Der Leichnam Pater Pios im Petersdom ausgestellt: Eine Scharlatanerie?

Der Leichnam Pater Pios (1887-1968) wird im Petersdom ausgestellt: Eine Scharlatanerie?

Ein Hinweis von Christian Modehn, im Februar 2016.

1.

Es ist ein merkwürdiges und bedenkenswertes Zusammentreffen zweier Ereignisse: Beide dokumentieren auf verschiedenen Ebenen die unvernünftig erscheinende Glaubenspraxis im Vatikan: Am 30.1. 2016 gibt es Massendemontrationen in Italien gegen das Vorhaben der Regierung, auch in diesem Land endlich – sozusagen als Schlußlicht in Europa bei diesem Thema – die eingetragene Partnerschaft von Homosexuellen gesetzlich zu ermöglichen. Der Vatikan ist mit üblichen Argumenten sozusagen der Lieferant ideologischer, religiöser Weisheiten. Aus der schlichten Beschreibung im Alten Testament “Als Mann und Frau schuf Gott die Menschen” (Genesis, 1,27) wird wie üblich und dumm gefolgert: Also kann es deswegen nur eine Ehe von Frau und Mann geben. Von der damals einzig möglichen Heteroehe ist in diesem Bibel-Vers(verfasst ca. 500 vor Christus) keine Rede. Aber der Vatikan entnimmt der Bibel seine Weisheiten, wie es ihm, demVatikan, gefällt.

2.

An dieses Thema traut sich kein katholischer Theologe “ran”: Die merkwürdige angeblich wundertätige Gestalt des süditalienischen Kapuziner-Paters Pio ist für katholische Theologen tabu. Wovor haben diese gut bezahlten Uni-Professoren Angst? Mit diesem angeblich stigmatisierten Kapuziner, der, empirisch erwiesen, in Italien auch heute noch mehr Verehrung findet als Christus oder Maria,  befassen sich “nur”  Soziologen, Historiker oder Kunsthistoriker, wie etwa Urte Krass, Stigmata und yellow press. Die Wunder des Pater Pio”. Bibliographische Hinweise am Ende dieses Beitrags. Wichtig ist das Buch des Historikers Sergio Luzzatto, das nun nach der italienischen Erstausgabe auch in Frankreich publiziert wurde: “Padre Pio. Miracles et politique à l`age laic”, erschienen bei Gallimard , 528 Seiten, 30 €. Das Buch setzt die Gestalt dieses Kapuziners in den historischen Kontext, in dem es das Bedürfnis gab, einen Heiligen zu “schaffen”; es beschreibt auch die Anstrengungen derer, die Pater Pio – sicher aus finanziellen Gründen – in die Gestalt eines zweiten Christus erhöhen wollten.  Der Autor zeigt, wie die Faschisten sich der Gestalt Pater Pios bemächtigten.

3.

Der Religionsphilosophische Salon als Ort der Religionskritik hat sich mit Pater Pio schon seit Jahren mehrfach befasst. Diesmal ein aktueller Hinweis:

Man glaubt es kaum, schon gar nicht bei dem angeblich progressiven Papst Franziskus: Da wird der Leichnam (im Glaskasten) Padre Pios, des Volksheiligen aus Süditalien und Idols u.a. aller Taxifahrer und Mafia-Bosse, aus Süditalien in den Petersdom transportiert und vom 8. bis 14. Februar 2016 ausgestellt, anläßlich des so genannten Heiligen Jahres der Barmherzigkeit. Reliquien, eine einbalsamierte Leiche,  soll also den Gedanken der Barmherzigkeit befördern. Auf welchem theologischen Niveau bewegen sich die Herren des Vatikans eigentlich? Oder geht es nur um Werbung für die Kunstschätze des Vatikans und Roms im Heiligen Jahr? Um mehr Geld in den Kassen des Vatikans und der römischen Hotelbetriebe, zu denen bekanntermaßen heute sicher hundert Klöster gehören. Die Klöster stehen fast leer, und werden in komfortable 4 bis 5 Sterne “Herbergen” verwandelt, die Augustiner, die Nachbarn des Papstes, taten es in Rom, die römischen Franziskaner (die bei dem Projekt pleitegingen) und viele andere…Mit Pater Pio, bei vielen sehr schlichten und weniger schlichten, frommen Gemütern, lässt sich Geld machen…

4.

Religionsphilosophen fragen sich, hat mit dieser Darbietung eines Leichnams in der katholischen Hauptkirche die Vernunft nun endgültig den Vatikan verlassen? Muss der Papst sich so populistisch geben und vielleicht dabei noch konservativere Leute dort versöhnen, dass er den Leichnam Padre Pios, sichtbar und zentral im Petersdom ausstellt? Um was zu bewirken? Dass die naiv gemachten und von ihren Pfarrern ungebildet gehaltenen Frommen dort vor der Leiche beten, den Heiligen bitten und anflehen, seine jetzt nicht mehr blutenden Wunden betrachten und vergessen… dass dieser Mann ein Scharlatan war? Davon sprechen viele Studien, selbst einst die Päpste.

5.

Manche Beobachter fragen: Wie lange will der Vatikan heute eigentlich noch die Nerven der Protestanten strapazieren mit solchen irrigen Kulten um einen heilige Scharlatan? Ist alles Reden von Ökumene im Vatikan nichts als Gerede, indem man genau die Dinge heute ausdrücklich wieder tut, die Martin Luther zurecht verurteilte, wie das Ablasswesen (die “heilige Pforte durchschreiten” usw)., denn auch der Ablass ist bekanntlich wieder so beliebt und eben den Kult um angeblich heilige Leichname bzw. Skelette fördert. De facto sind sich die getrennten Kirchen offenbar bis heute nicht näher gekommen. Das sagt auch jetzt Kardinal Müller, der oberste Glaubenshüter in Rom, wenn er sich die Einheit der Christen nur als Rückkehr zum Papst vorstellen kann. Kurz und gut, warum wagt es kaum jemand zu sagen: Die Ökumene ist nichts als ein schöner, frommer “Schein”? Vielleicht eine Art theologischer Zeitvertreib? Hübsch, wenn man sich zu Konferenzen mit den ewig selben Themen trifft usw. Es geht letztlich unausgesprochen, aber sichtbar im Handeln im Vatikan, nur um die pure Vorherrschaft Roms, eines Roms, som, wie es eben “immer schon war”.

6.

Wir haben schon vor einigen Jahren auf diesen merkwürdigen “Volksheiligen”, der als Priester kaum ein vernünftiges Wort predigen konnte, angeblich mit den Wunden Christi ausgestattet,  aufmerksam gemacht. Zur Lektüre klicken Sie bitte hier.   

Interessante Hinweise, etwa zur Kritik der Päpste an diesem Scharlatan, bietet auch ein Beitrag aus Stuttgarter Zeitungvon 2015, klicken Sie hier.

Wir empfehlen die Lektüre des Beitrags von Urte Krass, “Stigmata und yellow press. Die Wunder des Pater Pio”  in dem Sammelband aus dem Suhrkamp Verlag (2011), hg von Alexander C.T.Geppert und Till Kössler, dort Seite 383-394. Diese Studie von Urte Krass (München) sollte jedem Besucher der wundertätigen Leiche Pater Pios im Petersdom als Pflicht-Lektüre überreicht werden. Geld genug dafür haben ja die Kapuziner mit ihrem “Wunderpriester”, der auch über seinen Tod hinaus für eine wunderbare Geldvermehrung der völlig naiven Frommen seit Jahrzehnten sorgt.

7.

Die Protestanten sollten im Umfeld des Reformationsgedenken 2017 (und des “Ökumenischen Kirchentages” 2017) diese Studie lesen, um sich einen Eindruck zu machen, was heute so alles wichtiggefunden wird in der katholischen Volksspiritualität, mitten im Petersdom, mitten in Italien… Diese total irrationale Volksfrömmgkeit wird amtlich, päpstlich,  gefördert …. weil sie soviel Geld-Segen bringt. Bekanntlich hat ja das riesige Krankenhaus in San Giovanni Rotondo und die dortige “wunderbar-große” Kirche des Stararchitekten Renzo Piano viele Millionen verschlungen…

Ergänzungen am 6.2.2016:  Was sagt der (angeblich progressive) Papst Franziskus von Pater Pio: Ein Zitat aus kath.net: “Nachdem am gestrigen Freitag (5.2.2016) die Reliquien von Pater Pio und Leopold Mandic in Prozession in die Petersbasilika gebracht wurden, wo sie bis zum 11. Februar bleiben werden, begrüßte Papst Franziskus die Gebetsgruppen des heiligen Pio in einer Audienz auf dem Petersplatz. In seiner Ansprache an die Zehntausenden von Pilgern unterstrich der Papst, dass Pater Pio ein „Diener der Barmherzigkeit gewesen sei. Durch das “Apostolat des Hörens, den Dienst der Beichte, sei Pater Pio eine „lebendige Liebkosung des Vaters“ gewesen, der die Wunde der Sünde heile und das Herz mit seinem Frieden aufrichte. Der heilige Pio habe dies tun können, da er immer mit der Quelle verbunden gewesen sei. Er habe ständig seinen Durst am gekreuzigten Jesus gestillt und sei so zu einem „Kanal der Barmherzigkeit“ geworden“. Er habe das Geheimnis des Schmerzes gelebt, den er aus Liebe aufgeopfert habe. So sei sein kleiner Tropfen zu einem großen Fluss der Barmherzigkeit geworden”.

8.

Und der “Fluss der Barmherzigkeit” strömt nach Rom zur Leiche Pater Pio, berichtet ebenfalls kath.net am 6.2.2016: “Pilgeransturm zur Reliquie übertrifft Erwartungen. Fünf Stunden Schlangestehen für fünf Sekunden bei der Pater-Pio-Reliquie. Zehntausende nehmen dies auf sich. Von Stefanie Stahlhofen (KNA). 450 Kilometer hat Filomena für diesen Augenblick hinter sich gebracht. Aus Lagonegro in der Basilikata ist die 65-jährige nach Rom gekommen, um die Reliquie des Heiligen Pater Pio (1887-1968) zu sehen. Dreieinhalb Stunden lang stand sie in der Schlange, andere sollen fünf Stunden gewartet haben. Egal. Filomenas Augen strahlen. «Seelenruhe» habe Pater Pio ihr gegeben, sagt sie. Der Glassarg ist kaum zu sehen vor lauter Menschen. Sie hinterlassen Blumenschmuck und kleine Zettel, pressen einen Schal, eine Hand mit oder ohne Rosenkranz, ein Heiligenbild gegen den Schrein. Sie knipsen Fotos mit dem Handy, murmeln ein Gebet. Vor ihnen der Anblick von Pios Leichnam in der typischen Kutte, die schwarz gewordene Hand über der Brust gefaltet. Eine Silikonmaske verdeckt das Gesicht. Sie verleiht dem Heiligen mit dem grauen Bart einen friedlichen Gesichtsausdruck”.

Für Philosophen: Wie der Philosoph G.W.F. HEGEL den Reliquienkult deutet, lesen Sie hier.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Grenzen der Heidegger Forschung

Es gibt keine historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Martin Heideggers

Über die Grenzen der Heidegger Forschung

Ein Hinweis von Christian Modehn

Am 13. 11. 2014 (Nr. 47) veröffentlichte DIE ZEIT einen wichtigen Beitrag von Eggert Blum über neue Erkenntnisse einer kritischen Heidegger-Forschung. Der Titel „Die Marke Heidegger“. Der Untertitel „Wie die Familie des Philosophen jahrzehntelang versuchte, das Image des umstrittenen Denkers zu kontrollieren und kritische Studien klein zu halten“.

Eggert Blum arbeitet als Journalist vor allem für SWR 2.

Sein Beitrag für DIE ZEIT findet unseres Erachtens leider nicht eine breitere Rezeption in der Öffentlichkeit. Dabei bietet er einige wichtige Erkenntnisse aus neuester Forschung über den Philosophen Martin Heidegger. Um zu weiteren Recherchen – wenn möglich – zu ermuntern, nur einige zentrale Fakten aus dem Beitrag von Eggert Blum.

– Die Familie Heideggers, allen voran der Sohn Hermann Heidegger, „üben eine strikte Kontrolle über die Gesamtausgabe aus, sie beanspruchen Deutungshoheit über das Heideggerbild in der Öffentlichkeit und versuchen, kritische Stimmen klein zu halten“. Tatsache ist also, trotz der allmählich abgeschlossenen „Gesamtausgabe“: „Es gibt keine historisch-kritische Gesamtausgabe, die Änderungen des Autors kenntlich und so die Textgeschichte überprüfbar mache“. Damit sind vor allem die Äußerungen des NSDAP Mitglieds Martin Heideggers (Mitglied bis 1945) zur Rolle der Juden gemeint, etwa: „Über die Vorbestimmung der Judenschaft zum planetarischen Verbrechertum“ (so ein Zitat Heideggers in DIE ZEIT vom 13.11.2014).

– Die Philosophin Sidonie Kellerer hat sich große Verdienste erworben, im Detail nach zu weisen, wie Martin Heidegger nach 1945 höchst peinliche Äußerungen (um es mal moderat zu sagen) über Juden ausgelöscht hat. Der Beitrag zeigt diese sehr genaue Recherche am Beispiel des Aufsatzes “Zeit des Weltbildes”, den Heidegger 1938 in Freiburg gehalten hat. In der Veröffentlichung dieses Aufsatzes in dem Sammelband “Holzwege” 1950 streicht Heidegger Äußerungen dieses Vortrags, die er 1938 zugunsten der NSDAP Ideologie gemacht hatte.

– Nachschriften aus Universitätsseminaren, etwa aus dem Wintersemester 1933 /34, in denen Heidegger den Führerstaat, Nationalismus und Antisemitismus propagiert, fehlen in der Gesamtausgabe. Sie ist ja auch keine kritische Gesamtausgabe … und somit eigentlich nur sehr begrenzt für die Forschung verwendbar. Dies ist wohl die am meisten schockierende Erkenntnis, die der Artikel vermittelt.

– „Teile des Nachlasses befinden sich weiter in Familienhand“, also bei Hermann Heidegger und dessen Sohn.

– Hermann Heidegger, der Sohn,  publiziert seine Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft im Verlag ANTAIOS, wo sich vor allem Autoren der so genannten Neuen Rechten (Nouvelle Droite, etwa der Meisterdenker Alain de Benoist tummeln). Der ANTAIOS Verlag stellt Hermann Heidegger auf der Verlagswebsite – zweifellos mit dessen Einverständnis – vor: „Seit 1976 ist Hermann Heidegger verantwortlich für die Gesamtausgabe der Werke seines Vaters Martin Heideggers“.

– Der von Heidegger selbst geschätzte Interpret und Herausgeber einiger Werke der Gesamtausgabe, der Philosoph Friedrich Wilhelm von Herrmann, hat dem russischen Nationalisten Alexander Dugin (er gehört zu Putins Beraterkreis) ein zweistündiges Filminterview gegeben. Der Journalist und Philosoph Thomas Assheuer schreibt über Alexander Dugin in “Die Zeit” vom 17. Dezember 2014, Seite 4: “Von der inneren Unterwanderung des Westens träumt auch der russische Philosoph Alexander Dugin. Im Mai (2014) war Dugin in Wien Stargast eines =Geheimtreffens=, an dem neben dem FPÖ Chef Heinz Christian Strache auch die Ekelin Jean-Marie Le Pens teilnahm, also eine Abgeordnete des /französischen/ Front National… Dugin wird nicht beleidigt sein, wenn man ihn eine Neofaschisten nennt… Dugin entwirft  eine Blaupause für eine postliberale Gesellschaft, die auf den Ruinen des Westens errichtet werden soll…”

Uns ist nicht bekannt, ob sich der “hervorragende Heidegger Spezialist”, Prof. Friedrich Wilhelm von Herrmann, zur Bedeutung und zum Sinn seinwa ausführlichen Fernsehgesprächwa mit Dugin geäussert hat. Die Hauptfrage bleibt also: Welche philosophische Nähe zwischen Dugins explizitem Abweisen des demokratischen Liberalismus und der expliziten Kritik Heideggers an der “Macht des westlichen Imperalismus” gibt es? Ist es also purer Zufall, dass sich der Neofaschist Dugin für Heidegger interessiert und sich alles hübsch von Heideggers Sekretär und Oberinterpreten erläutern lässt?

– Eggert Blum stellt am  Ende seines Beitrags die Frage: „Man mag fragen, warum man sich heute noch mit Heidegger beschäftigen soll. Ist über den NS Philosophen nicht alles Entscheidende gesagt? Kann man den ernst zu nehmenden Teil seiner Philosophie nicht einfach den Spezialisten überlassen?“ Der Autor fährt fort: „Das könnte ein Irrtum sein. Denn für Nationalisten und radikale Rechte ist dieses Denken attraktiver denn je“.

Der Beitrag in DIE ZEIT: http://www.zeit.de/2014/47/philosoph-heidegger-antisemitismus

Zum Interview Friedrich W. von Herrmann mit dem russischen Nationalisten Alexander Dugin:

http://www.4pt.su/de/content/prof-alexandre-dugin-mit-prof-friedrich-wilhelm-von-herrmann

Die angesehene Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ veröffentlichte 2007 einen Beitrag über Dugin mit dem Titel „Faschismus a la Dugin“. Zur Lektüre klicken Sie bitte hier.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Kapitalismus und Protestantismus. Anläßlich von Max Webers 150. Geburtstag

Kapitalismus und Protestantismus: Zum 150. Geburtstag des Soziologen Max Weber am 21. April 2014

Hinweise anlässlich der Neuerscheinung „Max Weber“ von Jürgen Kaube  (Rowohlt Verlag 2014)

Im Rahmen unserer religionsphilosophischen Interessen und Forschungen möchten wir empfehlend auf die ausführliche und anregende Studie von Jürgen Kaube „Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen“  hinweisen. Wir können hier nur auf einige Aspekte dieses Werkes aufmerksam machen, Aspekte, die zu einem differenziertem Studium der Thesen von Max Weber inspirieren können.

Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin befassen wir uns seit Jahren mit der Frage, wie Mentalitäten, auch religiöse oder speziell kirchlich geprägte, Einfluss haben und bestimmend sein können für politisches, kulturelles und wirtschaftliches Handeln. Uns interessiert etwa innerhalb der Korruptionsforschung die Frage, wie stark volkstümliche, aber auch dogmatisch geprägte katholische Lehren und Bräuche die vor allem in romanischen Ländern (Italien, Lateinamerika) lange dauernde, weit verbreitete Korruption gefördert und zugelassen haben, bis hin zur kirchlich unterstützten Etablierung von Gewaltherrschaft durch Caudillos etwa in Lateinamerika, man denke etwa an die Diktatur von Leonidas Trujillo in der Dominikanischen Republik. Damit hängt  die grundlegende Frage zusammen, wie stark klassisches katholisches Fühlen und Denken etwa die Entwicklung von Demokratie und Republik behindert haben. Da ist das empirische historische Material sehr ergiebig. Und wenn der oberste Leiter des Katholizismus (der Papst) selbst demokratische Strukturen für seinen Staat (Vatikan) und seine Kirche ablehnt, und zwar mit Berufung auf göttliche Weisungen, dann sind für die Bildung von Mentalitäten sozusagen alle Türen geöffnet, auch für das eigene Land demokratische Strukturen  zu unterbinden und zu verbieten, zumindest nicht euphorisch zu fördern. Allerdings wird man wohl niemals monokausal religiöse Mentalitäten für die Struktur staatlicher Verfasstheiten geltend machen können, etwa am Beispiel des Zusammenhangs von Korruption und Katholizismus. Bei dem Thema müsste aber doch die prägende Bedeutung für die Mentalitäten, etwa die Rolle der Wallfahrtsorte (spezielle Wallfahrtsorte für die Mafia gibt es in Italien) und der Beichte usw. entwickelt werden. Das ist ein Forschungsthema unseres Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons in der Beziehung von Katholizismus und (demokratischer, republikanischer) Mentalität. .

Zu Max Webers Entdeckungen der Beziehung von protestantischer Mentalität und kapitalistischer Wirtschaft: Deutlich ist, wie nuanciert Jürgen Kaube zu dem vielfach besprochenen Zusammenhang von „Kapitalismus und protestantischer Ethik“ Stellung nimmt. Die Arbeiten Webers zu dem Thema sind ja immer noch von hohem Interesse. Darum kann die Lektüre dieser Texte hilfreich sein für eine erste grundlegende Orientierung.

Max Weber, immer bemüht seine aktuelle Gesellschaft zu begreifen, interessiert sich vor allem für „die Mentalität, die den Konkurrenzkampf bejaht“  (S. 181),  und diese kapitalistische Mentalität hat es für ihn bereits geben, als die wirtschaftliche Organisationsform (Kapitalismus) noch gar nicht vorhanden war. Weber entdeckt also bestimmte religiös geprägte Menschen, für die „Selbstdisziplin“, „Berufsfleiß und Konsumverzicht“ der  entscheidend wichtige und gottgewollte Lebensmittelpunkt sind. Und diese Werteordnung findet er in dem von ihm so bezeichneten Puritanismus. „Weber verwendet die Bezeichnung Puritaner  einerseits freigiebig – nämlich für alle ethisch rigorosen Sekten, von den Täufern über die Pietisten bis zu den Methodisten“ (S. 182).  So wird auch Benjamin Francklin in die Reihe der Puritaner gestellt oder der „humanistische Mystiker“ Sebastian Franck.  Nebenbei: Wenn Weber den Begriff “Sekte” verwendet, denkt er an den heutigen Begriff “Gemeindekirche” oder “Freikirche”,

Ernüchternd ist die Einschätzung Kaubes:

Max Weber sehe den spirituellen Ursprung seines „herbeikonstruierten Puritanismus“ (S 182) in der (von diesen Kreisen betonten) Unmittelbarkeit des einzelnen Frommen zu Gott selbst. Von Weltlichem, also Irdischen, auch Kirchlich – Institutionellem,  kann in dieser protestantischen Sicht kein ewiges Heil, also keine Erlösung, kommen. Nur durch die eigenen frommen Anstrengungen, dies sind Gebote der persönlichen Gottesverbundenheit, genannt Askese, könne der Fromme spüren, ob Gott wohlgefällig ist. Harte Arbeit ist also erforderlich, meint Max Weber, bis zum Lebensende permanent geleistet, um Hoffnung zu haben, von Gott im Jenseits angenommen, also erlöst, zu werden. Wer seine Lebenszeit untätig vergeudet und faulenzt, verfehlt seine Unmittelbarkeit mit Gott. „In den Schriften des puritanischen Erbauungsschriftstellers und Moraltheologen Richard Baxter erkennt Weber eine Art Vorbereitungsprogramm für die Gestalt des künftigen Unternehmers: Reichtum als solcher ist diesem Typus ein Ärgernis, weil man so zur Untätigkeit verführt wird, es kommt auf Kapitalbildung an, also aufs Reinvestieren. (vgl. S. 184).

Den Winter 1901 – 1902 hat Weber in Rom verbracht,  dabei werden zwei Themen für ihn wichtig: Er erlebt die – ganz vorsichtig, etwas aufgeschlosssene Regierung von Papst Leo XIII. (seit 1878). Aber die Schatten der heftigen antimodernen Positionen und Polemiken seines Vorgängers Pius IX. sind noch spürbar: Und Katholiken haben diese geschlossene Getto- Mentalität selbst übernommen. Weber erinnert sich dabei an einen Satz des Zentrumspolitikers Hermann Mallinckrodt, “dass die Freiheit des Katholiken darin besteht, dem Papst gehorchen zu dürfen”. Diesen Satz bezeichnet Max Weber als eine These von universeller Geltung, “weil er das Prinzip der Anstaltsgnade, also die durch eine Organisation vermittelte Erlösung auf den Punkt bringe” (so Kaub, S. 140). Zweitens studiert Weber in Rom intensiv die Geschichte der katholischen Orden und Klöster, dabei wird deutlich, wie die Mönche in ihrem Leben der Bescheidenheit und Askese indirekt weltliche Macht schaffen und auch von ökonomischem Erfolg begünstigt werden: Der Konsumverzicht der Mönche führt zu Ersparnissen und Investitionen …und zum wirtschaftlichen Erfolg der Klöster. Diese Studien in Rom haben sicher inspirierend gewirkt für den 1905 veröffentlichten Aufsatz “Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus”.  Darin wird die These erläutert, der Protestantismus habe mit seinem Arbeitsethos das katholische Mönchtum noch übertroffen! (Kaube, S. 143). Ohne Askese kann es für Weber keine Kulturleistungen geben.

Gegen diese weithin bekannte Theorie Max Webers über den Begründungszusammenhang von protestantischem Glauben und Kapitalismus wurden und werden Einwände vorgebracht, Jürgen Kaube verweist auf Heinz Steinert „Max Webers unwiderlegliche Fehlkonstruktion“ (Frankfurt  M. 2010) und die Studien von Hartmut Lehmann, etwa „Webers Protestant Ethic“ (Cambridge 1993).

Kaube stellt die schon oft präsentierte Frage an Webers Konstruktion:  „War am Ende nicht den Protestanten das Kaufmannsdasein gemäß, sondern den Kaufleuten die protestantische Gesinnung?“ (S. 184). Der Autor nennt Webers Argumentationstechnik in dem Zusammenhang „atemberaubend“ (S. 184). Er spricht von einer „virtuosen Konstruktion“ (S. 185).

Diese These Webers hat ihren Ursprung in der Überzeugung, dass bestimmte Kreise des Protestantismus die Moderne, auch die moderne Wirtschaftsordnung, hervorgebracht haben, eine protestantische Religion als prägende Kraft der Moderne – das klang zu seiner Zeit wohl attraktiv. Hegel hatte ja noch in der Reformation Luthers den Ursprung der modernen Welt gesehen.

So auch Max Weber, darin mit seinem Kollegen und Freund Ernst Troeltsch eng verbunden. Die klare und nüchterne, hart zupackende und ökonomisch kreative Mentalität aber findet Weber gerade nicht im Luthertum, das er selbst „die schrecklichste Erscheinungsform der Schrecken“ nennt (S. 187).  Inspirierend für die moderne Wirtschaftsform, den Kapitalismus, hat für ihn hingegen nur der Puritanismus gewirkt.

Einen skeptischen Blick auf den Zustand seiner Gesellschaft hat Weber sich bewahrt: Er weiß genau, dass diese moderne Gesellschaft der Arbeitsteilung, der Zersplitterung des Lebens, alles andere als eine ideale Gesellschaft ist. Er sah, “aus dem Bürger einen Fachmenschen werden, der in einem  = stahlharten Gehäuse =  von gesellschaftlicher Abhängigkeit gefangen ist” (Detlef Clausen), seit die puritanische Moral keine prägende Kraft mehr hatte.

Auch zu dem vielzitierten Wort Webers von 1909 , “religiös absolut unmusikalisch zu sein” (immer wieder von Jürgen Habermas gebraucht) bietet Jürgen Kaube die Ergänzung Webers, er neige dazu, MUSIKALISCH religiös zu sein und der “Musik eine innerweltliche Erlösung vom Alltag zuzutrauen” (so Kaube, S 289 in seinen Hinweisen zu Webers Musiksoziologie). Inspirierend für weitere Studien sind Kaubes Hinweise zur “Wirtschaftsethik der Weltreligionen” (S. 336 ff.)

copyright:christian modehn, religionsphilosophischer salon berlin.

Karl Rahner: zum 30. Todestag: Glaubenslehren sind Ausdruck religiöser Erfahrungen

Karl Rahner, zum 30. Todestag: Die Glaubenslehren sind Ausdruck religiöser Erfahrungen

Von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin, am 24.März 2014.

Hier wird eine neue Interpretation des zentralen Denkens Karl Rahners vorgeschlagen: Zentrale Aspekte seiner Theologe sind von einem Geist bestimmt, den man durchaus “liberal-theologisch” nennen kann. Diese Einschätzung hat bisher wohl niemand in der Form gewagt. Grundlage für diese Interpretation der “Grundstimmung” und wesentlicher Aussagen Rahners ist seine zentrale, immer wieder zitierte These “Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein”. Und Mystik ist eben nur denkbar als eine INDIVIDUELLE Interpretation des Glaubens. Ein historischer Beleg: “Ab dem 16. und 17. Jahrhundert wird Mystik die Erfahrung eines radikal individuellen Umgangs mit dem Unversellen, dem Transzendenten, mit Gott”. (Koenraad Geldof, in: “Michel de Certeau”, hg. von Marian Füssel, Konstanz 2007, Seite 140.

……………………………………………

Am 30. März 1984 ist der große Theologe Karl Rahner SJ im Alter von 80 Jahren verstorben. Im zeitlichen Abstand fragen sich heute einige, die Rahners Denken nach wie vor bemerkenswert, sogar wichtig und bleibend-aktuell finden, was denn das „besonders Anregende“, das „besonders heutiges Nachdenken Provozierende“ ist? Diese Frage ist natürlich angesichts der Fülle der Themen, zu denen Karl Rahner in seinem umfangreichen Werk Stellung nahm, schwierig zu beantworten. Seine Kritik an der bürokratischen, der „Geist auslöschenden Kirche“  ist unvergessen, sein Zorn über die Dummheit der Etablierten ist bekannt;  seine Vorschläge für eine „Ökumene jetzt“ (mit den Protestanten) ebenso. Diese Themen  und Vorschläge werden heute verdrängt, schon damals fanden sie nicht die berechtigte begeisterte Aufnahme in einem von Angst geprägten katholischen Milieu, etwa das Buch “Strukturwandel der Kirche als Chance und Aufgabe”, 1973.  Viele LeserInnen legen Rahners Werke als zu schwierig beiseite, sie vergessen allerdings dabei,  dass noch viel mehr die klassische katholische Schul – Theologie, selbst der offizielle römische Katechismus und das katholische Kirchenrecht, etwa die Ehegesetzgebung, alles andere als einfach und schnell nachvollziehbar,  gar „verständlich“  sind.

In unserer Sicht gilt es, eine bestimmte großartige Anregung Karl Rahners aufzugreifen, die ihren Ursprung in seiner transzendental gewendeten anthropologischen Theologie hat. Damit ist das (letztlich von Kant inspirierte) Denken gemeint,  bei jeder geistigen Wirklichkeit, also auch dem Glauben des einzelnen, nach den Bedingungen der Möglichkeit für ein Verstehen dieser Wirklichkeit zu fragen und diese Bedingung zu nennen. Wichtig und für weitere Diskussionen inspirierend ist also, kurz gesagt und nachvollziehbar formuliert, die Rahnersche Erkenntnis: Zwischen der in Sätzen formulierten, sozusagen vorgegebenen Glaubenslehre und dem religiösen Bewusstsein des glaubenden Menschen gibt es keine Fremdheit, auch nicht nur eine vage gedankliche Verbindung, sondern eine innere Nähe und sachliche Identität. D.h.: Was sich im religiösen Bewusstsein des einzelnen Christen erfahrungsmäßig zeigt, ist letztlich nichts anderes, als was in der zentralen Glaubenslehre, satzhafter Art sozusagen, ausgedrückt und formuliert wird.

Mit diesem Prinzip will Rahner andeuten: Es gibt grundsätzlich keine Fremdheit zwischen der grundlegenden Glaubenslehre und dem subjektiven religiösen Bewusstsein. Damit wird eine Antwort gegeben auf die neuzeitliche Problematik, wonach der christliche Glaube etwas völlig Fremdes und damit das Subjekt Entfremdendes ist. Die dialektische Theologie (etwa Karl Barth mit seinem Spruch „Gott ist ganz anders“) hat ja diese Entfremdungsthese ihrerseits zustimmend aufgegriffen und nur noch für weitere Befremdlichkeit gesorgt, meinen wir. Ob die für die Neuzeit typische Suche nach Überwindung der Fremdheit des „anderen“ im allgemeinen ihrerseits Norm sein kann, wäre aber eine eigene Diskussion für sich. Jedenfalls hat Rahner nie die göttliche Wirklichkeit als beliebiges Produkt menschlichen Geistes verstanden, auch wenn sich Gott zuerst und vor allem eben IM menschlichen Geist zeigt!

Karl Rahner wusste: Diese innere Verbindung von Mensch und Gott im Sinne tiefer Identität zwischen subjektiver religiöser Erfahrung und objekthafter Lehre kann schnell der Häresie verdächtigt werden, etwa im Rahmen der Abweisung des Modernismus durch die Päpste zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Vertreter dieser Theologie, die dann wegen des Modernismus angezeigt wurden, hatten ja das Ziel, sozusagen eine liberale katholische Theologie zu schaffen, in der das religiöse Bewusstsein des einzelnen Katholiken (endlich einmal) aufgewertet in den Mittelpunkt gestellt werden sollte.

In dem Aufsatz „Die Forderung nach einer =Kurzformel= des christlichen Glaubens“ (von 1965, veröffentlicht in Band VIII der „Schriften zur Theologie“ Seite 153 ff.) beschreibt Rahner diese (oben genannte) innere Verbindung von Subjektivem und Objekthaftem, Satzhaften. Demzufolge ist der (objektive, also satzhafte) Glaube „keine von außen an den Menschen herangetragene Ideologie“ , sondern der Glaube (also die Glaubenslehre) ist „die erfahrene und erlittene Wirklichkeit seines (d.h. des Menschen) Leben selbst“.  An der Stelle, auf Seite 153 in Band VIII., weist Rahner dann sozusagen prophylaktisch im Blick auf das strafende Lehramt in Rom  auf die für ihn zentrale Gnadenlehre hin: In Fußnote 1 heißt es also: „Wenn man bedenkt, dass die Gnade Christi der äußeren Predigt des Evangeliums IMMER SCHON zuvorgekommen ist (nämlich als Anwesenheit der Gande im Menschen selbst, CM), kann diese Forderung (nämlich nach einer Kurzformel) nicht des Modernismus verdächtigt werden“. Mit anderen Worten gilt es an die zentrale Lehre von der göttlichen Gnade zu erinnern: Die Gnade Gottes ist als Gabe in jedem Menschen anwesend, diese Gnade ist aber schon die Offenbarung Gottes selbst. In jedem Menschen ist die Offenbarung also anwesend. Das hat weitreichende Bedeutung, auch im Blick auf den Dialog der Religionen usw. Gott/Gnade ist in allen geistbestimmten Vollzügen des Menschen lebendig zugegen. Sie findet in der satzhaften Beschreibung der Offenbarung, etwa in der Bibel, ihren sprachlichen Ausdruck. So weit ich weiß, hat Rahner nicht gesagt als konsequente Fortsetzung dieses Denkens: Die Bibel etwa ist Ausdruck des subjektiven Glaubens religiöser Menschen. Das hätte ja nahe gelegen und wird in einer protestantischen liberalen Theologie ja auch so betont!

Noch einmal: Karl Rahner will ein inneres Entsprechungsverhältnis, eine Identität, zwischen religiösem individuellen Glauben und satzhafter Lehre aufzeigen.

Das gilt etwa auch für die Christologie. In dem Buch „Ich glaube an Jesus Christus“, Theologische Meditationen, Benziger Verlag, 1968, Seite 29) heißt es: „Wir wollen von einem Punkt ausgehen, an dem der Glaube an Jesus Christus nicht als eine bloß von außen kommende, wenn auch noch so erhabene Zutat zur unabwälzbaren Existenz des Menschen erscheint. Sondern wir wollen den Glauben an Jesus Christus in der innersten Mitte der Existenz (!)  auffinden, wo er (Jesus) schon (!) wohnt, bevor wir, hörend auf die Botschaft der Kirche, diesen Glauben dann worthaft reflektieren“.  (Die Ausrufungszeichen sind von mir, CM).

Für Rahner gibt es also immer schon eine Anwesenheit des göttlichen Geistes in jedem Menschen. In alltäglichen Lebensvollzügen wird darum auch die Wirklichkeit Gottes erfahren, und gerade nicht in exklusiv sakralen Ereignissen,  etwa charismatischen Verzückungen. Gott ist da, wenn der Sinn des Lebens bejaht werden kann, Gott ist da, wenn Liebe möglich wird, wenn Solidarität gelingt. Gott zeigt sich im Alltag. Und diese Alltags – Erfahrungen finden einen Ausdruck in der Glaubenslehre.

Und genau an dieser Stelle beginnen weitere Frage, die Rahner selbst nicht beantwortet hat: Sind denn schlechterdings alle Glaubenslehren aus der inneren, der subjektiven Erfahrung heraus rekonstruierbar? Also findet sich das religiöse Subjekt in allen katholischen Glaubenslehren selbst wieder? Für die Gestalt Jesu Christi mag diese Verbindung von Subjektiv und Objekthaft gelingen, für die Gottesfrage im allgemeinen auch, aber wie ist es mit der römisch – katholischen Lehre von Maria, dem Papsttum usw. Da wird es wohl unmöglich, aus der religiösen Erfahrung des Subjekts her diese Lehren als „meine“ Lehren, also als Ausdruck meiner Gefühle zu verstehen.

Wir sehen also, dass der Ansatz einer transzendentalen, anthropologischen Theologie angesichts der Überfülle vorgegebener Kirchenlehren irgendwie dann doch sehr begrenzt ist.

Aber die Leistung Rahners bleibt gültig, unter der Voraussetzung, dass die katholische Kirchenlehre sich tatsächlich auf einiges Wesentliche reduzieren könnte und Vereinfachung nicht als Verlust der vorgeblichen „Substanz“, sondern als befreienden Gewinn begreifen würde. Wer am alten „Glaubensgut“ festhält hängt weiter fest am befremdlichen und entfremdenden Charakter der vielen detaillierten Glaubenslehren,  also der Eindruck bliebe: Die katholische Lehre ist eine kaum nachvollziehbare Überfülle von Lehren.

Traurig ist es in unserem Sinn, dass diese hier beschriebene ZENTRALE Linie innerhalb der Theologie Rahners heute im katholischen Raum nicht mehr fortgesetzt wird. Es gibt eine ungeheure Angst, zum ersten Mal überhaupt eine katholische liberale Theologie zu entwickeln, die eine Korrespondenz zwischen religiösem Gefühl und der “Lehre” herstellt. Vielleicht liegt es auch daran, dass Schleiermacher innerhalb der katholischen Theologie keine Rezeption gefunden hat und meines Wissens z.B. der liberale Theologe in Berlin heute, Prof. Wilhelm Gräb, noch nie in einer katholischen Akademie oder katholischen Gemeinde gesprochen hat. Es gibt eine fundamentale Angst der römischen Katholiken vor einem liberal – theologischen Denken. Diese Angst ist meines Erachtens in Spuren selbst noch in der katholischen Abwehr von Rahners transzendental – theologischer Theologie zu spüren…

Dabei hat Rahner erste Ansätze für eine sehr moderate Form katholisch-liberaler Theologie entwickelt. Aber es gibt die herrschende und allmächtoge, nicht befragte Überzeugung, dass alles, was sich im Laufe der Jahrhunderte als katholische Lehre angesammelt hat, weitgehend doch erhalten bleiben soll. Nur gelegentlich werden nicht mehr nachvollziehbare Lehren beiseite gelegt, wie etwa der Limbus Puerorum, also die Vorhölle, die für kleine, ungetaufte Kinder einst bestimmt war.

Sicher haben Rahner Interpreten recht, wie Herbert Vorgrimler (in: „Karl Rahner verstehen“, Kevealer 2002, S 51 f.) und Karl Lehmann (In: „Karl Rahner Lesebuch“, Freiburg 2104, S. 27), wenn sie auf die tiefe Bindung Rahners an den Katholizismus hinweisen, trotz aller leidenschaftlichen Kritik am bürokratischen System Kirche.

Selbst wenn Rahner gegenüber der Kirche „eine unbedingte Loyalität“ (Vorgrimler, S. 51)  hatte: Tatsache ist, dass er den theologisch (für katholische Verhältnisse!) ungeheuerlichen Versuch machte, eine ganz innige Verbindung, wenn nicht Identität zwischen subjektivem Glauben und objektiver Lehre aufzuweisen und diese zu fordern als einen Beitrag, den Katholizismus aus der Entfremdung innerhalb der modernen Kultur herauszuführen.  Diese  Leistung Rahners sollte weiter konkretisiert und allseitig diskutiert werden.

Einige Zitate Rahners zu dem Thema:

Rahner kann das menschliche Dasein auf seine verborgenen Tiefen hin „ausloten“. Mitten im so genannten banalen Alltag ereignet sich die Erfahrung Gottes  „So etwa, wenn man plötzlich die Erfahrung personaler Liebe und Begegnung macht. Plötzlich selig erschreckt, wie man in Liebe absolut, bedingungslos angenommen wird, obgleich man für sich selber allein in seiner Endlichkeit und Brüchigkeit dieser Bedingungslosigkeit der Liebe, die einem entgegenkommt von der anderen Seite, gar keinen Grund und keine zureichende Begründung geben kann. Wie man selbst ebenso liebt, in unbegreiflicher Kühnheit die Fragwürdigkeit des anderen überspringend, wie diese Liebe in ihrer Absolutheit einem Grund vertraut, der ihr selber nicht mehr untertan ist, ihr in seiner Unbegreiflichkeit zuinnerst und von ihr unterschieden zugleich ist“.

„Ich bin der Überzeugung, dass das Christentum eben nicht nur eine von außen her kommende Lehre ist, die dem Menschen eingetrichtert wird. Sondern, dass es wirklich ein Christentum von Innen heraus, von der innersten persönlichen, menschlichen Erfahrung her, gibt und geben muss. Das Christentum ist nicht eine Lehre, die von aussen einem erzählt, dass es so etwas gibt wie Gnade, Erlösung, Freiheit, Gott, so wie einem Europäer mitgeteilt wird, dass es Australien gibt. Sondern das Christentum ist wirklich die Auslegung dessen, was in der innersten Mitte des Menschen ((an einer vielleicht verdrängten, vielleicht nicht reflektierten Erfahrung doch)) schon gegeben ist.

Noch in seinem letzten öffentlichen Vortrag, wenige Tage vor seinem Tod im März 1984, hat Rahner in Freiburg im Breisgau laut stark und dochmit melancholischem Ton gesagt: „Ich musste als Christ und als Theologe gar nicht selten mit einer gewissen Anstrengung des Geistes und des Herzens fragen, was mit einem bestimmten Satz, den das kirchliche Lehramt als Dogma vorträgt, eigentlich gemeint sei, um eine Zustimmung ehrlich und ruhig leisten zu können. Ich habe aber in meiner eigenen Lebensgeschichte keinen Fall erlebt, in dem mir dies nicht möglich gewesen wäre. Wenigstens dann nicht, wenn ich mir bei solchen Dogmen klar machte, dass sie alle nur mit einem, ihrem Richtungssinn auf das Mysterium Gottes selbst richtig verstanden werden“. Das “Mysterium Gottes” selbst aber, diese Ergänzung sei im Sinne Rahners erlaubt, zeigt sich gerade IM RELIGIÖSEN BEWUSSTSEIN des einzelnen.

 

Copyright: Christian Modehn, 24. 3. 2014.

Die Kirche als eine philosophische Schule

Die Kirche als eine philosophische Schule
Hinweise zur Situation des frühen Christentums
Von Christian Modehn

Im Rahmen unserer Forschungsprojekte innerhalb des „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ stellen wir heute ein Thema vor, das nicht nur von philosophiehistorischem oder kirchengeschichtlichem Interesse ist: Die frühen christlichen Gemeinden verstanden sich selbst und wurden auch von ihrer Umwelt so wahrgenommen: als eine philosophische „Schule“; dabei bedeutet dieser Begriff: Gemeinschaft, Gruppe, „Sekte“, diese in einem nicht negativ gefärbten Sinne.

Der Philosoph und Theologe Prof. Maurice Sachot (Straßburg) hat sich in seinem Buch „L Invention du Christ“ (Paris 2011) mit der Tatsache auseinander gesetzt, dass der Apostel Paulus nach einem Bericht der Apostelgeschichte (19,8 -10) in Ephesus in der Synagoge predigte, dort aber auf viel Unverständnis stieß. Er fand dann Zuflucht in der scholè, der Schule, des Philosophen Tyrannus. Dort, also im Haus des Philosophen, konnte Paulus zwei Jahre lang seine vom Judentum verschiedene Lehre verbreiten. Allein schon diese Toleranz des „heidnischen“ Philosophen scheint bemerkenswert zu sein: Wenn sich Vertreter unterschiedlicher religiöser Auffassungen streiten, kann die Philosophie eine Art neutrale Plattform sein, die es den bedrängten religiösen Menschen ermöglicht, weiterhin ihre Thesen zu vertreten. Bezogen auf Paulus schreibt Maurice Sachot: „Dieses Ereignis kann als Ursprung gedeutet werden, dass sich das Christentum als philosophische Lehre, als eine wahrhaftige Schule, etablierte, die nicht nur eine bestimmte Auswahl an Wahrheiten hat (hairesis), die nicht nur eine intellektuelle Strömung ist, die auch spirituell und kulturell strukturiert ist. Sondern die auch eine Schule ist, und in der Lage, mit anderen „Schulen“ im Wettstreit zu stehen“ (S. 134, auch S. 128).
Später werden die frühen christlichen Denker wie Justin oder Clemens von Alexandrien „Didaskaleias,“ also Schulen, gründen, wo sie die christliche Lehre, nach dem üblichen philosophischen Begriff didaskalia, verbreiten. So entstehen neue Orte philosophischer Debatten: Die christlichen „Schulen“ sind neben den anderen philosophischen Schulen (etwa der Stoa oder Epikurs) eben eine von vielen, aber sie haben Teil an der Kultur der Zeit, die längst an die Vielfalt von philosophischen Schulen gewöhnt ist.
Maurice Sachot weist auf eine Studie von Henri-Irénée Marrou hin, die zeigt, dass der gebildete Mensch sich damals zu einer philosophischen Schule, so wörtlich, „bekehrte“; diese entschiedene Hinwendung zu einer Schule findet sich dann auch in der Bekehrung zum Christentum wieder, als einer bestimmten Hinwendung zu einer (von vielen) „Schulen“ (S. 127; Fn. 16).
Maurice Sachot legt Wert darauf zu betonen, dass die christliche Religion als (eine von vielen) Schule(n) sich wie bei den anderen Schulen üblich als HAIRESIS zeigte, also als Auswahl bestimmter Lehrsätze. Es gibt eine Form der Konversion (im griechischen Kontext), wo bestimmte Begriffe und Vorstellungen des christlichen Glaubens „in den philosophischen Rahmen integriert werden, und dieser philosophische Rahmen bleibt dann doch der erste“… Selbst wenn ein Philosoph sich gläubig und christlich fühlte, sein Weg bleibt eher philosophisch als theologisch. „Darin wird die Tatsache des Christlichen integriert und neu interpretiert“ (S. 131).
Mit dem eindeutigen Phänomen, dass sich die ersten christlichen Gemeinden als philosophische „Schulen“ verstanden haben, hat sich auch der bekannte Philosoph Pierre Hadot in mehreren seiner Werke befasst. Grundlegend ist für ihn dabei, dass für die „antike Philosophie“ Griechenlands und Roms Philosophie stets als Lebensform und nicht nur als abstrakte Lehre verstanden wurde. Philosophieren hieß damals, darauf weist Hadot unermüdlich hin, im gemeinsamen Leben sich die Lehre des Meisters anzueignen und ihr dann im praktischen Alltag zu folgen. „Wenn Philosophieren bedeutet“, so schreibt Hadot (in „Qu est-ce que la philosophie antique“, Paris 1995, S. 358) im Anschluss und als Zitat des Kirchenlehrers Justin, „wenn Philosophieren also bedeutet, der Vernunft (Raison) gegenüber konform zu leben, dann sind die Christen Philosophen, weil sie konform zum göttlichen Logos (d.h. der vollkommenen Vernunft) leben“. Dann fährt der erste Spezialist für diese Fragen, eben Pierre Hadot, fort: “Diese Verwandlung des Christentums in eine Philosophie wird sich noch weiter akzentuieren mit Clemens von Alexandrien im 3. Jahrhundert. Für ihn ist das Christentum die vollständige Offenbarung des Logos und deswegen auch die wahre Philosophie“. Wenn sich das Christentum nicht nur als Lebensform, sondern auch als Diskurs, als Lehre, zeigte, etwa im 1. und 2. Jahrhundert, so weiß Hadot, dann ging es dabei um die Exegese von Bibeltexten. „Diese Schulen der Exegese boten einen Typus von Bildung, durchaus analog zu den zeitgenössischen philosophischen Schulen“ (359). Es darf auch nicht vergessen werden, dass die verschiedenen philosophischen Schulen „spirituelle Exerzitien“ (so Hadot S. 276 ff.) boten, als Übungen, Askese könnte man sagen, die das Erkannte und Gelehrte mit dem Geist und der Seele vertraut machten. Diese geistlichen Übungen der Philosophen und ihrer Schulen sind die inspirierende Basis auch für die späteren geistlichen Übungen der Christen und ihrer Kirchen! Die Frage des Kultus wäre weiter zu erforschen. War die Zeremonie, die Liturgie, nur eine Eigenheit der Schule der Christen? Die Mitglieder der philosophischen Schulen nahmen aller Wahrscheinlichkeit an den religiösen Zeremonien ihrer angestammten (heidnischen) Religion teil. Wie stand es mit der sozialen Verantwortung, haben da die philosophischen Schulen etwas vorzuweisen oder ist da ein Spezifikum der christlichen Schule zu sehen? Diese Frage ist beinahe rhetorisch, wenn man bedenkt, dass etwa Sokrates sich darstellt als ein Mensch, der sozusagen die “Mission empfangen hat, sich um andere zu kümmern”” (so Pierre Hadot, in: La philosophie comme manière de vivre”, Paris 2001, Seite 173). In der Schule der Epikuräer wurde etwa die Freundschaft über alles geschätzt. “Freundschaft ist für Epikuräer ein Vergnügen (“plaisir”). Sie begehren die Freundschaft, weil sie ein reines Vergnügen, eine Lust, ist” (S. 174). Noch deutlicher wird Seneca im Brief 48:”Lebe für andere, wenn du für dich leben willst”.Mit anderen Worten: Man kann nicht glücklich sein, wenn man nur an sich denkt. Die philosophischen Schulen waren am ethischen Wandel des Ich stark interessiert, ja, sie forderten ihn für einen wahren Philosophen.
Aber schon im 2. Jahrhundert bildet sich unter den Christen die Überzeugung, dass ihre Philosophie „die wahre und wirkliche“ (S. 152 bei Sachot) ist. Philosophische Einsicht wird nun umgewandelt in eine Form des Glaubens. Kenntnis wird nicht mehr wie üblich philosophisch verstanden als Aktivität der menschlichen Intelligenz, die niemals an ein definitives Ende kommen kann, weil sie Suchbewegung ist; „sondern Kenntnis wird als Gabe Gottes verstanden, die man nur in einem Akt des Glaubens annehmen muss“ (S. 153). Die Wahrheit zeigt sich nicht am Ende einer Denkbewegung, sondern sie „steht schon am Anfang fest“ (153), „sie ist nicht von einem gewissen Zweifel, sondern von einer absoluten Gewíssheit bestimmt“ (ebd). Das Christentum verbreitet nun Dogmen und Dekrete, philosophische Meinungen haben der festen vorgegebenen Wahrheit zu weichen. Dadurch befinden sich die philosophischen Schulen, die die christlichen Gemeinden darstellen, nicht mehr auf der selben Ebene wie die sonstigen philosophischen Schulen. „Unsere Lehre ist höher als alle menschliche Philosophie“, erklärt schon der Theologe Justin in seiner Apologie (zitiert von Maurice Sachot, S. 153). In der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts wird der „heidnische“ Philosoph Kelsus die erste große gründliche Widerlegung dieser christlichen Philosophie“ machen.
Aber später als Staatsreligion setzt sich mit aller Gewalt dieser ausschließliche Wahrheitsanspruch durch, es entsteht eine eigene kirchliche Ideologie, also Theologie, die sich zwar philosophischer Begriffe noch bedient, aber diese im eigenen Sinne eigener Wahrheit umdeutet. Später wird gar im Mittelalter Philosophie offiziell zur „Dienerin der Theologie“ (und damit der Kirche) degradiert; sie hat vorbereitenden, relativen Charakter gegenüber dem Eigentlichen, der theologischen Lehre. Diese Rolle der Philosophie als Dienstmagd (ancilla) der Theologie hat das philosophische Selbstverständnis bis in die Neuzeit bestimmt, mit der Konsequenz, dass sich Philosophie, dann selbstbewusst geworden, oft von jeglichem Denken des Göttlichen entschieden absetzte (etwa bei bestimmten Denkern der französischen Aufklärung).
Wichtig bleibt die Anregung, die christlichen Gemeinden als „philosophische Schulen“ zu verstehen. Der Philosoph Alain de Botton nennt heute seine philosophischen Zentren in London „schools of life“. Gäbe es für christliche Gemeinden einen besseren Titel? Man muss ja heute mit dem Begriff Schule nicht immer gleich das Strapazierend – Indoktrinäre mithören. „Orte des Lebens“ könnte man auch sagen, wenn damit immer gemeint ist: Es gibt viele solcher Lebensorte und die christlichen Orte sind nur einige von vielen, aber solche mit einer eigenen „Hairesis“, siehe oben, also Häresie, eben mit einer eigenen Botschaft und Lehre.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Edvard Munch: Der Angst ins Gesicht sehen. Eine Ausstellung in Berlin.

Edvard Munch: Seine Ängste, seine Sehnsucht, seine Spiritualität.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 16.9.2023.
1.
Die „Berlinische Galerie“ (Alte Jakob Str. 124 in Kreuzberg) bietet jetzt eine umfassende und herausragende Ausstellung über die Berliner Jahre des norwegischen Künstlers Edvard Munch (1863-1944). Die Ausstellung ist bis zum 22.1.2024 zu sehen. Sie hat den Titel „Edvard Munch. Zauber des Nordens“. Ob die Betrachter der Kunst von Edvard Munch „verzaubert“ und in den Norden entrückt werden, ist sehr die Frage. Munchs Kunst ist für viele seiner Betrachter alles andere als vom „Zauber“ im Sinne des Zauberhaften und Wunderbaren bestimmt. Munch zeigt uns in seiner Malerei sich selbst, seine seelischen Leiden, sein Gefühl des Ausgegrenztseins, und diese Darstellungen sind eine anspruchsvolle Kunst, die in das tiefe seelische Leiden „der“ Menschen im allgemeinen hineinführt und keinerlei Zaubersprüche bereit hält.

2.
Munch stellte 1892 zum ersten Mal in Berlin seine Arbeiten aus, sie wurden von maßgeblichen Kreisen in Berlin als Skandal empfunden, die Ausstellung wurde nach wenigen Tagen abgebrochen. So wurde immerhin Öffentlichkeit erzeugt, über die Munch sich durchaus freute. Der Berliner Künstler Walter Leistikow setzte sich, wenn auch unter einem Pseudonym, für Munch ein.
Munch blieb in Berlin, er arbeitete in der Lützowstr. 82. Im Jahr 1893 kann er in Berlin dann doch einige seiner – in heutiger Sicht – Hauptwerke ausstellen, wie „Schrei“ , „Madonna“, „Die Stimme“. 1909 kehrte Munch nach Norwegen zurück, er war von einer ungeheuerlichen Schaffenskraft, rastlos tätig, alle seine Werke vermachte er der Stadt Oslo.

3.
Uns interessieren hier besonders (religions-)philosophische Aspekte im Leben und Werk Edvard Munchs. Traumatische Erfahrungen schon in der Jugend waren prägend, er spricht von seelischer Krankheit, Tendenz zum Wahnsinn, es gibt heftige Problem mit Alkoholismus, und in jungen Jahren ein Leben „à la bohème, wie man damals sagte, heute würde man eher von einer Sucht sich zu vergnügen sprechen. „Krankheit, Wahnsinn und Tod waren die Engel, die meine Wiege umgeben haben und die mich mein ganzes Leben begleitet haben“.

4.
Edvard Munch wurde in einer streng religiösen, evangelischen Familie groß, das neu geborenenKind wurde, wie man sagte, „notgetauft“, aus Angst, es könne sterben, ohne rituell durch die Taufe von der Erbsünde befreit zu sein. Ohne durch die Taufe droht selbst den Neugeborenen nach ihrem plötzlichen Tod eine Art Hölle, das behauptet die Angst machende Dogmatik der Kirche. Die Mutter stirbt früh an Tuberkulose, sie hat einen Abschiedsbrief geschrieben, aus dem immer wieder den Kindern vorgelesen wird mit den schauerlichen Kommentaren: „Mutti hört im Himmel zu und beobachtet uns“.
Edvard Munch wächst in einem Christentum auf, in dem das ganze Leben von Angst zerfressen ist. Er selbst bleibt sein Leben lang davon seelisch belastet. Das entscheidende Mittel, die Angst zu bearbeiten, ist für ihn die Kunst. “Ebenso musste er den Tod malen, um persönliche böse Erinnerungen loszuwerden”, schreibt Ragna Stang in ihrem großen Buch “Edvard Munch – der Mensch und der Künstler” (1979, Königstein im Taunus, S. 121). Andererseits: Wer einen krankmachenden christlichen Glauben studieren und kritisieren möchte, wende sich bitte an Edvard Munch.

5.
Aber wieder einmal ist es auch die Krankheit, die sehend macht, die Dinge spürt, die angeblich Immer-Gesunde in ihrem Fitness – Wahn gar nicht entdecken. „Ich ging die Straße hinunter, als die Sonne unterging. Und sich der Himmel plötzlich blutrot färbte. Ich blieb stehen, lehnte mich todmüde an das Geländer… und ich fühlte, dass ein unendlicher Schrei durch die Natur ging.“ Der Freund Munchs, der Dichter August Strindberg, meint: Der Maler hörte den Schrei der Natur, „und des Entsetzens vor der Natur, die vor Zorn errötet und sich anschickt durch Sturm und Donner zu den törichten kleinen Wesen zu sprechen, die sich einbilden, Götter zu sein, ohne ihnen zu gleichen“.
Den Schrei als akustische Äußerung malen, das ist wohl (nur?) Munch gelungen!
Viermal hat Munch das Motiv „Der Schrei“ gemalt, inzwischen längst eine Ikone, weltweit verbreitet, wie ein Kultbild verehrt und als Massenware jetzt missbraucht. Ein ziemlich verrückt-kapitalistischer letzter Schrei ist die Tatsache, dass ein „Schrei“ von Edvard Munch im Mai 2012 für 120 Millionen Dollar von einem Milliardär ersteigert wurde. Dieser „Schrei“ schreit jetzt einsam in einem gepanzerten Keller einer Villa, oder?

6.
Bekannt sind die fünf um 1894 entstandenen Gemälde, die unter dem Titel „Madonna“ beachtet werden. Diese Madonna, wenn sie denn auch auf Maria, die Mutter Jesu, bezogen werden kann, könnte dann auch als eine Pietà interpretiert werden; sie ist vom Leiden, vom Tod, gezeichnet, hat dabei aber auch eine extrem erotische Ausstrahlung bewahrt. Auch die Madonna der Renaissance hat in ihrer blühenden Leiblichkeit erotische Züge. „Liebendes Weib“ nannte Munch diese Madonna, vielleicht ein Titel, der die Spannung zwischen Hingabe bis zum Tod andeuten will. Manche deuteten die“Madonna“ als Prostituierte, nackt und mit roter Baskenmütze, dem Erkennungszeichen der Prostituierten von Paris, wo Munch 1890 und danach eine Zeit lebte.

7.
Die Arbeiten, die rund um den „Schrei“ geschaffen wurden, zeigen auch einsame Menschen, in tiefster Not der Verzweiflung, im Geworfensein in eine völlig fremde, bedrohliche Welt. Gibt es Gemälde, die treffender die seelische Situation moderner Menschen deutlich machen? Man denke etwa auch an das Gemälde „Der Tod im Krankenzimmer“ von 1893.

8.
Munchs seelisches eigenes Erleben und Erschaudern und deren Darstellung in seiner Kunst bleibt inspirierend bis heute, es darf angesichts der vielen Reproduktionen nicht banalisiert werden. Sein Freund Janes Thiis hielt Munch für einen metaphysisch begabten Menschen: “Er gab in seiner Kunst Ausdruck vom Wunder des Lebens“. Munch selbst bekannte: „Gott ist in uns und wir leben innerhalb von Gott, einem ursprünglichen und originalen Licht von überall her“. Und Munch betonte: “Aus allen (meinen) Reden wird man sehen, dass ich ein Zweifler bin, aber niemals die Religion verleugne oder verspotte” (S, 123 in dem genannten Buch von Ranga Stang).
Diese alle Dogmen des Christlichen bzw. Kirchlichen überwindende, sagen wir: mystische oder „pantheistische“ Spiritualität zeigt sich in Munchs Werken. Sie ist ein kleiner Hoffnungsschimmer, auch in den Bildern der Verzweiflung.

Copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Brasiliens kritische Bürger und die Philosophie: Hinweise für ein Forschungsprojekt

Brasiliens kritische Bürger und die Philosophie
Hinweise für ein Forschungsprojekt
Von Christian Modehn

In Brasilien könnte auch die Philosophie eine gute Zukunft haben, in dem Sinne, dass nicht nur die Forschung an den Universitäten neue, eigene „brasilianische“ Themen entwickelt. Vor allem ist es denkbar und in philosophischer Hinsicht dringend wünschenswert, dass das gründliche, kritische Denken, auch die Skepsis, das demokratische Bewusstsein weiter Kreise schärft und allen fundamentalistisch – religiösen Vorstellungen und Machtansprüchen Widerstand leistet. So utopisch sind diese Vorstellungen überhaupt nicht, wenn man bedenkt, dass in den Oberstufen von Brasiliens Schulen heute ca. 9 Millionen Schülerinnen und Schüler am Philosophie – Unterricht teilnehmen. Das Niveau mag noch verbesserungswürdig sein, aber der Anfang ist gemacht. Brasilien ist somit, – obwohl religiös sehr vielfältig und militant (vor allem in Kreisen der Pfingstkirchen) geprägt, – eines der wenigen Länder, die Philosophie drei Jahre lang obligatorisch in den Schulen anbieten. Noch werden viele qualifizierte Philosophielehrer gebraucht, aber die Distanz der Universitäts – Philosophen gegenüber diesem Projekt „Philosophie an der Basis“ wird wohl geringer, wie Carlos Fraenkel in der Zeitschrrft Lettre,Heft 98 (Herbst 2012), auf Seite 123 berichtet.

Ob diese Fragen zur Philosophie in Brasilien anlässlich der Internationalen Buchmesse in Frankfurt am Main (SCHWERPUNKT THEMA: BRASILIEN) in diesem Jahr (2013) thematisiert werden, ist eher unwahrscheinlich, wünschenswert wäre es sehr, zumal doch wohl auch philosophische Texte – oft sogar oft leicht nachvollziehbare – Literatur sind. Philosophie als Literatur, das Thema wäre einer Buchmesse einmal angemessen. Ob jemand an die Philosophie in Brasilien denkt anläßlich der Fußball WM, ist eine offene Frage.
In jedem Fall könnte nun ein „Schub“ ausgehen, damit endlich die Vielfalt brasilianischer Literatur (warum nicht auch ein Reader über brasilianische Philosophie ?) auch auf Deutsch zugänglich wird. Michael Kegler bietet als Literaturübersetzer regelmäßig Informationen über literarische Neuerscheinungen. Er weist in einem kurzen, aber gut informierenden Beitrag für die Zeitschrift „Südlink“, Heft 165, Seite 11 f. darauf hin, dass nun auch die (literarische) Erinnerungsarbeit an die Militärdiktatur (1964 – 1985) beginnt.

Als Religionsphilosophischer Salon Berlin ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, wenigstens hinweisend auf die Situation der Philosophie(n) in Brasilien aufmerksam zu machen. Dabei muss erwähnt werden, dass Philosophie als eigenständige akademische Disziplin eigentlich neu ist in Brasilien. Erst um 1930 begann in Sao Paulo begann eine ernstzunehmende philosophische und philosophiegeschichtliche Arbeit, dies ist vor allem französischen Philosophen dort zu verdanken, wie Martial Guéroult. Bis dahin gab es Philosophie nur als scholastische Form der Klerikerausbildung in den Priesterseminaren. Durch die Hilfe der französischen Philosophen konnten dann auch viele grundlegende „klassische“ Texte auf Portugiesisch zugänglich werden.

Unseres Wissens gibt es in deutscher Sprache keine einführende Studie zur Situation der Philosophie(n) in Brasilien. Auf den wichtigen Beitrag mit dem Titel „Philosophenbürger“ des Philosophen Carlos Fraenkel in der Kulturzeitschrift LETTRE INTERNATIONAL, Heft 98, Seite 123ff. wurde bereits verwiesen.

Wichtig ist, dass das „Collège International de Philosophie“ in der Rue Descartes in Paris, klicken Sie hier, vor einem Jahr in einem Themenheft mit zahlreichen Beiträgen dokumentiert, wie es heute in Brasilien mit dem philosophischen Leben bestellt ist. Dass dabei keine umfassenden Informationen geboten werden können, versteht sich von selbst, das Heft konzentriert sich auf politische Philosophie und Ästhetik. Interessant ist, dass Kant offenbar in Brasilien eine große Rolle spielt; das zeigt etwa die Ausrichtung des Internationalen Kant Kongresses in Sao Paulo im Jahr 2005. In dem Zusammenhang kann man auch an die Arbeiten von Rubens Torres Filho et Maria Cacciola denken, die Philosophie begreifen „als eine Analyse von Begriffen und Bedeutungen, die sich gegen alle Formen des Dogmatismus vor und nach Kant wendet“ (so in dem genannten Heft).
Es gibt in Brasilien (als einer ehemaligen portugiesischen Kolonie) kulturell insgesamt die Dialektik zwischen Anpassung (an Europa) und Widerstand dagegen, im Sinne der Entwicklung eigener Positionen. Man spricht von einer „Dekolonisierung des Denkens“. Und von der Erfahrung, durch die „anderen“, die indianischen Kulturen etwa, eine Relativierung der eigenen Perspektive zu erleben. „Aber selbst wenn heute die brasilianische Philosophie weniger weit nach Europa hin orientiert ist, so ist man doch betroffen über die Präsenz und die Bedeutung angesehener Gestalten der zeitgenössischen europäischen Philosophie, vor allem der deutschen, französischen und italienischen: Von Hannah Arendt zu Jürgen Habermas und Gilles Deleuze, Michel Foucault, Toni Negri. Girogio Agamben usw.“. So in dem einleitenden Beitrag des genannten Heftes.
Die Vitalität philosophischen Denkens zeigte sich auch kürzlich bei einer Tagung des philosophischen Vereins ANPOF, der ein weites Netzwerk in Lateinamerika hat und sozusagen die philosophischen Studien dort bündelt. Bei der Tagung in Curitiba, Brasilien, im Jahr 2012 gab es 54 Arbeitsgruppen, die sich vor allem bemühten, aktuelle Bedeutungen der Lektüre der „großen philosophischen Klassiker“ zu entdecken. Es gibt, so heißt es in dem Heft aus dem “Collège International de Philosophie“, eine „massification“, also eine Art weite Verbreitung der Philosophie in Brasilien. Die ist begründet im Hervortreten einer neuen, starken Mittelschicht, die sich für diese Fragen interessiert und die auch Institute findet, wo diese philosophische Bildung geboten wird. Da geht es wieder um Fragen, wie in einem Land mit den gewaltigen Ausmaßen und verschiedenen kulturellen Traditionen ein einheitliches philosophisches Bildungsmodell entworfen werden kann. Philosophie ist, wie oben gesagt, in den höheren Schul-Klassen seit 2008 obligatorisches Unterrichtsfach, mit 2 Stunden Unterricht pro Woche. Für dieses obligatorische Lehrfach hat sich vor allem ein katholischer Priester und Befreiungsphilosoph eingesetzt, er heißt Roque Zimmermann, er hat dieses Projekt sozusagen durchgeboxt gegen den Widerstand konservativer Kreise. Der philosophische Priester wusste, dass die Philosophie einen wichtigen Dienst leistet zur Förderung der Demokratie. Während der Militärdiktatur war der Philosophieunterricht in den Schulen verboten! Die Schüler sollen gehorsame Diener des Staates werden, da hatte Philosophie keinen Platz. Hingegen hat Philosophie an den Universitäten in der Militärdiktatur überlebt, ja, sie konnte sich paradoxerweise sogar noch ausweiten auf andere Universitäten hin.
Was können Schüler durch die Philosophie heute lernen, in einem Land, das von großen sozialen und kulturellen Widersprüchen geprägt ist und in dem noch mindestens 15 Millionen Analphabeten leben. Es geht um Fragen der Gerechtigkeit und Gleichheit, des Rassismus, der Würde des Menschen. Vor allem um den Respekt vor dem Gemeinwohl, die Anerkennung einer bürgerlichen Moral, die über den Egoismus des einzelnen hinausgeht. Das wäre für Brasilien gleichbedeutend mit der Relativierung der absoluten Vorrangigkeit des “privaten Lebens” im Sinne der Einkapelung in die Familie. Dazu bietet das neue Buch von Jens Glüsing, “Brasilien. Ein Länderporträt”, Ch. Links Verlag 2013, etwa ab Seite 196 interessante Hinweise: “Die Idee, dass es Interessensphären gibt, die der Allgemeinheit dienen, ist (in Brasilien) immer noch unterentwickelt”. Glüsing lebt seit 1991 als Journalist in Brasilien.
In den nur digital zugänglichen Texten des “Collège International de Philosophie” gibt es einen interessanten, direkt auf Brasilien bezogenen Artikel des Philosophen Peter Pál Pelbart (ungarischer Herkunft, seit seiner Kindheit in Brasilien, jetzt Prof. an der Katholischen Universität von Sao Paulo): Er kritisiert den westlichen Subjektivitätsbegriff, der sich seiner Meinung nach zu sehr abtrennt von allem „Nichtmenschlichen“: Er plädiert für eine Verbindung von umfassendem Leben mit der einzelnen Subjektivität. Ein Thema, das auch der Philosoph André Duarte (Universität Parana) aufgreift in seinem Beitrag über „Gemeinschaften im Plural und politische Aktion“. Er bezieht sich dabei auf die neuen Formen des Bürgerprotestes in Brasilien; er sieht dort Ansätze für eine neue radikale demokratische Politik, diese Gruppen haben den öffentlichen Raum besetzt, der nicht mehr nur ökonomischer Handelsplatz bleiben soll, sondern ein Platz demokratischer Debatte und demokratischen Protestes. Einige politische Kollektive bedienen sich in Brasilien auch neuer Formen des Happenings; sie legen frei, was bisher verborgen war. Die Akteure „bedienen“ sich dabei ihres nackten Körpers, um möglichst weite Kreise zu sensibilisieren und zu provozieren für Themen, die bisher unterdrückt und „versteckt“ wurden. Interessant wäre es zu erfahren, ob es religionsphilosophische Versuche in Brasilien gibt, als Möglichkeiten, im kritischen Fragen “das Religiöse” zu erreichen oder kritisch religiöses Leben zu beobachten.

Der Religionsphilosophische Salon eröffnet eine Debatte über brasilianische und lateinamerikanische Philosophie heute. Manche Mitglieder unseres Salons wünschen sich dringend einen Austausch mit einem „philosophischen Salon“ in Lateinamerika … und mehr deutschsprachige Publikationen zum Thema.

Copyright:
Christian Modehn für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin.