Der Wunsch, ewig zu leben. Über den Transhumanismus

Der Wunsch, „ewig“ zu leben
Über den Transhumanismus
Von Christian Modehn

In unserem Salon am 6. 9. 2013 haben wir – mit 18 TeilnehmerInnen – einen ersten kritischen Blick auf die – in sich vielfältige – Bewegung des Transhumanismus geworfen. Darüber wird vor allem in den USA diskutiert, der Begriff (1988 eingeführt) stammt wohl von dem Philosophen Max More.
Alle, die sich philosophisch mit den verschiedenen Gestalten des Humanismus befassen, werden wohl kaum auf eine kritische Auseinandersetzung mit Transhumanismus verzichten können. Denn es geht dabei um eine grundlegend und radikal neue Art, mit der menschlichen Wirklichkeit umzugehen. Es geht um einen qualitativ neuen Zugriff auf den Menschen, um seine Veränderbarkeit, der Gedanke an Repaturen und Umbauten von Maschinen drängt sich auf. Vor allem geht es um eine Neubestimmung von Freiheit, Leben, Tod, Ewigkeit. Die radikalen Ziele („menschliches Leben bis zum Alter von 400 Jahren“, selbst von ewigem Leben in dieser weltlichen Zeitdauer ist die Rede) stammen nun wirklich nicht aus Science- Fiction – Romanen. Es sind Naturwissenschaftler, Ingenieure, Philosophen, die gemeinsam an dem neuen menschlich – technischen, sehr langlebigen Wesen „Cyborg“ arbeiten, einem Mischwesen aus lebendigem (Fleisch) Organismus und Maschine. Es sind ursprünglich leibhaftige Menschen, deren Körper nun auf Dauer durch künstliche Bauteile ersetzt werden. Die Transhumanisten haben u. a. eine eigene Universität in Kalifornien, eigene Internetauftritte, zahlreiche Kongresse werden organisiert und einige Publikationen (in den USA) liegen vor. In deutscher Sprache ist eine erste kritische Auseinandersetzung das Buch „Werden wir ewig leben ?“, Hg. von Tobias Hülswitt und Roman Brinzanik, Suhrkamp Verlag 2010.

Als Einstieg empfiehlt es sich zu sehen, dass das Thema uns so fremd ja nicht ist. D.h.: Wir sind alle längst – vor allem im reichen Europa/Amerika zumindest- technisch bearbeitete Wesen. Prothesen sind Teil unseres Wesens, Schönheitsoperationen verändern nicht nur das Aussehen. Die Humangenetik gehört hier hin, die Reproduktionsmedizin. Anti – Aging gehört zu dem Thema, die neue Lust am Sport und der Kult des “Body – Building”. Ein treffendes Wort! Wir sind also bereits immer schon veränderte Natur, wir sind längst nicht mehr „pure Natur“, als die wir als Babys auf die Welt kamen.
D.h. Wir sind immer schon auf dem Weg zur Überwindung des gegebenen Menschlichen, sind immer schon auf dem Weg der „Verbesserung“ des Menschen im Sinne der Überwindung von Krankheiten. Diese bisherigen Therapien haben aber nicht den totalen Anspruch, das Leben auf 400 Jahre zu verlängern in weitgehender totaler Schmerzfreiheit bis hin auf ein immer wieder von Transhumanisten genanntes „ewiges Leben“. Da kommt eine neue Qualität hinzu.

Einer der Wortführer des Transhumanismus ist Prof. Ray Kurzweil. 65 Jahre alt, stellt er sich gern vor als Erfinder, Ingenieur, Futurologe und Autor mit zahlreichen Ehrendoktortiteln.
Sein Schwerpunkt ist die Frage der künstlichen Intelligenz und der Gesundheit, vor allem im Blick auf die Verlängerung des Lebens im Sinne des Hinausschiebens des Todes auf ein Niveau von etwa 400 Jahren Lebensdauer. Von Bill Clinton wurde er 1999 für seine Leistungen ausgezeichnet. Er ist Kanzler der – darf man sagen bezeichnenderweise – von „google“ und der „NASA“ finanzierten „Singularity University“ im Silicon Valley. Mit dem Titel „Singularity“ wird schon das ganze Programm angedeutet, es geht um eine neue „Einzigartigkeit“ und „Einmaligkeit“, die geschaffen werden soll.
In unserem Salongespräch bezogen wir uns auf das Gespräch mit Ray Kurzweil von Tobias Hülswitt, aus dem Buch „Werden wir ewig leben?“.
Gleich am Anfang fällt auf, dass Kurzweil „unsere Persönlichkeit, unsere Erinnerungen, unsere Fähigkeiten“, ausdrücklich und wörtlich als „Informationsdateien“ betrachtet: „Wir tragen Verstandesdateien in unserem Gehirn“ Und diese Dateien machen unsere Persönlichkeit aus. (Seite 16)
Zentral ist für Kurzweil, den körperlichen Verfall und den Tod letztlich aufzuheben (Seite 17)
Er meint: Unser eigenes Bewusstsein kommt uns selbst gar nicht vergänglich vor. (Seite 17). Er weist darauf hin: Immer schon gab es Theorien, die unserem Wunsch entsprechen, doch ewig zu leben. (etwa: Himmel, Wiedergeburt…)
Daraus haben Religionen die – in seiner Sicht falsche – Konsequenz gezogen: Der Tod sei gut, weil er der Übergang in die Ewigkeit, das ewige Leben, in ein qualitativ anderes Leben bei Gott ermöglicht.
Kurzweil und die Transhumanisten arbeiten, so wörtlich, an einer Alternative (17), d.h. an einer Alternative zu den religiös fundierten Formen der Überwindung des Todes durch die Lehre vom ewigen Leben. Es geht um das ewige Leben in dieser weltlichen Zeitspanne. Ewigkeit wird also verstanden als lang gestreckte (irdische) Zukunft. Für Christen z.B. ist hingegeben Ewigkeit eine dauernde „Gegenwart“, eben gerade als Heraustritt aus der linearen weltlichen Zeitstruktur.

Kurzweil weiß, dass er für diese Alternative jetzt „noch nicht die nötigen Mittel“ hat, (wissenschaftliche) Mittel, um das faktische irdische Leben der Menschen auf die zunächst erwünschten 400 Jahre hin zu verlängern.
Die entscheidende Stufe dorthin ist für ihn dann gekommen, wenn es durch Nano Technologie und Nano Roboter gelingt, sozusagen technisch „unseren Körper zu befähigen „ewig zu leben“ (Seite 18). .
Kurzweil begreift also Gesundheit, Biologie, Altern und Krankheit als „Informationsprozesse“, (Seite 21).Gesundheit wird zur ausschließlichen Frage der Technologie. Diese macht, so wörtlich, „das Ende des Todes absehbar“ (Seite 21).
Das verändert unser Zeit-Bewußtsein: Wir erleben dann, dass unsere Lebens – Zeit nicht mehr rapide einem Ende entgegenläuft; wir haben dann viel Zeit, in der vielleicht immer nur Repaaruren an unserem technischen Körper nötig werden. Dann geht er an die Infragestellung der Grundlagen vielfältiger, bisheriger philosophischer Konzepte, die sagten: Der Mensch ist endlich, er ist sterblich, und in diesem Blick auf den unabweisbaren Tod muss sich der Sinn des Lebens erschließen. D.h. in dieser klassischen Sicht: Wir fragen, mit anderen Worten, in der klassischen Philosophie, vor allem deswegen nach dem Sinn des Lebens, weil wir nach dem Sinn des Todes fragen.
Dagegen betont Kurzweil: „Das Leben gibt dem Leben Sinn“ Seite 22). Damit wird der Sinnbegriff eigentlich nicht getroffen: Denn Sinn entsteht dadurch, dass ich etwas Bezweifeltes, Fragliches, auf ein anderes, möglicherweise Größeres beziehe. Beispiel: Warum ist es sinnvoll, regelmäßig etwas zu essen? Weil ich dadurch gesund bleibe. Der Sinn des Essens liegt in dem höheren Sinn der Gesundheit. Natürlich kann man dann weiter fragen; Was ist der Sinn der Gesundheit? Da gibt es viele Antworten: Weil Gesundheit die Bedingung ist für ein gewisses Glücksgefühl usw. Also in der Frage nach dem Sinn wird immer auf etwas anderes, Größeres, verwiesen. Sinn ist ein Beziehungsbegriff von einem auf anderes! Deswegen ist es nicht schlüssig mit Kurzweil zu sagen: Das Leben gibt dem Leben Sinn.
Transhumanisten sind völlig auf den Wert der vor allem quantitativen Steigerung fixiert: Sie wollen viele Lebensjahre, glauben gar nicht, dass wenige intensive Jahre auch glücklich machen, um es mal so auszudrücken. Sie wollen schönere Musik, kraftvollere Dichtung, eindrucksvollere Kunst (Seite 23).
Kurzweil sieht durchaus Probleme, die sich aus ethischen Fragen ergeben: Etwa, wenn Biotechnologien von Terroristen verwendet werden könnten (26). Er plädiert dann – ethisch ziemlich hilflos – für die richtige Verwendung dieser Technik weiterhin (27). Er will offizielle, offenbar staatliche „Richtlinien“ schaffen, die natürlich, so sagt er dann, nichts nutzen, wenn jemand diese Richtlinien nicht befolgt. Er plädiert dann aber nicht für ein ausgebildetes ethisches Bewusstsein, sondern – technisch wie er denkt –für, so wörtlich, „schnelle Abwehrtechnologien“. Die neuen langlebigen Menschen mit Roboterkörpern usw. sind also durchaus kriegsbereit durch Abwehrtechnologien. Diese werden wohl auch viel Profit bringen.
Von den Kosten der transhumanen Langlebigkeit/Ewigkeit ist keine Rede bei Kurzweil. Die Frage bleibt: Wer kann sich Ewigkeit leisten? Muss man erneut für den neuen ewigen Himmel auf dieser Erde hohe Eintrittsgebühren bezahlen, wie einst in der Ablassdiskussion für den Eintritt in den göttlichen Himmel? Wird es deswegen die wenigen technisch perfekten, langlebigen Herren geben und die vielen nur auf den Leib angewiesenen Untertanen und Sklaven?
Kurzweil kommt auch im Laufe des Interviews auf die Religion zu sprechen, von der er sagt, in seiner Arbeit ausdrücklich nicht inspiriert zu sein.
Er bietet aber eine merkwürdige Definition der Religion: Er meint, der Glaube an einen Himmel, also als einem Ort des ewigen Lebens, sei entstanden, damit wir so unsere Beschränkungen überwinden.
Kurzweil meint, den Religionen sei die Vorstellung, so wörtlich „inhärent“ (28), die Sterblichkeit zu überwinden. Darüber müsste intensiver diskutiert werden: Gründet Religion tatsächlich in der Sterblichkeit? Oder gründet sie in der – klassisch gesprochen – Endlichkeit und Geschöpflichkeit des Menschen? Weil der Geist immer ein transzendierender Geist ist und deswegen auf die Idee des Göttlichen kommt? Von daher lebt Religion inmitten des Lebens, der Lebensfreude, des Sinns, der Erotik, des Schöpferischen usw. Die Auferstehung Jesu (Überwindung des Todes) als Bild meint: Dieses Leben Jesu war sinnvoll, auch wenn es am Kreuz endete. Was mit dem toten Jesus weiter „passierte“, ist Ausdruck einer Hoffnung ist, dass dieser Tod Jesu nicht sinnlos ist. Damit will ich sagen: Das Christentum ist – authentisch verstanden – gerade nicht primär eine Lehre vom ewigen Leben, wie Kurzweil behauptet.
An der Stelle sollte weiter gefragt werden, was denn das Christentum alles falsch gemacht hat mit seiner Lehre von Ewigkeit und Himmel.
Der größte, überdimensionierte Anspruch wird wohl von Kurzweil formuliert, wenn er von der „Singularität“ spricht, also davon, wie die individuellen Gehirne sozusagen zu einem gesamten überindividuellen Großhirn, er spricht von SUPERHIRN (34), zusammengeschlossen werden. Er findet es offenbar erstrebenswert, wenn es so wörtlich, EIN (einziges) DENKEN gibt. „Die Masse kann also etwas wie eine Persönlichkeit, EINEN Verstand entwickeln. Jedes Ich soll sich also verschmelzen mit dem einen und einzigen Superhirn.

Einige TeilnehmerInnen unseres Gesprächs hielten diese Vorstellung für eher makaber, wenn nicht gar für einen Ausdruck totalitären Denkens.

Kritische Fragen müssen weiter vertieft werden:
Auch ein Körper von 400 Jahren wird einmal sterben, das Todesproblem bleibt also. Die Frage nach dem Sinn des Lebens und Sterbens bleibt also.
Kurzweil sieht nicht den Unterschied zwischen Leib und Körper.
Kurzweil sieht den Tod als etwas Krankhaftes und deswegen zu Heilendes im Sinne von „zu Besiegendes“. Er will, so wörtlich auf Seite 20, „Gesundheitsprobleme mit der richtigen Kombination von Ideen (also Erfindungen) besiegen“. Ist der Tod eine Krankheit oder eine Chance für ein intensives Leben in Freiheit?
Die entscheidende Frage ist: Gibt es Grenzen für einen toalen Umbau des Körpers?
Was ist der Unterschied dieses totalen Umbaus zu der medizinischen Hilfe? Ausgangspunkt für diese Überlegung könnte sein: In den medizinischen Hilfen bleibt ein Ich immer der Bezugspunkt: Ich werde geheilt, erinnere mich an meine Krankheit.
Aber bei einem Verbinden mit den Bewusstseinsformen anderer verschmelze ich da als Ich mit anderen zu einem neuen Wesen? Das heißt: Der Umbau durch transhumanistische Technik darf nicht so weit gehen, dass ich dann ein anderer werde, der sich selbst nicht mehr als Ich erkennt. Das ist ja das Problem der Drogen, wo man eine andere Persönlichkeit wird und pendelt zwischen zwei Ich Strukturen.
Weitere Frage bleiben offen: Wenn denn der einzelne als neuer „Mensch Roboter“ existiert: In welcher Umgebung wird er dann existieren, gibt es dann noch lebenswerte Natur? Gibt es dann noch Erotik und Sexualität?

Der Hintergrund dieser Ideologie des Transhumanismus ist klar: Es gilt bei der Forschung an der Maschine Mensch (nur so wird der Mensch gesehen) die erste führende Position zu erlangen, also die USA wieder einmal als Supermacht zu etablieren. Über den Menschen wird verfügt, es werden neue Klassenunterschiede geschaffen, es könnte zum Bürgerkrieg zwischen perfekten Reichen und hoffnungslos leiblichen Armen kommen.
Der typische, absolut zentrale Gedanke der Machbarkeit, das CREDO im Sillicon Vally, verdrängt andere zentrale Aspekte des Menschlichen: Etwa die Kontemplation, das Spielerische, das Verweilen in der Gegenwart als Form des Lebensgenusses gerade IN der Endlichkeit.
Der transhumanistische Philosoph Max More verkündet seine Heilslehre am 7.07.1996: „Die Zeit der Menschheit ist fast abgelaufen, nicht weil wir uns selbst zerstören, sondern weil wir unsere Menschlichkeit überschreiten werden“.

Es muss betont werden, dass in einer Welt von Millionen hungernder Menschen, die bei einer gerechten Verteilung der Güter nicht hungern müssten oder angesichts der ökologischen Problematik usw., es eigentlich viel dringendere Themen gebe:Um die Leiden heutiger Menschen etwas einzuschränken und zu besiegen, bräuchten man Milliarden Dollar Zuschuss für eine neue, eine gerechte menschliche Welt und nicht für einen herrschaftsorientierten Transhumanismus.

Copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Ein pädophiler Nuntius in der Dominikanischen Republik… und das Konkordat

Ein pädophiler Nuntius und das Konkordat
Zur jüngsten Entwicklung in der Dominikanischen Republik

Bitte beachten Sie am Ende dieses Beitrags einen weiteren Beitrag von Matthias Katsch, vom “Eckigen Tisch” vom 12. 9. 2013.

Der (vorläufigen) Vollständigkeit wegen, publiziert am 27.9. 2014: Der pädophile EX – Nuntius Josef Wesolowski ist am 24. 9. 2014 im Vatikan verhaftet worden. Er hatte sich nach Weiterlesen ⇘

Vom Genuss, der Pflicht und dem Glauben: Hinweise zu den drei Lebensentwürfen von Sören Kierkegaard

Vom Genuss, der Pflicht und dem Glauben
Einige Hinweise zu den drei Lebensentwürfen von Sören Kierkegaard
Von Christian Modehn

Dieser Beitrag ist der dritte in der Reihe Forschungsprojekte, es handelt sich also um „offene“ Texte, die der weiteren Vertiefung bedürfen

Ein biographischer Hinweis:
Sören Kierkegaard (1813 – 1855) kann als Initiator einer existenzphilosophischen Haltung, wenn nicht der „Existenzphilosophie“ angesehen werden. Seine Werke sind nicht Ausdruck einer akademischen Universitätsphilosophie, sie sind nicht in Vorlesungen und Seminaren entstanden. Kierkegaard ist in der Hinsicht einer der ersten „freien Philosophen“, Nietzsche oder Wittgenstein sind weitere „Beispiele“. Kierkegaards Arbeiten sind sehr eng verbunden mit den eigenen Lebenserfahrungen: Leiden, Freude, Schmerz, Engagement usw. werden von ihm immer in Bezug auf persönliche Erlebnisse reflektiert. Im Zentrum steht: Der einzelne soll als einzelner erkennen, dass nur er /sie allein die eigene Existenz übernehmen muss, die Lebenswahl leisten und dann das je eigene Leben gestalten muss.
Zur Biographie nur einige Hinweise: 1837 lernt Kierkegaard das Mädchen Regine Olsen kennen; die leidenschaftliche Liebe führt dazu, dass sie sich verloben (1840); schon 1841 bricht Kierkegaard diese Verbindung: Will er sich „nur noch“ der Philosophie widmen? Dieses Ereignis prägt unauslöschlich sein ganzes Werk. Fühlte er sich nach dem Ende der Beziehung, der Verlobung, erst wieder frei, sein Werk zu schaffen? Er sah in der Ehe vor allem auch eine „spirituelle Gemeinschaft“ der Liebe. Glaubte er, mit Regine Olsen könne er diese seine Vorstellung von Ehe nicht gestalten? Diese Fragen werden seit vielen Jahrzehnten diskutiert….
Seit 1843 verfasst Kierkegaard seine umfangreichen Bücher, sie werden z. T. unter Pseudonymen veröffentlicht. Er wurde berühmt und hoch angefeindet auch als Kritiker der dänischen Staatskirche; er galt als Antiklerikaler … um des authentischen christlichen Glaubens willen, wobei er selbst behauptete, das Authentische erkannt zu haben. Zu seiner Bestattung kam eine sehr große Zahl von Menschen. „Grüße alle, ich habe sie sehr geliebt“, sagte er kurz vor seinem frühen Tod. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Kierkegaard – in Deutschland – wieder entdeckt und wieder gelesen.

Der philosophische Kontext:
Es ist eigentlich selbstverständlich, dennoch ist es wichtig, sich manchmal daran zu erinnern: Der philosophische Kontext, in dem sich ein Philosoph denkend bewegt, ist niemals ein künstlicher Kontext, so, als handle es sich um eine Art interne Debatte von Spezialisten, fast spielerischer Art. Das philosophische Denken eines einzelnen ist immer auch Ausdruck einer Grundstimmung, die gerade in der Gesellschaft lebt, mit ihren speziellen Schwerpunkten, also Hoffnungen, Ängsten usw. So ist auch die Philosophie Kierkegaards bezogen auf eine Grunderfahrung: Es geht um die Abweisung und Überwindung des Systems, vor allem des Systems der Philosophie Hegels. Hegel hatte den Anspruch, sozusagen das Ganze, und das heißt für ihn immer: Welt UND Gott in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Dabei aber, so meinte Kierkegaard, wird der einzelne als einzelner in seinem Recht und seiner Würde nicht respektiert. Er wird abgewertet zu einem „Element“ in einer auf Fortschritt hin ausgelegten Weltgeschichte, so der wiederholte Vorwurf Kierkegaards. Dabei wird u. E. freilich nur der Blick auf Hegels Geschichtsphilosophie fixiert; die absolute Geltung des Subjekts etwa in Hegels „Phänomenologie des Geistes“ wird dabei u.E. nicht gesehen, aber das ist ein anderes Thema…
Deutlich wird nur, wie „eng“ der Blick Kierkegaards auf Hegel sein kann. Aber gerade diese „Verengung“ hat dann doch produktive Erkenntnisse befördert.
Im ganzen ist die Philosophie Kierkegaards ein druchaus neues, bislang unbekanntes Plädoyer, die einmalige „Innerlichkeit“ des einzelnen ernst zu nehmen; es handelt sich um eine Art Enthüllung der „feinen Dimensionen“ der inneren Geistigkeit des einzelnen. Noch einmal: Deswegen kann Kierkegaard als ein Initiator der Existenzphilosophie gelten, die sich nach einer Unterbrechung von knapp 100 Jahren wieder in Heidegger, Jaspers, Sartre und Camus zu Wort meldete.
Das ist das Aufregende und Anregende in den – manchmal schwierigen, manchmal allzu ausführlich wirkenden („langen“) Arbeiten Kierkegaards: Es geht also um das Thema einer existentiellen Lebensgestaltung des einzelnen.

In seiner ersten großen und erfolgreichen Publikation „Entweder – Oder“ von 1843 zeigt Kierkegaard zwei grundlegende Lebensentwürfe, auch in seinem späteren Werk kommt er wieder darauf zurück; verändert und erweitert um einen dritten Lebensentwurf, den religiösen.

In „Entweder – Oder“ wird der erste Lebensentwurf der ästhetische genannt. Dabei handelt es sich etwa um eine gewählte, also durch Entscheidung zustande gekommene Daseinsform nicht etwa nur von Dichtern und Künstlern, sondern auch von Menschen, denen der Genuss des Schönen der absolute Lebensmittelpunkt ist. Manche moderne Interpreten sprechen gar von „unterhaltungsfreudigen Hedonisten“. Kierkegaard selbst erwähnt Epikur als Beispiel: „Diese Lebenshaltung will (nur) das Leben genießen“ („Entweder Oder“). Diese Ästheten genießen das Schöne, die Welt. Sie sind durchaus verführerisch, lassen sich verführen, sie beziehen das Erlebte in der Selbstreflexion auf sich, ohne es dabei tief an sich heran zu lassen. So führt der Genuss, meint Kierkegaard, zu einem Kreisen um sich selbst. Wer sich selbst genießt, will in der Außenwelt überhaupt nur noch Anlässe des Genießens suchen. Alles Genießen wird also ein „Inneres Sich Selbst Genießen“; als Beispiel dafür sieht Kierkegaard etwa Mozarts Don Giovanni: “Statt eine Wirklichkeit (für die man sich entscheidet), liebt Don Giovanni die Unverbindlichkeit und Offenheit der vielen Möglichkeiten (etwa der vielen Beziehungen zu Frauen). Zu ihnen tritt er so wenig wirklich in ein Verhältnis, dass er dabei vielmehr nur sich selbst sieht: Der Ästhet ist verliebt in seine Einzigkeit“ (Odo Marquard, Der Einzelne, S. 128). „Das Ästhetische ist die Unmittelbarkeit, die genüsslich die Unmittelbarkeit bleiben will. Darum gehört zu dieser ästhetischen Lebensform zweierlei, nämlich die Langeweile und Schwermut; da wird gefühlt, dass das Ästhetische nichtig ist“.
Später, in seinem Buch „Die Krankheit zum Tode“ (1849), nennt Kierkegaard diese Haltung „die Sünde, dass man dichtet, ohne zu sein“. Auf diese Weise, darauf weist Odo Marquard hin (in: Der Einzelne, Reclam, S., 122), „hat das Ästhetische einen negativen Klang“.
Aber darauf kommt bei Kierkegaard alles an: Die ästhetische Existenzform scheitert, weil sie aus dem Individualismus, dem Genießen, dem „Epikuräismus“, nicht herausfindet: „Es gibt für diese Existenz kein allgemein Verbindliches; deshalb verwirklicht der Einzelne nur das, was der eigenen Erfüllung dient“ (Wesche, „Kierkegaard“, S. 51). Kierkegaard schreibt in „Entweder – Oder“: “Hier haben wir eine Lebensanschauung, die da lehrt: Gesundheit sei das kostbarste Gut, darum alles sich drehe. Die gleiche Anschauung ist, das höchste sei Schönheit“.
Warum scheitert dieses Lebensmodell im Sinne Kierkegaards? Der Mensch will diesen Lebensinhalt, den Genuss, ganz und gar in der eigenen Lebenszeit unbedingt realisieren, „vergisst aber, dass die Erfüllung dieses Wunsches nicht in unserer eigenen Macht liegt“, so in „Entweder – Oder“. Denn der Mensch ist nicht Herr der eigenen Lebenszeit.

Diese ästhetische Lebens – Position kann durch eine Entscheidung überwunden werden .. hin zum „ethischen Lebensentwurf“, Kierkegaard spricht von „Stadien“, etwa in dem Buch „Stadien auf des Lebens Weg“ (1845). Dieses Stadium, also dieser Lebensentwurf, will sich auf die allgemeinen Grundsätze der Ethik beziehen und sich aus der Begrenzung des in sich kreisenden, ego- zentrierten Lebensgenusses befreien. Wer ethisch lebt, folgt den Weisungen der „allgemeinen“, der für alle Vernunftwesen gültigen Ethik. Hier denkt Kierkegaard an Kant und seine Lehre vom Kategorischen Imperativ. Kant zeigt, wie sich der einzelne Mensch in seiner unvernünftigen Einzelheit selbst überwinden kann. Darum wird bei Kant, so Kierkegaard, „jeder einzelne Mensch als ein Vertreter DES allgemeinen Menschen gesehen“: Er soll denjenigen Prinzipien folgen, die für diesen allgemeinen Menschen vernünftig erschlossen wurden: „Wer ethisch lebt, arbeitet darauf hin, der allgemeine Mensch zu werden“. Er erlebt es als Pflicht, der „allgemeine Mensch“ zu werden und entschließt sich also, im Befolgen der ethischen Gebote auch nach außen hin, in der Welt, tätig zu sein. Während der ästhetische Mensch dadurch an seine individuelle Vollendung glaubt, „der einzige /wahre/ Mensch zu sein“, so in „Entweder – Oder“. Darum geht der Mensch des ethischen Lebensentwurfes auch Verpflichtungen ein und heiratet, er will eben kein Don Juan sein. Er will nicht genießen, sondern arbeiten, er übernimmt angesehene Ämter und Pflichten. „Er will die bürgerlichen und religiösen Tugenden entwickeln“ („Entweder – Oder“). Aber diese allgemeinen Grundsätze, Tugenden, sind letztlich abstrakte Grundsätze: Wer denen folgt, so Kierkegaard, wird selbst abstrakt, verliert also sein einmaliges Profil.
Insofern plädiert Kierkegaard durchaus für die Ethik, aber er sieht auch klar ihre Gefährdungen, dass abstrakte (bürokratische ?) Prinzipien sich existentiell durchsetzen. Der ethischen Lebenshaltung fehlt in seiner Sicht die Freiheit, auch Möglichkeiten wahrzunehmen, also (ästhetische) Freiheit zu sehen und zu leben. Auch der zweite, der ethische Lebensentwurf scheitert: Denn er führt den Menschen im Gehorsam den Geboten gegenüber zu einem „höchsten Gut“, etwa der Art: „Gott belohnt die Guten im Himmel, weil sie auf Erden keine wirkliche Belohung für ihr Gutsein empfangen können“. Aber in dieser Weise wird das letzte Lebensziel in ein Jenseits verlagert; das lässt den einzelnen in seinem Dasein hier auch unbefriedigt…insofern scheitert auch dieses Lebensmodell.
In den beiden hier nur kurz angedeuteten Lebensformen wird auch deutlich, dass die Existenz, das Dasein bzw. das Leben des Menschen niemals ganz überschaubar oder gar durchschaubar ist.

Die 3. Lebenshaltung: Die religiöse Einstellung
Mehrfach in seinem späteren Werk (etwa in der „Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift…“ von 1846) spricht Kierkegaard auch von der dritten, für ihn dann entscheidenden Existenzhaltung, der religiösen Dimension im Leben. Schon in „Furcht und Zittern“ (1843) wird die religiöse, in dem Fall die christliche Lebensform beschrieben im Blick auf die Geschichte Abrahams: Er wird von Gott aufgefordert, seinen Sohn Isaac hinzugeben, also eigenhändig abzuschlachten. Abraham willigt in diese Tat ein, wird aber in letzter Minute, nach dem bestandenen Gehorsamkeits – Test, durch Gott vor der Tötung seines Sohnes bewahrt. Kierkegaard schreibt: „Dies ist ein Paradox, das dem Abraham den Isaak wiedergibt, dessen sich kein Denken bemächtigen kann, weil der Glaube erst da beginnt, wo das Denken aufhört“ (so in: „Furcht und Zittern“). Glauben jenseits des rationalen Denkens, Glauben jenseits der Vernunft: Das wurde für Kierkegaard das Leitmotiv seiner Auffassung von der christlichen Religion. Er sieht sie als eine paradoxe Erfahrung ganz eigener und unvorherdenkbarer Art. Im Paradox des Gottmenschen Christus kommen Endliches und Unendliches, Vernünftiges und Geheimnisvolles, zu einer Einheit zusammen. Um zu dieser Annahme der paradoxen Wirklichkeit zu gelangen, muss der Mensch sich von rationalen Herrschaftsformen befreien und sozusagen in das Paradox „springen“.

Es muss darauf hingewiesen werden, dass in dieser religiös – christlichen Position die ethische Orientierung übersprungen wird und beiseite gelegt wird: Was Gott befiehlt, muss sich eben NICHT an die Gesetze der Moral und Ethik halten. Hingegen haben schon früher Philosophen darauf hingewiesen, dass die Wirklichkeit Gottes sich für den Menschen auch innerhalb der vernünftigen Moral bewegen sollte, sonst wäre er kein Gott für die Menschen (er hat sie ja vernünftig geschaffen!), sondern ein wüster Tyrann. Odo Marquard schreibt: „Darf man das Ethische außer Kraft setzen – wie Abraham – um willen einer anderen (göttlichen) Instranz? Ist das Göttliche das Höchste oder gibt es ein Höheres als das Ethische ?“ (S. 138, Der Einzelne).
Kierkegaard meint nun, dass der einzelne religiöse Mensch höher steht als das Allgemeine, also auch das Ethische. Deswegen betont Kierkegaard, im Christlichen werde das Ethische suspendiert, der einzelne Fromme stehe sozusagen völlig unbegleitet durch die Vernunft und damit durch die Regeln der Ethik vor Gott, der sozusagen „willkürlich“ agiert. „Gott ist der, der die menschlichen Ordnungen des Ethischen zerbrechen kann, ihnen gegenüber den Ausnahmezustand der Grenzsituation herbeiführen kann. Darum hat Kierkegaard die Überzeugung, dass dieser Gott eigentlich GRAUSAM ist. (so Marquard, a.a.O, S 142). Der religiös suchende Mensch, der „einzelne“ im Sinne Kierkegaard, kann also in der religiösen Lebensform, angesichts des grausam und willkürlich erlebten Gottes, auch nicht die Befreiung zu sich selbst finden. Odo Marquard interpretiert diese Situation als das „Zunichte – Werden, ganz elementar und radikal verstanden“ (a.a.O. 173). Kierkegaard glaubte gar, diese seine religiös – christliche Einsicht anderen Menschen nicht unmittelbar zugänglich machen zu dürfen, also zumuten zu können. „Dieser Gott ist die Negation der Welt…. das Verhältnis zu diesem Gott ist faktisch unvollziehbar, Gott wird so geradezu wegradikalisiert“, schreibt Odo Marquard (a.a.O., s 179).

Auch die religiöse Lebensform scheitert als eine für alle Menschen mögliche. Für Kierkegaard steht fest: Das Verhältnis zu Gott ist die Bedingung für das Selbstsein des Menschen. ABER:
Wenn alle drei Lebensformen scheitern, dann stellt sich für Kierkegaard „Verzweiflung“ ein: D. h.: Ich erfahre, dass ich – nach der rationalen Reflexion auf die drei Existenzformen – mich selbst nicht in meinem wahren Sein bestimmen kann. Wer ich bin, bleibt mir unklar und verborgen, wie Kierkegaard sagt. (Wesche S. 41) Ich weiß also gar nicht, was das Leben lebenswert macht.
Diese Verborgenheit des eigenen Lebens, als Verborgenheit des Lebenssinns, nennt Kierkegaard Verzweiflung. Die Rationalität muss ihre eigene Ohnmacht anerkennen, sie kann über kein gesichertes Wissen über das ganze Leben verfügen. Die Lebenszeit wird ohne das Wissen, was sie lebenswert macht, als ein leeres, auf den natürlichen Lebensvollzug reduziertes Leben gelebt; es ist ein =bloßes= Leben, selbst dann, wenn es gesund ist. Dies beschreibt Kierkegaard auch als lebenslanges Sterben, die Verzweiflung ist so die Krankheit zum Tod… “Die Lebenszeit wird als Zeit des Sterbens erfahren“, (Wesche, S. 43). „Es ist die Verzweiflung über ein ungelebtes Leben“, das ist für Kierkegaard: „Grauen und Entsetzen“ (Wesche, S 45). Der „Mensch leidet an der Leere des bloßen Lebens“ (47). Dies ist ein Gefühl der Schwere, „die von der Leere entsteht“.
In der Verzweiflung, die eine Erfahrung der misslingenden Lebensdeutung ist, erscheint die Angst: Ich verberge vor mir selbst dieses Misslingen; ich will nicht wahrhaben, dass mein Leben im Misslingen steht. Ich bewahre also den Schein, die Illusion, gesicherter Lebensdeutung. Diese tiefe Selbst – Täuschung ist für Kierkegaard Angst. „Nicht die Angst vor der Dunkelheit ist ihre Sache, sondern geradezu umgekehrt die Angst, es könne sich die Dunkelheit lichten; eine Dunkelheit, die einem verhüllt, wie und wer man in Wahrheit ist“ (Wesche, S. 61). Angst ist also elementar: Angst vor Selbsterkenntnis. „Sie ist die Flucht vor dem Eingeständnis, dass eine sichere Deutung des Lebens stets misslingt“ (ebd). Davor „drückt“ „man“ sich sozusagen herum. Angst verhindert also eine unbefangene Selbstbetrachtung.
Verzweiflung und Angst sind für Kierkegaard jedoch nicht (wie nihilistisch erscheinende) Endpunkte. Er zeigt die negativen Seiten des Lebens, um dadurch, auch im Leiden daran, doch Kräfte zu sammeln, den eigenen Sinn zu entdecken, und der ist für Kierkegaard der Glaube. „Verzweiflung wird zum Durchgang zum Glauben“ (Wesche, zitiert „Krankheit zum Tode“, S. 141.
Also: Inmitten der Verzweiflung kann es immer noch einen Hinweis auf die Positives, Gesundes, Kierkegaard spricht gar von „Erlösung“, geben. D.h. Inmitten des Negativen wird die Ahnung des Positiven noch wachgerufen…Das bedeutet: Ich muss mich daran halten, und anerkennen, dass es etwas gibt, das noch über die Erfahrungen des Scheiterns der 3 Lebensmodelle hinausgeht. Weil ich ja auch geistig über das Scheitern immer schon hinaus bin.
Kierkegaard empfiehlt, den „Sprung“ zu wagen und in der Lebenspraxis über das Scheitern und die Verzweiflung hinauszugehen. Tilo Wesche spricht da von einem „Dezisionismus“ (S. 148). Schon Platon sprach davon, er nannte es das „schöne Wagnis“. So empfiehlt etwa Sokrates – im Phaidon – hinsichtlich des Mythos von der Unsterblichkeit, der nicht mehr „beweisbar“ ist, „dass es sich aber lohne zu glauben, es verhalte sich so (Wesche S. 148). Das heißt: Kierkegaard ist wie Platon der Meinung, dass angesichts der hier angesprochenen Probleme das theoretische Argument an Grenzen stößt! Die Wahrheit muss im Vollzug als Praxis erfahren und gewagt werden. Der Begriff des Wagnisses – in der Lebenspraxis – d.h. „Ja zum Leben sagen trotz aller Verzweiflung“ – ist wohl der bedeutendste Berührungspunkt des Christen Kierkegaard mit dem Griechen Platon.

Noch weiter bearbeitet werden muss ein Hinweis des Tübinger Philosophen Walter Schulz (1912 – 2000): Er betont: Es gibt für Kierkegaard eine Art Bedrängtwerden im Menschen durch den Leib. Sünde entsteht für Kierkegaard im Zusammenhang von Sexualität. Er hält daran fest, dass die auszeichnende Bestimmung des Menschen der Geist ist; aber der Geist ist nicht der „Allherrscher“, nicht der absolute Geist, sondern er ist eingebunden in den Leib. „Der Geist wird vom Leib ständig bedroht“ (Walter Schulz, in: Philosophie in der veränderten Welt, Seite 394.) Bei Kierkegaard gibt es also ein tiefes Erschrecken über die Gebundenheit des Geistes an den Leib, als Erschrecken über die Sexualität. Dabei ist für ihn klar: „Der Akteur der Sünde ist der Geist, und zwar der Geist, der sich selbst als Gegensatz zum Körper gesetzt hat“ (Walter Schulz, S 396). Für Platon noch war der Leib mit seinen Trieben der „Träger des Bösen“. Aber der Geist hatte für ihn mit diesem Bösen nichts zu tun. Nur der Körper will Befriedigung des Triebes, nicht der Geist. „Der Geist ist zwar willig, aber das Fleisch schwach“, heißt es neo – platonisierend im Neuen Testament.
Anders bei Kierkegaard: Für ihn gibt es eine unzerbrüchliche Einheit von Leib und Geist. Deswegen muss der Mensch wählen zwischen den Regungen des Leibes und der Dynamik des Geistes; aber das ist eine aussichtlose Situation, weil der Geist immer leibgebundener Geist bleibt, hat er keine freie Verfügungsmacht über den Leib. „Der Geist verquält sich unaufhebbar in sich selbst, weil er mit der Diskrepanz von Intellektualität (Geist) und Sexualität nicht zu Ende kommt“ (Walter Schulz, 397) Zusammenfassend sagt Walter Schulz: „Sie (d.h. die Dialektik zwischen Geist und Leib) lebt aus der Einsicht, dass der Mensch nicht nur nicht mit der Welt, sondern auch mit sich selbst nicht ins reine zu kommen vermag. Die menschliche Struktur ist grundsätzlich widersinnig. Ich bin als Leib ein Teil der Welt, als geschlechtlicher Leib, und ich bin als Geist zugleich welttranszendent. Ich kann diesen Widerspruch nicht aufheben, ich muss an diesem Widerspruch leiden. In der Angst erfährt der Mensch – im Sinne Kierkegaards- seine widersinnige Seinsstruktur“ (Schulz, 397f.)

copyright: christian modehn, religionsphilosophischer salon.

Die Theophilanthropen in Frankreich: Eine humanistische Religion.

Eine humanistische Religion: Die “Theophilanthropen” in Frankeich  –  Vorläufer liberalen Christentums?

Ein Hinweis auf ein Forschungsprojekt
Von Christian Modehn, veröffentlicht am 27.5.2013.

Eine ausführliche Darstellung der philosophischen Religionsgemeinschaft “Theophilanthropen” bietet Michel Baron, in seiner Studie “Les Unitariens” (Paris, 2004, Edition l Harmattan, Seite 69 – 88.  Auf Seite 87 schreibt Michel Baron: “Die Theophilanthropie wollte zweifellos während ihrer kurzen Existenz die Kirche der Brüderlichkeit werden. Sie wollte das Ergebnis der Aufklärungsphilosophie sein, sie wollte die Tochter der Revolution (1789) sein, die die Theophilanthropie übrigens schnell als solche anerkannte . Und sie wollte die römisch- katholische Kirche ersetzen. ” (Übersetzung Christian Modehn)… “Sie war auch ein weiterer Zweig der großen Strömung der Sozinianer, einer unitarischen Gemeinschaft, diese Strömung der Sozinianer durchzieht förmlich die Geschichte der religiösen Ideen”. ” (ebd.)

Ergänzung am 14.2.2024:

Das Kant – Gedenken 2024 führt uns erneut zu Kants “Religionsschrift” (1793 ) und zu Kants Einschätzung der Kirchen und Religionen insgesamt. Dabei werden  auch die zeitlich ersten Leser der Kant – Publikationen in Deutschland wieder neu entdeckt: So etwa der katholische Theologe, Philosoph und Priester Felix Anton BLAU (1754-1798),  er setzte sich nicht nur entschieden und leidenschaftlich für die Demokratie in Deutschland (vor allem in Mainz) ein, er war auch einer der ersten Leser von Kants “Religionsschrift” … vor allem: Er schätzte die Ideen der Französischen Revolution über alles. Er lernte in Paris (1795 – 1797) auch die neu gegründete humanistische Religionsgemeinschaft der Theophilanthropen kennen, die der Vorstellung Kants von “unsichtbarer Kirche” irgendwie nahekommen. Über die Beziehungen von Kants “Vernunftreligion” und den Theophilanthopen wäre weiter zu forschen!

Das Buch des Historikers Jörg Schweigart  “Felix Anton Blau”, Logo – Verlag, 2007,  verweist auf die Theophilanthropen auf S. 177. I

n dieser leider viel zu wenig bekannten Studie über den deutschen Jacobiner Blau steht also der Hinweis: Den Theophilanthropen gilt auch im 18. Jahrhundert in Deutschland viel Sympathie, etwa von dem Demokraten Felix Anton Blau.

1.

Warum ist es interessant, heute an einen Kultus, eine Religion, zu erinnern, die, wie alle Religionen, von Menschen „geschaffen“ wurde, aber nur 5 Jahre in Frankreich offiziell als solche öffentlich existierte, von 1796 bis 1801? Diese Religion, dieser Kultus, war unter der direkten Zielsetzung verbreitet worden, am Ende der gewalttätigen Revolution für eine ethische Erneuerung unter der Bevölkerung zu sorgen. Es gab also einmal den Versuch, von unten, von der Basis aus, also von Nicht – Theologen und aufgeklärten Bürgern her, eine neue Religion zu stiften, die sich ausdrücklich als eine humanistische Religion verstand. Sie wollte „elementare Tugendlehre“ pflegen und verbreiten sowie den Respekt für die Menschenrechte mit der Verehrung Gottes verbinden, „ohne Priester und Dogmen“, wie die Initiatoren ausdrücklich sagten. Die beiden Elemente, Gott und Mensch, im Namen der Theophilanthropie werden in der „Philia“, der Freundschaft, verbunden. Es geht um die elementare Freundschaft Gott wie den Menschen gegenüber. So kompliziert und künstlich der Name „Theophilanthropie“ auch klingen mag: Es sollte eine einfache, überschaubare, von der Lehre her nicht komplizierte Religion gestaltet werden, durchaus tauglich und hilfreich für den bürgerlichen Alltag, an den sich die Menschen nach den blutigen Wirren unter Robespierre wieder gewöhnen sollten. Darum wurde auch besonders die tägliche Gewissenserforschung empfohlen als zentrale Verpflichtung der Mitglieder. Das Bewusstsein, dass ohne Moral kein staatliches wie privates Leben gelingen kann, sollte gepflegt werden, in einer Zeit, die gerade den Terror und das maßlose Abschlachten von Verdächtigen und „Feinden“ erlebt hatte; dabei war ja nicht immer klar, wer heute Herrscher und morgen schon Feind sein werde. Diese ethische Erneuerung wurde offenbar nicht mehr der von der Mehrheit unterstützten katholischen Kirche zugetraut. Sie war ohnehin gespalten in republikanische Geistliche und „widerspenstige“ Feinde der Revolution; viele Kirchengebäude waren zerstört, viele Klöster vernichtet.
2.

Das Interesse an der theophilanthropischen Religion ist also heute von der Frage geleitet: Kann es gelingen, eine humanistische Religion zu „etablieren“ und als Orientierung zu empfehlen? Vielleicht kann diese Religion auch als bescheidene Vorläuferin gelten für ein liberales, humanistisches Christentum? Darüber müsste noch weiter geforscht werden. Michel Baron gibt einen Hinweis: Er bezeichnet in seinem Buch „Les Unitariens“ (L Harmattan, Paris 2004, Seite 70) die „Theophilanthropen als Liberale (Christen)“, diese Liberalität gehe soweit, schreibt er, dass sie damals auch Atheisten in ihren Reihen aufnahmen. Die Originalität dieser neuen Religion liegt auch in der absoluten Toleranz: Die Theophilanthropen verurteilen keine andere Religion noch attackieren sie eine Konfession. Sie betrachten alle Religionen als eine „Parzelle“ der Wahrheit“.

Zum historischen Hintergrund:

3.

Es gab jedenfalls seit 1795 verschiedene Versuche, über neue religiöse Organisationen auch Alternativen zum Katholizismus (bzw. auch zu dem in Frankreich minoritären Protestantismus) aufzuzeigen. Félix Le Pelletier etwa schlägt einen neuen „sozialen Kult“ vor, durchaus verbunden mit dem Verehrung eines Höchsten Wesens, die Robespierre so wichtig war – als Kritik an dem „heidnischen Spektakel“ des Kultes der Göttin Vernunft. Daubermesnil schlägt andererseits einen „Kult der Anbeter“ vor: Die Frommen sollten sich schlicht und dankbar dem Schöpfer gegenüber verhalten. Im Département Yonne (Burgund) möchte Benoist – Lamothe einen Kult entwickeln, der die Basis verschiedener Religionen vereint, im Zentrum sollte die Anerkennung Gottes und die Pflege der bürgerlichen Tugenden (bei großer Hilfsbereitschaft für Notleidende) stehen. In der Stadt Sens nennt er diese neue Religion den „Kult französischer Christen“.
Die hier genannten Versuche fanden eine gewisse Bündelung und dann auch überregionale Verbreitung in der Theophilanthropie: Sie geht vor allem auf Jean – Baptiste Chemin – Dupontès zurück und auf Valentin Haüy (der sich für den Unterricht von Blinden einsetzte). Chemin (geboren um 1760) hatte wohl einige Zeit Theologie studiert, bevor er sich zum Beruf des Buchhändlers entschloss. Während der Revolution stand er in Verbindung mit Abbé Fauchet, der später republikanischer Bischof in Calvados wurde und den Aufbau einer national – katholischen Kirche verteidigte. Chemin publizierte 1796 sein Buch, das „Manuel“, das den ersten wichtigen Impuls gab, die religiöse Gesellschaft der Theophilanthropen zu gründen.
In dem Institut für die Blinden in Paris, geleitet von Valentin Haüy, fand denn auch der erste Gottesdienst im Januar 1797 statt. Besondere Unterstützung erfuhren die Theophilanthropen durch ein führendes Mitglied de Direktoriums, Louis Marie de La Révellière – Lépeaux. Er hat diesen Kult gefördert, um auf diese Weise auch die katholische Kirche zu bekämpfen; er wollte ihn sogar zur neuen Staatsreligion erheben. Aber seine Kollegen im Direktorium wollten mit einer neuen Staatsreligion nicht die Atheisten vor den Kopf stoßen…
Ein zweites Handbuch, „Manuel“ der Theophilanthropie, hatte noch mehr Erfolg in Paris und einigen Departements. Darin wurde für eine vernünftige Religion („sie ist dem Menschen innerlich und angeboren“), für eine vernünftige (deistische) Verehrung Gottes plädiert, immer in Verbindung mit der Ausbildung einer humanistischen Moral. Es gibt nur zwei Dogmen für die Theophilanthropen: Die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele.

Zur Praxis:

4.

Der Kult wurde an den Feiertagen und freien Tagen (es waren ja die Sonntage abgeschafft, jeder zehnte Tag galt als Feier Tag) meist in katholischen Kirchen gestaltet. Da musste man sich einigen: Der eine Teil des Gotteshauses diente der katholischen Liturgie, der andere der theophilanthropischen Versammlung. Allein in Paris wurden 18 Kirchen sozusagen doppel – konfessionell genutzt, wie St. Roch, St. Merri usw. 1797 wurde berichtet, es gebe nur 12 Kantone im Département Seine ohne eine theophilanthopische Gesellschaft. Andere Départements, wie Yonne, hatten viele entsprechende Zentren. In der Stadt Sens soll es mehr Theophilanthropen als Katholiken gegeben haben. In vielen anderen Städten sind sie präsent: In Poitiers, Angers, Blois, Troyes, Dijon, Nimes usw.
In den Gottesdiensten wird zuerst der „göttliche Vater der Natur“ angerufen, dann folgt ein Moment der Stille für die Gewissenserforschung, dann wird ein Vortrag geboten, auch schlichte Hymnen – moralischer Erbauung – werden gesungen. Die Prediger, allesamt „Laien“, tragen einen blauen Anzug und einen Gürtel in der Farbe rosa.
Die verantwortlichen Leiter der religiösen Versammlungen stammen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, es sind keineswegs nur Intellektuelle oder Schriftsteller, die sich da engagieren. Zu den Anhängern zählten ehemalige (jetzt verheiratete) Priester, aber auch radikale Religionskritiker sowie Bauern oder Handwerker. Die Gestaltung der Liturgien ist sehr schlicht. Nur einige Blumen schmücken den Raum, etwas Obst wird auf einen Tisch, einen „Altar“, gestellt als „Dank an den Schöpfer“; es gibt in den Liturgien keine Bilder, keine Statuen usw. Francois Furet und Denis Richet schreiben in ihrer Studie „Die Französische Revolution“ (Fischer – Taschenbuch 1987, Seite 598): „Am Dekadi (also dem 10., dem freien Tag in der neuen Zeitstruktur CM) kann der katholische Pfarrer in der oft von Theophilanthropen beanspruchten Kirche nur noch die Frühmesse lesen, und er ist noch dazu verpflichtet, alle katholischen Embleme zu entfernen und zu verhüllen, bevor er den Priestern der Republik, also den Verantwortlichen der Theophilanthropen, das Feld räumt“.
Die Theophilanthropen bildeten keine Massenbewegung, aber es waren doch einige tausend Familien, die sich auf diesen Versuch einer neuen Frömmigkeit mit strengen ethischen Verpflichtungen einließen. Es wurden auch schlichte rituelle Handlungen anlässlich von Geburt, Eheschließung oder Bestattung angeboten. Dabei galt das Dogma: „Der Tod ist der Beginn der Unsterblichkeit“.
Für die Zeremonien in den Kirchen wurden „moralisch erbauende“ Texte ausgewählt, wobei neben die Bibel gleichberechtigt Texte von Philosophen, etwa von Sokrates oder Cicero und Seneca gestellt wurden; sogar Verse aus dem Koran wurden verlesen. Historiker wie Francois Furet haben darauf hingewiesen, dass die Grundsätze der Theophilanthropen weithin den Grundsätzen der Freimaurer – Logen entsprachen. Allerdings hatte der Kult dieser neuen Religion nichts Esoterisch – Abgeschlossenes, Geheimnisvolles wie der interne Kult der Logen. Nur in der Überzeugung von dem deistisch gedachten Gott der Aufklärungsphilosophie kamen beide, Logen und Theophilanthropen, überein.

5.

Aber, wie gesagt, eine Massenbewegung wurden die Theophilanthropen nicht– intellektuell waren sie zu anspruchsvoll und in ihren schlichten Riten und moralischen Erbauungen nichts für barocke Gemüter. Ein prominenter Besucher aus Deutschland, Wilhelm von Humboldt, lernte im Jahr 1799 die Theophilanthopen in Paris kennen, so berichtet die Berliner Salonnière Henriette Herz, nachzulesen in dem Buch “Henriette Herz. Berliner Salon” (Ullstein Taschenbuch, 1086, S. 123). Wilhelm von Humboldt, so schreibt Henriette Herz, fand den Kult um seinen berühmten Bruder Alexander von Humboldt sogar besser als den Kultus , den er damals in den Kirchen von Paris sah: “In diesen Kirchen mit ihren moralischen Inschriften, ihren gipsernen Statuen der Freiheit und den paar Theophilanthropen, welche sich an jeder Dekade (Wochendende) darin versammeln, um Gebote vorlesen zu hören, die nicht befolgt werden”. So schrieb Wilhelm von Humboldt an Henritte Herz, der im ganzen von Paris nicht “entzückt” war und sich lieber nach Madrid anschließend wandte!

6.

Zurück zur Theophilanthrophie bei den Franzosen: Viele Franzosen waren trotz der revolutionären Wirren eben doch, wenn auch eher diffus, katholisch geblieben und liebten weiterhin ihre Heiligen, die Prozessionen, die Mysterien der Messe mehr als die aufgeklärten moralischen Ansprachen der Theophilanthropen. „Die örtlichen Gewalttaten der von Sansculotten betriebenen Entchristianisierung haben die herkömmlichen Formen des Glaubenslebens nicht ausrotten können“ (so Furet/Richet, a.a.O., s 594.) Hinzukam, dass die Abschaffung des alten Kalenders mit dem Sonntag als dem freien Feiertag überaus künstlich und willkürlich wirkte und deswegen auf breite Ablehnung stieß. Die Verbindung der Theophilanthropie mit dem neuen Kalender war für diese Initiative alles andere als hilfreich. Es gab unter den führenden Mitgliedern des politisch entscheidenden „Direktoriums“ eine breite antiklerikale Tendenz, sie bediente sich für diese politischen Zwecke der Theophilanthropie. Hinzukam noch, dass der verfassungstreue Teil des Klerus, der sich also zur Republik offen bekannte, „den Augenblick gekommen sah, eine neue (demokratisch gestaltete französische) Kirche für die Dauer zu organisieren“ (Furet / Richet, a.a.O., S. 594). Besonders aktiv war hier Bischof Henri Grégoire, der schon als einfacher Pfarrer „unermüdlich sich um ein Miteinander von Revolution und Christentum bemüht hatte“ /Furet / Richet). Diese „mit der Republik“ versöhnten Priester und Bischöfe sahen in den Theophilanthropen eine Konkurrenz. Abbé Gregoire wandte sich noch im Jahr 1800 an die Diözesansynode in Bourges und wies dort darauf hin, dass die theophilanthropische Religion –in seiner Sicht – doch weit verbreitet sei, sogar in den Niederlanden oder Italien. Sie „bedrohe“ als „alternative Spiritualität“ durchaus den Katholizismus, also auch den mit der Republik versöhnten.

Das Ende ?

7.

Letztlich hat sich dann – von Napoléon so gewollt – doch die alte, romtreue, undemokratische und antirepublikanische und selbstverständlich antirevolutionäre Kirche durchgesetzt… Schon im Jahr 1800 wandte sich Papst Pius VI. gegen den „neuen Kult“, vor allem verdammte er die Nutzung katholischer Kirchen, er nannte die Aktivitäten der Theophilanthropen eine schändliche Profanierung.
Mit der neuen Religionspolitik unter Napoleon wurden die Theophilanthropen 1801 verboten, sie passten als „freie Association“ nicht mehr in eine politische Landschaft, die Pluralität der Religionen nur sehr begrenzt zulassen wollte. 1801 drangen Gegner der Theophilanthropen z.B. in die Kirche St. Gervais in Paris ein und verhinderten so weitere Feiern dieser Religion (so Michel Baron, a.a.O:, S 75).
Mit dem Verbot dieser „vernünftigen Religion“ der Theophilanthropen ist dann auch eine Alternative verschwunden, eine aufs Wesentliche begrenzte und ethisch orientierte Religion gegenüber den konservativ – dogmatischen Strömungen zu etablieren. Es setzte sich mit aller Macht der konservative Katholizismus durch: Joseph de Maistre, der reaktionäre Vordenker, ist da eine Schlüsselfigur. Er meinte, das Religiöse im streng katholischen Sinne und das theokratische Element lassen sich aus den Nationalideen des französischen Volkes nicht beseitigen. Schon ab 1801wurden die katholischen „congrégations“ wieder – belebt, die sich nicht nur um caritative Hilfe, sondern vor allem um klassisch – katholische Belehrung und Mission bemühten. „Die Militanz der dann genesenden Kirche vergiftete die französische Nation“, bemerkt der Soziologe Wolf Lepenies in seinem umfangreichen Buch „Saint- Beuve“, „man musste devot sein, um einen Posten zu bekommen, und ein Kirchgänger, wenn man seine Stellung behalten wollte. Jeder Ehrgeizige musste sich im katholischen Gottesdienst sehen lassen…Die große Zeit der Heuchelei brach an“.(S. 325). Später wurden die Reformvorschläge des liberal – katholischen Priesters Félicité de Lamennais verfolgt und unterbunden; Lamennais hatte in seinem Buch „Paroles d un croyant“ für den liberalen Katholizismus plädiert, das Buch wurde von Papst Gregor XVI. im Jahr 1834 verurteilt. 1854 verstarb Lamennais als exkommunizierter Priester, er wurde ohne jede religiöse Zeremonie in einem Massengrab auf dem Friedhof Père Lachaise schnell unter die Erde gebracht. So wurden liberale Katholiken behandelt und ausradiert.
An diese hier nur angedeutete weitere Entwicklung der katholischen Kirche in Frankreich muss erinnert werden, will man überhaupt die Bedeutung der Theophilantropie, verstehen: Sie war der kurze Versuch, auf der Höhe der philosophischen Erkenntnisse eine elementare und damit durchaus immer entwicklungsfähige Form der Spiritualität zu praktizieren, von Menschen, die eben nicht der Heuchelei verpflichtet sein wollten, sondern versuchten, ihrem eigenen Gewissen zu folgen.

8.

Es gab Versuche, die Ideen der Theophilanthropie wieder aufleben zu lassen. Henri Carle etwa gründete 1829 die „Alliance religieuse universelle“, aber sie konnte sich nicht mehr durchsetzen. Dass einige Ideen der Theophilanthropen heute in den wenigen liberalen und freisinnigen christlichen Gemeinden fortleben, darauf weist Michel Baron in seinem schon genannten Buch „Les Unitariens“ hin. Sind sie sich dieser Vorläufer bewusst?

Wir finden es bedeutsam, dass der politische Publizist Ernst Moritz Arndt in seinem Tagebuch “Pariser Sommer 1799” (es liegt in einer Ausgabe der Büchergilde Gutenberg vor) auf 5 Seiten von den Theophilanthropen berichtet, das Buch erschien 1802. In seinem Bericht über die von ihm besuchten Gottesdienste der Theophilanthropen (er nennt sie die “Freunde Gottes und der Menschen”) betont Ernst Moritz, dass man von dieser neuen religiösen Gruppe “viel im Ausland hört” (S. 113), aber “nur wenige wissen, was es ist”. Er sieht genau, dass die Theophilanthropie von Männern gestaltet wurde, “die sich nach ihren eigenen Begriffen selbst eine Religion machten, die auf den Grundsäzen des Deismus nach dem bloßen Vernunftglauben beruhte”. Neben der Erweckung der Sittlichkeit und Menschlichkeit sieht Arndt “die Achtung für alles Heilige fremder Religionen” als den Zweck der Theolophilanthropie. Er erwähnt zudem, dass jedem (männlichen) Mitglied der Gemeinschaft die Kompetenz zugetraut wird, “an Tagen der öffentlichen Zusammenkünfte aufzutreten und entweder zu predigen oder etwas vorzulesen, das in das Gebiet der Pflichten und Hoffnungen der Menschen einschlägt” (S. 115). Arndt weist darauf hin, dass in den Versammlungen auch Kollekten “zum Besten der Armen” veranstaltet werden. (S.116). Dass in dieser religiös – deistischen, “Basis – Bewegung” durchaus merkwürdige, irritierende Dinge passieren, verschweigt Arndt nicht, wenn er etwa nach einem Besuch des theophilanthropischen Gottesdienstes in der schönen Kirche Saint Sulpice (heute im 6. Arrondisssement) schreibt: Da hingen Gobelins, die den Gott Baccchus und andere mythische Gestalten zeigten, darunter “lüsterne Satyrn”. “Doch ungeachtet dieser Gobelins hörte ich hier eine treffliche Rede, die ein Mann in schlichtem braunen Rocke und dem Ansehen eines Dreißigjährigen hielt. Er sprach von der Ehe und der Kinderzucht”.

Literatur:

Eine ausführliche Darstellung der philosophischen Religionsgemeinschaft “Theophilanthropen” bietet Michel Baron, in seiner Studie “Les Unitariens” (Paris, 2004, Edition l Harmattan, Seite 69 – 88.

Neben dem schon erwähnten Werk von Furet /Richet:

Wolf Lepenies, Sainte – Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne. DTV 2006.

Jean – Pierre Chantin hat sich in einer Studie von 2003 (http://rives.revues.org/410 auf die umfangreiche Arbeit von Albert Mathiez bezogen, dessen Buch „La Théophilanthropie et le culte décadaire“ 1904 bei Félix Alcan erschienen ist.

In dem umfangreichen Band „Dictionnaire critique de la Revolution Francaise“, hg. von Francois Furet und Mona Ozouf, (Paris 1988) gibt es eine umfassende Studie (von Mona Ozouf) über „religion revolutionnaire“, Seite 603 ff.

COPYRIGHT: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Für weitere historische Studien empfehlen wir die Originaltexte:

http://books.google.de/books?id=hdMaAAAAYAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

http://books.google.de/books?id=E6sqitE9MrcC&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

http://books.google.de/books?id=jOOCXhFCHvYC&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

Abbé Meslier, Pfarrer und Atheist

Jean Meslier
Jean Meslier (1664-1729), französischer Aufklärer.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Der “Religionsphilosophische Salon Berlin” hat bisher meist auf aktuelle Diskussionen und Ereignisse, auch “Gedenktage”, in eigenen Veranstaltungen reagiert und dazu auch publiziert, um zum kritischen Nachdenken und Debattieren einzuladen.

Wir wollen in der neuen Rubrik “Forschungsprojekte” auch ohne unmittelbaren “aktuellen Bezug” Themen aufgreifen, die nicht unbedingt heute im Mittelpunkt (religions -) philosophischer Diskussionen stehen. Dabei sind die hier vorgestellten Themen und Thesen keineswegs “abgerundet” und fertig, sie eröffnen nur einen längeren Prozeß der Forschung und hoffentlich der Diskussion. Dass die “Projekte” viel mehr Beachtung verdienen als bisher, versteht sich von selbst. Insofern handelt es sich um alles andere als um schöngeistige “l`art pour l`art”…

Unser erstes Projekt heißt: Abbé Meslier, Pfarrer und Atheist.

Auch dieses Thema hat allerdings einen aktuellen Hintergrund: Sich atheistisch nennende Pfarrer gibt es auch heute, wir haben das Thema schon einmal kurz dokumentiert, klicken Sie hier.

Sich atheistisch bzw. radikal – religionskritisch äußernde Pfarrer lebten unseres Wissens vor allem in Frankreich seit dem 17. Jahrhundert.

Kirche in Étrépigny
Foto der kleinen Kirche in Étrépigny, in der Jean Meslier wirkte. Foto: Wikipedia/Roby

In dieser Dorf – Kirche von Etrépigny, im Erzbistum Reims in der Champagne, wirkte Abbé (Pfarrer) Jean Meslier von 1689 bis zu seinem Tod 1729. Meslier wurde 1664 in Mazerny, in den Ardennen, geboren, 1688 wurde er zum Priester geweiht. Er wurde als hochbegabter Junge von den Eltern fürs Priesteramt bestimmt, dagegen wehrte er sich nicht. Es war das kritische Nachdenken über die Lehren des Christentums, vor allem auch die autoritären Umgangsformen des Erzbischof de Mailly von Reims (“ein cholerischer Despot”, so der Historiker Georges Minois) sowie das Elend der Landbevölkerung, die Meslier in den Atheismus und philosophischen Materialismus führten. Meslier ist der wohl bekannteste und von der Wirkungsgeschichte her wohl bedeutsamste atheistische Priester. Er hat ein umfangreiches philosophisches Werk hinterlassen, das allerdings erst nach seinem Tod entdeckt und veröffentlicht wurde. So hatte es der Autor selbst verfügt und angstvoll dafür gesorgt, dass niemand davon vor seinem Tod erfährt. Sein Buch hatte er in mühevoller Arbeit abends bei Kerzenschein mit dem Federkiel selbst 3 mal geschrieben und es in der Gerichtskanzlei der (Orts) Gemeinde hinterlegt. Das ist das Besondere an der Person dieses gebildeten Landpfarrers: Er hat seine üblichen Aufgaben eines Priesters geleistet, gepredigt, Messen gelesen, Sakramente gespendet usw., aber immer in dem Bewußtsein: Eigentlich bin ich Atheist.Dabei war ihm selbst “unbehaglich zumute”, wie Georges Minois in seiner Studie “Geschichte des Atheismus” (Weimar 2000, Seite 333) betont.  Was uns heute als Verlogenheit erscheinen mag, hat im 17. Jahrhundert doch einen anderen, nämlich lebensrettenden Hintergrund: Nur im Verheimlichen der wahren eigenen Überzeugungen konnte Jean Meslier überleben. Das soll ja auch heute für Teile des Klerus gelten…. Meslier war nämlich gewarnt: Um 1700 wurde der Priester Lefèvre wegen Atheismus verbrannt; 1728 aus dem gleichen Grund wurde der Priester Guillaume in Frèsnes verhaftet und ins Exil geschickt (siehe G. Minois, Seite 329)….

Also: Nach Mesliers Tod wurde der Text Mesliers mit dem sehr ausführlichen Titel gefunden: „Mémoires des pensées et des sentiments des J.M., Pretre, curé, sur une partie des erreurs et de la conduite ….“ Das Werk “Mémoires” (=”Denkschrift”) widmet der Pfarrer den Mitgliedern seiner Gemeinde!  In diesem Werk bekennt sich der immer „korrekte“ und kirchlich erscheinende Landpfarrer zum Atheismus und Materialismus, er macht bereits deutlich, dass die künftige Gesellschaft „kommunistische“ Züge haben kann.

Es ist ein gewisses Verdienst von Voltaire, dass er im Jahr 1762 einen Auszug, einen „Extrait“, der Schrift von Meslier herausgab: Er  hat den Titel: „Testament“ und enthält vorwiegend die kritischen Studien Mesliers zur Bibel (er war ein hervorragender Kenner der Bibel); hingegen kommt seine Kritik an den sozialen Verhältnissen in dieser Auswahlschrift Voltaires eher zu kurz und Voltaire neigte dazu, den Atheismus Meliers in einen Voltaire wohl sympathischeren “Deismus” abzuschwächen. Der Historiker G. Minois bezeichnet dieses gekürzte (und verfälschte) Buch Voltaires: “Ein regelrechter Verstoß am Originaltext” (S. 331). Immerhin aber zeigte das „Testament“ seine Wirkung unter den Philosophen der Aufklärung, etwa bei Diderot, d Alembert, Holbach usw. Auch König Friedrich II. von Preußen (der „Alte Fritz“) besaß den Text. Dass das Buch Mesliers eher “weitschweifig”  ausfällt, bemerkten schon die ersten Leser. Trotzdem sind die 300 Seiten ein Beleg für die außerordentliche Reflexionskraft Mesliers. Der Revolutionär Ancharsis Cloots machte 1793 immerhin den Vorschlag, für Abbé Meslier eine Statue im “Tempel der (atheistisch verstandenen) Vernunft” aufzustellen, was abgelehnt wurde, die Jacobiner hatten – aus politischen Gründen – Angst vor dieser allzu deutlichen Werbung  für den Atheismus.

Wieder ist es typisch für das Editionswesen, dass die erste dreibändige Gesamtausgabe der „Mémoires“  in Amsterdam erscheint, und zwar im Jahr 1864, herausgegeben von Charles d` Ablaing van Giessenburg; in Rußland erscheint eine Kurzfassung bereits 1925, eine Übersetzung der Gesamtausgabe 1937. Eine erste kritische Gesamtausgabe (auf Französisch) erscheint von 1970 bis 1972 in Paris, darin sind auch die Texte Mesliers zu Bischof Fénélon enthalten.

Eine zentrale Frage heißt: Warum wurde Meslier Atheist? Eine vorläufige kurze Antwort: Entscheidend für ihn war das Erlebnis der miserablen Lebensbedingungen der Landbevölkerung; sie wurde vom Adel und höheren Klerus ausgeplündert. In seinen Predigten hatte Meslier so viel Mut, diese Missstände öffentlich zu kritisieren, deswegen wurde er von seinem Bischof vorgeladen und – kurzfristig – zum Schweigen ermahnt. Meslier widersetzte sich bischöflichen Drohgebärden. Als “Beichtvater” seiner Gemeinde wußte er zudem genau, wie es mit dem Glauben seiner “braven Christen” stand: “Sie glauben gegen ihre eigene Vernunft und gegen ihre eigenen Gefühle”. (S. 324 Minois).

Inzwischen ist klar: Meslier hat seine Texte zweifelsfrei selbst geschrieben, das wurde deutlich im Vergleich der Handschriften in den Kirchenbüchern seiner Pfarrei.

War Meslier als Abweichler und Atheist ein Einzelfall im damaligen Klerus? Darüber haben die Historiker Dominique Julia und Denis Mc Kee geforscht, sie kommen zu dem Ergebnis:”Die Art und Weise, in der Meslier verpflichtet war, ein jammervolles Doppelleben zu führen, wurde wahrscheinlich von etlichen seiner Kollegen im Priestertum geteilt. Es gibt viele Texte, die bezeugen: Es gab ein =inneres Leben=  der Priester damals, das voller Heimlichkeit hinter einer Fassade gelebt wurde, die nichts als Täuschung war”. So in der Studie, die in der “Revue d Histoire de l Eglise de France”, 1983, Seite 61 bis 86 veröffentlicht wurde; das o.g. Zitat steht auf Seite 86, klicken: Zum Artikel selbst

Interessant ist, dass Meslier und sein Buch sich alsbald “herumsprachen”. Georges Minois bietet eine umfangreiche Dokumentation über “Mesliers Nacheiferer” (Seiute 336 ff). Er nennt jedenfalls eine beträchtliche Zahl “ungläubiger, frei denkender Abbés”. Er nennt allein 18 Namen in seinem Buch. Ausdrücklich wird der Benediktiner Mönch Dom Léger – Marie Deschamps erwähnt (von 1745 bis 1762), Mönch der Abtei Saint – Julien de Tours, bis zu seinem Tod 1774 im Priorat Montreuil – Bellay. Er hat ein atheistisch – metaphysisches System hinterlassen (in seinem Manuskript “Le vrai Système”). Er vertrat radikalere Positionen als die Aufklärer Voltaire oder auch Diderot. Deschamps wäre auch ein “Forschungsprojekt”…. Er kritisierte alle Formen der Aufklärung, die seiner Meinung nach noch zu wenig über ihre eigenen Voraussetzungen aufgeklärt sind….

Mesliers “Testament” ist auf Deutsch erschienen:  Hartmut Krauss (Hrsg.) Das Testament des Abbé Meslier. Erschienen im Hintergrund Verlag, 2005, 403 Seiten, gebunden, Euro 19,80

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophoischer Salon Berlin

 

 

Tugenden und Laster: Eine philosophische Revue

Müßiggang ist aller Liebe Anfang

Wenn Tugenden zu Lastern werden – und umgekehrt.   Christian Modehn im Gespräch mit dem Philosophen Martin Seel

Wollen Sie an einer philosophischen Revue teilnehmen? Dabei können Sie ganz schön erschüttert werden. Denn im Laufe der Revue werden Tugenden zu Lastern und umgekehrt. Der Philosoph Martin Seel (Universität Frankfurt am Main) zeigt überzeugend, wie fließend die Übergänge sind zwischen gutem und bösem Verhalten. »111 Tugenden – 111 Laster« heißt sein neuestes Buch. Es stellt keineswegs 111 Tugenden den 111 Lastern gegenüber. Vielmehr sind die 111 menschlichen Charakterbilder in sich doppeldeutig: Eine Tugend kann zum Laster werden und ein Laster zur Tugend.

Herr Seel, verwischen Sie in Ihrem Buch nicht das klare Bild, das bisher ein tugendhaftes beziehungsweise ein verabscheuungswürdiges, ein lasterhaftes Leben auszeichnete?

Martin Seel: Auch nach der Lektüre meines Buches bleibt es dabei, dass Tugenden ein gutes und gerechtes Leben fördern und Laster ein solches Leben behindern und im Extremfall zerstören. Jedoch führt das Buch vor, dass in den meisten der menschlichen Charaktereigenschaften, die wir auf den ersten Blick als Laster verbuchen, durchaus auch Energien der Tugend stecken und entsprechend, dass in den menschlichen Tugenden häufig auch Kräfte des Lasters wirksam sind. Das heißt: Tugenden sind heikle Balancen, die oft nur mit Mühe gehalten werden können – aber die Mühe ist es wert.

Zum Beispiel: Warum kann das hoch gelobte Mitgefühl auch lasterhaft, also schädlich sein, für den Mitfühlenden wie für die Betroffenen?

Martin Seel: Wir alle kennen das Phänomen des falschen Mitleids. Aber auch dort, wo wir nicht nur ein geheucheltes, sondern ein echtes Mitgefühl für die Lage anderer Personen aufbringen, kann es vorkommen, dass wir die anderen durch unsere Empathie erdrücken: Wir glauben, besser als diese selbst zu wissen, wie es ihnen ergeht, und maßen uns an, deren Leben in unsere Hand zu nehmen. Zugleich kann übersteigertes Mitgefühl auch denen schaden, die es zeigen. Dies geschieht, wenn sie vor lauter Anteilnahme das Gespür für ihr eigenes Wohlergehen verlieren, was ihnen früher oder später die Kraft und die Fähigkeit zu aufrichtiger Anteilnahme raubt.

Oder denken wir an die Tugend der Frömmigkeit. Warum kann sie ins Lasterhafte »umkippen«?

Martin Seel: Wie immer man Frömmigkeit im Einzelnen versteht, ob als eine religiöse Haltung oder auch nur eine Haltung der »Weltfrömmigkeit« (die von jener gar nicht immer so leicht zu unterscheiden ist) – ihre Formen kippen ins Lasterhafte um, wenn der Glaube der Frommen zu einem starren, dogmatischen und darum intoleranten Glauben wird, der keinen anderen neben sich duldet. Insofern ist aller Fanatismus fehlgeleitete Frömmigkeit.

Nehmen wir eine relativ milde Form des Lasters, etwa die Faulheit. Kann denn aus Faulheit eine tugendhafte Haltung werden?

Martin Seel: Aber sicher. Das ethische Lob der Faulheit ist ja durch die Jahrhunderte hinweg immer wieder gesungen worden. Nicht weil Faulheit in jeder Hinsicht wohltuend und sozialverträglich wäre, aber doch, weil in ihr manchmal ein Geist des Widerstands gegen falsche eigene Erwartungen und maßlose gesellschaftliche Zumutungen steckt, der durchaus heilsam sein kann. In der richtigen Dosis erweist sich Faulheit als eine Form des Müßiggangs. Und entgegen anderslautenden Gerüchten ist Müßiggang nicht aller Laster, sondern aller Liebe Anfang.

Könnte man es ethisch rechtfertigen: Wer nie untreu war, weiß nicht, was Treue ist? Also sollte man sich eine gewisse »Dosis« Untreue gönnen?

Martin Seel: Ich würde vorsichtiger sagen: Wer den Zweifel an der Treue nicht kennt, kennt den Sinn der Treue nicht. Der Zweifel, auf den es hier ankommt, betrifft die Frage, ob die Person oder Sache, der ich treu bin, es wirklich wert ist, dass ich es bin. Sich dies fragen zu können ist selbst ein Zeichen der Fähigkeit zur Treue.

Ein hundertprozentig heiliger Mensch ist also philosophisch gesehen nichts als ein frommer Wunsch?

Wenn wir mit der Figur des Heiligen, wie es in der Moralphilosophie und Moraltheologie immer wieder geschehen ist, das Ideal einer Person verbinden, die sich vollkommen sicher auf der Seite des Guten bewegt, weil diese den Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Selbstsorge und Sorge für andere, zwischen den Forderungen des Tages und denen über den Tag hinaus (usw.) überhaupt nicht kennt, dann handelt es sich nicht einmal um einen frommen Wunsch, sondern einfach um eine unsinnige Vorstellung. Denn moralisch zu sein heißt gerade, den Widerstreit zwischen unterschiedlichen Anforderungen und Erwartungen ohne Bedauern anzunehmen – ohne den Irrglauben, man könne ein für alle Mal auf der richtigen Seite sein. Die wirklichen Menschen übrigens, die in religiösen Traditionen als »Heilige« verehrt werden, haben sich diesen Irrglauben kaum zuschulden kommen lassen.

Der Revolutionär Robespierre etwa wollte »nur tugendhaft« sein. Ist er gerade deswegen zum Massenmörder geworden?

Martin Seel: Unter anderem deswegen würde ich sagen. Moralischer Rigorismus ist gerade politisch gefährlich. Er verletzt das menschliche Maß eben dadurch, dass er sich einbildet, im Besitz der einzig wahren Deutung dieses Maßes zu sein. Auch hier gilt: Die reine Illusion ist immer eine Illusion der Reinheit.

Gibt es denn für Sie ein Laster, das niemals die Möglichkeit hat, sich positiv zur Tugend zu entwickeln?

Martin Seel: Ja, zumindest ein Laster bildet in meinem Buch eine Ausnahme von der Ambivalenz-Regel: die Grausamkeit. Grausam sind Personen oder Institutionen, die bereit sind oder es in Kauf nehmen, die leibliche und seelische Integrität von Personen ohne Rücksicht auf ihr Wohlergehen zu verletzen. In dieser Einstellung steckt nicht der geringste Keim einer Orientierung am Guten.

Es kommt in Ihrer Tugend-Philosophie darauf an, die Übergänge wahrzunehmen, wenn zum Beispiel aus der authentischen Freundlichkeit das Bloß-freundlich-Tun wird?

Martin Seel: Überall in der menschlichen Lebensführung kommt es auf die feinen Unterschiede an – so auch hier. Wobei nicht einmal das bloße Freundlich-Tun ganz zu verachten ist, etwa, wenn wir an die »professionelle« Freundlichkeit von Schalterbeamten oder Kassiererinnen denken.

Sie wenden sich gegen die definitive Abgeschlossenheit einer bestimmten Lebenshaltung. Könnte man sagen: Sie wollen das Leben flüssiger machen? »So bin ich und so bleib ich auf ewig«: Dieser Spruch hat dann wenig Sinn?

Martin Seel: »Das Leben« flüssiger machen zu wollen wäre wohl allzu vermessen. Außerdem erscheint es den meisten von uns ohnehin als einerseits zu flüssig (und flüchtig) und andererseits zu festgelegt (und beengend). Der Prozess der Lebensführung aber kann so gestaltet werden, dass in ihm eine Offenheit für die Ungewissheiten und Instabilitäten des Lebensvollzugs zum Ausdruck kommt. Nur dank dieser Offenheit ist so etwas wie ein über einzelne glückliche Augenblicke hinaus gelingendes Leben möglich.

Sie nennen Ihr Buch »eine philosophische Revue«: Das heißt, die Leserinnen und Leser können mit der Lektüre irgendwo beginnen, zum Beispiel bei der »Coolness«. Dann werden sie lesen, dass Coolness durchaus eine Mischung aus Gleichmut, Lässigkeit und Gewitztheit ist. Aber dann schreiben Sie auch: Coolness, »diese wohltemperierte Leidenschaft, lässt sich auf Dauer im wirklichen Leben nicht durchhalten«. Hoffen Sie darauf, dass durch Erkenntnis eine neue Einstellung zur Coolness, vielleicht zum Leben insgesamt, gelingt?

Martin Seel: Das Argument an der Stelle, auf die Sie sich beziehen, besagt, dass ein Leben lang durchgehaltene Coolness zur bloßen Fassade verkommen müsste: »Nur brüchige Coolnes ist cool«, lautet deshalb in dieser Sache das paradoxe Fazit. Wer das akzeptiert, verleiht seiner Lebenseinstellung einen bestimmten Akzent. Die Sache der Tugenden und Laster ist aber zu komplex, als dass man im Nachdenken über eine von ihnen sogleich die ganze Einstellung zum Leben neu konfigurieren könnte. Dies aber kann man ohnehin durch Nachdenken allein gar nicht bewerkstelligen. Erfahrung und Übung, und mit ihnen Enttäuschung und Überraschung, sind die unumgänglichen Begleiter einer wirksamen ethischen Reflexion.

Meinen Sie also, dass philosophische Besinnung und Kritik einen therapeutischen Charakter haben kann?

Martin Seel: Ja, durchaus: vor allem deshalb, weil es sich um Selbsttherapie handelt, die ihre Basis in einsamer oder gemeinsamer Selbstverständigung hat.

Sind denn Tugenden aus Ihrer Sicht lernbar? Und wenn ja, wer sollte Tugenden lehren?

Martin Seel: Hier möchte ich paradox sagen: Sie sind lernbar, aber nicht lehrbar. Dies folgt aus dem, was ich eben gesagt habe: Die Ausbildung von Tugenden und auch Laster ist wesentlich eine Sache der individuellen Selbstformung, die im günstigen Fall von beständigen Lernprozessen begleitet wird. Das bedeutet freilich weder, dass man den eigenen Charakter insgesamt in Regie nehmen könnte, noch, dass man nicht auf die Hilfe und das Beispiel anderer angewiesen wäre. Dennoch bleibt der Gedanke eines Tugendlehrers ein hölzernes Eisen. Die Fähigkeit, im eigenen Handeln diverse Tugenden zu beweisen, hat nicht die Verfassung eines Expertenwissens, das in feinen Dosen an die Laien weitergegeben werden könnte. Denn es gibt hier weder Laien noch Experten. Wohl aber gibt es Menschen, die anderen durch Erziehung, Anleitung, Imagination und Animation auf die Sprünge helfen können, indem sie veranschaulichen oder vormachen, wie es trotz allem möglich ist, sich selbst und den anderen einigermaßen gerecht zu werden.

Sollten heute Philosophen bestimmte Tugenden in den Mittelpunkt stellen, wenn nicht fördern? Etwa Gerechtigkeit, Engagement, Solidarität?

Martin Seel: Dies sind wichtige und unbedingt zu stärkende soziale Tugenden, über denen aber auch die stärker individualethischen Tugenden nicht vergessen werden sollten, wie beispielsweise Humor, Selbstachtung und Selbstvertrauen. Denn ohne diese werden jene nicht umsichtig wirksam werden können. Außerdem ist zu beachten, dass gerade die primär sozialen Tugenden in einer Gesellschaft wie der unseren nicht allein individuelle, sondern zugleich institutionelle Werte bezeichnen: Ohne gerechte Institutionen beispielsweise bleibt das individuelle Bemühen um Gerechtigkeit immer auch ohnmächtig. Daher hat die Förderung von Tugenden von vornherein eine politische Dimension.

Wie können Philosophen die verschiedenen Formen der Gier, etwa in der Finanzwelt, analysieren und kritisieren?

Martin Seel: Gerade an diesem Beispiel zeigt sich die eben erwähnte politische Dimension der Rede von Tugenden und Lastern. Das Problem der Finanzmärkte und ihrer Regulierung liegt ja nicht in erster Linie an der persönlichen Gier der Akteure, die auf dem Parkett der Börsen zugange sind. Es liegt vor allem an den systembedingten Imperativen, denen die Finanzindustrie gehorcht, und ihrer Indifferenz gegenüber den Entwicklungen der Realwirtschaft. Hier gegenzusteuern – und damit auch die Spielräume individueller Gier zu verringern – ist eine eminent politische Aufgabe, die zudem nur im internationalen Maßstab angegangen werden kann.

Warum brauchen wir eine neue Tugendlehre? Reicht im Alltag nicht der kategorische Imperativ Immanuel Kants als Orientierung völlig aus, der mich mahnt, immer zu prüfen, ob meine Lebensmaxime allgemeines Gesetz für alle werden kann?

Martin Seel: Der kategorische Imperativ oder andere Formen eines Instrumentalisierungsverbots im Verhalten der Menschen untereinander reichen allein deshalb nicht aus, weil sie angesichts konkreter Situationen viel zu wenig aussagen können. Und weil sie nicht in der Lage sind, der Möglichkeit von normativen Konflikten gerecht zu werden. Eine moderne Tugendlehre erinnert demgegenüber an die praktische Auslegung allgemeiner moralischer und rechtlicher Grundsätze, wie sie in der Gestalt einer Pluralität von Tugenden und Lastern in unserem alltäglichen Leben wirksam ist – und dort auch immer wieder verhandelt wird. Denn das ist der Sinn der Tugenden: Denen, die sich um ihren Besitz bemühen, eine Deutung ihres Lebens zu geben, die es ihnen erlaubt, ihr Dasein in Selbstachtung und in mit anderen geteilter Selbstbestimmung zu vollbringen.

Buchhinweis: Martin Seel. 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue.

S. Fischer. Frankfurt am Main. 288 Seiten. 18,95 €

Dieser Beitrag erschien zuerst im April 2012 in der empfehlenswerten Zeitschrift Publik Forum.

Hinweis am 2.1.2019: Über das neue (2018) Buch von Martin Seel “Nichtrechthabenwollen” klicken Sie hier.

Coypright: christian modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

Mit Erzbischof Woelki ins Getto?

Mit Erzbischof Woelki ins Getto ?
Religionskritik, also kritisches Beobachten faktischer Religionen, ist immer ein Element der Philosophie.
Darum einige neue Hinweise, publiziert am 9.9.2011:

Es ist ein feines Zusammentreffen: Rainer Maria Woelki ist seit einigen Wochen offiziell Erzbischof von Berlin, da wird am 9.9. 2011 im Tagesspiegel publiziert, dass das Oberverwaltungsgericht Berlin – Brandenburg die Einrichtung einer nur für Jungen reservierten Schulen des Opus Dei in Potsdam definitiv gestattet hat. Bisher hatten Gerichte in Brandenburg diesen sonderbaren Schultyp zurückgewiesen. So hat der an einer Opus Dei Universität in Rom (Santa Croce) promovierte Berliner Erzbischof eine gute pädogogische Adresse in seiner Nachbarschaft. Damit wird der Anteil der Opus Dei Mitglieder und Opus Dei Freunde in Berlin und Potsdam noch einmal steigen, zur Freude des Erzbischofs. Aufgrund dieser Tatsachen wurden wir gebeten, weitere Korrespondenten Berichte über Rainer Maria Woelki – auch aufgrund der starken Nachfrage auf dieser website – neu und erweitert zugänglich zu machen. Wir weisen zudem auf den eigenen Beitrag “Ein Freund des Opus Dei zu Gast in Berlin” auf dieser website hin.

Die theologische Doktorarbeit Rainer M. Woelkis hat zwei Professoren der Opus Dei Universität Santa Croce in Rom als “Betreuer”: Prof. Antonio Miralles, ein spanischer Opus Dei Priester, und Prof. Klaus Limburg, ein deutscher Opus Dei Priester; Miralles wird vom Fach her, auf diversen Websites, manchmal als systematischer Theologe vorgestellt, manchmal als Liturgiespezialist. Der Zweitgutachter Prof. Klaus Limburg ist Spezialist für Altes Testament. Die Doktorarbeit Woelkis über die “Pfarrei” gehört zweifelsfrei in den Bereich praktischer Theologie oder der systematischen Theologie. Was hat da ein Alttestamentler als Zweitgutachter zu suchen? Einige wenige Seiten in der Doktorarbeit Woelkis sollen die Gemeinden im “alten Israel” behandeln, ein ausreichender Grund, einen Alttestamentler hinzuziehen? Sicher nicht. Woelki brauchte den Deutschen Prof. Klaus Limburg, weil sein Erstgutachter, der Spanier Prof. Antonio Miralles, gar nicht oder ganz wenig Deutsch spricht. So wurde eine Doktorarbeit auf Deutsch bei einem nicht oder kaum deutsch sprechenden Professor eingereicht und angenommen. Ein bißchen ungewöhnlich, meine Beobachter. Dass Miralles wenig oder kein Deutsch spricht, bezeugen Aussagen des emeritierten Theologen Prof. Anton Ziegenaus aus Augsburg, der selbst in den neunziger Jahren an der Opus Dei Universität Santa Croce lehrte und dem Opus Dei nahesteht; in einem Telefongespräch am 25.7. 2011 wurde von Ziegenaus bestätigt, dass Prof. Miralles nicht oder ganz wenig deutsch spricht. Prof. Klaus Limburg, jetzt Aachen, bestätigt in einem Telefongespräch am 9.9.2011 ebenso, dass Miralles nicht oder wenig Deutsch spricht. Wer die Publikationen des Erstgutachters Prof. Miralles durchschaut, findet in den Literaturlisten, etwa zur “penitenzia”, Buße, keine deutschen Literaturhinweise, obwohl gerade die Bußgeschichte in der deutschsprachigen Theologie gründlichst erforscht wurde und sozusagen erwähnt werden muss, will man auf der Höhe der Forschung sein. Das heißt abermals: Prof. Miralles kann offenbar auch nur sehr begrenzt Deutsch lesen. Summa summarum: Die Doktorarbeit Woelkis über die Pfarrei wurde letztlich von einem Alttestamentler, also einem Fachfremden Theologen, “betreut”. Es kam, so die Vermutung unserer Korrespondenten, offenbar nur darauf an, möglichst schnell und einfach einen Doktortitel zu haben.

Die folgenden Informationen gehen auf Anfang Juli 2011 zurück, wurden zu dem Zeitpunkt auch publiziert, sind immer noch bedenkenswert:
Am Dienstag, 5.7.2011, fand eine Art Fragestunde statt, zu der Bischof Rainer Maria Woelki, der neu ernannte Erzbischof von Berlin, eingeladen hatte. Nicht nur die eigentlich Betroffenen, zahlreiche Journalisten, waren dabei, sondern auch etliche Priester und Mitglieder der Gemeinden. So wurde kreuz und quer gefragt, nach der Bindung an Köln und der Einschätzung des Gesellenvaters Adolph Kolping…

Information am 7.7.2011: Der religionsphilosophische Salon erfährt, dass eine Zusammenfassung der Doktorarbeit Rainer M. Woelkis in der Kölner Dombibliothek plötzlich wieder aufgetaucht ist, sie ist dort lesbar, aber nicht zu entleihen. Es ist aber nicht die Doktorarbeit selbst, sondern eine art Kurzfassung.

Am 6. 7. wurde mitgeteilt:
– Uns irritiert zunächst: DER TAGESSPIEGEL meldet am 6. 7. die beiden Exemplare der Doktorarbeit Woelkis seien verschwunden, das Exemplar aus der römischen Uni und das Exemplar aus der Dom Bibliothek in Köln. Als Buch liegt die Doktorarbeit Woelkis nicht vor. Das Verschwinden der öffentlich einsehbaren Doktorarbeit ist sehr bedauerlich. Will man die Arbeiten entfernen, um etwas zu vertuschen? Woelki wurde bekanntermaßen im Jahr 2000 an der OPUS DEI Universität in Rom zum Dr. theol. promoviert. Dieses Detail wird in manchen kirchenoffiziellen biographischen Notizen bereits verschwiegen, wie : http://www.erzbistum-koeln.de/erzbistum/weihbischoefe/woelki.html. Gelesen am 5. 7. 2011 um 21.00.

Es ist auch nach der Pressekonferenz völlig unklar:
– Warum hat der damals in Bonn wohnende Woelki eine theologische Promotion nicht an der katholisch – theologischen Fakultät in Bonn selbst angestrebt? Da hätte er sich die weiten Wege nach Rom sparen können, denn ein Doktorand muss sich doch wohl ab und zu mal an seiner Uni blicken lassen. Das gilt doch wohl auch für die Opus Dei Universität?

– Ist die Arbeit eines Leiters eines Priesterseminars so wenig auslastend, dass man nebenbei promovieren kann?
– Warum wollte Woelki an einer Opus Dei promovieren? Die Entscheidung für „Santa Croce“ ist doch kein Zufallsergebnis. Diese Uni rühmt sich auf Ihrer website heute, (siehe die Startseite der Opus Dei Uni: http://www.pusc.it/ gelesen am 5. 7. Um 21. 15 Uhr )
dass einer der „ihren“ Erzbischof von Berlin wurde. Woelki gehört in der Sicht der Uni einfach dazu, er ist sozusagen bis heute Teil der Opus Dei Uni. Kann man das angesichts dieser Meldung im ernst leugnen?
Man muss nicht Mitglied im Opus Dei sein, um in den Kategorien dieser Vereinigung zu denken. Es gibt ja auch die Vereinigung der „Priester vom Heiligen Kreuz“, die mit dem Opus eng verbunden ist, mit 4.000 Mitgliedern. Wer mag da wohl alles Mitglied sein?
Das Bekenntnis, nicht zum Opus Dei zu gehören, sagte gar nichts. Was sind die theologischen Opus Dei Kennzeichen: Absoluter Gehorsam gegenüber dem Papst, Treue zum Katechismus, Treue zur vorgegebenen Lehre, an der nichts “gerüttelt” werden darf; “meine Hände sind gebunden”, dieses Wort fiel oft in der Pressekonferenz; also Eigeständnis, nicht eigenständig handeln zu können usw. usw.

– Warum also ausgerechnet eine Promotion bei der Opus Dei Universität Santa Croce? Ging es dort besonders schnell? War es dort aufgrund von Beziehungen besonders einfach?

Die Antwort könnte heißen: Weil dort sein Freund und Förderer Kardinal Meisner auch ein Freund des Hauses ist. 1997 z.B. hielt Meisner an dieser Opus Dei Universität einen Vortrag. Das ist keine Frage: Dort gehen nur Leute hin, die mindestens mit dem Opus Dei sympathisieren. Die anderen, denen grundlegende Reformen der römischen Kirche vorschweben, denen die “ecclesia semper reformanda” heilig ist”, würden sich vielleicht dort eher nicht so wohl fühlen…

– Dass die Doktorarbeit Woelkis verschwunden ist, stimmt nachdenklich: Jetzt ist sie offenbar plötzlich wieder da. Trotzdem beibt die Frage: Wer ist der Doktorvater und der Zweitgutachter? Dr. theol. Woelki wird das sicher alsbald mitteilen. Nebenbei: In der Entstehungszeit der Doktorarbeit Woelkis war Dr. Georg Gänswein, heute Sekretär des Papstes, an dieser Opus Dei Universität in Rom Dozent!

Aber abgesehen von diesen kirchenpolitischen Fakten, die zeigen, wie schwer es ist, die Wahrheit zu finden, wenn man es mit der Macht einer Geheimorganisation, dem opus dei, zu tun hat. Da müssen alle Bekenntnisse Mitglied oder Nichtmitglied zu sein notwendigerweise im Nebulösen verbleiben. Die Frage ist: Will die Kircheführung vielleicht bewusst das Nebulöse, das Unklare, das Mysteriöse? Beispiele im Umgang mit der eigenen Vatikan – Bank usw. gibt es in Hülle und Fülle …
Woelki bemühte sich am 5. 7. 2011 als aufgeschlossener Seelsorger zu erscheinen; er konnte aber nicht verbergen: Er will „die“ Lehre der römischen Kirche durchsetzen und umsetzen. Das Wort Katechismus nannte er oft, dort steht die Glaubenssubstanz sozusagen fest verankert drin. Wie ein goldener Schatz muss er gehütet werden. Goldene Schätze ändert man ja bekanntlich nicht. Aber goldene Schätze sind immer etwas Totes.
So viel wurde klar: Ein Bischof „hat“ die Wahrheit, er muss sie nur durchsetzen. Miteinander und Dialog gibt es da nicht mehr. Der Bischof als ausführendes Organ der vatikanischen Bürokratie und Dogmatik, das ist der Gesamteindruck.
Diese Überzeugungen kann man als Katholik ja gerne glauben, man muss nur die Konsequenzen sehen: Dieses Verständnis des Bischofsamtes entspricht nicht mehr im entferntesten der heutigen theologischen Forschung. Dadurch stellt man sich ins theologische Abseits. Können es sich Bischöfe und Päpste leisten, die theologische Arbeit zu ignorieren? Die Antwort lautet: Faktisch wird das mit Macht durchgesetzt. So funktioniert Hierarchie.
Wer in einer Stadt wie Berlin „die“ Wahrheit einfach anwenden will, führt seine Kirche ins intellektuelle Getto. Da darf dann nur noch nachgebetet und gehorcht werden. Nur wenige, vielleicht die letzten verbliebenen Senioren, werden sich zu einer solchen Haltung noch aufraffen. So ist abzusehen: Die römische Kirche wird in absehbarer Zeit zur „Sekte“ (wir scheuen eher dieses Wort, hier aber ist es mal angebracht): Die kleine Schar kümmert sich dann nur noch um den eigenen rechten Glauben.
Alle freie Diskussionen unter gleichwertigen Partnern sind dann verschwunden, alle Kreativität, alles Experimentieren und Wagen, alle ökumenische Zusammenarbeit etwa in Form von gemeinsamem Abendmahl sind auf den Sankt Nimmerleins Tag verschoben. Muss man noch betonen: Nur wer sich wandelt und ändert und reformiert, ist lebendig?
Beginnt mit Bischof Woelki der Weg zur katholischen Sekte? Die „kleine Herde der Hundertfünfzigprozentigen“ haben sich ja viele Bischöfe immer gewünscht. Sie wissen natürlich auch, dass sie dann über unendlich weniger Finanzmittel verfügen…Nebenbei: Spirituell Interessierte verlieren dadurch bestimmte Treffpunkte des Austausches. Ein moderner, demokratischer Katholizismus, das haben wäre eine Kirche, die viele Berliner interessieren könnte. Aber: moderner Katholizismus – das ist nur noch ein Traum…

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