Ein Philosoph als Staatspräsident

Ein Hinweis auf Tomas Garrigue Masaryk
Von Christian Modehn

1. Die Buchmesse in Leipzig (21. – 24. März 2019) stellt diesmal Tschechien als „Gastland“ in den Mittelpunkt.
Für philosophisch Interessierte kann dies auch eine Aufforderung sein, sich mit einem der wenigen „Philosophen als Staatspräsidenten“ zu befassen, mit Tomas Garrigue Masaryk. In seiner Heimat wird er oft durchaus anerkennend, wenn nicht liebevoll bloß „TGM“ genannt: Er war von 1918 bis 1935 Staatpräsident der 1. Tschechoslowakischen Republik. 1850 in Mähren geboren, ist er 1937 auf Schloss Lana bei Prag gestorben. Es gibt eine unüberschaubare Fülle von Masaryk-Studien in der Tschechischen Republik, einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland, so scheint es, ist er eher eine unbekannte Größe.
2. Zuerst studierte Tomas Masaryk Sprachen, dann wandte er sich ganz der Philosophie zu. 1876 wurde er zum Dr.phil. promoviert. Drei Jahre später habilitierte er sich an der Universität Wien für Philosophie. 1882 wurde er Professor für Philosophie und Soziologie an der neu gegründeten „Tschechischen Universität“ in Prag. Wichtig wurde, auch für seine religiöse Entwicklung, seine Begegnung mit dem Philosophen Franz Brentano in Wien: Brentano (1838-1917) suchte eine Verbindung von Psychologie und Philosophie, auch Sigmund Freud studierte bei ihm. 1881 legte Masaryk seine Studie „Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation“ vor, verfasst während seines Studienaufenthaltes in Leipzig.
Spätere Publikationen befassen sich u.a. mit der „Sozialfrage“, „der tschechischen Frage“, mit dem Marxismus; der Philosophie in Russland: Masaryk kritisiert die dortige Einheit von politischer und religiöser/kirchlicher Herrschaft, sie sei eine totalitäre Herrschaft! 1935 erscheint „Ideale der Humanität“…
Der in Wien lehrende Philosoph Franz Brentano hatte sein Priesteramt aufgegeben aus Protest gegen das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes. Er war 1879 aus der katholischen Kirche ausgetreten. Masaryk tat 1880 das Gleiche und wandte sich der Reformierten Kirche zu: Die Reformation war für ihn ein grundlegender Umbruch im europäischen Denken: Ohne Reformation gibt es für Masaryk keine frei gestaltete Individualität. Im Katholizismus, so meint er, kann es keine Demokratie geben. Für Masaryk wird eine persönliche Form eines humanistischen Theismus entscheidend. Durch seine Frau, die US-Amerikanerin Charlotte Garrigue, lernte er auch die liberal-theologische Unitarische Kirche kennen.
3. Wesentlich sind für Masaryks persönliche Spiritualität auch als Politiker und Staatspräsident nicht die vielen kirchlichen Dogmen, sondern die Humanität, vor allem der Respekt der Gewissensentscheidungen der einzelnen Bürger. In dieser offenen religiös-philosophischen Haltung war Masaryk als Politiker und Staatspräsident tätig. Er wollte kraft seiner Autorität die Werte des Humanismus stärken. Eine bloß formal bestehende, nur äußerlich die Gesetze respektierende Demokratie galt für ihn nicht. Dass er dabei eine Verbindung von Hegel und Comte suchte, Pascal schätzte und Platon zeigt seinen Willen, aus verschiedenen philosophischen Quellen etwas „Eigenes“ für die tschechische Situation zu formulieren.
Darin zeigte sich seine lebenspraktische Orientierung als Philosoph, der zugleich Präsident ist. Als Staatspräsident beweist er, dass „Demokratie eine Lebensauffassung“ ist! Er wandte sich gegen den Nationalismus, den Klerikalismus, den Antisemitismus: Die Macht des Adels und Großgrundbesitz wurden stark einschränkt, seine Vorbilder waren Jan Hus und der Pädagoge Comenius. Masaryk war ein Intellektueller, eine intellektuelle Persönlichkeit, er wird noch heute sogar ein „idealer Politiker“ genannt, „den wir uns heute noch sehr wünschen“, heißt es in dem 2017 erschienen offiziellen „Reisefüher durch das tschechische Jahrhundert“ , herausgegeben von Czech Touurism, S. 73. Und Zwi Batscha, Professor für „Politische Theorie“ an der Universität Haifa, schreibt in seiner umfangreichen Studie über Thomas Masaryk mit dem Titel „Eine Philosophie der Demokratie“ (Suhrkamp,1994, S. 235): „ Durch den philosophisch-politischen Philosophiebegriff revolutionierte Masaryk das Bewusstsein seiner Landsleute und verhalf ihnen zu den ersten Schritten in Richtung auf eine Verwirklichung der Demokratie“. Und dies in einer Zeit, als –während seiner Regierung – die Tschechoslowakei tatsächlich eine Demokratie war, neigten in der europäischen Nachbarschaft etliche Staaten zu einem antidemokratischen Autoritarismus, wie Italien oder Österreich („klerikaler Austrofaschismus“) oder Spanien. Aber bald wurde die junge tschechoslowakische Demokratie zerstört, zuerst die Nazis, dann durch die Kommunisten. Die Wirkungen des Geistes der Aufklärung waren – wie so oft – begrenzt, in einer Gesellschaft, die erst 1918 ein paar Jahre der Demokratie erleben konnte und nach der „Samtenen Revolution“ 1989 viele demokratische Hoffnungen hatte. Sind diese noch heute lebendig und wirksam?
4. Unter kritischen marxistischen Philosophen und Literaten wurde Masaryk Mitte der sechziger Jahren öffentlich gewürdigt, etwa von dem Philosophen Karel Kosik und dem wichtigen, jetzt leider nicht mehr so bekannten Philosophen Milan Machovec: Er hat eine vielbeachtete Masaryk-Biographie verfasst.
5. Masaryk verhielt sich gegenüber dem damals zahlenmäßig starken tschechischen Katholizismus korrekt, auch wenn er aufgrund seiner persönlichen humanistisch-christlich-undogmatischen Überzeugung eher ein Gegner des Katholizismus und des mit ihm verbundenen Klerikalismus war. Mit der katholisch geprägten „Volkspartei“ musste man immer Koalitionen bilden! Auch die diplomatischen Beziehungen zum Papst wurden letztlich beibehalten, auch wenn aufseiten Masaryks dafür keine persönlichen Sympathien zu spüren waren. Die tiefe Distanz, eher noch die heftige Kritik, gegenüber dem (habsburgischen) Katholizismus saß in den intellektuellen Kreisen tief, zumal in der Bevölkerung Böhmens: Die Verehrung für den Reformator Jan Hus (von den Katholiken 1415 während des Konzils von Konstanz auf dem Scheiterhaufen verbrannt) war prägend. Als am 6. Juli 1925, dem 510. Jahrestag der Verbrennung von Jan Hus, eine große staatliche Feier zu Ehren des großen Patrioten Jan Hus gestaltet wurde, fühlte sich der Vatikan beleidigt. Masaryk ließ aus tiefer Überzeugung sogar die schwarze hussitische Flagge mit dem roten Kelch auf der Prager Burg, seinem Regierunsgssitz, aufziehen. “Am folgenden Tag reiste der päpstliche Nuntius Francesco Maramaggi unter Protest aus Prag ab“ (so im „Handbuch der Religions-und Kirchengeschichte der böhmischen Länder und Tschechiens im 20. Jahrhundert“, Oldenbourg Verlag, München, 2009, s. 283, ein Beitrag von Frantisek X. Halas). Der Hus-Gedenktag, der 6. Juli, ist auch heute gesetzlicher Feiertag!
6. Masaryk war Staatspräsident in einem wichtigen historischen Moment, als sich die Tschechen (und die Slowaken) von der Herrschaft Österreichs befreit sahen. Diese neue Freiheit spielte auch in der kirchlichen Szene vor allem Böhmens eine wichtige Rolle. Denn zum ersten Mal im 20. Jahrhundert sagten sich sehr zahlreiche römisch-katholische Katholiken von Rom los, der Befreiung von Wien sollte eine Befreiung von Rom entsprechen, wobei der tschechische Katholizismus in seinen führenden Vertretern, den Bischöfen, immer eng mit dem sehr katholischen Habsburger System verbunden war. 1920 kam es also zur großen Abspaltung von der römisch-katholischen Kirche: 140 katholische Priester votierten am 8. 1. 1920 für die Trennung: Sie gründeten die „Tschechoslowakische Kirche“ (die sich später „Tschechoslowakisch Hussitische Kirche“ nannte). Diese Kirche entsprach durchaus der Sehnsucht nach einer „anderen“, demokratisch geformten Kirche: Sie hatte schon 1921 525.333 Mitglieder, 1939 waren es 793 385 (Handbuch…S. 135, Beitrag von Martin Schulze-Wessel). Die Gründe der Konversionen waren vielfältig: Etwa die Kritik am der Bindung römisch-katholischer Bischöfe an die Habsburger. „Andere Gründe bezogen sich auf die Standesmoral des katholischen Klerus“ (Handbuch… S. 138). Die „Tschechoslowakische Kirche“ schaffte den Zölibat ab, die Priester feierten die Gottesdienste in tschechischer Sprache, Laien gestalteten kirchliches Leben entscheidend mit: Zum „leitenden Ausschuss“ gehörten neben 6 Geistlichen, darunter der führende Theologe Karel Farsky, auch 6 Laien… dies sind unvorstellbare Leitungs-Strukturen für die römische Kirche bis heute. „Diese Kirche konnte sich sehr plausibel als die Kirche der neuen Zeit darstellen“ (Handbuch S. 139,). Es gab immer wieder Konflikte, wenn diese Kirche eigene Gebäude und Räumlichkeiten, also auch Kirchengebäude von der römischen Kirche beanspruchte. Nach der atheistischen Propaganda des Kommunismus und der heutigen „Säkularisierung“ zählte die „Tschechoslowakische Hussitisch Kirche“ , die protestantischen Traditionen nahe steht, im Jahr 2001 99.103 Mitglieder. Im Jahr 2011 waren es nur ca. 39.000 Mitglieder in Tschechien. (Zum Vergleich auch der Niedergang der die Mitgliederzahlen in der Katholischen Kirche in Tschechien: 1930: 5.316 448 Mitglieder. Im Jahr 1991 waren es noch 402.385; 2001 nur noch 206.039.
Tschechien wird heute treffend das am meisten „entkirchlichte Land“ Europas genannt. Der Prager katholische Theologe (und Priester) sowie Soziologe Tomas Halik ist einer der wenigen, die in Tschechien den lernbereiten Dialog mit den „entkirchlichen Menschen“ kreativ gestalten.
In seinem Buch „Alle meine Wege sind dir vertraut“ (Herder Verlag, 2014), erwähnt Tomas Halik auch Tomas Garrigue Masaryk (S. 10 f.) als den „wichtigsten Erzieher der Nation für mindestens zwei Generationen“… Dann fährt Halik fort: „Ich habe mich mit der Spiritualität jener Persönlichkeiten beschäftigt, die der tschechischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert ihr Profil gaben, sei es mit Palacky, Masaryk, Salda, Capek, Patocka oder Havel. Keiner von ihnen war Atheist, im Gegenteil, sie hatten eine tiefe Beziehung zu „dem, was uns übersteigt“. Nichts desto weniger wahrte jeder von ihnen Abstand zur tradierten religiösen Terminologie“ (S. 11).
7. Der Philosophen-Präsident Tomas Garrigue Masaryk bleibt auch deswegen aktuell: Er ist ein Vordenker einer von Dogmatismen befreiten humanen Form des Christentums. Zudem: Masaryk zeigte, dass „Demokratie eine Lebensauffassung“ ist, mehr als ein bürokratisches „Funktionieren“ oder bloß äußerliches Respektieren der Gesetze: Ethische Grundsätze sollten eine Demokratie bestimmen. Und diese aus der philosophischen Reflexion stammenden Grundsätze sind natürlich nicht konfessionelle Dogmen, sondern Überzeugungen eines reflektierten Humanismus, den alle Bürger teilen können und sollten. Voraussetzung einer Demokratie ist für Masaryk die Trennung von Kirche und Staat! Sie ist – leider – bis heute auch in demokratischen Staaten Europas nicht umfassend vollzogen!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Christian Wolff – zur Aktualität eines Philosophen der Aufklärung

Eine Biographie von Hans-Joachim Kertscher
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.

Wir leben bekanntlich noch nicht in „aufgeklärten“ Zeiten, sondern immer noch in einer „modernen“ Welt, die um Aufklärung als Prinzip der Gestaltung von Gesellschaft, Staat, Religionen, Kirchen usw. ringt. Das heißt: Die universale Vernunft der Menschenrechte ist noch immer ein fernes Ideal, kein dauerhafter „Zustand“. Wir leben in einem 21. Jahrhundert, das von wahnhaftem Nationalismus bestimmt ist, geführt von wahnhaften Politikern und Präsidenten, die so verrückt sein könnten, die Menschheit ins Verderben zu stürzen.
Darum ist es vielleicht ein kleiner Trost, sich immer wieder mit Gründergestalten der Aufklärung, auch der mühsamen Aufklärung in Deutschland, zu befassen. Wahrscheinlich ist die Geschichte der Aufklärung in Deutschland eine Geschichte des immer wieder neuen Scheiterns der Aufklärung…

2.

Seit November 2018 liegt endlich eine ausführliche, vom Autor durchaus als zugänglich, d.h. „populär-wissenschaftlich“ verstandene Biographie des großen Philosophen der Aufklärung (und Universalgelehrten) Christian Wolff vor. Er lehrte in Halle und Marburg. Riesig ist der Umfang seiner Schriften. Wichtig ist auch, dass Wolff einer der ersten war, der die deutsche Sprache in seinen Vorlesungen und Publikationen verwendete und nicht mehr, wie damals üblich, der lateinischen Sprache unbedingt folgte! Viele philosophische Begriffe der deutschen Sprache wie Bewusstsein, Wesen, Eigenschaft, Wirklichkeit usw. hat Wolff in die deutsche Philosophie eingeführt. Eine großartige Leistung, darin folgte er Christian Thomasius! Später hat Wolff noch lateinische Werke verfasst, nur so konnte ein Philosoph damals international bekannt werden und außerordentliche Wirkung erzielen. „Wolff hat den Deutschen die Möglichkeit verschafft, sich ihrer Muttersprache in philosophischen Fragestellungen zu bedienen“, so der Autor des Buches, der Literaturwissenschaftler Prof. Hans-Joachim Kertscher in seiner umfangreichen, 312 Seiten umfassenden Biographie (das Zitat auf S. 104). Das Buch hat den Titel „Er brachte Licht und Ordnung in die Welt. Christian Wolff- eine Biographie“, erschienen im “Mitteldeutschen Verlag“.

3.

In dem Buch werden exakt, mit vielen Zitaten (diese sind zum großen Teil leider oft, eher schwer lesbar, in der „alten“ deutschen Sprache des frühen 18. Jahrhunderts wiedergegeben) die verschiedenen Etappen in Wolffs Leben chronologisch beschrieben: Seine Kindheit und Jugend in Breslau (geboren 27.1.1679), sein Studium u.a. der Theologie in Jena. Danach hielt er Vorlesungen in Leipzig… Leibniz lernte Wolff 1707 kennen (S. 98)
Ab 1706 lehrte der Philosoph an Halles Universität vor allem Mathematik und eine Vielzahl anderer Gebiete (wie Meteorologie, Medizin, Ernährung). In Halle kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen mit den sehr frommen Pietisten, die Wolff dann pauschal und unberechtigt des Atheismus beschuldigen. Sie sehen darin wie so oft eine Bedrohung der politischen Ordnung. Kein Wunder, dass der preußische König Friedrich Wilhelm I. den Verleumdern glaubt. Er verfügt brutal, wie er ist, die schnellst mögliche Ausweisung von Christian Wolff aus Halle, ein Skandal ohne Gleichen, der in der damaligen Welt der Intellektuellen entsprechend kommentiert wird. Die Vertreibung Wolffs ist ein Sieg der Pietisten, der Frommen, die eine vernünftige Philosophie und Theologie nicht akzeptieren wollen… Wolf schrieb „Vernünftige Gedanken über Gott“, natürlich wie alle Philosophie ein begrenztes Unternehmen, aber eben nicht falsch, sondern immer gültig, dass man über Gott eben vernünftig reden sollte. Selbst unvernünftige Charismatiker bedienen sich ja für ihre Schilderungen noch der vernünftigen Grammatik… Leider werden entsprechende Verbindungen zur Gegenwart (Muslimische Fundamentalisten, Macht der Evangelikalen in der Politik der USA und in Brasilien usw.) vom Autor nicht gezogen. Gerade solche aktuellen Beziehungen hätten die Leser erfreut und dem Buch und damit Wolff einen großen „Schub an Aktualität“ verliehen….
So wurde also Wolff 1723 aus Halle vertrieben. Er lebte und lehrte dann bis 1740 in Marburg. Friedrich II., der „Alte Fritz“, rief Wolff nach Halle zurück. Dort starb am 9.4. 1754.
Als wichtiger Aufklärungsphilosoph in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird er später von Kant gelobt, von Hegel positiv erwähnt, wenn auch mit entsprechenden Einschränkungen, Wolff sei doch noch einer oberflächlichen „Verstandesmetaphysik“ verhaftet geblieben. Die Beziehungen zu Leibniz bleiben bedeutend, vor allem schließt sich Wolff auf seine Weise der Leibnizschen Überzeugung an, Gott habe als Gott die beste aller möglichen Welten erschaffen.

4.

Für unsere Interessen im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin ist die Auseinandersetzung Christians Wolffs mit der chinesischen Philosophie, vor allem mit Konfuzius, sehr wichtig. Dieses Thema wird meiner Meinung nach viel zu kurz von Hans-Joachim Kertscher dargestellt: Er erwähnt zwar die so genannte „Sineser-Rede“ (also die China – Rede Wolffs) aus dem Jahr 1721: Darin lobt Wolff die Sittlichkeits-Idee der Philosophie des Konfuzius, durchaus auch als ein „Muster für das christliche Europa“ (S. 135), solche religiöse Lernbereitschaft von einer „heidnischen Philosophie“ war den frommen Pietisten natürlich unerträglich. Sie wollten die absolute Sonderstellung des Christentums und der Kirche und ihrer Ethik festhalten. Ich meine, diese Konfuzius Rezeption ist eine der zentralen Leistungen von Wolff, darin durchaus einer gewissen „China-Mode“ (etwa in der Kunst, Tapeten etc. ) folgend! Ich empfehle zum Thema Christian „Wolff und China bzw. der autonomen Moral“ den Beitrag der chinesischen Religionswissenschaftlerin Julia Ching (Toronto, Kanada, gestorben 2001) in dem Hans Küng gewidmeten Buch „Gegenentwürfe“ (Piper Verlag, 1988, S. 187 bis 196), sie zeigt u.a. auch, wie durch die Lektüre der Übersetzungen des Jesuiten Francois Noel (1651 – 1729) der Philosoph Christian Wolff schon 1711 mit chinesischer Philosophie vertraut wurde, Julia Ching zeigt, wie die beiden Werke Wolffs über China viel Aufmerksamkeit in katholischen Kreisen fanden (dort S. 194), sogar die strenge Inquisition des Papstes veröffentlichte einen China-Text von Wolff, dies geschah ohne Zustimmung von Wolff, um so größer war die Aufregung! „Die Literatur, die im Laufe der lang anhaltenden Kontroverse (wegen Konfuzius!) zwischen Wolff und den Pietisten entstand, ist wirklich voluminös“, so Julia Ching, S. 194.
5.Der Gesamteindruck: Hans-Joachim Kertscher zeichnet das Bild des Philosophen Christian Wolff, der im Vertrauen auf die Wirkungen der Vernunft lebte, durchaus in einem elementaren Optimismus. Er war überzeugt, dass die Philosophie doch vieles beitragen kann für die Gewinnung der „Glückseligkeit“ in dieser Welt für alle Menschen.

Hans-Joachim Kertscher, „Er brachte Licht und Ordnung in die Welt: Christian Wolff – eine Biographie“. Mitteldeutscher Verlag Halle, 2018, 312 S., zahlreiche Fotos, 25€. (Herausgegeben von der Christian-Wolff-Gesellschaft für die Philosophie der Aufklärung in Halle/Saale)
Sehr empfehlenswert ist auch die so interessant gestaltete Ausstellung im „Wolff-Haus“ von Halle: Große Märkerstraße 10, 06108 Halle (Saale)

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Gewalt und Monotheismus. Über Jan Assmann

Einige kurze Erläuterungen für ein Gespräch im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin im Jahr 2018.

Ein Hinweis von Christian Modehn, bearbeitet Anfang November 2023.

1. Jan Assmann ist ein sehr bekannter und geschätzter Ägyptologe und umfassender Kenner der monotheistischen Religionen. Jahrgang 1938, war er Professor in Heidelberg, jetzt lebt der in Konstanz. Die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen beträgt etwa 50. Zusammen mit seiner Frau, der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, erhielt er am 14. 10.2018 den „Friedenspreis des deutschen Buchhandels“. Prof. Aleida Assmann, geb. 1947 hat etwa 20 Bücher vor allem über Erinnerung und Kultur veröffentlicht.,

2. Jan Assmann macht seit 1997 darauf aufmerksam, in immer neuen Ansätzen nach zahlreichen Debatten mit anderen Wissenschaftlern: Der Monotheismus (Assmann spricht fast ausschließlich vom biblischen, also vor allem auch alttestamentlichen Monotheismus) enthält in seinen „heiligen“ Texten Aufforderungen zu gewalttätigem Handeln im Umgang mit anderen, „Fremden“, die als Feinde verstanden werden sollten.

3. Assmann hat den Begriff „mosaische Unterscheidung“ geprägt: Durch Moses, als dem Empfänger der göttlichen Offenbarung, kam der „Unterschied“ ins Bewusstsein der Menschheit: Es gibt die eine wahre Religion, also den Monotheismus. Und die vielen, in monotheistischer Sicht, falschen Religionen, die poly-theistischen Religionen.
Assmann unterscheidet zwischen einem „Monotheismus der Treue“, der emotional sich auf den Gott des Bundes bezieht: JAHWE führte das Volk Israel aus Ägypten. Dieser Gott ist eifersüchtig… Ihm müssen die Israeliten absolut treu ergeben sein (Nebenbei: Moses ist für Assmann KEIN Ägypter, er kannte nicht den altägyptischen König Echnaton, den radikalen Religionskritiker zugunsten der Sonnenverehrung. Moses war wohl ein Angehöriger des israelitischen Volkes.)
Zum Monotheismus der Treue schreibt Assmann: „Diese Völker in Kanaan muss Israel vertreiben und ausrotten, um sich nicht zur Anbetung ihrer Götter verführen zu lassen“. Oder: „Was im Umgang mit den Kanaanäern gefordert wird, ist ein heiliger Vernichtungskrieg, der mit der Formel, den Bann vollstrecken bezeichnet wird“. (Totale Religion, S. 50). „In der Bundesidee (Gottes mit Israel) wurzelt die religiöse Gewalt“, meint Assmann, in „Monotheismus unter Gewaltverdacht“, S. 265.
Daneben kann man im Alten Testament auch vom „Monotheismus der Wahrheit“ sprechen: Da machen sich etwa die Propheten lustig über die vielen von Menschen gemachten Götter der Heiden. Etwa Jeremia, Kap. 10: „Die Gebräuche der Völker sind leere Wahn…Ihre Götzen sind nur Holz“ Es folgt dann logisch: Die Zerstörung der Götterbilder. Denn Heidentum ist Verblendung.
Es gab auch eine bestimmte Form jüdischer Toleranz -Theorie: Etwa im Gefolge der Abraham-Tradition und in den (bei Laien kaum bekannten) jüdischen Zentren in Ägypten und Babylon (dort gab es den jüdischen Dialog mit den „Heiden“)
Im Alten Testament, im Buch Genesis, ist die auf die Schöpfung bezogene Theologie wichtig für den toleranten Umgang der Israeliten mit anderen Völkern. Nur ein Beispiel: Joseph wird in Ägypten zum Zweiten Mann im Staate, er heiratet die Tochter des Hohen Priesters, „es geht um die Anbetung desselben Gottes“.

4. Aber für Jan Assmann ist klar: Die zur Gewalt an den „Anderen“, den „Poyltheisten“, aufrufenden alttestamentlichen Texte muss man vor allem als Literatur verstehen, sie sind keine unmittelbaren politischen Appelle zur Tat zu schreiten: Denn, was etwa die biblischen Texte als Gewalt der Israeliten gegen die im Land lebenden Kanaäer beschreiben, ist historisch längst überholt: Die Ereignisse der Landnahme waren etwa im Jahr 1200, die Texte hingegen sind ca. 500 vor unserer Zeitrechnung geschrieben worden. Das heißt: Die Gewalt sollen die Israeliten eher auf sich selbst richten, weil sie immer vom Unglauben und Heidentum bedroht sind. Dennoch hat wohl die aggressive Landnahme stattgefunden…

5. Die polytheistischen Religionen haben tatsächlich auch einen obersten Gott, etwa Zeus. Sie sind also in gewisser Weise auch mono – theistisch strukturiert. Zeus ist der Oberste von allen Göttern. Aber griechische Götter, etwa Zeus, können in andere Kulturen/Sprachen übersetzt werden, etwa Jupiter als lateinischen Titel. Diese Übersetzungsmöglichkeit funktioniert im biblischen Monotheismus nicht. Er kapselt sich sozusagen ein. Anhänger polytheistischer Religionen sind zwar auch gewalttätig, aber sie sind dies nicht aus religiösen Gründen, sondern etwa aus politischen. Polytheisten betreiben keine Mission. Konvertiten bei ihnen sind eher selten, vielleicht im Bereich der brasilianischen Religion Candomblé; aber da kann man gleichzeitig mehreren Religionen angehören…
Assmann spricht anstelle von polytheistischen Religionen von kosmo – theistischen Religionen, weil diese Kosmisches, Weltliches, als heilig und als göttlich deuten. Wichtig auch: „Anders als die monotheistischen Offenbarungsreligionen kennen die kosmotheistischen Religionen keine absolute Wahrheit“ („Monotheismus und Gewaltverdacht“, S. 251.)

6. Warum erhält Jan Assmann den FRIEDENSPREIS des deutschen Buchhandels? Meine Antwort: Weil Assmann in seinen jüngsten Publikationen über die Dialektik Monotheismus -P olytheismus hinaus geht: Er plädiert für eine Vernunftreligion der Menschheit. Da hat jeder Fromme „seine“ (möglicherweise durch Offenbarung vernommene) Religion, ohne diese persönlich für die einzig mögliche und einzig richtige zu halten. Der Fromme glaubt also noch an eine zweite, übergeordnete vernünftige Religion. Dies hat keine institutionelle Struktur, sie ist förmlich nur eine geistige Realität, so wie der Kategorische Imperativ ja auch eine geistige Realität ist.

7. Assmann spricht deswegen von „religio duplex“. Die übergeordnete Vernunftreligion hat Vorbilder bei Lessing oder bei dem großen Berliner jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn: Man lese seine „Jerusalem – Schrift“ von 1783. Maßstab für eine ins Objektive gehende Bewertung der Inhalte der verschiedenen Religionen kann nur etwas übergreifend Vernünftiges sein, nicht etwas Inner – Religiöses, Konfessionelles: „Alles, was das Zusammenleben auf diesem Planeten verbessert, verschönert, erleichtert“, also, was die Menschenrechte befördert, ist Maßstab für die Qualität einer Religion. Hingegen Gewalt, Verfolgung und Unterdrückung, so Assmann, passen nicht zu den angenehmen, förderungswürdigen Religionen… Assmann weist darauf hin, dass Gandhi in dieser religiösen Doppelstruktur im Bewusstsein des einzelnen Frommen dachte: „Alle konkreten Religionen zielen auf die eine, noch versteckte Religion der Wahrheit“ (Monotheismus unter Gewaltverdacht, S. 259). Diese hat mystischen Charakter, betont Assmann, mit ausdrücklichen Bezug auf Jacob Böhme. Dessen Wort steht in der Tradition der negativen Theologie „Gott sei nichts und alles“ ihm entscheidend ist (im Buch „Religio Duplex“, Buch von 2010, S.127)

8. Das Plädoyer Assmanns für eine vernünftige, tolerante, friedfertige Menschheitsreligion entspricht unseren religionsphilosophischen Interessen und Überzeugungen, zumal wenn man Kants „Religionsschrift“ mitbedenkt. Darüber hinaus stellt sich für die individuelle Lebensphilosophie die Frage: Welche absoluten Werte (also meinen persönlichen „Monotheismus“) leiten mich? Wie setze ich diese durch? Meine jeweilige, vielleicht für absolut eingeschätzte Wahrheit kann niemals objektive absolute Wahrheit auch für andere sein. Absolute Wahrheit hingegen ist das allen einzelnen religiösen Überzeugungen Gemeinsame, die Vernunftreligion … und die ihm entsprechende Lehre vom Kategorischen Imperativ!

9. Der gewaltbereite Monotheismus ist keineswegs nur ein religiöses Phänomen, sondern auch ein politisches. Etwa im Stalinismus oder im Faschismus gab es mono-„theistische“ Gewalt, indem die Führer sich für absolut erhabene „Götter“ hielten… Zum politischen „Monotheismus“, dem Stalinismus: Siehe etwa das Buch von Michail Ryklin, „Kommunismus als Religion“. Verlag der Weltreligionen, 2008.; „Die politische RELIGION des Bolschewismus nannte sich selbst eine wissenschaftliche Ideologie“ (S. 40) …auch der französische Soziologe Raymond Aron sprach vom Kommunismus als säkularer Religion. „Der Sozialismus (à la Moskau) ist Religion in dem Maße, in dem er Anti-Religion ist“. (S.41). Die „Pilger“ aus ganz Europa strömten in den dreißiger Jahren nach Moskau zu Stalin. Sie sahen in der UDSSR ein heiliges Land, ließen sich dort auch materiell verwöhnen und ihren Verstand verwirren. „Clara Zetkin forderte an der sowjetischen Grenze alle Mitreisenden auf, ihre Schuhe auszuziehen, denn der Boden, den man betrete, sei, so wörtlich, heiliger Boden“ (S. 58, zit. von Karl Schlögel). Aber: Andere Reisende empfanden die UDSSR treffender als Hölle: (S. 59.)
Viele Intellektuelle wurden Konvertiten zum Kommunismus: Die neue kommunistische Religion versprach, besser zu sein als Christentum oder philosophischer Atheismus. „Bei den inszenierten Feierlichkeiten in Moskau erweckte das System den Eindruck, die Erlösung habe bereits stattgefunden“ (S. 60)

10. Tatsache ist: Der Polytheismus macht sich heute auch philosophisch breit, indem etwa der Philosoph Odo Marquard in dem Buch (Reclam – Verlag) „Abschied vom Prinzipiellen“ einen Aufsatz über „Lob des Polytheismus“ veröffentlicht und damit u.a. meint: Die moderne Demokratie als Gewalten – Teilung sei „polytheistisch“. Dabei vergisst Marquard, dass die Demokratie durch die Bindung an die universal geltenden (!) Menschenrechte durchaus, wenn man so will, mono-theistisch geprägt ist. Die neue Rechte bzw. die Rechtsextremen denken polytheistisch. Rechtsextreme definieren sich oft als Heiden mit entsprechenden Kulten, Ku Klux Klan etc…Da gibt es explizit Übermenschen und bedeutungslose Untermenschen.

11. Assmann weist auch darauf hin, wie einzelne gewaltfördernde Texte im Alten Testament im Laufe der Kirchengeschichte als ideologische Entschuldigung für Gewalt verwendet werden: etwa: Kaiser Karl V. hat im Rahmen der imperialistischen Gewalt gegen die indianischen Völker täglich aus dem Buch Deuteronomium Kapitel 20 gelesen.

12. Das monotheistische Bilderverbot: Für Assmann DAS Kennzeichen des Monotheismus: Gott lässt sich in kein Bild zwingen und zwängen. Die Götter der Polytheisten haben viele Bilder. Auch in einigen protestantischen Kirchen, vor allem in der Tradition Calvins, gibt es ein Bilderverbot. Dies war auch eine polemische Entscheidung gegen die Bilderflut im Katholizismus. Diese barocke Bilderwelt war eine Propaganda der Ablenkung der Frommen bei der Messe, die sie, auf Latein gefeiert, ohnehin nicht verstanden.
Dabei ist klar: Jeder Fromme denkt sich dann doch – zunächst – irgendetwas Konkretes, wenn er an Gott denkt. Innere Bilder sind nicht zu verbieten, sie sind oft wirksamer als äußere.
Das Bilderverbot ist aktuell: Vor allem als absolute Warnung, etwas Weltliches zu Göttlichem zu erklären: Geld, Nation, eine Partei, einen Menschen etc. Das ist aktuell, leben wir doch in der Zeit des heiligsten Geldes und des heiligen Finanzkapitals.

13. Eine Frage, die Assmann nicht bearbeitet hat, nach meiner Kenntnis: Ist das Christentum, vor allem der Katholizismus, tatsächlich selbst „streng monotheistisch“? Die Frage spüren moderne, kritische Theologen, wie Edward Schillebeeckx, in: „E. Schillbeeckx im Gespräch“, Luzern 1994. S. 103 ff. Er betont seine Zurückhaltung, wenn er von der göttlichen Trinität spricht. „Wenn ich sage, dass Gott in drei Personen existiert, fürchte ich eine Art Tri–Drei -Theismus, drei Götter, drei Personen wie eine Art Familie. Ich scheue mich, eine spekulative Theologie über die drei Personen und ihre Beziehungen zueinander zu entwickeln…. Was soll die Rede von drei Personen“? „Ich bin im Hinblick auf eine Trinitätstheologie fast ein Agnostiker“ (S. 107). Da gibt es viele theologische Aufräumarbeit in den Kirchen. Auch so viele Kirchenlieder müssten umgeschrieben werden oder besser: ganz verschwinden!

14. Ist der Katholizismus monotheistisch, etwa angesichts des immer noch ausufernden Marienkultes und der Heiligenverehrung? Maria als Königin, Maria als dominante all präsente Mutter und Herrscherin, als erhabene Figur über den Barockaltären.. Es gibt das Gebet zu Maria, „durch Jesus zu Maria“ als Spruch, die Orte, wo die Mutter Gottes erschien, Fatima, Lourdes etc… Wer denkt da nicht eine Mit – Erlöserin, an eine Art Göttin Maria? Das Thema wird in der Theologie und Lehre der katholischen Kirche tabuisiert und ignoriert. Was wäre aber eigentlich schlimm, wenn es eine christliche Muttergottheit gäbe?
Siehe etwa das beliebte Marienlied „Gegrüßet seist du Königin“… Da heißt (es in der 6. Strophe „O mächtige Fürsprecherin, o Maria. Bei Gott sei unsere Mittlerin, o Maria…“ (Zit aus „Mythos Maria“, S. 92, von Hermann Kurzke, Beck Verlag)… Oder aus dem Lied „Wunderschön prächtige…“ In der 6. Strophe heißt es „Du bist die Helferin, die bist die Retterin“, Kurzke S. 238.)

15. Die Arbeiten von Jan Assmann über den Monotheismus führen zu mehr Klarheit im Umgang mit monotheistischen Religionen. Im Christentum, in den Kirchen, gilt doch jetzt die Erkenntnis: Wer sich heute Christ nennt, ist einbezogen in eine breite Gewaltgeschichte, die nur mit Mühe von offizieller Seite anerkannt wird. Diese Gewaltgeschichte erhält jetzt durch den sexuellen Missbrauch durch Priester weltweit noch ein neues Gesicht. Angesichts dieser überwiegend äußerst dunklen Geschichte bleibt meines Erachtens für einen spirituellen Christen nur der Weg der Mystik: Der Suche nach dem Göttlichen in der eigenen Seele, dem „ewigen“ Seelenfunken“ in jedem Menschen, dieser göttliche Seelenfunken verlässt den Menschen nicht – aufgrund des Geschaffenseins durch Gott, verlässt den Menschen auch nicht im Tod: Dies ist die „Auferstehungserfahrung“.

16. Jesus von Nazareth ist in unserer Sicht ein wegweisender Prophet und Lehrer, der heute die allgemeine, die säkulare, vernunftgesteuerte Ethik mit seinen eigenen Vorschlägen verstärken bzw. weiter führen könnte: Man denke an die jesuanische Feindesliebe, an die wesentliche Gleichheit ALLER Menschen als gelebte Brüderlichkeit. Man denke an die Abwehr von autoritären religiösen Meistern (Abwehr des Klerus etc.), an die Bevorzugung der Armen – als Weg der spirituellen wie politischen Befreiung.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Weisheit – biblisch und griechisch (philosophisch)

Hinweise von Christian Modehn,  geschrieben für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 24.8. 2018

Weisheit ist der Inbegriff griechischer Philosophie, die sich, wie der Name sagt, als Liebe, als Freundschaft zur Weisheit definiert. Der Weisheit strebt der Mensch nach, das ist für Aristoteles wichtig. Aber für Platon gilt: Erreichen können Menschen die Weisheit in vollem Umfang nie. Nur Gott ist weise.

In der Neuzeit wird Philosophie als Weltweisheit verstanden: Dann wird Weisheit noch einmal eingeschränkt auf Lebensweisheit. Die Philosophie entwickelt dann zwei Wege: Die der Lebenslehre verpflichtete Weisheit außerhalb der Universitäten, man denke an Montaigne und seine Essays, vielleicht auch an Blaise Pascal, an Kierkegaard oder auch an den späten Schopenhauer: „Aphorismen zur Lebensweisheit“ von 1851. Dieses Buch hat Schopenhauer populär gemacht. Die an der Universität etablierten Philosophen seit dem 18. Jahrhundert verstehen diese als Wissenschaft, oft in Konkurrenz zu anderen Wissenschaften. Der Aspekt der Lebenshilfe durch Weisheit entfällt dann meist. Auch (den späten) Wittgenstein kann man wohl eher als Weisheitslehrer ansehen.

1.Kohelet (auch genannt der „Prediger Salomo”)

Es gibt heute viele Übersetzungen ins Deutsche, man vergleiche, wie unterschiedlich die Übersetzungen gestaltet sind. Ich bevorzuge die Züricher Bibel.

Es ist erstaunlich, dass es im 3. Jahrhundert (vor Christus) in dem kleinen Tempelstaat, genannt Judaia mit der Hauptstadt Jerusalem, einen jüdischen Lehrer gab, der sich der umgebenden, allmächtig erscheinenden griechischen Kultur annäherte und von dieser kulturell vorherrschenden Kultur etwas für den eigenen Glauben lernen wollte. Die Oberschicht in Jerusalem sprach Griechisch. Das Buch Kohelet ist also ein Dokument eines gewissen Lernens einer Religion von den damaligen griechischen Popular – Philosophen aus dem Kreis der Kyniker und Skeptiker vor allem, aber auch von der Stoa und Epikur. Es gab schon vor Kohelet Weisheitslehren in der jüdischen Kultur, später dann auch in der hebräischen Bibel versammelt, wie etwa das „Buch der Sprüche“. Es enthält viele kurze Sprüche zur Alltagsgestaltung in einem bäuerlich geprägten Milieu. Es geht um Fleiß, Sparsamkeit, Redlichkeit. Alles Handeln soll auf der Gottes- Furcht gründen: Gottesfurcht ist das zentrale Ziel alles von Weisheit geprägten Denkens und Verhaltens. Also wohl Furcht vor diesem allmächtigen Gott! Wobei es interessant ist, dass der Alttestamentler Prof. Bernhard Lang darauf hinweist, dass viele Mahnungen im 22. und 3. Kapitel des „Buches der Sprüche“ Nachbildungen sind ägyptischer Lehren, etwa aus der Lehre für Amenemope, eines altägyptischen Königs. (in Die Weisheit des Alten Testaments, DTV, C. H. Beck, 2007, S. 138)

Also es gab immer schon einen gewissen Kulturaustausch und eine gewisse Lernbereitschaft zwischen der Jahwe- Religion und der „heidnischen“ Kultur, aber immer so, dass der Rahmen vom Glauben an Jahwe beherrschend bleibt, bei aller Freiheit der Lernbereitschaft. Das sieht man am Beispiel des Buches Kohelet.

Der Autor des Kohelet Buches: Kohelet ist ein „Deckname“ (wie auch der Hinweis auf König Salomo, dies soll der Aufwertung des Textes dienen). Kohelet bedeutet „Versammlungsleiter“ in einer ekklesia, wie man auf Griechisch sagt. Der Alttestamentler Norbert Lohfink schreibt: „Ekklesia bezeichnete auch philosophische Zirkel, und ein Kohelet, ein ekklesiastés, könnte dann auch Gründer und Leiter eines solchen Kreises gewesen sein“ (S. 11).

„Kohelet hat seine Lehre auf dem Marktplatz gegen Bezahlung öffentlich angeboten, das war neu in Jerusalem und hat Aufsehen erregt, von seinem Schülerkreis bekam der Marktplatz-Philosoph seinen Namen“ (Lohfink, S 12.) Nebenbei: Man bedenke, dass auch Paulus auf einem berühmten Platz sprach und mit dortigen Philosophen argumentierte, auf der Agora in Athen, und dort eine der schönsten Reden des Neuen Testaments überhaupt gehalten hat, etwa mit der Weisheit: „In Gott bewegen wir uns, leben wir und sind wir“… (Apg., Kap. 17, Verse 16 bis 34). Und noch etwas: Als Paulus in Ephesus wegen seiner Predigten dort aus der Synagoge geworfen wurde, fand er Zuflucht bei einem toleranten Philosophen (!). Paulus wohnte 2 Jahre bei ihm und lehre in seinem „Salon“, der Philosoph hatte den für ihn gar nicht zutreffenden Namen Tyrannus, Apostelgeschichte, 19, Vers 9.

Der Autor des Kohelet Buches verfasste seinen Text auf Hebräisch, aber eben in einem zeitgemäßen, umgangssprachlichen Hebräisch (gesprochen wurde Aramäisch).

Zum Buch selbst: Es wurde von vielen herrschenden Kreisen als störend wahrgenommen. Sicher auch vom Establishment im damaligen Jerusalem. Denn die großen Themen jüdischen Glaubens, der Bund Gottes mit dem Volk Israel, das Einhalten der vielen Gebote, die prophetischen Lehren, auch die heftige Gesellschaftskritik, die Psalmen, das Gebet, all das kommt im Kohelet-Buch nicht vor. Viele Leser sehen eine gewisse Eintönigkeit im Text, in dem alles darauf hinausläuft, dass das Leben der Menschen, aller Menschen, in allen nur denkbaren Zuständen, Reiche, Arme usw. letztlich zum Tod führt. Alles, aber auch alles,  ist Windhauch, es verschwindet, führt ins Nichts.

Nebenbei: Die absoluten Herrscher im ancien régime ließen die Übersetzung des Kohelet, geschaffen vom Philosophen Voltaire, verbrennen, im September 1759 in Paris: Denn in der Sicht der Zensur zersetze dieses Buch Kohelet die Grundlagen der Moral. („Récits de l Ecclesiaste et Précis du Cantique des Cantiques“1759, die Urteilsschrift vom 3.9.1759. Arrest de la cour de Paralement). Wahrscheinlich waren die damaligen Machthaber entsetzt über Kritik an der Beamtenherrschaft im Buch Kohelet, im Kapitel 5, Verse 5 ff. ist die Rede von der Ausbeutung der Armen und noch aktueller geradezu die Erkenntnis: „Ein Mächtiger deckt den anderen, hinter beiden stehen noch Mächtigere“.

Zum Zentralen Begriff Häwäl: Alles ist Häwäl. Meint Windhauch, auch etwas Windiges, etwas Nichtiges, vielleicht auch Absurdes, meint der protestantische Alttestamentler Jürgen Ebach in einem Vortrag für den Evangelischen Kirchentag 2015 in Stuttgart. Interessant wäre eine genaue Untersuchung zu dem anderen hebräischen Begriff für Geist und Wind eben für RUACH. Er wird später ein Begriff für Rettung und Heiliges…Der heilige Geist kommt in der Beschreibung des Pfingstereignisses in der Apostelgeschichte als Brausen vom Himmel wie ein gewaltiger Wind. Dadurch wurde die Gemeinde vom heiligen Geist erfüllt.

Ich will auf den allgemeinen Rahmen des Textes aufmerksam machen, der die einzelnen Verse verständlicher werden lässt. Der Autor geht als gläubiger Jude im 3. Jahrhundert zur Zeit der hellenistischen Herrschaft in Jerusalem (die Herrschaft der Ptolemäer) davon aus: Es muss förmlich in dieser Kultur der Philosophien auch eine philosophisch erscheinende Lehre aus gläubiger, jüdischer Sicht geschrieben werden.

Dennoch ist für ihn gültig, und das wird im Text deutlich:  Gott ist und bleibt im Bekenntnis der Herr der Welt, derjenige, der alles vorweg bestimmt (dies ist eine Art personaler Ausdruck für den Glauben an die Macht des Schicksals). Und dieser Gott verfügt alles im voraus, alles ist sozusagen vorherbestimmt. Die Vorstellung, Gott als den allseits liebenden Vater zu denken, kommt nicht vor.

Und das ist das Neue im ganzen Alten Testament: Weisheit im Sinne Kohelets ist mit Erkenntnis identisch. Und dieser Weise im Sinne Kohelets weiß eben: Dieser unser alles verfügende und alle schon vorher bestimmende Gott ist nicht umfassend erkennbar. Einzelne „Wesens“-Aspekte Gottes werden nicht genannt. Bei Kohelet ist Gott nur die unbekannte alles bestimmende Urmacht.

Aber auch dieses gilt für Kohelet: Gott ist der Schöpfer dieser Welt und der Menschen. Und dieser Gott „hat die Ewigkeit in das Herz der Menschen gelegt“ (…“ohne dass sie herausfinden können , was Gott von Anfang bis Ende gewirkt hat“, Kap. 3, Vers 9 ff). .

Das heißt: Gott als der Ewige hat das, was er ist, was ihn auszeichnet, nämlich der Ewige zu sein, ewig zu sein, in die innerste Mitte der Menschen gelegt. Das heißt Gott und Mensch sind letztlich verbunden und eins. Auch wenn es eine wesentliche Differenz zwischen Gott und Mensch gibt…“Gott ist im Himmel und der Menschen ist hier“, sagt Kohelet.

Aber die alte Glaubenslehre bleibt: Gott ist der Richter über Weise und Törichte. Aber mehr kann der weise Mensch nicht über Gott sagen. Gott ist nicht  zu durchschauen. Er ist ein Geheimnis für den Menschen.  Aber wäre ein durchschaubarer Gott noch Gott?

Interessant bzw. höchst ungewöhnlich sind die weisheitlichen Mahnungen Kohelets in Kap. 7, Vers. 16 (in der Lutherübersetzung) „Sei nicht allzu gerecht und allzu weise. Damit du dich nicht zugrunde richtest“ )Also sehr viel Weisheit richtet zugrunde? Vers 17: „Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht sterbest vor deiner Zeit“. Also: Etwas gottlos, etwas religionskritisch soll der Weise durchaus sein. In der Katholische Einheitsübersetzung heißt Vers 17 viel milder und moderater: „Entferne dich nicht zu weit vom Gesetz…“ Auch die Züricher Bibel ist da radikal: „Sei nicht überfromm und gebärde dich nicht gar zu weise. Warum willst du dich zugrunde richten?“ Vers 17: „Sei auch nicht zu gottlos und sein kein Tor…“ Das muss erst noch theologisch bearbeitet werden: Ein biblischer Autor, dessen Buch als kanonische Schrift in der Bibel (Altes Testament) versammelt ist, gibt den Rat: „Sei nicht zu gottlos…“ Also: „Ein bisschen gottlos solltest du sein“ Aber was heißt ein bisschen?

Auch wenn immer wieder betont wird: Wie sinnlos, wie verhauchend und verschwindend alles ist: Dennoch wird da keine Sinnlosigkeit verbreitet, weil eben alles umrahmt und verbunden ist mit dem ewigen Gott. Der Gott Kohelets ist kein deistischer Gott, kein „Uhrmacher – Gott“ des 17. Jahrhunderts…

Zentral ist dann doch: Angesichts der totalen Windhauch- Struktur allen Lebens empfiehlt Kohelet der Jugend doch eine ausgelassene Freude am Leben, mit üppigem Essen und Trinken. Nirgendwo wird sonst in der Bibel so deutlich der üppige Lebensgenuss geradezu empfohlen, allerdings nur für die Jugend. Wo bleibt der Genuss für die Alten?

Aber diese kleinen Freuden des Lebens gönnen sich die Menschen in einem Bewusstsein, dass sie eigentlich nicht wissen, was das Ganze, was das Leben sinnvoll macht; nur der Glaube bleibt: dass Gott alles geschaffen hat und er alles vorherbestimmt. (Ob da Anklänge an Gnade und Prädestination – also bei Paulus im Römerbrief – durch scheinen, ist ein anderes Thema) „Wir sind Gottes Hand aufgehoben“: Das ist das zentrale Bekenntnis, „auch wenn wir mehr nicht wissen“.

Oft ist von Furcht Gottes“ die Rede. Dies ist eine Haltung, die im Alten Testament oft beschrieben wird, denn Jahwe hat in der Geschichte furchtbare Taten vollbracht, etwa die Ägypter vernichtet und wunderbar sein Volk erwählt und gerettet. Die Gottesfürchtigen sind die Frommen. Der Gottesfürchtige fühlt sich geborgen. Gottes Furcht ist Gehorsam gegenüber Gottes unergründlichem Willen. „Gottesfurcht ist der Weisheit Beginn“. Und ist eine Form der Unterwerfung unter die Allmacht Gottes. Gibt es im Neuen Testament noch diese Gottesfurcht?

2.Weisheit in der griechischen Philosophie. Ein knapper Hinweis fürs Weiterstudium.

Die griechische Philosophie in der Antike war in viele unterschiedliche Schulen gespalten. Wer in eine Schule eintrat, musste die Lehre des Meisters verinnerlichen, d.h. auswendig lernen, darauf weisen die Studien von Pierre Hadot immer wieder hin. Jeder Schüler einer Schule sollte die zentralen Lebensweisheiten immer „griffbereit“ für alle (schwierigen) Lebenslagen zur Verfügung haben.

Das wussten auch die frühen christlichen Theologen, indem sie den kirchlichen Glauben auch als SCHULE bezeichneten und ihn der Konkurrenz zu den anderen Schulen aussetzen. Durch die Kirchenpolitik der Kaiser setzte sich dann diese christliche Schule (eigentlich schon immer schon in sich selbst in Vielfalt) dann machtvoll durch und zerstörte die anderen philosophischen Schulen.

Ich will zu diesem komplexen Thema nur einige Hinweise geben:

Etwa in der Stoa und bei Epikur: Es geht beiden Schulen um die Erlangung der Ataraxia, der Ruhe im Leben, durch konkrete Übungen und Weisungen. Und man kann fragen: Ist diese ganze Windhauch Lehre von Kohelet nicht auch ein Einüben der Atarxia, der Unerschütterlichkeit? Ich denke, so ist es. Gerade dies hat Kohelet von den griechischen Philosophen gelernt!

Wenn man nur den Text „Selbstbetrachtungen“ (am Ende seines Lebens, um 172 nach Chr. geschrieben)   von Marc Aurel betrachtet, gibt es durchaus inhaltliche Anklänge an Kohelet: Etwa im 6. Buch, Nr. 15: Da ist vom ständigen Werden und Vergehen die Rede, also gewissermaßen vom Windhauch. „In diesem Strom kann man keinen festen Fuß fassen..“

Und doch ist Marc Aurel konkreter in seinen Hinweisen zum Umgang mit dieser Situation, in Nr. 16 schreibt er: „Was bleibt aber wirklich Achtungswertes übrig? Ich glaube dieses: Dich nach den dir innewohnenden Fähigkeiten zu rühren (tätig zu sein) und Zweckentsprechendes zu schaffen…“   Also in einer Situation des „Windhauches“ bzw. des ständigen Fließens kann der Mensch doch etwas konkret „aus sich machen und Gutes für die Welt tun“. Irgendwie wird der Gedanke einer verbesserlichen Welt, einer Weltgestaltung durch den einzelnen, bei den Griechen besser ausgesagt. Von einem expliziten Willen zur Weltgestaltung sehe ich bei Kohelet nicht so viele Anregungen.

Angesichts der vielen belastenden Erfahrungen, in denen so vieles, wörtlich „eitel, modernd, nichtig ist“ (N. 33 im 5. Buch, gib Marc Aurel den Ratschlag: Alles, was außerhalb deiner geistigen und körperlichen Sphäre ist, „ist nicht dein und hängt nicht von dir ab“, also kümmere und sorge dich nicht darum (Nr. 33). „Bedrückend sein kann für den Menschen nicht das Vergangene und Zukünftige, sondern nur das, was ist, was jetzt ist. (N. 36 im 8. Buch).

Nebenbei: Philosophie muss von „Sophismus“ unterschieden werden: Dies nur am Rande: Sophismus kommt vom Verb sophitestai, also ausklügeln, sich etwas ausdenken, kluge Worte machen, auch als Propaganda, auch als Irreführung: “Es gibt ja sowieso keine Wahrheit“… Ein Sophist kann jede noch so abwegige Theorie logisch scheinbar begründen und verteidigen. Darum waren sie oft auch glänzende Rhetoriker. Sie sind die „Relativisten“, die Sokrates als Ethiker verschmähte… Sokrates setzte sich mit Sophisten auseinander, etwa Kritias und Alkibiades… Sophisten arbeiteten philosophisch für Geld. Philosophen taten es gratis, wie Sokrates… Sophisten sind heute wohl viele Rechtsanwälte.

3.Welche Weisheit ist hilfreicher? Kohelet oder Marc Aurel „Selbstbetrachtungen“?

Diese Frage kann jeder für sich beantworten natürlich.

Der Eindruck ist wohl gültig: Schon aufgrund seines größeren Umfangs sind die “Selbstbetrachtungen” von Marc Aurel wesentlich differenzierter und konkreter als das Buch Kohelet. Das wird etwa deutlich, wenn Kohelet der Jugend empfiehlt: „Wandle, wie es deinem Herzen gelüstet und genieße, was deine Augen schauen“ (11. Kap. Ende)

Essen und Trinken als Lust wird auch in Kap. 5 empfohlen als Gabe Gottes. Aber alles wird auf die Jugend bezogen. Aber im Unterschied etwa zu Epikur wird nicht eine Lehre des reflektierten Maßhaltens geboten! Und der junge Genießer in Jerusalem soll auch schon wissen, „dass um alle diese genussvollen Dinge wird Gott dich vor Gericht ziehen“. (Ende 11. Kap.) Der Gedanke an Gottes Gericht soll vor allzu großer Üppigkeit warnen.

Da sind mir die griechischen Philosophen sympathischer und reflektierter: Sie wollen den Genuss in seinen Exzessen dadurch eingrenzen, dass sie auf das Wohl, auch das körperliche, des Genießenden acht geben. Sie argumentieren, aber drohen nicht mit einem rächenden Gott. Etwa bei Epikur ist das deutlich. Die Bibel bietet keine argumentative Weisheitslehre zur Ataraxia, zur lernbaren Unerschütterlichkeit, oder zum Gleichmut und zur Ausgeglichenheit! Dies tun die griechischen Philosophen. „Erwache und finde dich selbst wieder“, sagt Marc Aurel, Nr. 16 in Buch 6. „Erwache zu dir selbst“: Dieses Ernstnehmen der Entwicklung des eigenen Lebens fehlt mir im Buch Kohelet.

Ich meine: Kohelet spricht von einem sehr überlegenen, endgültigen Status aus, wie in einem Blick aus der Ewigkeit heraus spricht er und muss dann, sub specie aeternitatis, fast alles auf der Welt und im begrenzten Leben des Menschen, eben NICHTIG zu finden. Er sieht in dieser Sicht von oben alle Menschen eingesperrt in ein Leben zwischen (eigentlich abzulehnender) Geburt und dem Versinken in ein Nichts im Tod. Diese Beurteilung alles Lebendigen und Konkreten aus der Ewigkeit heraus ist problematisch: Dieser Standpunkt ist nur in der HINSICHT des Überblicks auf das gesamte Leben formal gültig. Es fehlt „trotzdem“ die Lust, Details zu entwickeln.

Ich finde die Aussage in Kohelet auch falsch: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“. Natürlich, alle Menschen sterben. Dennoch gibt es auch positive Entwicklungen, vielleicht sogar doch Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Dass heute sehr viele Menschen die universal geltenden Menschenrechte richtig finden, ist ein Fortschritt, selbst wenn sich sogar demokratische Politiker aus Egoismus etc nicht daran halten.

Ich finde die Aussage Kohelet falsch: Je mehr Wissen, desto mehr Schmerz.

Heute gar nicht annehmbar ist das Denken, auch der Krieg habe seine Zeit, also seinen Kairos. Gewöhnung an den Krieg als etwas weisheitlich Normalem ist grundlegend falsch.

Ende von Kap. 3 dieser furchtbare Satz: Der Mensch hat vor dem Tier keinen Vorzug.

Kurz und gut: Man lese manchmal das Buch Kohelet, kehre dann aber zum eigenständigen, umfassend slebstkritischen Denken der Philosophie zurück.

Wie viel seelisches (Un)Heil dieses Buch Kohelet unter den Frommen angerichtet im Laufe der Jahrhunderte der immer wiederholten Lesung im Gottesdienst und der privaten Lektüre, wäre eine interessante Studie.

Für Kohelet endet offenbar das menschliche Leben mi dem Tod. In der christlichen Tradition hingegen haben sich, den Evangelien folgend, Vorstellungen von der Auferstehung durchgesetzt, als Formen des Ewigen im Menschen. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Literaturhinweis:

Norbert Lohfink, Kohelet, Ein Kommentar, Echter Verlag, 3. Aufl. 1986, 86 Seiten. Antiquarisch preiswert zu haben!

Die Weisheit des Alten Testaments. DTV und C.H. Beck Verlag, 2007 (hg. Bernhard Lang) . 6 Euro.  Aus der empfehlenswerten preiswerten Kleinen Bibliothek der Weltweisheit. Nebenbei: Dort auch von Baltasar Gracian, Handorakel und Kunst der Weltklugheit.

Zur griechischen Weisheit der Philosophen:Sie die wichtigen Werke des Philosophen Pierre Hadot. Sieh den Link zu einem Beitrag von Christian Modehn

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

“Georgien” – ein Länderporträt. Zur Buchmesse aktuell!

Ein Buch von Dieter Boden im Ch. Links Verlag Berlin

Von Christian Modehn

Über die Gegenwart des Stalin-Kultes in Georgien noch heute berichtet jetzt auch sehr anschaulich Christoph Dieckmann in “DIE ZEIT” vom 13. September 2018, Seite 21. “Alles Rote haben wir entfernt” ist der (ironische) Titel…

Georgien wird in diesem Herbst in Deutschland mit besonderem Interesse bedacht: Die Republik im Kaukasus ist Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2018 (vom 10.bis 14. Oktober). Eine Chance, sich mit dieser wohl immer etwas stabiler werdenden Demokratie näher zu beschäftigen. Georgien wendet seinen politischen Blick und sein ökonomisches Interesse immer mehr Richtung Europa. Die meisten Georgier, so hört man, seien optimistisch und fürchten vor allem nur Russland… (Schon 1801 geschah die erste Annexion Georgiens durch Russland…)

Als Reiseziel wird jetzt Georgien schon entdeckt und nach der Buchmesse sicher weitere touristische Leidenschaften wecken… Als 2011 Island Ehrengast der Buchmesse war, folgte ein wahrlicher Touristenstrom auf die Insel, was den Isländern nicht immer sehr angenehm ist…

Ein GEORGIEN – Länderporträt liegt jetzt aktuell vor: Dieter Boden kennt das Land durch viele Besuche, auch im Rahmen der OSZE- und UN- Missionen. Er bewertet Georgien, eine parlamentarische Demokratie seit September 2017, als „Muster der Stabilität“ (61). Ein Satz, der stimmt, zumal, wenn man das weite autokratische Umfeld in der Nachbarschaft betrachtet.

Dieter Bodens 200 Seiten umfassendes Buch bietet vor allem ein historisches und politisches Basis-Wissen sowie auch viele Hinweise zum Tourismus in der Hauptstadt Tbilissi und der Umgebung. Dass gastronomische Tipps nicht fehlen, ist bei der Qualität von Wein und Küche in Georgien klar, schon die Sowjetbürger schätzten die in dieser Hinsicht aus dem öden Rahmen der Sowjetkultur fallende „föderale“ Republik der UDSSR.

Seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion hat Georgien fast 1,5 Millionen Einwohner verloren, sehr viele wanderten nach Westeuropa aus, auch in Russland leben noch 600.000 Georgier.

Dieter Boden schildert selbstverständlich die politischen Entwicklungen seit der Unabhängigkeit 1991, er erwähnt differenziert die Rolle von Eduard Schewardnaze, spricht von dem umstrittenen Präsidenten Saakaschwili: „Zuletzt sah er sich Vorwürfen der Menschenrechtsverletzung und der Toleranz von Folter in den georgischen Gefängnissen ausgesetzt“ (Seite 57), er gilt heute auch in Georgien als korrupter Politiker. Inzwischen lebt er wohl in den Niederlanden…Problematisch bleibt die durch die russische Intervention beförderte Abspaltung von Abchasien und Südossetien (2008). Russlands politische „Qualität“ zeigt sich abermals in der Errichtung eines Stacheldrahtzaunes zwischen Südosstien und dem georgischen Staatsgebiet (60). Auch über den Georgier Josef Stalin und die Fortdauer seines Kultes im Geburtsort Gori berichtet der Autor, er vermutet sogar kleine Stalin – Büsten in einigen Wohnzimmern Georgiens immer noch. (43 ff.) Ein wirkliche Aufarbeitung der Bedeutung des Massenmörders Stalin „geht man in Georgien schlicht aus dem Wege“ (44).

Dieter Boden spricht auch ausführlich über die Rolle der georgisch-orthodoxen Kirche, die seit dem 4. Jahrhundert schon eine Art Zusammenhalt unter Georgiern stiftet, nicht zuletzt auch durch ihre ausdauernde Pflege der georgischen Sprache (19), dabei aber vertritt diese Kirche gesellschaftlich gesehen heute sehr reaktionäre Positionen, etwa was den auch rechtlich fixierten Respekt der Homosexuellen angeht (164). Eine Demo für die Menschenrechte der Homosexuellen wurde 2013 mit massivem Klerikeraufgebot behindert und zerschlagen. Dieser Klerikalismus als Vorherrschaft einer Kirche passt nun gar nicht in eine Demokratie! Die Berliner Zeitschrift SIEGESSÄULE berichtet über die aktuellen Probleme homosexuellen Lebens und Respektes in Georgien in der Ausgabe Heft Juli 2018. Bezeichnenderweise wurde der „Welthomo-Tag“, also der 17.5., von der georgischen Kirche zum Tag der „Reinheit der Familie“ erklärt. Anders gesagt: Diese Christen glauben, rassistisch, immer noch, Homosexualität sei Schmutz für die Familie (siehe dazu die knappen Hinweise S. 164). Man denkt bei so viel klerikalen Hass auf Homosexuelle an die alte Erkenntnis: Am stärksten hassen verklemmte Homosexuelle die offen lebenden gays…

Von der Verständigung oder gar der Versöhnung der getrennten Christen hält diese Orthodoxie dort gar nichts, schon 1997 ist die georgische Kirche aus dem Weltkirchenrat (Genf) ausgetreten. Und man sollte diese Christen also eher besser rechts liegen und in Frieden lassen, als sich um Dialoge mit ihnen zu bemühen. Papst Franziskus tat das noch, als er im September 2016, freundlich wie er ist, den georgischen Patriarchen Ilia II. (geboren 1933) begrüßte und ihn zum gemeinsamen Gottesdienst einlud. Daraufhin wurde der Papst von georgischen Popen als Antichrist bezeichnet (S. 163). Etwa 500 Katholiken sollen noch in Georgien leben. Nebenbei: Patriarch Ilia II. war als damaliger Bischof von Batumi führendes Mitglied der kommunistisch gesteuerten „Christlichen Friedenskonferenz“ in Prag. In diesen pro-sowjetischen Kreisen fühlte er sich einst wohl, da war er auch auf der Seite der Machthaber; heute verlangt er, dass etwa Abchasien, „relativ selbständig“, immer noch unter seinem georgischen Kirchenregiment leben sollte. Dass der greise Patriarch etwas für Arme tut, soll nicht geleugnet werden, dies wird im Buch aber nicht erwähnt.

Einige interessante Details für religionswissenschftlich Interessierte etwa zu „vorchristlichen Bräuchen“ in Abchasien bietet das Buch (S. 84), die Informationen zur reichen georgischen Literatur und Poesie fallen leider knapp aus, Nikolaus Barataschwili wird erwähnt, der „Hölderlin Georgiens“ (S. 86). „ Perlentaucher.de“ hat eine Liste georgischer Autoren publiziert: https://www.perlentaucher.de/buchKSL/buecher-aus-und-ueber-georgien.html?p=2

Für mich ist es sehr bedauerlich, dass der große georgische Philosoph Merab Mamardaschwili (1930 wie Stalin in Gori geboren, gestorben 1990) in dem Buch nicht erwähnt wird; er lehrte auch in Russland und war ein humanistischer Denker als Kenner der Werke vor von Descartes und Kant. Der russische Philosoph Michail Ryklin hat kritische Würdigungen über Mamardaschwili geschrieben. Auch Gorbatschow kannte ihn. In einem Interview mit Annie Eppelboin in Frankeich sagte er: „Die totalitäre Gesellschaft erschafft eine Sprache, die das Erwachen ausschließt. Du kannst sterben, ohne je entdeckt zu haben, was wirklich dein Gefühl ist. Als ich jung war, waren die Leute vom Komsomol die Verwalter des Gemeinwesen, auch des sozialen Körpers. Sie verwalteten auch mein Denken“. (siehe „ La Penesse empéchee“).

Bei einer zweiten Auflage könnten die genanten fehlenden Aspekte noch eingefügt werden; falls nicht: Das Buch ist trotzdem sehr lesenswert…es weckt Interesse an einem sich europäisch fühlenden Land im Kaukasus.

Dieter Boden, Georgien. Ein Länderporträt. 200 Seiten. 18 Euro, Berlin 2018, Ch.Links Verlag.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Mai 68 und die katholische Kirche … und die Klöster im Mai 68

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Mai 68 und die katholischen Klöster: Wenn eine uralte Tradition in Europa verschwindet: 1996 lebten 42.000 Frauen und Männer in Klöstern in Deutschland; im Jahr 2017 sind es nur noch 20.0000, die allermeisten im “Seniorenalter”….

Ergänzung am 6.5.2018: Ich habe mehrfach – ohne Erfolg – gefordert, dass auch die Orden und Klöster, der Armut verpflichtet, ihre Finanzen freilegen. Nun hat der bekannte Bestseller Autor Pater Anselm Grün OSB von Münsterschwarzach zugegeben, dass er etwa 10 Millionen Euro durch Spekulation verloren hat. Das ist immerhin ehrlich, zeigt aber die Dimensionen der Finanzgeschäfte der armen Klöster, die zudem ständig um Spenden betteln. Hier klicken.

 

ERSTER TEIL:

Mein Leben im Kloster

Philosophische Religionskritik ist immer auch kritische Reflexion auf die historischen und gegenwärtigen Formen von Kirchlichkeit. Und dazu gehört die immer noch eher verschlossene Welt der Klöster, trotz all der „offenen Türen“, die man jetzt dort werbend organisiert. Ihre Finanzen legen die Orden – im Unterschied zu den Bistümern – nicht einmal ansatzweise frei.

 

  1. Was ich in diesem Essay über „Klöster und Mai 68“ schreibe, habe ich persönlich erlebt. Wie so oft: Ausführlichere Informationen zur „Geschichte des auch in Klöstern immer noch vorhandenen privaten Lebens“, hätte es nur in einer anonymen und fiktiven Form geben können. Ein Roman kann manchmal ehrlicher sein als ein Tatsachenbericht… Es ist notwendig, zuerst ausführlicher das thematische Umfeld im „katholischen Deutschland“ zu skizzieren.
  1. Mein Beitrag will zu einer historisch – kritischen Untersuchung des Themas: „Die Klöster und der Mai 68 in Deutschland“ auffordern. In der aktuellen Forschung der (Kirchen-)Geschichte wird dieses Thema nicht bearbeitet. Dabei gibt es noch Zeitzeugen.
  2. Das Thema „Klöster und Mai 68“ ist alles andere als marginal. Die Entwicklung der katholischen Klöster seit 1968 spiegelt die grundlegende Veränderung des Katholizismus an einer wichtigen, zentralen Schaltstelle katholischen Lebens. Klöster, Mönche und Nonnen waren (und sind ?) „Vorzeigeobjekte bzw. Vorzeige-Subjekte“ des Katholizismus. Heute ist es eine Tatsache: Die meisten Klöster in Deutschland und weiten Teilen Europas gleichen eher Altersheimen, wenn die Klöster nicht längst aufgeben und für gutes Geld verkauft wurden. Dies ist auch eine Untersuchung wert.
  3. Das seit 1968 anhaltende „Verschwinden“ der Klöster, und damit der Nonnen, Mönche und Ordensleute im allgemeinen hat mit einem „unbearbeiteten Mai 68“ gerade INNERHALB der Orden zu tun. Ein definitives Verschwinden des Ordenslebens wäre in Europa bei einer großen geistigen und theologischen Offenheit nicht nötig gewesen. Indem man aber nach wie vor nur unverheiratete (nicht offen homosexuell lebende) Katholiken als Mitglieder respektierte, die dann auch zu einer „ewigen Bindung“ an den Orden bereit sein mussten , hat man (d.i. der Vatiukan) sich nach 1968 förmlich aus der offenen, immer auch „relativen“ Kultur der Gegenwart verabschiedet. Diese bevorzugt eher kürzere Lebensbindungen und kein vernünftiger Mensch lässt es für sich selbst noch zu, dass man sich Gott weihen soll, aber dabei auf Liebe, auf erotische und sexuelle Liebe verzichten muss. Mit anderen Worten: Die Klöster sind auch selbst schuld, dass sie in Europa heute verschwinden.
  4. Zum theologischen Hintergrund: Der „katholische Mai 68“ fand zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Reformkonzils (Dezember 1965) statt. Dieses Konzil hatte unter vielen Katholiken, auch in Deutschland, Interesse, Anteilnahme, wenn nicht Euphorie geweckt und auch Ängste der sehr Konservativen und Reaktionären erzeugt: Sie hatten sich schon während des Konzils vereint als einflussreiche Minderheit (Ottavini, Ruffini, Lefèbvre, Sigaud, zum Teil auch Katrdinal Bengsch, um nur einige Namen zu nennen).
  5. Am 25. Juli 1968 veröffentlichte Papst Paul VI. seine Enzyklika „Humane Vitae“, die jegliche „künstliche Geburtenregelung“ verbot, die sonst eigentlich geschätzte Gewissensentscheidung katholischer Frauen und Männer diskriminierte und dadurch den Katholizismus sogar noch hinter das Mittelalter zurückschleuderte. Die Autonomie der Person, das große Thema des Mai 68, wurde total ignoriert. Die Kirchenführung im Vatikan lebte 1968 kulturell förmlich wie auf dem Mond; sie stand außerhalb des allgemeinen, reflektierten ethischen Empfindens der “Moderne“. Die Stimmung unter gebildeten, kritischen Katholiken war entsprechend sehr mies, manchmal rebellisch, aber wirksame Proteste gegen diese Kirche gab es kaum: Die Austritte aus der römischen Kirche hielten sich 1968 und einige Jahre danach noch in Grenzen. Die autoritäre Bindung, voller Angst vor Ungehorsam, war unter Katholiken noch die Haupttugend.
  6. In Lateinamerika ging es auch turbulent zu im Katholizismus: Vom 26. August bis zum 8.September 1968 fand in Medellin, Kolumbien, die erste, die berühmte lateinamerikanische Bischofskonferenz statt. Dort verpflichteten sich die Bischöfe, zumindest in ihrem Abschlussdokument, den Armen Vorrang und Respekt zu gewähren. Der Theologie der Befreiung wurde sozusagen eine gewisse Berechtigung zugesprochen. Diese qualitativ neue Theologie hätten die Amtskirche und Rom später aber am liebsten bald wieder ausgelöscht: Der Vatikan fand wenige Jahre später die Studien des angeblich marxistischen Leonardo Boff häretisch, Gustavo Gutiérrez hingegen galt als akzeptabel. Kardinal Müller nennt merkwürdigerweise Gutiérrez heute seinen Freund.
  7. Am 7.September 1968 erschien die erste Ausgabe der für katholisch Verhältnisse progressiven katholischen Wochenzeitung PUBLIK. Dieses katholische publizistische „Wunder“ dauerte nur einige Monate, bis zum November 1971. Dann wurde PUBLIK von den Bischöfen verboten. Angeblich fehlte ihnen das nötige Geld. Viele Millionen DMark stellten die Bischöfe (aus Kirchensteuergeldern) kurz darauf für die CDU Wochenzeitung Zeitung Rheinischer Merkur zur Verfügung. Die Bischöfe zeigten sich wieder einmal als Parteigänger der CDU/CSU.
  8. Der 82. Deutsche Katholikentag fand vom 4. bis 8. September 1968 in Essen statt, er war sicher einer der am deutlichsten von Kontroversen geprägte Katholikentage. „Fast alle TeilnehmerInnen waren für die Pille“, hieß es in einem Kommentar. Der deutsche Katholizismus erlebte eine gewisse aufmüpfige, rebellische Gruppierung. Sie wurde zu Beginn von der immer allmächtigen Hierarchie geduldet, wohl auch belächelt. Einige Hierarchen taten nach außen so, als freute sie sich über die Pluralität. Tatsächlich aber wollte der höhere Klerus die Vorherrschaft über die Kirche nicht aufgeben. Später (1971 – 1975) wurde in Würzburg eine katholische Synode veranstaltet, aber synodal, d.h. demokratisch organisiert, wurde die Kirche natürlich nicht. Viele damals engagierte Katholiken nannten ihren Einsatz nur traurig „eine Art Glasperlenspiel“, ein wirkungsloses Debattieren, eine Freizeitbeschäftigung…
  9. In diesen bewegten Wochen also trat ich in ein Kloster ein. Ich war, von meiner Heimat Berlin kommend, seit September 1968 Novize im Kloster St. Augustin bei Bonn, das Kloster war eine – staatlich anerkannte – philosophisch – theologische Hochschule. Der Orden nennt sich „Gesellschaft des Göttlichen Wortes“ (SVD); in Deutschland wegen des Hauptklosters in Holland in Steyl wird der Orden oft „Steyler Missionare“ genannt. Der Orden zählte damals weltweit ca. 5000 Mitglieder. In St. Augustin lebten ca. 170 Ordensleute, Priester, Ordensbrüder sowie ca. 120 Ordensstudenten und Novizen. An der Hochschule studierten nur Ordenskandidaten, also keine Frauen, auch keine Ordensschwestern. Es gab auch keine Frauen unter den Dozenten. Frauen waren für uns nur sichtbar in den Gestalten der kaum Deutsch sprechenden jungen jugoslawischen Nonnen, sie arbeiteten in der großen Küche. Dadurch konnten sie für ihren Orden in Jugoslawien – wie Gastarbeiterinnen – Geld überweisen. Frauen waren auch in den zahlreichen Betrieben tätig, wie etwa der „Missionsprokur“, die sich um Informationen aus den so genannten Missionsländern, vor allem aber ums Spendensammeln kümmerte. Die tatsächliche Drecksarbeit, das Saubermachen in den großen Räumen usw. leisteten Laien, unterstützt von einigen Ordensbrüdern.
  10. Ich bin sicher, dass diese Strukturen einer eher abgeschotteten männlichen Führung in allen Klöstern und Klosterhochschulen bestimmend war. Umgekehrt gab es in Frauenklöstern eben Frauen als Priorinnen, aber sie durften als Frauen nicht das Wesentliche im Klosterleben vollziehen: Die Messe feiern, dafür wurde immer ein Priester (auch als „Beichtvater“) benötigt.  Künftige Priester erlebten also in diesen Klöstern Frauen als Dienerinnen des Klerus. Und die Ordensleute verdienten sich ihren Lebensunterhalt nicht durch ihrer Hände (Schreib)- Arbeit, sondern man lebte vor allem von Spenden, auch von den sprichwörtlichen Spenden des armen Mütterchens sowie – wie in unserem Kloster – durch den Verkauf ordenseigener Zeitschriften…Eine gewisse Dekadenz des Sich – Bedienen – Lassens prägte das Ganze. Lächerlich erschien es mir manchmal, wenn ich an das Gelübde der Armut dachte: Denn tatsächlich wurde ich ja wie alle Ordensleute rundherum bedient und umfassend versorgt, selbst wenn ich meist nur ein Taschengeld verfügte. Wenn ich heute in den Großstädten die letzten verbliebenen Ordensleute an Bettlern und Obdachlosen vorbei gehen sehe, frage ich mich: Wer ist da wirklich arm? Die gut rundherum versorgten, sich arm nennenden Ordensleute gewiss nicht.
  11. „Mein“ Kloster war also eine sehr große, kaum überschaubare Kommunität (oder sollte man treffender von „Ansammlung von vielen“ sprechen?): Die Patres hatten ihren Speisesaal, die Ordensbrüder ihren eigenen, die Klerikerstudenten und Novizen wiederum ihren eigenen. Ebenso verhielt es sich in den „Lesesälen“ den Zeitschriften, ebenso in den Räumen, in denen das Fernsehen gestattet war. Bei dieser Größe und den ständig durchreisenden Missionaren aus aller Welt konnte es sein, dass sich ein Novize inmitten fremder Männer befand, die dann offiziell „Mitbrüder“ genannt wurden
  12. Als ich in das Kloster (mit der Hochschule) eintrat, waren einige STUDIEN Reformen bereits von den Ordensstudenten durchgesetzt worden, also der rebellische Elan hatte schon 1966 gewirkt. So wurde Pater Johann Haverott, seit Jahrzehnten ein Dozent für dogmatische Theologie, bestreikt: Die wenigen Publikationen dieses „Professors“ befassten sich mit dem Wunder in Fatima… Die Studenten konnten es nicht mehr ertragen, von ihm Vorlesungen zu hören, die das 2. Vatikanische Konzil missachteten. Der Streik hatte Wirkung: Pater Haverott wurde als Dozent pensioniert, lebte aber noch am Rande der gesamten Kommunität. Zudem war es dem Protest der Ordensstudenten zu verdanken, dass die Vorlesungen nicht länger in lateinischer Sprache, sondern auf Deutsch gehalten wurden. Es ist unbekannt in der interessierten Öffentlichkeit, dass bis Mitte der neunzehnhundertsechziger Jahre Vorlesungen in katholischer Theologie in den kircheneigenen, aber staatlich anerkannten Hochschulen (auch in Rom) auf Latein gehalten wurden. Es gab die berühmten Lehrbücher, etwa zur Moraltheologie, die auf Deutsch erschienen waren, aber heikle Themen, etwa zur Sexualmoral, nur auf Latein darstellten. Mir liegt das damalige Standardwerk „Katholische Moraltheologie“ von Pater Heribert Jone, 15. Auflage 1953, Schöningh Verlag noch vor, in dem ab Seite 200 die Homosexualität auf Latein besprochen wird unter dem Titel „Perversio sexualis“. Offenbar hatten die damaligen Theologen Angst, dass sich studentische Leser auf Deutsch mit dem Thema Sadismus, Masochismus, Fetischismus auseinandersetzen. Die Ordensstudenten sorgten auch dafür, dass sie im so genannten Rat der Hochschule mit einem Vertreter dabei sein konnten. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie die Ordensleitung, durch das Konzil und vielleicht auch durch die von Ferne aufgenommenen Informationen über den „Mai 68“ bestärkt, spürte: Die alte Kirchenwelt des autoritären Stils geht zu Ende. So war man halben Herzens zu Zugeständnissen bereit. Noch zu Beginn der sechziger Jahre lebten so viele Ordensstudenten in St. Augustin, dass nur große Schlafsäle zur Verfügung standen, so dass die Privatsphäre sehr eingeschränkt war. Als ich im Herbst 1968 in das Kloster kam, waren die Schlafsäle aufgelöst, es gab schon mehr Platz, weil viele junge Ordensleute das Kloster verlassen hatten. Aber die privaten Räume waren klein und bescheiden, nur die Patres, die sich als Dozenten oft großspurig Professoren nennen ließen, hatten große Zimmer. Als dann das Kloster immer weniger Mitglieder hatte, Mitte der neunziger Jahre, wurden dann die Wohn- Schlafzimmer mit Badezimmern ausgestattet. So gleicht eine Klosterzelle von einst heute einer Hotelunterkunft Qualität 3 Sterne…
  1. Zu meinem Noviziatskurs gehörten insgesamt 9 Abiturienten. Fünf kamen sozusagen „bruchlos“ nach dem Abitur in einem Internet der Steyler Missionare nach St. Augustin, vier kamen, wie ich, als so genannte Externe, von staatlichen Schulen. Wobei dieser Prozentsatz Externer sehr hoch war. Normalerweise kamen über alle Jahre – seit den zwanziger Jahren eigentlich – die Novizen aus den Internaten des Ordens. Manche waren dort schon mit Beginn der Sexta, als 9 Jährige, von den Eltern im Kloster – Gymnasium mit Internat abgegeben worden. Das Noviziat und der Ordenseintritt war sozusagen nur eine Fortsetzung der kindlichen (jugendlichen) Ausbildung. Wobei die Lebensbedingungen in diesen Steyler Internaten hier nur angedeutet werden können. Es gab nur Schlafsäle (schließlich mussten zwischen 1930 und 1960 bis zu 300 Knaben in dem Internat untergebracht werden), die Privatsphäre war eher minimal. Es gab eine streng geregelte Tageszeit, meist war der Besuch der täglichen Messe (in lateinischer Sprache) und einer Abendandacht obligatorisch. Der Orden kannte das so genannte Viertelstunden Gebet: Das heißt: Alle 15 Minuten wurde tagsüber – durch einen Glockenschlag signalisiert – jegliche Beschäftigung für einen Augenblick des Gebets und der Andacht unterbrochen. Wie viele theologische und philosophische Gedanken dabei unterbrochen wurden, ist eine offene Frage…Tatsache ist jedoch für diesen und viele andere Orden: Die Priester, denen später die Gemeinden begegneten, waren solche, die schon als Kinder mit dem Orden aufs engste verbunden warenund nur die klerikale Sonderwelt kannten. Viel Verständnis für „weltliche“ Lebensfragen konnte man von vielen dieser Priester nicht erwarten. Sie waren oft treu ergebene Funktionäre der Kirche.
  2. Als ich mit diesen hier nur kurz angedeuteten Tatsachen in meinem Kloster als Novize konfrontiert wurde, da fragte ich mich: Wo war ich gelandet? Ich hatte in meiner Heimat Berlin an einem staatlichen altsprachlichen Gymnasium Abitur gemacht; hatte danach ein Semester Philosophie und evangelische Theologie (als getaufter Katholik) studiert. Und wollte – naiverweise, musste ich schon bald mir sagen – über den Orden in Lateinamerika arbeiten. Das war mein Interesse. Nur eine starke Bindung an den Katholizismus durch die Familie erklärt mir mein Verhalten: Ich wollte als Ordensmitglied etwas Vernünftiges in Lateinamerika mit den Menschen dort tun. Damals gab es allerdings eher wenige säkulare Organisationen, die ein entsprechendes Angebot bereit stellten, anders als heute. Zudem: Ich wollte (eigentlich immer schon für Theologie und Philosophie interessiert) an einer kleinen Hochschule in Ruhe beides studieren. Dass die allermeisten Dozenten dort eher schwach waren auf ihrem Gebiet, kann ich hier nur andeuten. Viele trugen in ihren Vorlesungen seit Jahren schon die selben „Skripten“ vor oder schämten sich nicht, aus alten Büchern zur Kirchengeschichte, etwa von Bihlmeyer – Tüchle, einfach nur vorzulesen…  Das Angenehme aber an dieser Hochschule war die große Bibliothek, die ich seit dem Noviziat ständig besuchen könnte, auch abends, immer war sie offen. Welch ein Glück bei den sonst eher sehr mittelmäßigen Lehrveranstaltungen der Dozenten, sie hatten meistens und bestenfalls einen Doktortitel an einer römischen / vatikanischen Universität erworben, oft nur ein Lizenziat dort …
  3.  Von September 1968 bis Juli 1973 studierte ich an der Philosophisch – Theologischen Hochschule St. Augustin bei Bonn, als Mitglied der internationalen Ordensgemeinschaft „Gesellschaft vom göttlichen Wort“ (SVD).Da mir das reguläre Studienangebot dort nicht ausreichte, hatte ich die Möglichkeit, aus eigener Initiative zusätzliche Studienkreise und Gesprächskreise zu gründen und zu organisieren. Etwa: „Arbeitskreis Wissenssoziologie“ mit Dr. Karl HoheiselTheologische Wochenenden in dem zum Orden gehörenden Haus in Lohmar Hohn bei Siegburg, etwa über Transzendentale Theologie bei Karl Rahner oder kirchliche und autonome Moral.Dann gründete ich einen „Publizistischen Arbeitskreis“ mit dem Journlisten Edmund PlazinskiDann organisierte ich mit anderen Studenten eine Tagung über die lateinamerikanische Theologie der Befreiung im Juni 1973 in St. Augustin.Dann organisierte ich mit anderen Studenten eine Vortragsreihe „Christen und politisches Engagement“ , Vorträge u.a. von dem Dominikanerpater Prof. Paulus Engelhardt oder dem Marxisten Franz Marek (Wien).Dann gelang es mir, den Leiter der Beratungsstelle „Offene Tür Berlin“ (OTB) P. Michael van Leeuwen SVD zu einem Vortrag einzuladen.Oder ein Gespräch mit dem Dominikaner Pater Langer, Walberberg, über Heidegger.

    An der Uni Bonn konnte ich an mehreren Seminaren teilnehmen, u.a. bei den Philosophen Prof. Gerhardt Schmidt und den Theologen Prof. Heimo Dolch und Prof. Hans- Georg Geyer…

  4. Die jungen Ordensleute dort, die Theologiestudenten, gaben eine „hausinterne Zeitschrift“ heraus, zuerst mit dem heftigen Titel „Tarantel“, später dann milder „Fermente“. Dort wurden Vorschläge und Kritiken von Seiten der jungen Ordensmitglieder publiziert. Diese Zeitschriften waren bei der Ordensleitung nicht gerade beliebt, aber sie wurden wenigstens geduldet. Ich schrieb bald in FERMENTE einen etwas radikalen Artikel, in dem ich forderte, unser Orden sollte sich, auch dem Geist von 68 folgend, in ein „Internationales religiöses Dialogforum“ umwandeln: Anstelle der großen Klöster sollten kleine Wohngemeinschaften weltweit gegründet werden, in denen Ordensmitglieder mit Menschen anderer Religionen (auch Atheisten) zusammen wesentliche religiöse und philosophische Fragen besprechen und gemeinsam an gesellschaftlichen Projekten arbeiten. Dieser Vorschlag wurde noch nicht einmal öffentlich diskutiert.
  5. Als Novize habe ich am Anfang noch zwei oder dreimal meinen Novizenmeister fragen müssen, ob ich nach Bonn ins Kino gehen darf (ich hörte meine Freunde in Berlin geradezu lachen über meinen Ordensgehorsam). Irgendwann hörte diese Fragerei von selbst auf, es gab dann auch Hausschlüssel, so dass man sogar mal eine Spätvorstellung besuchen oder gar an einem philosophischen Seminar an der Universität Bonn teilnehmen konnte. Schließlich wurde jedem Ordensmitglied ein Taschengeld ausgezahlt, es waren, glaube ich, 20 DMark. Tatsächlich verfügten aber viele Ordensleute wohl über mehr Geld, meist durch Schenkungen aus dem Familienkreis, so dass man sich u.a. auch mit eigenen Büchern (oder Hemden usw.) nach eigenem Geschmack usw. recht gut eindecken konnte. Manchmal war so viel Geld übrig, dass man sogar mal in ein Restaurant gehen konnte. Diese eigentlich schlichten Beispiele zeigen, wie langsam, aber sicher sozusagen normale, sagen wir bürgerliche (im Doppelsinn von citoyen und bourgeois) Verhältnisse ins Kloster einzogen. Und die Mitglieder verbürgerlichten sich, das ist keine Frage. Man wurde durchaus gern ein bisschen bourgeois. Ich wurde dies wohl auch, weil die bürgerliche liberale Freiheit für ein Individuuum nun einmal etwas Unverzichtbares ist. Aber das war eher ein „schleichender Prozeß“, der sich langsam ausbreitete bis dahin, dass einige Patres ihren eigenen VW besaßen, „ein Geschenk von Mutti“, wurde gesagt…“Mein“ Kloster öffnete sich der Welt, übernahm selbstverständliche alltägliche Lebenspraxen aus der bürgerlichen Welt, aber keiner wusste so genau, wo die „Reise“ unter diesen Bedingungen hingeht. Die Öffnung zur Welt hin ist ja keine Verweltlichung, wie konservative Katholiken gern sagen. Denn in der Welt und der Gesellschaft ist so vieles Gute und Richtiges, dass man als Ordenschrist dies nur mit Freude annehmen kann. Aber nach den Jahren strenger Askese wurde dann Einstieg in die bürgerliche Welt vielleicht übertrieben. Und sehr viele junge Ordensleute verließen das Kloster. Heute studieren an der Hochschule St. Augustin noch 2 oder 3 aus Deutschland stammende Ordensstudenten, alle anderen sind wohl Laien, sie stammen aus China usw., auch Frauen sind als Studentinnen willkommen, eine neue, bessere Zeit des Studiums dort ist wohl ist angebrochen. Nur: Es sind eben fast keine Ordensstudenten mehr dort, mindestens fast keine aus Deutschland stammenden. Schlimm ist das für mich nicht, alte Systeme die sich nicht radikal wandeln, sterben, mindestens in bestimmten Regionen.
  6. Zurück zu 1968: Diese stetige und im ganzen von allen Betroffenen unreflektierte „Öffnung zur Welt“ berührte natürlich das Verständnis der drei Ordensgelübde, der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit. Das Gefühl, wirklich arm zu sein, hatte ich im Kloster nie: Ich war wie auch alle meine Ordensmitbrüder bestens umsorgt, brauchte nie Lebensmittel einzukaufen, brauchte nie zu kochen, ich kannte gar nicht die Brotpreise: Immer war der Tisch reichlich gedeckt, von morgens bis abends. Auch das Ordensgelübde Gehorsam wurde sehr menschlich ausgelegt, was ich ja sehr richtig fand, als Form des Dialogs: Je mehr Vernunft, um so besser! Noch in den fünfziger Jahren wurden Missionare von ihren Oberen irgendwohin mit irgendeiner Aufgabe geschickt, ohne auf die persönlichen Wünsche Rücksicht zu nehmen. Wie viele Missionare sind noch in den dreißiger Jahren an Tropenkrankheiten krepiert, weil ein solcher Einsatz ihrer körperlichen Konstitution nicht entsprach…Der Gedanke der Kollegialität und des Dialogs, vom 2. Vatikanischen Konzil propagiert, wirkte sich in meinem Kloster positiv aus. Oft ist allerdings der dialogische Gehorsam von Seiten der Leitung nur eine Verlegenheit, weil einfach so viele Stellen von so wenigen Ordensleuten zu besetzen waren, so dass der einzelne tatsächlich beinahe machen kann, was er will…Am schwierigsten ist es naturgemäß über das Gelübde der Keuschheit zu sprechen. Zum Thema Sexualität hat der „Mai 68“ im Kloster nicht stattgefunden. Es wurde damals insgesamt unter den Ordensstudenten über Sexualität geschwiegen, etwa auch darüber, wie die Patres mit ihren bevorstehenden Ordensaustritten und Heiraten umgingen, das wurde von uns abgeschirmt. Ich kam aus Berlin, wo in Studentenkreisen im Mai 68 das offene Wort selbstverständlich war. Im Kloster nun absolutes Schweigen, alles in dem Zusammenhang war peinlich, bloß keine gezielten Fragen stellen. Bloß keinen öffentlichen Disput! Man stelle sich das vor: Da leben 170 Männer auf engstem Raum zusammen und schweigen sich zu dem Thema aus… Ob das die seelische Gesundheit fördert, ist das noch eine Frage? Als ich einmal wissen wollte, was denn eine „echte Freundschaft“ sei, von der die neu formulierte Ordensregel SVD ausdrücklich spricht, wurde mir gesagt: „Na, ja, das ist halt eine wahre Freundschaft“. Meine Antwort: “Aha, Danke“…Irgendwann hörte ich so ganz versteckt und nebenbei, dass ein junges Ordensmitglied plötzlich über Nacht aus dem Kloster entlassen wurde. Man munkelte hinter vorgehaltener Hand, er sei „irgendwie und vielleicht homosexuell“. Das Wort homosexuell habe ich dort sonst kaum noch öffentlich gehört, in der Moraltheologie war nur von „Abweichungen und Verirrungen“ die Rede. Der Paragraph 175, aus der Nazizeit übernommen, hatte und hat die katholischen Gemüter vergiftet, er wurde ja erst 1969 abgeschafft. Schwule junge Ordensleute wurden zum Schweigen verdonnert, zur Nicht- Identität, zum Verstecken. Das hielt ich nicht lange aus…
  7. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Der Orden hat meine philosophischen und theologischen Interessen immer gefördert! Er hat mich etwa an Kongressen über den christlich – marxistischen Dialog teilnehmen lassen, er hat mir als Novizen schon die Teilnahme an den Salzburger Hochschulwochen erlaubt… Ich konnte den liberalen Marxisten aus Wien, Franz Marek, Chefredakteur des „Wiener Tagesbuch“, ins Kloster zum Vortrag einladen. Und ich konnte im Frühling 1973 zusammen mit drei Mitstreitern die erste Tagung in Deutschland über die lateinamerikanische Theologie der Befreiung anregen und auch organisieren. Aber längst hatte sich das Klima verändert, der Bischof von Essen, Franz Hengsbach, hatte als Chef des Hilfswerkers ADVENIAT und als Opus Dei Mitglied seine wilde Polemik gegen die Befreiungstheologie eröffnet. Da war eben eine Ordenshochschule zur „Ausgewogenheit“ verpflichtet. Dabei hätte es dieser neuen und noch unbekannten Theologie der Befreiung sehr gut getan, erst einmal als solche ausführlich diskutiert zu werden.Die Tagung war zwar ein großer Erfolg, aber sie zeigte mir, wie halbherzig auch ein „Missionsorden“ in Deutschland sich zur Stimme einer neuen Theologie in Lateinamerika macht. Auch kritische Informationen über schwerwiegende Vorgänge im Orden wurden nicht öffentlich diskutiert: Da gab es den brasilianischen Erzbischof Geraldo de Proenca Sigaud aus Diamantina, Brasilien. Er war Mitglied der Gesellschaft des Göttlichen Wortes. Während des Konzils gehörte er zum sehr konservativen Flügel, der alle Reformbeschlüsse ablehnte. Er hat, wie Nicolas Senèze schreibt, während des Konzils einen reaktionären Arbeitskreis von Bischöfen gegründet, dem dann auch Erzbischof Marcel Lefèbvre angehörte. Erzbischof Sigaud SVD war eng liiert mit der reaktionären „Bewegung für Tradition, Familie und Eigentum“. Sie hat eng mit den brasilianischen Militärs zusammengearbeitet. Eigentlich hätte dieses Thema auf die befreiungstheologische Tagung gehört, aber es wurde als unpassend zurückgewies Was die Spiritualität angeht, so gab es zumindest in den ersten Jahren den Willen, Neues zu versuchen: Messen wurde in kleinem Kreis, rund um einen Tisch, in einem der kleinen Gruppenräume gefeiert. Dass nicht der vorgeschriebene römische Kanon verwendet wurde, war eher selbstverständlich. Fast jede Messe wurde mir Gebeten von Huub Oosterhuis aus den Niederlanden gestaltet: Im ganzen waren meine Jahre im Kloster, vom September 1968 bis Juli 1973, von der Suche nach einem modernen Ordensleben geprägt. Erst spät wurde mir klar, dass dieses Projekt zum Scheitern verurteilt ist, solange das römische System als Herrschaft und Hort der Wahrheit fortdauert und sich durchsetzt. Lediglich den Talar gegen den Anzug einzutauschen ist eine reine Äußerlichkeit. Neuer Wein passt nicht in uralte Schläuche, zumal diese alten Schläuche permanent restauriert werden.
  8. Ab Herbst 1973 studierte ich in München in einem vom Orden so genannten „Freisemester“, um vor allem Philosophie zu studieren. Der Orden hat mir dies ermöglicht. Aber der Sprung – auch so vieler anderer junger Ordensleute – in eine normale studentische Freiheit wurde im Orden leider nicht reflektiert, es wurde nicht gefragt: Wie geht es mit den „Freisemestlern“ möglicherweise frei und anders als bisher dann im Kloster weiter? So galt wohl für die Ordensoberen das Freisemester als Intermezzo ohne Folgen für die Struktur des Ordens. Irgendwie hofften die Ordensleitungen insgesamt noch, das alte System irgendwie wiederherzustellen.26.
  9. Als ich 1968 an der Kloster- Hochschule St. Augustin bei Bonn zu studieren begann, gab es noch eine große Fülle ähnlicher Hochschule anderer Ordensgemeinschaften: Der Jesuiten in Frankfurt und München, der Pallottiner in Vallendar, die Oblaten in Hünfeld, die Redemptoristen in Hennef und Gars am Inn, der Franziskaner in München und Münster, der Kapuziner in Münster, der Dominikaner in Walberberg, der Picpus Missionare in Simpelveld Holland, der Salesianer in Benediktbeuern und so weiter und so weiter. Fast unglaublich, diese Fülle von theologischen Hochschulen. Was ist nur daraus geworden? Wohin ist diese ganze theologische Energie verdampft? Heute gibt es von allen diesen Ordenshochschulen noch drei oder vier. Sie können sich nur am Leben halten, weil sie ausländische Studenten (Chinesen, wie in St.Augustin), oder weil sie, wie in Vallendar auch medizinische Studien, anbieten. Die Hochschulen der Jesuiten erfreuen sich wohl großer Beliebtheit.. Insgesamt sind die Ordenshochschule aber in ihrer Existenz dadurch bedroht, dass es keine Ordensmitglieder mehr gibt, die an den Hochschule dozieren können und wollen. Das Ende dieser Hochschulen ist absehbar. Das Ordensleben wird in Deutschland in 20 Jahren an ein Ende kommen, einige Benediktinerabteien werden noch überleben, einige Jesuitengemeinschaften oder Dominikaner Kommunitäten auch. Viele Orden wollen in Deutschland dadurch überleben,dass sie Mitglieder aus Indien oder den Philippinen nach Deutschland holen, selbstverständlich auch aus Polen. In Holland kann man die Zahl der Klöster an einer Hand abzählen. Leider, sagen viele Holländer, die sich gern zur Meditation in Klöster zurückziehen. Über die durchschnittliche Altersstruktur der Klöster wird kaum gesprochen, 65 bis 70 Jahre ist üblich. Auch in Deutschland: Wer ist schuld für diese Entwicklung, noch einmal: Eben nicht nur der viel beschworene säkulare Geist, schon gar nicht der Atheismus, sondern die Mutlosigkeit, die geringe Reformbereitschaft der Ordensoberen.
  10. Im Jahr 1976 bin ich aus dem Orden ausgetreten, nachdem ich noch mein theologisches Schlussexamen gemacht hatte. Niemand hat meinen Austritt aus dem Orden mir gegenüber bedauert. Wer frei von seiner eigenen Sexualität spricht, wurde damals eher zur unerwünschten Person.Ich musste schmunzeln, als ich später las, dass von den fünf Jesuiten an der Amsterdamer Studentengemeinde vier heirateten und nur ein Homosexueller als Priester übrig blieb. Übrigens war er ein großartiger und aufgeschlossener, moderner Theologe und Studentenpfarrer…

Wer heute das noch verbliebene Klosterleben in Deutschland beobachtet, wird durchaus offene Strukturen und viel Gesprächsbereitschaft finden. Aber prinzipiell hat nichts verändert: Laien (sogar im ökumenischen Geist Protestanten) als voll berechtigte Mitglieder in den Klöstern als Mitglieder gibt es nicht. Einige Ansätze von assoziierten Mitgliedern mag es geben. Aber an der überlieferten, klerikal bestimmten Herrschaft hat sich nichts geändert. Einige junge Ordensleute haben im Umfeld des Mai 68 „das Wort ergriffen“, um ein berühmte Wort von Michel de Certeau SJ (prendre la parole) zum Mai 68 in Frankreich zu wiederholen, aber dieses Wortergreifen hat nur wenig vermocht bei den „ewigen“ Strukturen des römischen Katholizismus.

In Europa ist der Katholizismus mindestens von der Anzahl der so genannten praktizierenden Katholiken in seiner Existenz insgesamt bedroht. Was bleibt sind fundamentalistisch sektiererische Kreise, die sich obendrein noch selbst bekämpfen und zerreißen, wie es jetzt sogar deutsche Bischöfe vorführen…. Opus Dei, die Legionäre Christi, die Charismatiker, die Neokatechumenalen und viele andere Ultras bestimmen längst das Klima der katholischen Kirche. Über diese Gruppen umfassend kritisch und präzise mit Namensnennungen usw. zu berichten, wagt kaum ein Theologe. Ich habe 2015 einige Hinweise über die neuen sehr konservativen Orden veröffentlicht.

Zum Ende des westeuropäischen Katholizismus lese man nur die neuesten Studien von Soziologen und Theologen, etwa „Comment notre monde a cessé d etre chrétien, ed. du Seuil, Paris 2018. Über unsere Zeit (2024) als einer “post-katholischen Epoche” vor allem in frankreich siehe einen Beitrag von Christian Modehn LINK:

ZWEITER TEIL:

Junge Ordensleute in Paris als Rebellen

Ein Hinweis auf die Dominikanerhochschule

Von Christian Modehn

1.Auch die jungen Studenten des Dominikanerordens in Paris neigten im Mai 68 zur Rebellion. Und der Aufstand war wohl heftig. Dieser „Mai 68“ der Dominikaner fand auch präzise im Mai statt, vom 20. Mai bis zum 29. Juni 1968, berichtet der Politologe Yann Raison du Cleuziou in seinem Beitrag innerhalb der wichtigen Studie „A la gauche du Christ“, éd. du Seuil, Paris 2012, S. 314 ff. Es ist bemerkenswert, dass es überhaupt eine politologisch – soziologische Studie über einen zentralen Moment in der Geschichte der Orden in Frankreich gibt.

2.Diesem Beitrag folgend, nur einige Stichworte zur Rebellion der jungen Dominikaner-Studenten in ihrem Studienhaus in Etiolles bei Evry (bei Paris). Diese große Hochschule, auch traditionell Le Saulchoir genannt, hatte ein großes Renomé, wegen einiger herausragender Professoren, wie Pater Chenu oder Pater Congar, die immer wieder von Rom diskriminiert wurden wegen ihrer „neuen Theologie“, wegen ihres Eintreten für die Arbeiterpriester. Im 2. Vatikanischen Konzil kämpften sie dann an vorderster Front für die Kirchenreform.

Nach dem Protest der Studenten des Ordens, wurde die Hochschule dort 1971 aufgegeben und das Studium mit weniger Studenten nach Paris, in den Couvent Saint Jacques, Paris 13, verlegt. Leider zeigt der genannte Artikel nicht, welche Rolle die beiden genannten herausragenden Theologen bei der Rebellion ihrer jungen „Mitbrüder“ spielten. Ein anderer Dominikaner, Pater Jean Cardonnel, war eng mit dem allgemeinen Mai 68 verbunden, er deutete den Generalstreik im März 68 als eine Art „revolutionäres Fasten in der Vorosterzeit…“

3.Die Ordensstudenten protestieren zunächst gegen die Vorwürfe ihres Vorgesetzen, P. Besnard, der sie anklagte: „Ihr stellt Fragen, als wäret ihr die ersten, die neue Fragen stellen“. Eine neue Studienordnung sollte für die jungen Dominikaner erarbeitet werden, aber nur zwei von ihnen dürfen dann an den Beratungen teilnehmen. Dagegen protestiert die große Mehrheit der jungen Dominikaner. Sie beklagen die große Differenz zwischen dem Klosterleben und der erlebten (politisch – sozialen – kulturellen) Realität. Deutlich benennen die jungen Dominikaner ihre bereits gelebte Abweichung von den üblichen alten Ordensvorschriften: „Zum Chor-Gebet („vie chorale“) komme ich, wann ich will“. Ein anderer bekennt, eine Art taktischen Ungehorsam zu praktizieren, „um die Wahrheit unserer Ordensberufung im aktuellen Rahmen leben zu können“. Es gibt, so der Autor, eine Art Spott gegen die Ordens-Regel und damit die gesellschaftlichen und kirchlichen Regeln, was ein Charakteristikum ist für den Aufstand im Mai 68. Beklagt wird das Nebeneinander von offiziell Gesagten und wirklich Gelebten im Kloster. Ein junger Dominikaner sagt: „Man ist hier eher dazu verpflichtet, sich zu unterwerfen, als selbst zu denken“. Viele halten das Leben dort noch aus, so der Autor in dem genannten Buch, aber sie wissen: „Das wirkliche Leben ist anderswo“. „Unsere Riten in diesem Kloster dispensieren uns oft von brüderlichen Kontakten und ganz einfachen menschlichen Begegnungen“. Im Chorgebet, so wird berichtet, es dauert insgesamt täglich zwei Stunden, langweilt man sich. Im Studium glaubt man eher verformt als gebildet zu werden. Die Hochschule wird ein „System“ genannt. Die jungen Dominikaner, so berichtet der Autor, fühlten sich entfremdet: „Jeder macht die Erfahrung, nicht ganz bei sich selbst zu sein…“(S. 315).

4.Als Folge des Protestes wurden tatsächlich neue Formen des Zusammenlebens außerhalb des großen Klosters versucht. Aber, so möchte ich gar nicht zynisch sagen: Wer einmal die Freiheit des In der Welt Seins erlebt hat, bei allen Belastungen auch dieses Lebens, der kehrt nur ungern in die Enge eines Klosters, wenn nicht die Unfreiheit, zurück. Nur dann, wenn er sich zu schwach für diese Welt fühlt oder im Rückzug aus dieser Welt meint, Gott am besten dienen zu können. Der Dominikaner Orden in Frankreich, in dem sich eigentlich eine gewisse intellektuelle Elite versammelte, so wurde behauptet, hat in der Folge des Mai 68 sehr viele Mitglieder verloren.

5.Versuch einer Zusammenfassung

Es sind also heftigste Erfahrungen und Einsichten junger Ordensleute, dass die überlieferte, routionierte alte Klosterwelt nicht mehr akzeptabel ist; dass neue Themen das Theologie – Studium bestimmen müssen; dass Menschlichkeit wichtiger ist als die seit Jahrhunderten erzwungene klerikale Konformität, dass für die meisten eine Abgeschlossenheit in eine Klosterwelt wie die Flucht in ein gesellschaftliches und kulturelles Getto erscheint. Klosterleben und Weltflucht sollte nicht identisch sein. Wobei die Distanz zur „Welt“ gerade mitten in der Welt neu gefunden werden müsste. Aber diese Dialektik des In der Welt Seins war den wenigsten noch nicht einmal bewusst. Nur starke Persönlichkeiten können diese Dialektik wohl leben, mitten in der Welt und doch außerhalb von ihr zu sein.

Mit dem Mai 68 war die konkrete politische und kulturelle Gegenwart in das Klosterleben „eingebrochen“. Der Mai 68 fegte Unerträgliches weg, etwa den blinden Gehorsam gegenüber dem Oberen. Aber alle katholischen Klöster sind, mehr oder weniger, letztlich doch immer noch absolut eingebunden in das römische System der Kontrolle. Der Suche nach Ungehorsamen, Ketzern etc., wurde unter dem polnischen Papst und Ratzinger wieder Alltag.

Tragisch ist für die Entwicklung einer modernen Kirche und eines modernen Klosterlebens: Am traditionellen und umfassenden System der Dogmen und der Moral-Lehre wurde absolut nicht gerüttelt, keine veraltete Lehre wurde aufgegeben. Der Katechismus der vielen zu glaubenden Wahrheiten wurde nicht etwa immer schmaler, moderner, sondern immer dicker. Diese alte Glaubenswelt mit ihren Sprüchen und Bekenntnissen wollten nur wenige noch mittragen und nachsprechen und gar diese noch anderen erklären. Die Krise rund um den Mai 68 war also in der katholischen „Klosterwelt“ nicht nur

der eher “politische“ Versuch, institutionell und rechtlich etwas mehr Demokratie in dieser alten Welt zu wagen. Der Mai 68 führte zu dem bewussten (oder nur unbewusst vollzogenen) Eingeständnis: Die Last der alten und veralteten Glaubenslehre und Moral kann ich als reflektierter Mensch des 20. Jahrhundert nicht mehr als für mich gültig und bestimmend akzeptieren. Weil sich diese Einsicht bei so vielen in Europa durchsetzte, sind die Klöster heute in Europa und Amerika weithin leer. Und es ist eine vage Hoffnung, wenn in einer Kirchenzeitung (Tag des Herrn, vom 15.4. 2018) vollmundig auf Seite 1 behauptet wird: “Klöster wird es immer geben“. Ja, einige wenige in Europa und zahlreiche in Indien oder auf den Philippinen wird es „immer geben“, dort, wo die jungen Frauen und Männer aus ärmlichen Verhältnissen im Kloster auch Karriere machen wollen. Wie einst in Europa, seit dem Mittelalter, als der Eintritt in ein Kloster ein Schritt in soziale Sicherheit, Bildung und Karriere bedeutete. So lange also auch die ärmere Mittelschicht in Afrika und Asien so arm bleibt, wie sie heute ist, wird es wohl dort noch lange Zeit katholische Klöster geben. Dieser Pragmatismus der ärmeren jungen Menschen, in Klöster einzutreten, ist menschlich verständlich, sicher sind auch explizit religiöse Motive ausschlaggebend. Aber insgesamt gilt wohl: Viele Klöster gibt es nur dort, wo die demokratische Kultur nicht weit entwickelt ist und die Anzahl der Menschen aus der armen Mittelschicht noch groß ist. Es ist statistisch erwiesen: Die meisten Mitglieder haben viele Orden heute in Indien, auf den Philippinen oder in Kolumbien, nicht aber in Spanien, Deutschland oder Frankreich… Aus Afrika und Asien kommen hunderte von Ordenspriestern nach Deutschland, Frankreich, Holland, Belgien usw., sie sind sozusagen “Gastarbeiter” und ersetzen den Klerus, der in Europa ausstirbt. Diese Priester aus Afrika und Asien (werden sie dort nicht gebraucht??) stärken also in Europa das Fortbestehen der alten Klerus -Kirche und verhindern so das Entstehen einer neuen, von Laien verantwortlich gestalteten ent – klerikalisierten Kirche…

Das langsame Verschwinden der Orden und Klöster aus Europa ist in gewisser Weise auch gesellschaftlich problematisch, weil Formen eines letztlich doch noch etwas radikaleren Lebensentwurfes verschwinden. Wenn es keine Häuser und Menschen der kritischen „Weltferne“ und reflektierten Weltfremde mehr gibt in dieser Konsumwelt, wird alles Leben noch eindimensionaler.

Es gibt zwar viele neu gegründete charismatisch geprägte und fundamentalistisch ausgerichtete, absolut dem Papsttum und den Dogmen ergebene Ordensgemeinschaften: Sie finden einen gewissen Zuspruch. Denn sie versprechen ihren Mitgliedern unerschütterliche, militante Gewissheit und eine anti-intellektuelle Weltferne, die schon wieder ins Getto einer römisch – katholischen Gegenwelt, eines Getto, führt. Diese neuen fundamentalistischen Orden sind zwar „vorhanden“, aber sie spielen im kulturellen und theologischen Leben keine Rolle. Sie pflegen die uralte Volksfrömmigkeit und giften gegen alle Katholiken, die noch an eine moderne katholische Kirche aufbauen wollen. Aber auch diese progressiven Kreise werden aus der Kirche vertrieben, sie sterben aus. Der heutige Trend zum Konservativen und Reaktionären betrifft als auch die Kirche und die Klöster.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Literaturhinweise zum Kloster in Deutschland:

Zur ersten wissenschaftlichen Tagung über die lateinamerikanische Befreiungstheologie im Mai 1973 in Deutschland, in Sankt Augustin bei Bonn: siehe: Christian Modehn, Orientierung, Zürich, 1973, S. 145f

Zur völlig unaufgearbeiteten Beziehung von Erzbischof Sigaud svd und dem traditionalistisch – integristischen Erzbischof Marcel Lefèbvre: Nicolas Senèze, La crise intégriste, Bayard, Paris 2008, dort s. 37f.

Zum schwierigen Umgang der Befreiungstheologie mit der schwulen Bewegung in Lateinamerika: André Sidnei Musskopf, Ein Spalt in der Tür. Persönliche Erfahrungen als schwuler Theologe im Kontext Lateinamerikas, in: Werkstatt Schwule Theologie, München, Heft 3 und 4, 2005, dort S. 112 ff.

 

 

 

 

Faschistische Wurzeln der „konservativen Revolution“: Charles Maurras

Ein Hinweis von Christian Modehn (anlässlich des Geburtstages von Charles Maurras am 20.4. 1868).

Angesichts der politischen Wende (bzw. „Revolution“) nach rechts und rechtsextrem in ganz Europa ist es nötig, an die „Gründerväter“ dieser Ideologie zu erinnern. Dabei wird eine Figur aus der rechtsextremen Ecke wieder hoch gespielt: Der französische Schriftsteller Charles Maurras (20.4.1868 bis 16.11.1952). Die Renaissance dieses Vordenkers der politischen Bewegung „Action Francaise“, „die unverkennbar faschistische Züge trägt“, so Ernst Nolte, 1971 und auch der Soziologe Zeev Sternhell, ist nicht nur auf Frankreich beschränkt. Wer die ideologischen Wurzeln des rechtsextremen Denkens auch in Deutschland heute freilegen will, muss sich leider mit Charles Maurras auseinandersetzen. Ausdrücklich weist etwa Wolfgang Kowalsky in seinem Buch „Kulturrevolution?“ (1991) darauf hin, dass alles heutige Gerede von „konservativer Revolution“ in der Action Francaise und damit in Maurras seine Bezugspunkte hat (S.28).

Maurras hatte ein Ziel: Die republikanische, die demokratische und linke Kultur zu bekämpfen und zu zerstören, dies gehörte förmlich zur „Kultur“ jener beträchtlichen Kreise, die die Französische Revolution pauschal als Katastrophe bewerteten. Maurras gehörte wie Edouard Drumont zu den Wortführern des militanten Antisemitismus seit der Affäre Dreyfus. Der massive Einfluss der Action Francaise und damit von Maurras bis heute verdankt sich nicht der direkten politischen Aktion, man arbeitete vielmehr im entscheidenden „Vorfeld“ der ideologischen Bildung und geistigen Verführung und Verblendung. Die Ideologie von Maurras ist ein Plädoyer für die wesentliche Ungleichheit der Menschen, für das Führerprinzip, für den Antisemitismus, für die Gewalt bei innenpolitischen Konflikten….Zum besonderen Profil von Maurras: Er nannte sich Atheist, aber katholisch. Damit wollte er sagen: Der christliche Glaube interessierte ihn nicht (da ist ja auch von Brüderlichkeit die Rede), sondern nur die katholische Kirche als möglichst machtvolle Institution, sie hat für die antidemokratische Ordnung zu sorgen. (Siehe ein treffendes Zitat von Jean-Claude Guillebaud am Ende dieses Beitrags)

Unter dem Kollaborateur und Nazi-Freund Marschall Pétain kam Maurras zu großen Ehren: Pétain stand Maurras sehr nahe und Maurras predigte „die blindeste Ergebenheit“ gegenüber dem nazifreundlichen Pétain. (vgl. Kowalsky, S. 33). Im November 1944 wurde Maurras verhaftet; er wurde verurteilt, und, wie in solchen Fällen beinahe üblich, vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, im März 1952. Kurz danach starb er…

In katholischen Kreisen ist Maurras und seine Action Francaise bis heute präsent: Erzbischof Marcel Lefèbvre war mit der Action Francaise verbunden und seine traditionalistischen Pius – Brüder sind gewiss keine Maurras Verächter. Denn entschiedene Vertreter der modernen Demokratie und der Menschenrechte sind sie bekanntermaßen nicht. Traditionalistische Klöster, die sich wieder formal mit dem Papst versöhnt haben, wie das Benediktinerkloster Le Barroux, erwähnen Charles Maurras voller Hochachtung noch heute wie einen großen vorbildlichen Denker. Der Abt von Le Barroux gedachte kürzlich, bei einer Trauerfeier für den Front National Anhänger und Freund dieses Klosters Jean Madiran, auch des alten „Meisters“ Charles Maurras in einer Predigt. http://www.nd-chretiente.com/dotclear/public/documents/2013_Documents/2013.08.08_Jean_Madiran_obseques_Dom_Louis-Marie.pdf

Dabei muss daran erinnert werden, dass Papst Pius XI. die katholischen Mitglieder der Action Francaise exkommunizierte. So viel Antisemitismus war dem Papst dann doch zu viel. In langwierigen Versöhnungsversuchen zwischen Rom und der Action Francaise zeigte sich dann Papst Pius XII. großzügig: Angesichts des Kommunismus wollte er einen starken, geschlossenen Katholizismus, eben wieder auch mit Maurras und den Seinen. Maurras hingegen entwickelte sich dann, wie nicht anders zu erwarten, zur stärksten Stütze des Anti – Demokraten Marschall Pétain… Es ist diese übliche Blindheit, wenn nicht das Wohlwollen der katholischen Kirchenführung für rechtsextreme Ideologen, die wieder auch im Falle von Maurra auffällt. Man muss als Reaktionär nur „antikommunistisch“ sein, um die Gunst der römischen Kirche zu gewinnen, die ganze Tragik und der Niedergang der lateinamerikanischen Befreiungstheologie (Leonardo Boff etc.) ist nur so zu verstehen.

Nebenbei: Es verdient weitere Untersuchungen, wie die angeblich so streng weltfernen Karmelitinnen im Kloster von Lisieux darum kämpften, dass sich Maurras und die Action Francaise mit dem Papst aussöhnten. Solche Begeisterung für die Versöhnung verdeckte sicher auch gewisse Sympathien der streng im Kloster lebenden Nonnen für Mauras und Co. In dem Karmelitinnen Kloster in Lisieux lebte bekanntlich die hoch gelobte Mystikerin Theresia von Lisieux (1873 – 1897, heilig gesprochen 1925). Ihre leibliche Schwester und dortige Nonne unter dem Namen Mère Agnès setzte sich für Maurras ein…Die Action Francaise hatte ihre Ideologie weit im Katholizismus verbreitet, bis ins Priesterseminar der Franzosen in Rom, mit dem „einschlägigen“ Spiritanerpater Le Floch. (Vgl. https://www.cairn.info/revue-histoire-monde-et-cultures-religieuses1-2009-2-page-33.htm). Marcel Lefèbvre, der spätere Traditionalistenführer empfing dort als Mitglied im Spiritanerorden seine theologische ideologische Ausbildung.

Der Schriftsteller Jean-Claude Guillebaud schreibt: “En réalité, on voit réapparaître au cœur de l’extrême droite française un courant de pensée qu’il faut bien qualifier de catholicisme athée. L’expression se réfère à une formule de Charles Maurras, fondateur de l’Action française : « Je suis athée, mais catholique. » Maurras voulait dire par là que le message évangélique ne l’intéressait pas, mais qu’il voyait dans l’Église une institution garante de l’ordre social”. Quelle:  Jean-Claude Guillebaud: http://www.lavie.fr/debats/bloc-notes/qui-sont-les-catholiques-athees-16-08-2016-75561_442.php

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