechens und der Sprache zu finden, befreit von Floskeln und Schablonen.
Die folgenden Aphorismen von Karl Kraus sind entnommen: „Gemütlich bin ich selber“, Büchergilde Gutenberg, 2004. Die Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch.

„Ich möchte mit der Umgangssprache nicht Umgang haben“. (Seite 81).

„ Mit Leuten, die das Wort èffektiv` gebrauchen, verkehre ich in der Tat nicht“ (S. 47).

„`Gottvoll` ist in mancher Gegend ein Superlativ von `komisch`. Ein Berliner, der eine Moschee betrat, fand diese gottvoll“ (S. 70).

„Nicht alles, was totgeschwiegen wird, lebt“ (S. 29).

„Am Chauvinismus ist nicht so sehr die Abneigung gegen die fremden Nationen als die Liebe zur eigenen unsympathisch“ (S. 23).

„Der Übermensch ist ein verfrühtes Ideal, das den Menschen voraussetzt“. (S. 22)

„Aussprechen, was ist – ein niederer Heroismus. Nicht dass es ist, sondern, dass es möglich ist: Darauf kommt es an. Aussprechen, was möglich ist!“. (S. 64)

„Meine Sprache ist die Allerweltshure, die ich zur Jungfrau mache“. (S. 63)

„Ein Übel gedeiht nie besser, als wenn ein Ideal davor steht“ (S. 77).

„Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut“ (S. 60).

„Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten“ (S. 51).

„Sozialpolitik ist der verzweifelte Entschluss, an einem Krebskranken eine Hühneraugenoperation vorzunehmen“ (In: Karl Kraus, „Beim Wort genommen“,München, 1955, S. 70.)

„Der Unsterbliche erlebt die Plage aller Zeiten“ (ebd., S. 267).

„Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Gedankens“ (ebd. S, 235):

6.
Karl Kraus war überzeugt, dass sich schon in einem unauffälligen, „lockeren“, verschluderten Sprechen (und Schreiben), selbst von angeblichen Nebensächlichkeiten, etwas Übles, unbedingt Abzuwehrendes zeigt. Denn Sprache und Sprechen sind für ihn keine selbstverständlich wie automatisch laufende Aktivität, sie erfüllen keine äußere, diplomatisch – verschlüsselte Funktion. Sie sind als verstümmelte Formeln und ultra-kurze Phrasen nicht akzeptabel und des Menschen nicht würdig. In einer solcher Sprach – und damit Lebenspraxis wird nur Nebel verbreitet, und Herrscher wollen ihre Herrschaft etablieren. Karl Kraus will zu einer kritischen „Ehrfurcht vor dem Wort“ beitragen. Und die lebt von dem ständigen Zweifel an der Qualität des eigenen Sprechens.

7.
Die sozialen Medien heute sind bestimmt von ultrakurzen Informations- Fragmenten. Aktuell ist also – im Sinne von Karl Kraus – eine genau beobachtende Sprachkritik zu leisten, die etwa den Statements der PolitikerInnen gilt. Ein Beispiel die Floskel: „Das haben wir auf den Weg gebracht“. Eine solche „Info“ habe ich von einer so genannten „Spitzenpolitikerin“ in einem Interview von ca. 3 Minuten etwa 15 mal gehört (im Jahr 2024). Ihr fiel keine andere Sprache ein, um ihre politische „Aktivität“ präzise und umfassend mitzuteilen.
Mit dieser Floskel soll die dumpfe Ahnung geweckt werden, die Politiker hätten „etwas getan“, „etwas realisiert“, „etwas verändert“, „etwas reformiert“, sie hätten „ein Versprechen praktisch eingelöst“. Aber was passiert mit dem Projekt als einer Idee, die dann „auf den Weg gebracht“ wird und dort, auf dem Weg, vielleicht unerledigt liegen bleibt wegen der Allmacht der Bürokratie?
Immerhin wird das „Unwort des Jahres“ seit langem dokumentiert. Ein Beispiel: der Begriff „Kollateralschaden“. Er soll verschleiern, dass bei militärischen Attacken gegen einen Feind auch unschuldige Menschen, Zivilisten getötet werden. Wenn ein Politiker hingegen den Mut zur Wahrheit hätte und sagte: „Auch Zivilisten wurden getötet“ klingt dies verstörender und wahrhaftiger als zu sagen: „Es gab Kollateralschäden“. Es ist die Verwendung von Substantiven aus dem technischen Bereich, die das Unmenschliche verschleiern soll. „Kollateralschäden“ entstehen meist außerhalb der Verantwortlichkeit der Menschen.
Für das Ertrinken vieler tausend Flüchtlinge im Mittelmeer seit Jahren gibt es noch keinen verschleiernden, verharmlosenden, neutralisierenden Begriff. Vielleicht könnten – zynische – Politiker in ihrer Frechheit sagen: „Leider sind wieder viele Nichtschwimmer aus Afrika im Mittelmeer gescheitert“.

8.
Es gibt seit Jahrhunderten auch einen Verfall der religiösen Sprache: Man zähle nur einmal nach, wie oft etwa Papst Franziskus bei jeder kleineren oder größeren oder ganz großen Krise sich auf die Formel zurückzieht: „Ich werde für die Betroffenen beten“. Damit will er – in einem korrekten theologischen Verständnis – wahrscheinlich sagen: „Ich bin überzeugt, ich kann diese himmlische göttliche Macht durch meine Worte bewegen, alles zum Guten zu wenden.“ Man kann diese hilflose Frömmigkeit mit ihren floskelhaften Formulierungen durchaus Aberglauben nennen. Warum soll denn Gott höchst persönlich das Bitt-Gebet des Papstes erfüllen und nicht ein ganz anderes Gebet, etwa die Bitte des Putin – Freundes Patriarch Kyrill, Gott möge den Krieg Russlands zum Erfolg führen? Ob gegen den päpstlichen und überhaupt weit verbreiteten Aberglauben auch der Spruch gilt „Da hilft nur noch beten“, wäre zu prüfen. Oder ist Beten vielleicht doch das hilflose Schreien der armen Kreatur: des Menschen?

9.
„Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus, entstanden 1915 – 1922, als Antwort auf die Gräuel des 1. Weltkrieges.
Hier kann nicht das monumentale Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ (220 Szenen, 500 Figuren, viele Schauplätze, viele aktuelle Zitate eingebaut…) angemessen beschrieben oder kritisch betrachtet werden. Es kann nur empfohlen werden, dieses vielschichtige Werk mit viel Geduld zu lesen oder Kurzfassungen zu hören… , um sich aus jeglicher Ignoranz oder der Oberflächlichkeit in der Wahrnehmung des Krieges überhaupt zu befreien.
Auch hier wieder werden von Karl Kraus kritische Bemerkungen zu den leeren Floskeln und Worthülsen hervorgehoben, etwa, heute noch üblich, „Der Krieg ist ausgebrochen“. Wie ein Unwetter also, wie ein von Menschen unabhängiges Naturgeschehen? Solche Sprache erzeugt Gefühle der Verantwortungslosigkeit bei den Menschen. Kraus kritisiert ideologische Phrasen, wie „deutsche Bildung“ oder „christliche Zivilisation“. Er sieht in der Presse, dem oberflächlichen, ideologischen Journalismus eine der Hauptgründe für den Krieg und die „letzten Tage der Menschheit“. Sie die Ideologie, in der Presse verbreitet, hat „unser Herz ausgehöhlt“ (Karl Kraus)

10.
Wichtiger scheint mir, sich der Tatsache zu stellen, dass dieses ungeheuer große Drama mit der Auslöschung der Menschheit endet. Man nennt dieses Ereignis populär „Apokalypse“.
Dieser Gedanke, dass die Menschheit sich selbst vernichtet, ist heute so fern ja nicht, auch wenn „die Menschheit“ dieses absolute Ende auch heute gern verdrängt … und sich mit der Floskel rettet: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“. Den Wahrheit – Aspekt dieses frommen Wunsches hat noch keiner – Gott sei Dank – erlebt. Denn dann wäre die Katastrophe so total, dass die Menschen die Hoffnung verlieren und damit auch ihr geistiges und materielles Leben.

Anstelle dieses eher gedankenlosen frommen Wunsches „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ kommt es darauf an, genau zu bestimmen: Wer denn den Menschen die Hoffnung nimmt! Wer denn die existentielle Aussichtslosigkeit betreibt oder fördert. Es läuft auf die Erkenntnis hinaus: Es gibt Verbrecher in der Politik, die der Menschheit diese letzte Hoffnung permanent zu nehmen versuchen, diese Kriegstreiber und absoluten Nihilisten und Freunde des Todes in Russland, im Nahen Osten, im Iran, in Nord-Korea und so weiter.

Die Hoffnung wird heute also „getötet“. Von Menschen wird Hoffnung als Lebenselixier zum Sterben gebracht, durch Politiker, auch durch solche in der demokratischen Welt, die die schon bestehende Klima – Katastrophe ein bißchen „bewältigen“ wollen. Immer im Interesse ihrer Lobby – Gruppe. Und gegen solche Politiker oder international agierenden Ökonomen können die Bürger in der verbliebenen kleinen demokratischen Welt doch etwas tun. Oder?
Das Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ (Karl Kraus) könnte heute als Thema die letzten Tage der Menschheit meinen. Das zu sagen, hat nichts mit Pessimismus oder gar „Alarmismus“ zu tun. Dies ist eine Tatsachenbeschreibung.

11.
Das Drama endet mit dem Untergang der Welt. Gott, der Schöpfer der Welt, weist die Verantwortung für die „Apokalypse“ zurück, es war die Verblendung der Menschen, die entfesselte Unvernunft, die das definitive Ende bereitet. Gott sagt also in „Die letzten Tage der Menschheit“: „Ich habe es (das Ende der Menschheit) nicht gewollt“. Das heißt: Gewollt haben es Menschen, diese freien Wesen, die auch frei sind, um den Untergang zu wollen.

12.
Zum Schluss: Worte von Karl Kraus.

„Wo kommen all die Sünden nur hin, die die Menschheit täglich begeht? Sollten überirdische Wesen nicht finden, dass der Äther schon zum Schneiden dick sei?“ („Gemütlich bin ich selbst“, a.a.O., S. 83)

„ Meine Leser glauben, dass ich für den Tag schreibe, weil ich aus dem Tag schreibe. So muss ich warten, bis meine Sachen veraltet sind. Dann werden sie möglicherweise Aktualität erlangen“ (ebd., S. 37).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Gegen die Klerus-Herrschaft und den kirchlichen Aberglauben: Kants vernünftige Religion.

Die Erinnerung an Kant – anläßlich seines 300. Geburtstages – muss eine Provokation bleiben.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 14. 4. 2024.

Dieser Beitrag plädiert im Sinne Kants für einfache, dogmatisch reduzierte, die ethische Praxis betonende christliche Kirchen. Das Projekt erfordert einen radikalen Umbau und Abbau der Dogmatik, einen Verzicht auf Hierarchien, es geht darum, dass Menschen ihre individuelle Verbindung mit Transzendenz, dem Göttlichen, wieder einfach leben können.

1.
Es gibt einige Erkenntnisse des Philosophen Immanuel Kant, die bleibend das „Wesen“ des Menschen aussagen, Erkenntnisse, die das Dasein auch heute nicht nur inspirieren, sondern leiten sollten. Kant ist ein Philosoph, der zwar, wie alle anderen Philosophen auch, geschichtlich geprägt ist, der aber universell geltende Wahrheiten formulierte.

2.
Kants Erkenntnisse wurden anläßlich seines 300. Geburtstages am 22.4.2024 tausendfach, oft verkürzt, popularisiert, unters „Volk gebracht“. Aber ist diese journalistische Pflichtübung vorbei, ist dann auch die Erinnerung vorbei? Das darf im Falle Kants nicht sein.

3.
Wir behaupten: Man muss damit rechnen, dass es philosophische Erkenntnisse gibt, die jeder und jede verstanden haben sollte, sie förmlich im Geist stets präsent haben müsste -zur Orientierung im privaten, gesellschaftlichen und religiösen Leben. Diese Erkenntnisse gehören zur geistigen Verfassung der Menschen.

4.
Dabei gibt es keinen Zweifel: Kant hat in seiner Zeit (im 18. Jahrhundert, in Königsberg) auch falsche Einschätzungen publiziert, auch darüber wurde anläßlich seines 300. Geburtstages gesprochen. Und manchmal wurde dem Vorurteil Raum gegeben: Wenn Kant doch vieles aus heutiger, aus ethischer Sicht Problematisches, sogar Falsches sagte: Dann brauchen wir uns um ihn eigentlich nicht weiter zu kümmern. Genannt wurden als Verfehlungen Kants ein gewisser kollonialistischer Ungeist, eine Abwertung de Judentums, eine Respektlosigkeit gegenüber außereuropäischen Völkern, das absolute Verbot – auch im Notfall – zu lügen…

5.
Aber die besten kritischen Kenner der Philosophie Kants (wie Marcus Willaschek) betonen: In dieser Hinsicht bleibt Kant unterhalb seines eigenen, von ihm sonst überzeugend dargestellten ethischen und intellektuellen Niveaus. Das heißt: Es gibt „trotz dieser begrenzten Verirrungen“ bleibende wahre Erkenntnisse Kants. Zum Beispiel: Kants „Kategorischer Imperativ“.

5.
Über die Formulierungen des Kategorischen Imperativs wurde auch auf dieser Website mehrfach gesprochen.
Der Kategorische Imperativ im Sinne Kants ist ein bleibender Maßstab in der praktischen Lebensgestaltung: Darf ich diese meine freie Tat begehen, ist sie gut oder ist sie schlecht? Zur Antwort muss ich meine Entscheidung mit der Frage konfrontieren: Kann meine Entscheidung ein universelles Gesetz für alle anderen Menschen werden?
Nur ein Beispiel: Ich will unbedingt mit einem Diktator und Kriegstreiber befreundet bleiben: Kann diese meine Entscheidung allgemeines Gesetz für alle werden? Können also alle Menschen mit Diktatoren und Kriegstreibern befreundet sein, selbst wenn sie ihren Diktator-Freund auf seine abzulehnende Haltung deutlich hingewiesen haben? Die Antwort ist eindeutig: Wenn alle Menschen mit verbissenen Kriegstreibern und Diktatoren befreundet sind, dann ist die leitende Idee der Menschenrechte, der Demokratie und Friedensordnung definitiv zerstört. Das darf nicht sein, also darf auch meine genannte Freundschaft nicht sein.

6.
Für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin sind naturgemäß Fragen zu „Religion und Philosophie“ bzw. „Kirchen und Philosophien“ von besonderem Interesse. Darum sind für uns auch religionsphilosophische und kirchenkritische Erkenntnisse Kants von großer Bedeutung, das gilt für alle spirituell Interessierten.
Wir beziehen uns auf das zu Kants Zeiten viel beachtete Buch Kants „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (von1793). Die Zitate beziehen sich auf die Ausgabe des Felix Meiner Verlages, Hamburg, 2003.

7.
Für Kant ist evident: Auch die allgemeine Vernunft muss Religion und kirchliches Leben bestimmen. Was denn auch sonst? Etwa ein jeweils subjektiver Wunderglaube oder irgendwelche Einsichten von fundamentalistischen Scharlatanen oder dogmatische Behauptungen von Päpsten – etwa zum Frauenpriestertum?

8.
Dabei muss man beachten: Die Vernunft, die Religionen und Kirchen kritisiert, ist für Kant göttlichen Ursprungs. Der menschliche Geist ist für ihn Gabe der göttlichen Schöpfung. Es gibt also eine „in aller Menschen Herz eingeschriebene Religion“ (S. 213). Und diese kann der Mensch mit seiner eigenen Vernunft hervorbringen. Kant zeigt darüber hinaus, dass zentrale Weisungen und Grundsätze des Neuen Testaments, bezogen auf den „Lehrer“ (S. 213) Jesus Christus, allen Menschen „durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt“ werden können (S. 218).

9.
Um nur einige zentrale Erkenntnisse Kants in dem Zusammenhang – für weitere Studien und Lektüren – zu erwähnen:
Nicht die Erfüllung von religiösen, kirchlichen Vorschriften lehrt Jesus Christus, sondern die Pflege der „moralischen Herzensgesinnung“ (S. 214). Nicht gottesdienstliche Handlungen können den Menschen von den Verfehlungen an seinem Mitmenschen befreien, sondern nur die praktische Wiedergutmachung des Unrechts. Nicht das „süße Gefühl der Rache“ darf vorherrschen, sondern die Duldsamkeit…Dies sind die Weisungen des Lehrers Jesu von Nazareth. Es ist die Ethik und die Erfüllung der ethischen Pflichten, die den wahren Dienst an Gott, den Gottesdienst, bestimmen. Das ist das reliöse Zentrum im Denken und Leben Kants.

10.
Kant nennt sehr modern, man möchte sagen schon kapitalismuskritisch, den „Eigennutz, den Gott dieser Welt“ (S. 217), dem so viele Menschen dienen. Davon muss der Mensch sich befreien, um sein wahres Menschsein zu entdecken.

11.
Kant weiß als Philosoph, dass es eine göttliche Wirklichkeit gibt. Er betont aber: Gott kann nicht wissenschaftlich bewiesen werden, wenn man denn wissenschaftlich im Sinne der Naturwissenschaften versteht. Insofern gibt es für Kant auch keine „Gottes – Beweise“. Aber die göttliche Wirklichkeit muss gedacht werden als Idee, diese göttliche Idee ist denknotwendig, will man die Existenz des Menschen umfassend verstehen. Weil der Mensch Anteil hat am Ewigen, am göttlichen Geist, kann er auch hoffen, über den Tod hinaus auch auf nicht zu definierende Weise irgendwie „fortzubestehen“.

12.
Die wahre alleinige und universale Welt – Religion enthält „solche praktischen Prinzipien, deren unbedingter Notwendigkeit wir uns bewusst werden können“, diese Prinzipien sind „durch reine Vernunft, nicht empirisch, offenbart“ (S. 226). Es sind die Prinzipien, dass Liebe vernünftiger ist als Hass, Brüderlichkeit wichtiger als Beharren auf nationaler Identität.

13.
Es gibt Statuten, Verfügungen, Wahrheiten der Kirche: Diese sind aber übetrhaupt „nicht wesentlich zum Dienste Gottes“ (226). Wer hingegen diese Statuten, Dogmen, der Kirche zur „Bedingung des göttlichen Wohlgefallens macht“, folgt einem „Religionswahn“. Dessen “Befolgung ein Aberglaube ist, d.h. eine nur vermeintliche Verehrung Gottes“. (226-227).

14.
Es ist bloßer „Religionswahn und Aberglaube“ zu glauben, als Mensch für ein gottgefälliges Leben noch etwas anderes und mehr zu tun zu müssen, als den guten Lebenswandel zu praktizieren. (230). In der frommen Aufopferung, der Askese, „im Eremitenleben, Mönchsdasein“, bringe der Mensch gerade die einzig bei Gott zählende erforderliche moralische Gesinnung nicht auf. Es gibt also für Kant NUR „die Religion des guten Lebenswandels als das einzige religiöse Ziel der Menschen“ (236). Solange die Kirchen mit ihren eigenen Lehren noch bestehen, muss die Vernunftreligion allmählich diesen Kirchenglauben durchdringen und überwinden. (ebd.)

15.
Die universelle Vernunftreligion ist vergleichbar mit einer „unsichtbaren Kirche, die alle Wohldenkenden in sich befasst, sie ist die wahre allgemeine Kirche“ (238). Aber… angesichts der Macht der Kirchen und des Klerus ist diese alle Menschen umfassende Kirche noch eine Idee, eine Forderung.
Nebenbei: Der große katholische Theologe Karl Rahner hat diese Idee Kants von der unsichtbaren Kirche auf seine Art aufgegriffen, als er von den „anonymen Christen“ sprach, also von der theologischen Einsicht, dass eigentlich die universale göttliche Wirklichkeit im Sinne der Christen eben auch universal alle Menschen erreicht…

16.
Wenn in den Kirchen Gesetze, Gebote, Dogmen, veräußerlichte religiöse Praxis (Prozessionen…) vorherrschen, dann sind in dieser Kirche die, wie Kant sagt, die „Pfaffen“ an der Macht. In diesen Pfaffen – Kirchen gelten nicht die Prinzipen der Sittlichkeit (242). Nebenbei: Man denke aktuell an den massiven sexuellen Missbrauch durch Kleriker und Pastoren…Eine solche Pfaffen – Kirche ist für Kant, so wörtlich, „despotisch“ (243), weil nur der Klerus das Glaubensleben bestimmt und „befiehlt“ (243). Dieser Klerus bestimmt dann als Herrscher über die Laien, also auch über die Politiker, den Staate (ebd.).Das ist ein unvernünftiger Zustand! Das ewige Kirche – Staat – Problem klingt hier an.

17.
Religiöse Praxis in den Kirchen, die als gebotene fromme Übungen verstanden wird, deutet Kant als „Frondienst” (250).
Beten darf kein Wünschen Gott gegenüber sein, Beten soll verstanden werden als Wunsch, Gott in der ethischen Praxis wohlgefällig zu sein (S. 264). Auch die Teilnahme an Gottesdiensten, Messen, ist nur ein Wahn, wenn denn die Teilnahme an den Gottesdiensten als Mittel verstanden wird, dadurch Gnade bei Gott finden zu wollen (S. 269).

18.
Das Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ endet eher skeptisch, pessimistisch. „Es wird geklagt, dass Religion noch immer so wenig zur Besserung der Menschen beiträgt“ (273), dieser Klage schließt sich Kant an und nennt auch den entscheidenden den Grund: Religion und Kirche werden immer noch nicht als Institution zur Förderung des einzig entscheidenden moralisch guten Lebenswandels verstanden…

Kant als Lehrer der Weisheit: LINK

Hat Kant die Metaphysik vernichtet? LINK

Ein Hinweis auf das neue, wichtige Kant – Buch von Marcus Willaschek:  LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Vom Geschmack der Vernunft. Ein Salongespräch im Hause Immanuel Kants in Königsberg

Immanuel Kant ist bekannt für sein höchst anspruchsvolles Werk über menschliches Erkennen und vernünftiges Handeln. Doch der Philosoph der Aufklärung führte auch ein gastfreundliches Haus. Der Denker, der am 22.04.1724 in Königsberg geboren wurde, war ein Freund kritischer Dispute, am liebsten in Gesellschaft bei gutem Essen und Wein. Leidenschaftlich verteidigt er z. B. die Revolution in Frankreich.

Zu einem ungewöhnlichen Mahl hat Kant heute Philosophen und Theologen eingeladen. Sie wollen wissen, was menschliche Freiheit eigentlich bedeutet oder „vernünftige Religion“. Auch eine andere Idee des Gastgebers wird zum Tischgespräch: Ist eine universale Friedensordnung möglich? Ein – auch unterhaltsames – Salongespräch mit Immanuel Kant anlässlich seines 300. Geburtstags.

“Vom Geschmack der Vernunft. 
Tischgespräche im Hause Immanuel Kants”


Eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn am 21.4.2024 um 9.00 Uhr, RBB Radio 3. 


LINK
Auch Podcasts

Russisch – orthodoxe Kirche noch immer Mitglied des “Weltrates der Kirchen” (ÖRK).

Eine Notiz zur offenbar ewigen Geduld des ÖRK mit dem Kriegstheologen Patriarch Kyrill I.

Von Christian Modehn am 12.4.2024.

Ergänzung von Christian Modehn am 25.4.2024: Der Herrscher, Patriarsch Kyrill, bestraft den Priester Dmitiri Safronow, der in der Gedenkliturgie für Nawalny den Mut hatte, für Nawalny zu beten.  LINK

Ergänzung am 30.4.2024: Wie Theologen, darunter der weltbekannte Prof. Tomas Halik, Prag, auf die kriegerische Haltung des russisch – orthodoxen Patriarchen Kyrill reagieren und den Rauswurf dieser Kirche aus dem “Weltrat der Kirchen” fordern: LINK:

Schon am 23. Juli 2022 haben viele Theologen aller Kirchen den Ausschluss der Russisch-orthodoxen Kirche aus dem “Weltrat der Kirchen” (Genf) gefordert. LINK.

1.
Der eigentlich angesehene Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) in Genf hat jetzt den russisch – orthodoxen Patriarchen Kyrill I. von Moskau ein bißchen kritisiert: Er solle doch bitte nicht den Krieg Putins als „heiligen Krieg“ bezeichnen. LINK.

2.
Wie nett, wie vorsichtig, diese Äußerungen; wie immer, wenn der ÖRK etwas gegen diesen Ideologen Putins, den Patriarchen Kyrill I., äußert. Kyrill war einst wie Putin Mitarbeiter des kommunistischen KGB. Alte Freunde also.

3.
Wir wiederholen uns seit Monaten in unseren Publikationen des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin: : Der Ökumenische Weltrat der Kirchen (ÖRK) hat nicht die Kraft, nicht den Mut, nicht die Einsicht… endlich diese sehr überwiegend Putin-bestimmte Kirche, also die Russisch – orthodoxe Kirche, als Mitglied aus ihrem Weltrat der Kirchen rauszuschmeißen, und zwar solange Putin diesen Krieg führt und sein Ideologe Kyrill I. Kriegerisches und Unsinniges und theologisch völlig Verfehltes, Perverses, sagt.

4.
Es wird zurecht immer wieder – auch in Deutschland – betont: Mit bestimmten Rechtsradikalen kann die kleine, demokratisch verbliebene Welt nicht mehr reden, diese Leute seien eben total dialogunfähig, lernunfähig. Das ist ein trauriges, aber realistisches Eingeständnis der Demokraten.

5.
Aber der ÖRK spricht immer noch von Dialogen mit dem Ideologen Kyrill I. Dabei sollte der ÖKR doch mal testen, was denn passiert, wenn Patriarch Kyrill und seine absolut mehrheitlich auf seiner Seite stehenden Kirche aus dem ÖRK ausgeschlossen wird. Zumindest hätte man dann in Genf das Bewusstsein, das ethisch und theologisch absolut Erforderliche getan zu haben.
Warum verhängen denn die demokratischen Sanktionen gegen die Kriegstreiber und Verbrecher in Russland? Weil Strafe sein muss gegen Kriegstreiber.

6.
Warum bleibt der ÖKR immer noch russlandfreundlich und tatenlos? Der Eindruck könnte entstehen, als sei diese ethisch wie theologisch verrückte Position Kyrills doch auch eine mögliche christliche, ökumenische Position.
Nur ein Rausschmiss des Patriarchen und seiner Kirche schafft Klarheit. Offenbar sind doch alle (ja welche und wie viele und wie oft eigentlich?) Dialogbemühungen vonseiten des ÖRK in Genf ergebnislos gewesen.

7.
Die Frage sollte diskutiert werden: Hat denn dieser Kyrill, der schon seit Jahrzehnten, auch in anderen klerikalen Funktionen, in diesem ÖRK agiert, nichts, aber auch gar nicht gelernt bei seinen theologisch doch wohl inspirierenden Aufenthalten in Genf und den ÖRK-Weltkonferenzen? Offenbar hat er gar nichts gelernt, vielleicht waren alle diese Konferenzen in bestimmter Hinsicht zu moderat.

8.
Nebenbei: Der heutige Generalsekretär des ÖRK, Pastor Jerry Pillay, stammt aus Südafrika, und die Politik seines Landes ist insgesamt eher russlandfreundlich und damit auch putin-freundlich. Ein delikates Thema? LINK

Und bisher kaum beachteter Hintergrund zum Thema: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Gerechtigkeit ist auch Steuer – Gerechtigkeit.

Wie der demokratische Staat die Über – Reichen (“Superreichen”) zu einem moralisch wertvollen Leben führen könnte.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Die neueste Statistik über arme Menschen in Deutschland: es sind 17,7 Millionen Menschen. LINK

1.
Wie viele hundertmal haben wir die Forderungen von Wirtschaftswissenschaftlern, Ethikern und Ökologen gehört und gelesen: Um das Chaos in der Entwicklung des Klimas grundlegend zu korrigieren und die verheere Ungleichheit der Einkommen sowie der Verteilung des Reichtums zu beenden: Da braucht die Menschheit heute eine gerechte Besteuerung des extremen Reichtums. Also konkret: der extrem Reichen, der „Über – Reichen“, wie man heute sagt („Super – Reiche“ wird heute zurecht abgewiesen, klingt zu harmlos).

2.
Und es werden immer wieder Statistiken aufgeboten, immer wieder neue, die den ständig miserabler werdenden Zustand beweisen. Statistiken schläfern zwar nicht ein, sie rufen aber wegen ihrer Abstraktheit und ihrer „Gesichtslosigkeit“ keine heftigen politischen Veränderungen und ethische Reaktionen hervor, die zum Aufstand gegen die immer noch vorhandene Ignoranz im „Klimawandel“ und gegen die soziale Ungleichheit führen.
Ein aktuelles Beispiel: In Deutschland (2024) leben 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen am Rande und unterhalb der Armutsgrenze. Die Milliardäre sind oft nur die etwas entfernt wohnenden, aber sich abschottenden Nachbarn dieser unterernährten, oft auch von der Bildung vernachlässigten Kinder und Jugendlichen in Deutschland sowie ihrer prekär lebenden Eltern. Von einem Aufstand der Armen und deren Sympathisanten ist leider nichts zu spüren, lediglich die Rechtsextremen verführen mit ihrer dummen antidemokratischen Hetze zur gefährlichen Verwirrung und Rebellion.

3.
Unter dem Titel “Tax the Rich“ (Oekom Verlag) ist jetzt ein neues, übersichtliches, gut nachvollziehbares Buch (nur 110 Seiten) erschienen. Wer immer noch nicht mit diesem Thema, das nicht weniger als die Zukunft der Menschheit berührt, vertraut ist, hat hier die Chance, einige Bildungslücken zu schließen. Die Autoren sind beste Fachleute: Till Kellerhoff, Spezialist für Staatswissenschaften und Internationale Beziehungen, sowie Jorgen Randers, Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied des „Club of Rome“. Das Vorwort verfasste die Aktivistin und Millionen – Erbin Marlene Englhorn: „Im Januar 2024 gab Engelhorn bekannt, dass sie aus dem von ihrer Großmutter geerbten Anteil 25 Millionen Euro der Allgemeinheit zur Verfügung stellen will.“ (Wikipedia über Marlene Englhorn, gelesen am 29.3.2024).
Marlene Englhorn betont in dem genannten Buch: „Wer (durch das Ausbleiben von Reichensteuer) privilegiert wird, stellt die eigene Comfort – Zone über die Rechte der vielen – und das widerspricht dem demokratischen Prinzip grundlegend“ (S. 10). Die Vermögenden wollen nicht mit der Gesellschaft teilen, „mit eben jener Gesellschaft (der vielen) ohne die es dieses Vermögen nicht geben würde“ (ebd.).

4.
„Eine Vermögenssteuer in Höhe von 1,7 bis 3,5 Prozent für die reichsten 0,5 Prozent der EU Bürger würde jährlich 213,3 Milliarden Euro einbringen. Das Geld stünde den Mitgliedsstaaten für Investitionen in die Energiewende, die Bildung, das Gesundheitswesen, nachhaltige Mobilität oder Beschäftigungsprogramme zur Verfügung“ (Seite 62). Weitere Fakten, allseits bekannt, aber politisch bislang offiziell ignoriert und deswegen wirkungslos: „Die 26 reichsten Menschen der Welt besitzen so viel wie die ärmsten 50 Prozent der Weltbevölkerung“ (S. 20).
„Von den acht Milliarden Menschen auf der Erde sind 800 Millionen, das sind die oberen zehn Prozent der Reichen, für fast die Hälfte der Treibhausgas – Emisssionen verantwortlich“… „Die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung verursacht gerade einmal zwölf Prozent dieser Emissionen.“ (ebd). „Soll die Allgemeinheit weiterhin die „reichsten zehn Prozent – Menschen“ mit Steuererleichterungen beglücken, obwohl diese für 50 Prozent der globalen Emissionen verantwortlich sind ?“ (S. 15)

5.
Man möchte wünschen, dass dieses Buch TAX THE RICH sehr weite Verbreitung findet, zumal bei denen, die bisher das Thema ignorierten und einen „Einstieg“ brauchen. Dann können sie lesen oder in Gruppen diskutieren: etwa die Kapitel des Buches „Warum kann der freie Markt unsere Probleme nicht lösen“ , oder „Wer muss zahlen?“, oder „Jenseits der Steuern“…Klar ist: Die abgrundtiefe Kluft im Wohlstand zwischen der arbeitenden Bevölkerung hier und den wenigen Superreichen wird der so genannte freie Markt nicht korrigieren“ (S. 36). Aber die Allmacht des so genanten freien Marktes ist noch immens, obwohl „wir schnellstmöglich den Weg in eine Zukunft finden müssen, die mit der Vergangenheit (des freien Marktes) nicht mehr viel gemein hat“ (S. 100).

6.
„Die Herausforderung ist gigantisch und die mangelnden Fortschritte in den letzten Jahren geben wenig Anlass zu Optimismus“ (S. 105).

7.
„Manchmal ist es schwer, angesichts der überwältigenden Herausforderung, vor der wir stehen im Blick auf die Steuer für die Superreichen, nicht zu verzweifeln.“ (S. 106).
Und die Autoren wollen etwas Hoffnung machen mit dieser Erkenntnis: „Allen diesen Krisen liegen politische Entscheidungen zugrunde. Wir leben in einem von Menschen geschaffenen System.Und Menschen können es verändern“. So sagen die Autoren, durchaus korrekt, aber zwiespältig: Aber warum ist denn eine wirkliche tiefe Reform in den vergangenen Jahren nicht gelungen? Sind die Politiker offenbar doch sehr stark von Lobby- Gruppen der Superreichen abhängig? Das wäre doch spannend, im einzelnen nachzuweisen! Die Autoren hätten mehr Namen und Organisationen, Lobbygruppen und versteckte Anti – Demokraten nennen müssen!

8.
Es hätte dem Buch auch gut getan, wenigstens einige Seiten den Fragen zu widmen:
Haben die Super – Reichen noch ein ethische Bewusstsein? Wie geht man mit solchen Menschen um? Hilft da noch Coaching?
Denken diese Leute vielleicht: Es gibt wertvolle und weniger wertvolle Menschen (zweiter Klasse?).Wo gibt es überall Rassismus?
Was ist von dem Titel „Eigentum ist Diebstahl“ (Proudhon) heute zu halten?
Wie sieht das internationale Netzwerk der Superreichen mit den Reichen (Herrschern) etwa in Afrika aus?
Gibt es überhaupt internationale Organisationen, die für die Milliarden Armer wirksam politisch eintreten? Wie marginal sind die humanen und menschenfreundlichen NGOs?
Noch was anderes: In welcher Weise profitieren die Superreichen von den durch Steuern finanzierten erstklassigen, aber immer noch Ultra teuren Kulturangeboten, etwa in den Opernhäuser Europas: Welcher Bürger (Mittelstand, von Armen sprechen wir lieber erst gar nicht) kann sich eine Opernkarte für 150 Euro leisten oder etwa in Hamburger Elb-Philharmonie oder in der Pariser Oper für mindestens 400 Euro? Es sind die Bürger, die auch den kulturellen Luxus der Superreichen mit finanzieren. Und Stadtteil Bibliotheken müssen schließen und öffentliche Schulen vergammeln in ihrer Bausubstanz. Die Reichen haben ja noch ihre gediegenen Privatschulen, ohne arme und ausländische SchülerInnen versteht sich.

9.
Es wäre weiter ausführlich zu berichten, dass es einige Millionäre und Milliardäre gibt, die den Zustand ihrer Privilegierung im Steuersystem selbst kritisieren und sich mehr Gerechtigkeit wünschen. „Bitte behandelt uns gerecht“, rufen sie den Finanzministern zu. Herr Lindner (FDP) hört das natürlich nicht. Es sind tatsächlich 300 MillionärInnen, WirtschaftswissenschaftlerInnen und PolitikerInnen, die einen offenen Brief an die G20 geschrieben haben: „Wir wollen endlich eine Vermögensbesteuerung“, heißt es darin (S. 27).
Den Schrei der Reichen nach Gerechtigkeit sollte man doch hören, in dieser Welt der tonangebenden Reichen. Wenn man schon nicht den Schrei der Armen, das sind die Arm-Gemachten und Ausgegrenzten und Hungernden hört in dieser Welt. Dann wenigstens den Schrei der Millionäre…

„TAX THE RICH. Warum die Reichen zahlen müssen, wenn wir die Welt retten wollen.“ Von Jorgen Randers und Till Kellerhoff. OEKOM Verlag, 110 Seiten, 14€.

Lesenswert: Proudhon: „Eigentum ist Diebstahl“: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Freundschaft oder Brüderlichkeit? Wie den Universalismus durchsetzen? Eine Frage an Omri Boehm.

Anläßlich der Verleihung des „Buchpreises für europäische Verständigung“ in Leipzig, März 2024.

Ein Hinweis von Christian Modehn. (Warum diese Frage alles andere als eine „bloß akademische“ ist, siehe Nr. 13 dieses Hinweises.)

1.
Der Philosoph Omri Boehm verteidigt entschieden das philosophische, ethische und rechtliche Prinzip des Universalismus, das zeigt er in seinem Buch mit dem Titel „Radikaler Universalismus“ (2022): Dieses Prinzip lehnt die Vormacht der Identitätspolitik ab, es will Raum schaffen für eine gerechte Welt in der alle Menschen tatsächlich die viel zitierte, aber nicht realisierte Gleichheit aller Menschen erleben. Der Universalismus legt allen Wert darauf, den Menschen, jeden Menschen, als moralisches Wesen der Freiheit und Vernunft zu definieren und nicht bloß den Menschen als ein Lebewesen (Tier) unter anderen!
Der Mensch ist, der Erkenntnis von Immanuel Kant folgend, verpflichtet: Dem im Innern der Vernunft vernommenen Aufruf der Pflicht, moralisch zu handeln, praktisch zu entsprechen. Die Menschen sind als „Subjekte von absoluter Würde“ („Radikaler Universalismus“, S. 17). Omri Boehm betont also, es gelte „dieser Idee (d.i. absolute Würde eines jeden Menschen) zu folgen, dies sei sogar “ein Gesetz, das nicht von Menschen gemacht ist“ (ebd). Diese Wahrheit gelte „unabhängig von menschlichen Konventionen“ (ebd.).

2.
Und das ist besonders bemerkenswert an Boehms Rede in Leipzig: Um den Universalismus durchzusetzen, drängt Boehm darauf, die Freundschaft mit dem anderen Menschen und den anderen Menschen, zu pflegen und politisch zu gestalten: Durch Freundschaft also, vor allem durch die Freundschaft zwischen Israelis und Palästinensern, soll dem moralischen Universalismus praktisch entsprochen werden. Freundschaft also der Weg zur Stiftung von Frieden, zur Beendigung von Kriegen?

3.
Das ist ein neuer Gedanke, der da in Leipzig vorgetragen wurde. Man könnte zugespitzt sagen: Freundschaft contra Brüderlichkeit?
Darum muss zunächst noch etwas ausführlicher das „Wesen“ der Brüderlichkeit erläutert werden. Denn der Universalismus als die Einsicht in die wesentliche, auch rechtlich garantierte und sozial gelebte Gleichheit aller Menschen lebt von der Leitidee, Brüderlichkeit zur praktischen, auch politischen Geltung zu bringen. Dabei ist es ohne Frage so: Brüderlichkeit als Prinzip des Zusammenlebens hat trotz aller theoretischen Lobeshymnen faktisch in der Geschichte keine dauerhaft prägende Rolle gespielt. Oft war und ist die Barbarei stärker als die Brüderlichkeit. Daran erinnert sehr deutlich der Historiker Friedrich Heer in seinem Aufsatz „Im Namen der Brüderlichkeit“ in dem empfehlenswerten Sammelband „Brüderlichkeit. Die vergessene Parole“ , Gütersloh, 1979, S. 19 ff).

4.
Es geht hier in der philosophischen Reflexion zum Thema nicht primär um die Auseinandersetzung mit historischen Fakten. Es geht um ein Verständnis dessen, was „Brüderlichkeit“ (und dann auch „Freundschaft“) sozusagen „wesentlich“ meint. Die Möglichkeit, einfach „nur so“ und ganz allgemein für „den“ Menschen oder „die Menschheit“ einzutreten als Form, den Universalismus zu realisieren, ist viel zu unbestimmt: Unter einem Prinzip „Menschlichkeit“ bzw. „Humanismus“ können viele, sich widersprechende Inhalte versteckt sein. Zudem: Nicht nur einige Philosophen halten explizit den Menschen für ein Tier unter anderen Tieren, da wird der Mensch ausschließlich als Naturwesen definiert, und das ist falsch.
Hier aber geht es eben um ein anspruchsvolleres „Definieren“ dessen, was Menschen und Menschsein bestimmt. Brüderlichkeit und Freundschaft sind solche Bestimmungen, über deren unterschiedliche Bedeutung zu debattieren ist.

5.
Man denke daran, dass die drei zentralen Prinzipien der immer wieder umstritteneren Neugestaltung Frankreichs seit der Revolution von 1789 heißen: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.“ Manche sprachen sogar von einer neuen, humanen „Trinität“. Die „Fraternité“ ist eine moralische Verpflichtung, während die beiden anderen Begriffe Freiheit und Gleichheit, Rechte des Bürgers beschreiben. „Die Fraternité ist das Ziel einer Bildung der Bürger für die weitere Zukunft und keinesfalls eine unmittelbare Forderung“, schreibt Mona Ozouf (im „Dictionnaire critique de la Révolution Francaise”, Paris 1988, S. 731-732, Übersetzung CM). Erst 1848 (!) wurde in der Konstitution Frankreichs von den bekannten drei Begriffen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ gesprochen. In der „Déclaration des droits et des devoirs du citoyen“ (Jahr III, d.i. das Jahr 1795), eher nebenbei, wird fraternité so definiert: „ Tut dem anderen Menschen nicht das an, von dem ihr selbst nicht wollt, dass es euch geschieht. Tut beständig den anderen Menschen das Gute, das ihr selbst von ihm empfangen wollt“ (Übersetzung von C.M. Das Zitat: „Histoire et Dictionnaire de la Révolution Francaise“, Paris 1987, Seite 832.)
Das heißt: Die Brüderlichkeit bzw. das brüderliche Verhalten wird hier, 1795, definiert in einer Form der uralten, man möchte sagen universalen „goldenen Regel“, die, so sagen Kant – Forscher, einen präziseren Ausdruck in Kants Formulierungen des „Kategorischen Imperativs“ fand.
Nebenbei: Beim Stoa – Philosophen Marc Aurel (121 – 180 n. Chr.) finden wir eine Erkenntnis der Universalität: „Ich habe klar erkannt, dass der Mensch, der gegen mich fehlt, in Wirklichkeit mir verwandt ist, nicht weil wir von demselben Blut, derselben Abkunft wären, sondern wir haben gleichen Anteil an der Vernunft, der göttlichen Bestimmung.“ (Seite 22 in Reclam, „Marc Aurel, Selbstbetrachtungen 2001). Und auch: „Jedes vernünftige Wesen ist mit mir verwandt“, (ebd. S. 34, 3. Buch)

6.
Zurück zu Omri Boehm: Er lehnt es in seiner Leipziger Rede 2024 ab, die Brüderlichkeit als bestimmende und entscheidende Lebensform des Universalismus gelten zu lassen. Boehm spricht sogar von einem „katastrophalen Versagen der Brüderlichkeit“, sieht das Eintreten für die Brüderlichkeit als „Brüderlichkeit der Privilegierten“, Brüderlichkeit also als Ideologie im westlichen Kapitalismus. Er sieht die „Fraternité“ als eine bloße Form der Solidarität, die oft nicht über das Proklamieren von Parolen hinausgeht. Boehm behauptet „diese Solidarität bilde sich unter verfolgten Gruppen durch die Verbundenheit mit der eigenen Identität heraus“: Brüderlichkeit gehöre also in die Welt der von Boehm abgelehnten Verkapselung in Identitäten. Aber ist dies das Wesen der Brüderlichkeit? Ist diese Fixierung auf familiäre oder andere identitäre Vorlieben das Wesen von Brüderlichkeit?

7.
Boehm plädiert in seiner Leipziger Rede, wie schon in Nr 2. kurz erwähnt, also explizit für die Freundschaft als einer Lebensform, die das richtige Prinzip des Universalismus durchsetzen kann. Unter Freunden kann eine Wahrheitsaussage des einen, die der Erkenntnis des Freundes widerspricht, gerade nicht „persönliches Leid darstellen“, so Boehm in Leipzig in seiner Deutung der Freundschaftslehre des Aristoteles. Er bemüht auch Kant, der von einer „Pflicht zur Freundschaft“ spricht (in seiner „Metaphysik der Sitten“, § 46). Das hätte überhaupt erläutert werden müssen, genauso wie der von Boehm zitierte Ausruf des Juden „Nathan des Weisen“ gegenüber dem christlichen Tempelherren :„Wir müssen, müssen Freunde sein“ (die Quelle ist: Zweiter Aufzug, fünfter Auftritt in dem Theaterstück „Nathan der Weise“ von Lessing). Die bei Boehm nicht geleistete Interpretation wäre: Wenn man gezwungen wird, bestimmte Menschen als Freunde zu haben, dann wird das Wesen der Freundschaft als freier Tat ausgelöscht. Das kann wohl Lessing nicht gemeint haben! Das Zitat ist eine dem erregten Redefluss Nathans folgende zugespitzte Aussage für: “Lass uns doch endlich, endlich Freunde sein…“

8.
Es sollte also weiter diskutiert werden: Ist Freundschaft als Form der Beziehung zwischen Menschen nicht sehr oft eine zufällig entstandene Beziehung zweier Menschen oder von Menschen in einer Gruppe? Freundschaft lebt auf Dauer von Freiheit, von Sympathie, von einem Vertrauen, einer Nähe, die eigentlich sozusagen immer „gesetzlos“ ist: Und dies im Unterschied zur Liebe, die oft ihren Ausdruck findet in der strukturierten gesetzlich gefassten und mit Verpflichtungen verbundenen Ehe. Darum heißt es auch immer zurecht von Psychologen, Freundschaft zu leben sei viel schwieriger zu gestalten und auf Dauer zu leben als Liebe in der Form einer Ehe. Freundschaft, eine zeitlich begrenzte Beziehung, kann oft spontan aber auch mit gutem Grund auch einseitig wieder aufgekündigt werden, ohne rechtliche Komplikationen.

9.
Es ist für uns erstaunlich, dass Boehm die Brüderlichkeit als die – prinzipiell – angemessene Lebensform des Universalismus so kritisch sieht. Der inhaltliche Hintergrund der Brüderlichkeit ist: Die Menschen sind alle gleichberechtigte Brüder und Schwestern, gerade weil sie als „Geschöpfe“ gemeinsam als Brüder und Schwestern in gewisser Hinsicht „Kinder“, im Bild gesprochen, also alle gemeinsam „Kinder“ eines gemeinsamen „Vaters“ und einer gemeinsamen „Mutter“ zu verstehen sind . Diese Formulierungen sind Symbole für das Geschaffensein aller Menschen. Mit anderen Worten: Die Lehre von der Brüderlichkeit hat eine berechtigte, nicht abweisbare Tiefe in der Erkenntnis eines allen, aber auch allen, Menschen gemeinsamen „Vaters“ (und natürlich einer gemeinsamen „Mutter”). Diese Erkenntnis wird religiös in der christlichen Tradition ausgesprochen mit dem Bild der „Gottes – Kindschaft aller Menschen“. Diese Erkenntnis ist nicht eine Formel einer religiösen Ideologie oder gar einer mystischen Verzückung. Sie hat bekanntlich Ausdruck gefunden in rechtlichen Bestimmungen, die von der im Bild der „Gottes – Kindschaft“ gemeinten wesentlichen Gleichheit aller Menschen ausgeht. In der Unabhängigkeitserklärung in den USA von 1776 heißt es bezeichnenderweise: „All men are EQUAL CREATED“, also geschaffen, man ergänze: von dem gemeinsamen Vater und der gemeinsamen Mutter….

10.
Zur Unterstützung unserer These soll darauf hingewiesen werden: Omri Boehm spricht in seinem Buch „Radikaler Universalismus“ selbst davon, es gelte bei diesem Thema „einer Idee, einem Gesetz zu folgen, das NICHT von Menschen gemacht ist“ (S. 17), also dann doch wohl von einem „göttlichen, transzendenten Schöpfer“ stammt, möchten wir die universale Brüderlichkeit, geschaffen von einem gemeinsamen „göttlichen Vater“ sehr ernst nehmen und der Freundschaft vorziehen. Das heißt, noch einmal: Die universale Brüderlichkeit als Gleichwertigkeit aller Menschen als Geschöpfe, die ja kein einzelner Mensch als Geschaffener aufkündigen kann, sollte der immer dem Zufall überlassenen und Freundschaft vorgezogen werden. Freundschaft kann man aufkündigen, Brüderlichkeit im Sinne der gemeinsamen Herkunft des Geschaffenseins NICHT. Universale Brüderlichkeit wird oft ignoriert, zerstören kann man sie nicht.

11.
Nebenbei: Zwei Beispiele aus der politischen Geschichte: Ein wichtiger, seit Jahren währender Versuch in Deutschland (!), Juden und Christen miteinander ins Gespräch zu bringen, hat den Titel „Woche der Brüderlichkeit“. Dass es jetzt in Deutschland wieder etwa 100 (!) Synagogen gibt, ist sicher auch eine Konsequenz dieser „Wochen der Brüderlichkeit“. Also der bleibenden Gemeinsamkeit von Juden und Christen ALS MENSCHEN.
Und noch ein Beispiel: In der DDR gab es seit 1947 einen Verein, der „Deutsch-Sowjetische FREUNDSCHAFT“ hieß. Da traten Leute in diesen Freundschaftsclub ein, die wahrlich nichts oder wenig mit Freundschaft etwa mit Stalin zu tun haben wollten. Diese Leute wollten nur nicht als Oppositionelle auffallen und traten deswegen diesem politisch eher harmlosen Freundschaftsclub der Massen bei. Die „Deutsch – Sowjetische Freundschaft“ hatte 3,5 Millionen Mitglieder im Jahr 1970, 6,4 Millionen Mitglieder waren es im Jahr 1988.

12.
Die gewisse Scheu Omri Boehms, die Brüderlichkeit offenbar prinzipiell nicht als die entscheidende Lebensform des Universalismus gelten zu lassen, rührt vielleicht auch aus einer gewissen Bindung an die Weisungen der hebräischen Bibel. „In der hebräischen Bibel kommt der Terminus Brüderlichkeit nur einmal vor, und wie alle Abstraktbildungen, erst in einem späten Text, im Kapitel XI des Propheten Zacharias“, schreibt Ernst Simon in dem Sammelband „Die vergessene Parole“, dort S. 29. Und der jüdische Wissenschaftler Ernst Simon beschließt seinen Beitrag mit dem Unter-Titel „Überlegungen aus dem Judentum“: “Wenn wir ernstlich vom jüdischen Boden aus zur Brüderlichkeit vorstoßen wollen, so müssen wir ausgehen von der Ebenbildlichkeit Adams mit Gott, eines Adams, des ersten Menschen, nicht des ersten Juden“ (S. 38).
Der Historiker Friedrich Heer vertieft diese Einsicht und betont in dem genannten Buch „Brüderlichkeit. Die vergessene Parole“: „ In Alt-Israel ist für den Bruder wenig Platz, da alle seelischen und geistigen Energien auf das Beziehungssystem: Gott, der Herr, und Israel, seine `Braut` zentriert sind“ (S. 21).

13.
Warum dieser etwas ausführliche Hinweis auf die Rede Omri Boehms in Leipzig?
Es geht uns darum, die Brüderlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen gegenüber der offensichtlichen Vorliebe Boehms für die Freundschaft als einem Weg, als einer Möglichkeit, den Universalismus zu gestalten. Universalismus, wie gesagt, verstanden auch als rechtlich garantierte Gleichheit aller Menschen, als Form eines Zusammenlebens der Menschen, die sich NICHT in Identitäten abkapseln und NICHT egoistische eigene Gruppen-, eigene Nationen-, eigene Religions- Interessen vorrangig durchsetzen … ohne Rücksicht auf die Gleichberechtigung und Gleichheit der anderen Menschen.

14.
Diesem Ziel kommen Menschen näher, wenn sie sich der universalen Brüderlichkeit aller Menschen moralisch verpflichtet wissen und entsprechend auch Politik gestalten. Brüderlichkeit hat von sich aus, wie wir gezeigt haben, selbst einen universalen Ursprung in der geistigen Herkunft aller Menschen von einem transzendenten, aber gültigen Symbol, das man Gott, die schöpferische Kraft, nennt. Die Brüderlichkeit mit dieser Herkunft und Weite hat erst in zweiter Linie etwas mit einer enger (und populär) verstandenen Brüderlichkeit zu tun, etwa in familiären Beziehungen oder in „brüderlichen“ Gemeinschaften (etwa Ordensgemeinschaften). Auch diese leben letztlich von der alle Menschen bestimmenden Einsicht, geschaffene Wesen, „Kinder“, religiös formuliert, „Gottes Kinder“ zu sein. Wenn es in diesen „Bruder-Gemeinschaften“ zu Konflikten kommt, berufen sie sich auf die universale Brüderlichkeit und ihre Gesetze, nicht aber auf variabel und kurzfristig geltende Regeln der Freundschaft…

15.
Freundschaft ist also selbstverständlich gut und (auch politisch) wichtig, aber nur auf der Basis und im Horizont der viel umfassenderen Brüderlichkeit aller Menschen.
Ich weiß, man sollte treffender von „Geschwisterlichkeit“ sprechen, wie dies viele feministisch inspirierte Theologinnen und PhilosophInnen zurecht praktizieren… Und diese Geschwisterlichkeit ist immer gemeint, wenn wir hier den klassischen Begriff Brüderlichkeit verwenden.

16.

Über Omri Boehms Buch “Radikaler Universalismus”:  LINK.

Über das Buch von Omri Boehm und Daniel Kehlmann über Kant:  LINK.

Über die Erkenntnis des Philosophen Pierre – Joseph Proudhon: Gerechtigkeit ist der neue Gott, ein Gedanke, der auch Omri Boehm wichtig ist:  LINK:

Darf ich als “demokratisch orientierter” Mensch auf Dauer eine Freundschaft mit einem Diktator und Kriegstreiber pflegen und hegen? LINK.

17.

Ein Hinweis von Hannah Arendt: Ihr wurde wurde, etwa von Gershom Scholem, vorgeworfen, es mangle ihr an Liebe und Freundschaft zu Israel und “den Juden”. Hannah Arendt sagte: “Freundschaft und Liebe gehören der PRIVATEN,  nicht der politischen Sphäre an” . (Micha Brumlik, “Nationaljüdische Ambivalenz” in: “Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert”, Piper Verlag, 2020, S. 23).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.