Zu viel Luther? Einige Fragen zum (Bücher) Kult um den Reformator

Eine Art  Luther (- Bücher -) Boom hat gewisse Bereiche des kulturellen und religiösen Lebens in Deutschland erfasst: Claudia Keller hat im “Tagesspiegel” vom 23. August 2016 (Seite 6) für den Herbst etwa 50 neue Bücher über Luther gezählt, es werden nicht die (zeitlich gesehen) letzten sein. Der Reformator aus Wittenberg in allen nur denkbaren Variationen wird da “behandelt”. Nur einige Beispiele: “Luther für Eilige”, “Luther für Neugierige”, “Mensch Luther”, Luther der Rebell” und so weiter. Bald werden wohl diese Titel folgen: “Luthers liebstes Bier”, “Luthers Geheimrezepte”, “Luthers unbekanntes Liebesleben”  usw. Man muss sich fragen: Haben die Autoren und die möglichen LeserInnen keine anderen Sorgen, als alle Details zum Reformator Luther zu verbreiten und zur  Kenntnis zu nehmen? Soll ein neuer, aber ganz alter, nämlich spätmittelalterlicher  “Nationalheld” etabliert werden? In Zeiten, in denen “die Nation” leider in sehr rechtslastigen Kreisen wieder zu wichtig genommen wird? Schwappt wieder einmal die Vorliebe für Sekundärliteratur über und vernichtet alle Lust, Luthers eigene Werke selbst zu lesen? Und vor allem: Welche geistigen und theologischen Energien werden fest gelegt, wenn sich im Reformationsgedenken 2017 dann doch offenbar alles um Martin Luther dreht? Erwartet die Welt, um es einmal großspurig zu sagen, erwartet die Welt heute inmitten von Kriegen, Aggressionen, von Mord und Todschlag und Verhungernlassen ganzer Städte, von Erdulden der Herrschaft von Diktatoren, von Verzweiflung weiter Kreise der Menschheit usw. usw. wirklich, dass sich große Verlage und viele tausend Leser so hyper-intensiv mit Luther befassen? Da sage “man” bitte nicht, alle diese großen entsetzlichen Probleme der Menschheit von heute fänden doch in Luthers Büchern eine Antwort. Etwa gar in seiner eher grausigen augustinischen Lehre von der Erbsünde und der angeblich daduch total verdorbenen menschlichen Vernunft? Zudem: Ist der massive, kommerziell bedingte Bücherboom zu Luther vielleicht eine umgekehrte Fortsetzung des Ablasshandels? D.h. Wollen sich Autoren (und Verlage) frei kaufen von der Notwendigkeit und in unserer Sicht der Pflicht, einen einfachen, einen elementaren, modernen und nachvollziehbaren und berührenden Glauben zu formulieren – jenseits der alten Formeln und dogmatischen Floskeln, die heute selbst sehr nachdenkliche Menschen beim besten Willen nicht mehr verstehen und mitvollziehen können. So versteckt man sich in Theologenkreisen angstvoll in der ewigen Luther-Interpretation, anstatt einen modernen christlichen Glauben neu vorzuschlagen; selbstverständlich auch in einer neuen, entstaubten Kirche. Darum macht man es sich mit dem Bücher-Boom und den bevorstehenden Festivals im Reformationsgedenken 2017 wohl zu einfach, zu bequem. Wem ist damit gedient, d.h.spirituell “geholfen”? Ist das nicht alles Spektakel? Wer fragt, inwiefern und warum die römische Kirche immer noch – 500 Jahre nach der Reformation – an den “Skandalthemen” Luthers festhält, wie Ablasswesen, Klerikalismus, Ablehnung einer synodalen Struktur der Kirche, Zölibat, Unfehlbarkeit des Papstes usw.? Gibt es da Grund zum Feiern? Anstatt diese Fragen zu stellen: Schreibt man lieber Bücher, die Luther als den “Propheten der Freiheit” feiern, vielleicht bloß der inneren, der geistigen Freiheit? Wer schreibt über die grausigen Kämpfe und Attacken zwischen Lutheranern und Calvinisten bis ins 18. Jahrhundert? Merkwürdig ist zudem, dass bis heute der Augustinerorden, dem Luther bekanntermaßen angehörte, nicht die minimalste Äußerung zu seinem “Mitbruder” Martinus publiziert hat? Ist dem Augustinerorden dieser Mitbruder Martinus nur peinlich? Stört er das Ordensleben? Wenn ja, wie? Dazu würde man doch gern etwas vernehmen: “Katholisches Ordensleben heute trotz Luther”

Wenn man sich schon als philosophischer Religionskritiker mit Reformatoren von einst befassen will, dann empfehlen wir zwei unterschiedliche Reformatoren, die im Luther-Rausch der offiziellen Kirche natürlich, möchte ich fast sagen, untergehen und ins Vergessen gedrängt werden. Ich meine den Reformator und Theologen Thomas Müntzer und den Reformator und Theologen Jacob Arminius. Sie können den Namen klicken und werden zu weiterem kritischen Fragen und Nachdenken weiter geführt… über Luther hinaus, natürlich.Und dann wird man doch auch wieder sich Erasmus von Rotterdam zuwenden, dem moderaten, philosophisch gebildeten Theologen, der genau wusste: Auf eine kluge, man möchte sagen, vernünftige Reduzierung dieses ganzen Dogmen-Balastes des Christentums kommt es, also auf ein zeitgemäßes “Wesen des Christentums”. Dieses Projekt wird in Deutschland, von der “neuen liberalen Theologie” abgesehen, nicht bearbeitet. Wäre aber der wichtigste Beitrag im Luther-Jahr.

PS: Zu einem leider wenig beachteten Aufsatz über Erasmus: “Erasmus und sein Gott” des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski, 1965 erschienen. Noch nachzulesen in: L.K.: “Geist und Ungeist christlicher Traditionen”, dort S. 44 bis 58. Merken wir uns, im Blick auf den in dieser Hinsicht völlig verstörten Luther, der der Vernunft und damit der Philosophie nichts zutraute: Kolakowski schreibt über Erasmus` Lehre: “Es ist nicht wahr, dass die Natur und die natürlichen Fähigkeiten (also die Vernunft) durch den Satan monopolisiert sind…Ein durch Gott geschaffener Mensch kann nicht einfach nur böse sein” (S. 51). Das Böse, vorhanden, muss nicht über die Erbsünde im Sinne Luthers verstanden werden. Solche Mythen braucht der heutige Mensch nicht, der weiß, dass Freiheit immer “böse Dimensionen” hat…Wie sehr Luther mit seiner Polemik das allgemeine “Licht” der Kultur  verdunkelt hat, mit unabsehbaren Folgen:  DARAN muss man sich erinnern im berühmten Reformationsgedenken 2017!  Und sich von diesem Aspekt Luthers befreien.

copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

Siglo de Oro: Das goldene Jahrhundert: Es war gar nicht so golden.

Hinweise anlässlich der Ausstellung „El siglo de oro“  vom 1.7. bis 30.10.2016 in der Gemäldegalerie Berlin.

Von Christian Modehn im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 15. 7. 2016

Manche haben gefragt, warum beschäftigen wir uns als philosophischer Club, als religionsphilosophischer Salon, mit dem „siglo de oro“ in Spanien. Zumal an einem Tag, an dem der schreckliche Terror gegen so viele Menschen in Nizza bekannt wurde.

Aber sollten wir in unserem Salon an diesem Abend über den Täter spekulieren? Hätte das Erkenntnisgewinn gebracht? Sicher nicht. Politische, oft haltlose Spekulation ist etwas anderes als (klassische, metaphysische ) philosophische Spekulation. Zumal: Philosophisch darf eben nicht nur auf eine einzelne Tat gestarrt werden, sondern auch das historische Umfeld (Kolonialzeit, Kriege gegen Irak, Gewährenlassen des Massenmörders in Syrien usw.) muss immer kritisch mit-betrachtet werden. Hegel nannte das wohl “konkretes Denken”. Und das ist in Politikerkreisen z.B. kaum lebendig, weil es peinlich ist, weil es zum Eingeständnis von groben Fehlern führen müsste. Angesichts des unerfreulichen, nur der “grande nation” dienenden Verhaltens der französischen Regierungen auch nach dem Ende des Kolonialismus gegenüber den Menschen in (Nord-) Afrika, wäre zu betonen, wie dies Rudolf Balmer von der TAZ am 16. Juli auf Seite 3 treffend schreibt:”Das hat in diesen afrikanischen Ländern mitunter ein (für Frankreich CM) feindseliges Bild geschaffen, für das die Staatsführungen in Paris eine große Mitverantwortung tragen”. Weiterhin wäre von der zwanghaften, staatlich befohlenen Anpassung der Muslime an die nicht-muslimische französische Gesellschaft, etwa in der rigiden Kleiderordnung usw., zu sprechen. An die ökonomische Ausgrenzung der eher zweitklassigen “Ausländer” in den grausigen Vorstadtgettos wäre zu erinnern usw. Da wurden und werden vom Staat und der Gesellschaft Fakten gesetzt, die nicht dem Frieden dienen. Heute sieht man das Ergebnis. Das heißt natürlich auch,  dass terroristische Verbrecher eben Verbrecher sind und als einzelne auch Schuld auf sich laden und bestraft werden müssen. Aber die Dialektik zwischen Einzeltätern und dem umgebenden kulturellen, ökonomischen Milieu muss gerade im Falle Frankreichs mit berücksichtigt werden…

Darüber wollten wir am 15.7. nicht spekulieren. Wir haben über das siglo de oro gesprochen und dabei entdeckt: Wie ein Staat sich damals geistig und ökonomisch letztlich zugrunde richtete, weil er zur Toleranz nicht in der Lage war.

Lesen Sie also die Hinweise, die von Christian Modehn am 15.7.2016 zur Diskussion gestellt wurden.

Das Goldene Zeitalter, das 17. Jahrhundert in Spanien, wird als golden bewertet und dargestellt und propagiert in einer bestimmten Hinsicht: Diese spezielle „Hinsicht“ macht philosophisches kritisches Fragen aus.

Das 17. Jahrhundert war golden wegen der künstlerischen Leistungen vor allem der Maler und Bildhauer, aber auch der Dichter. Das tatsächliche Gold glänzte zwar in den Kirchen und Palästen, auch wenn Spanien viel erbeutetes Gold aus Amerika in den zahlreichen Kriegen im 17. Jahrhundert förmlich verpulvert hatte.

Und übrigens tut es wohl Spanien heute trotz aller Millionen von Touristen gut, an die Leistungen der eigenen Kultur damals zu erinnern. Und, mit Verlaub gesagt: So viel Großes bleibt ja dann, abgesehen von Goya, auch nicht viel übrig bis zum Ende der Franco-Zeit 1975.

Wer von diesen künstlerischen Leistungen in der Kunst absieht, entdeckt ein Spanien in erbärmlichen, auch ökonomisch erbärmlichen Zuständen. Tatsächlich aber war das 17. Jahrhundert in Spanien vor allem ein weithin rassistisches Jahrhundert.

Und dies war dadurch bedingt, dass der Hof, der König und seine Regierung tief überzeugt waren, dass Spanien nur eine einzige Religion haben darf. Nur einzige Ideologie sollte herrschen, weil nur diese eine den Zusammenhalt des tatsächlichen Welt-Reiches gewährleisten konnte, glaubte der sich immer katholisch definierende König. Wir erleben also an einem Beispiel, wie ein Staat aussieht, wie er auch ökonomisch verkommt und kulturell sehr eng wird, wenn er Pluralität nicht wünscht, also keine Toleranz kennt, und Andersdenkende verfolgt und tötet. Man möchte also einmal mehr sagen: Es ist die Toleranz und die reale Vielfalt in Gleichberechtigung, die einen Staat, die die Kulturen lebendig macht. Trotz dieser Belastungen sind die künstlerischen Werke, die etwa auch in der Ausstellung „El siglo de oro“ gezeigt werden, aller Beachtung wert. Sie inspirieren, auch wenn sie im Schatten der allseits drohenden Inquisition gemalt wurden.

1.  Zur KUNST

Die Künstler, die Maler und Bildhauer, galten dem Ansehen nach, im Unterschied zu Literaten etwa, wenig im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts. Sie galten eher als Handwerker. Um in der Geltung „aufzusteigen“, bemühte sich etwa Diego Velázquez, in den „Santiago-Ritterorden“ aufgenommen zu werden, und das war angesichts der Hierarchien nicht einfach.

Wer heute diese Gemälde betrachtet, entdeckt eine starke thematische Festlegung, aber dabei auch ein großartiges Können:

Es sind wirkliche, leibhaftige, lebendige Menschen, die uns anschauen; es sind Menschen, die untereinander agieren, zusammenstehen, trauern, beten usw. Diese Gesichter bewegen uns. Diese Kunst ist von einem ausdrucksvollen Realismus geprägt, oder besser: Von einer Bezogenheit auf die Wirklichkeit. Manche Interpreten sprechen gar, etwa im Falle von Velazquez, von beinahe fotografischen Leistungen.

Man denke etwa an das wohl berühmteste Bild von Velazquez „Las Meninas“, Die Hoffräulein, von 1656: In der Mitte die fünfjährige Königstochter Margarita. Alle Personen sind historische Personen. Dem Namen nach bekannt, es ist das Atelier des Malers im Alcazar. Velázquez zeigt sich selbst als Santiago-Ritter; das Königspaar ist im Spiegel zu sehen; selbst die Zwerge werden gezeigt, sie sind hier keine Untermenschen, kein Spielzeug. Es ist ein Moment, wo man glaubt: Die Zeit steht still. Es werden Seelen gezeigt, hat ein Historiker gesagt, aber es sind immer wieder wie hier auch Menschen-Seelen, die nicht lachen, nicht lächeln. Ein dauerhafter Schatten von Melancholie und Trauer ist deutlich, auch auf den späten Porträts von Philipp IV.

Zu den Zwergen: Wunderbar ist auch das Gemälde, das den gelehrten Zwerg, der Hofnarren, zeigt mit dem Buch. Ein kluges Gesicht: Der Hofnarr als gebildeter Mensch.

Nach meinem Eindruck fehlen die Alltagszenen, bodegón genannt: Diese gibt es zwar, etwa die alte Frau, die sich Eier brät oder die essenden Kinder, aber es wird auch dort kaum gelacht, es ist keine Zuversicht mehr da. Das Land selbst versinkt im Elend trotz allen früheren ökonomischen Reichtums. In dieser Situation, auch der Verteidigung des Katholischen um jeden Preis gegen Protestanten, Juden und Muslime,  werden Bilder und Skulpturen, man möchte sagen en masse, geschaffen, die den Gekreuzigten Christus zeigen oder die leidende Mutter Jesu, Maria. Mit aller Präzision wird von Gregorio Fernandez „Der tote Christus“ als Skulptur (um 1627) dargestellt, mit echt erscheinenden blutunterlaufenen Wunden und mit echt wirkenden Fingernägeln aus Stierhorn, Zähnen aus Elfenbein usw. Eine tiefe Bewegtheit, eine seelische Erschütterung soll von dieser Skulptur wie von allen Darstellungen des leidenden Christus ausgehen. Wenn Murillo in Sevilla die Werke der Barmherzigkeit zeigt, dann will er damit ausdrücklich zur Nachahmung auffordern. Diese religiösen Bilder haben explizit – angesichts des weitest verbreiteten Analphabetismus – die Tendenz, zu bilden und zur Nachahmung aufzurufen, 90 % der Bevölkerung können weder Lesen noch Schreiben.

Wenn man diese Tendenz auf die Bilder des leidenden Christus überträgt, und das muss man wohl, dann soll der Betrachter, also auch das gläubige Volk, zur Annahme des eigenen Leidens aufgefordert werden. Und das gilt dann als Christusnachfolge. Nun gibt es immer wieder Leiden unter den Menschen, aber es gibt auch von Menschen gemachtes Leiden, etwa durch die brutale Verfolgung der damals in Spanien allgegenwärtigen Inquisition: Wollten diese Leidensbilder Christi auch daran gewöhnen, an diese grasuige politische Unmenschlichkeit? Diese Frage der Leidens-Propaganda durch Kunst wird meines Erachtens kaum diskutiert: Darin könnte sich eine gewisse Abartigkeit der offiziell propagierten Frömmigkeit zeigen, so sehr auch den einzelnen in seinem Leiden und in seiner Todesangst möglicherweise dieser leidende Christus dann doch tröstet und bewegt…

Hinzu kommt: Die Fülle der Vanitas Gemälde, der Bilder der Sinnlosigkeit und Vergänglichkeit, sie sind auch in Holland beliebt, immer mit Totenköpfen auf dem Tisch, man denke etwa an Harmen Steenwijk oder Pieter Claesz zur gleichen Zeit (1630). Aber dass ausschließlich nur Folianten, Bücher als Vanitas – Darstellungen vorkommen, umgeben noch von einer ablaufenden Uhr und einem Federkiel wie in einem anonymen Gemälde aus Madrid um 1639 mit dem Titel „Bücherstillleben“, das ist schon ungewöhnlich: Darin drückt sich die für Spanien damals typische Verachtung der freien Forschung, der Vielfalt der Bücher und der umfassenden intellektuellen Schulung aus. Die Botschaft ist: Bücher sollten zugebunden bleiben und eigentlich nur staubige Masse sein.

In der Kunst duldete die Inquisition keine weiblichen Akte, eines der wenigen Akt-Gemälde ist die „Venus im Spiegel“ mit einem nackten Rücken. Von Velázquez gemalt, 1644, offenbar für einen privaten Sammler.

Die Künstler Spaniens ordnen sich den fast immer kirchlichen und königlichen Auftraggebern unter; die allmächtige Kirche, sie ist von der Steuerzahlung befreit und durch Geschenke usw. sehr reich, auch in den Klöstern, steht noch im Glanz da. Und die Mönche bestellen etwa bei Zurbaran immer die selben Motive … der Kreuzigung und der Heiligen.

Entscheidend ist: Durch die Inquisition war das Themenspektrum der Kunst äußerst eingeschränkt. Das sagen alle Historiker. Und trotz dieser Einschränkungen wurden noch schöne Bilder geschaffen.

Aber im ganzen gesehen, das ist ein unbezweifelte Tatsache: Es herrschte im „siglo de oro“ die Stagnation. Manche sagen: Nicht das Goldene, sondern das Eisenerne Zeitalter war bestimmend..

Aber von dem Niedergang, ökonomisch, gesellschaftlich, geistig im Spanien des 17. Jahrhunderts ist in den Werken des siglo de oro eigentlich nicht so viel zu spüren. „Die Bilder von Velazquez verraten selten etwas von den Kämpfen seiner Zeit, der sich immer mehr verschlechternden Lage Spaniens, den Sorgen von König und Volk…. Keine der Tragödien seiner Zeit tritt in Velazquez Werk zutage. Was sich ihm, Velazquez, darstellte, ist STOLZ, und zwar Stolz als Lebensform“. (in: Velazquez und seine Zeit, TIME-Life 1972, Seite 135.

Mit Stolz könnte man auch sagen: EHRE, in der Sicht der anderen geehrt werden, wie dies Juan Goytisolo auch schreibt, als einer Grundhaltung „der“ Spanier.

2. Spanien im 17. Jahrhundert

Es gibt in dem Roman von Miguel de Cervantes (1547 bis 1616), Don Quijote, bereits das Wort vom Goldenen Zeitalter, allerdings bezogen auf eine Erzählung: Der Protagonist lässt vor Ziegenhirten eine Lobrede auf die glücklichen Zeiten halten, „welche die Alten die goldenen Zeiten genannt haben“. Damals habe es keine sexuelle Zudringlichkeit gegeben, und die Erotik sei nur von der Neigung und dem freien Willen der Beteiligten abhängig und keinem äußeren Zwang unterworfen gewesen. Die eigene Gegenwart meint Cervantes jedenfalls damit nicht.

Das Wort vom goldenen Zeitalter ist ein Titel, der im Rückblick formuliert wurde, wenn man in noch schlimmeren Zeiten auf dieses 17. Jahrhundert schaut.

Wie war die gesellschaftliche Situation? Seit 1492 sind die Muslime „endgültig“ vertrieben. Das Land ist muslimfrei, sie leben unter ständiger Kontrolle als die zwangskonvertierten Moriscos. Zu Begin des 17. Jahrhunderts wurden sie vertrieben und nach Nordafrika zurückgebracht.

Die Juden in Spanien mussten zum Katholizismus übertreten, wenn sie in Spanien bleiben wollten. Aber wenn sie konvertieren, begegnen ihnen die so genannten Altchristen voller Misstrauen, das sieht man am Beispiel der Heiligen Theresia von Avila. Von Theresa von Avila wurde jetzt ein Zitat entdeckt, das treffend auch die frauenfeindliche Mentalität in der Kirche ausdrückt: „Dir, Gott, hat vor den Frauen nicht gegraut“. Dieses Wort wurde dann von der Inquisition geschwärzt, es war diesen Herren nicht möglich zuzugestehen, dass Gott vor den Frauen nicht graut… (Dies ist übrigens der Titel eines Buches über “Mystikerinnen in der Christentumsgeschichte”, 2016, Kohlhammer Vl.).

So entwickelt sich seit dem 15. Jahrhundert eine merkwürdige Haltung unter den etablierten, alt-christlichen und sich rassistisch für blutrein haltenden „eigentlichen Spaniern“. Der Geist der Muslime wird prinzipiell verachtet, weil sie in ihrem Alltag sexuell freizügig lebten, meint man. Jedenfalls lassen die Katholiken in Granada nach der Muslim-Vertreibung gleich alle Badehäuser schließen. Auch die Wissenschaft wurde von vielen Muslimen betrieben, für die Altchristen in Spanien gilt Wissenschaft als muslimisch, sie wurde auch deswegen als freie Forschung abgelehnt. Bildung soll keine große Achtung haben. Forschung auch nicht. Die Inquisition bestimmt das ganze geistige Leben mit ihren Verboten. Es ist eine Zeit der Intellektuellen-Feindlichkeit. Juan Goytisolo weist darauf hin,  dass der Ruf der Faschisten unter Franco „Nieder mit der Intelligenz, es lebe der Tod“ (S. 64) ein „Echo ist der altchristlichen Spiritualität, die im 16. Jh. das spanische Leben prägte“… Schon unter Philipp II. wurde die Wissenschaft verachtet. „Niemand kann nur halbwegs gründlich die schönen Wissenschaften pflegen, ohne dass sogleich ein Haufen Ketzereien und jüdische Mängel entdeckt werden“, sagt der Sohn des Generalinquisitors Rodrigo Manrique. (in Goytisolo, S 38). Im “Goldenen Jahrhundert” schreibt der Jesuit Baltasar Garcian in einer bei ihm seltenen politischen Deutlichkeit über seine Gegenwart: „Die Philosophie ist außer Ansehen gekommen… die Wissenschaft der Denker hat alle Achtung verloren, eine zeitlang fand sie Gunst bei Hofe, jetzt gilt sie für eine Ungebührlichkeit“. (Handorakel, S. 55, Nr. 100)

Und die Juden waren die guten Geschäftsleute und die Händler: Aus anti-judischem Ressentiment lehnen die Altchristen für sich selbst Handel und Wirtschaft ab. Man darf ja nicht als „Jude“ erscheinen, das wäre gegen die Ehre… Also sind die „blutreinen“ altchristlichen Spanier nur Ritter, nur Adlige, nur Klerus und Mönche, und eben die Armen in den Städten und den Dörfern, die kaum das Nötige zum Überleben produzieren. Dies ist eine Zeit der selbst verursachten ökonomischen und geistigen Lähmung. Es war, noch einmal, eine rassistische Zeit, es wurde Wert gelegt auf die Reinheit des Blutes

Der Verlust so vieler tausend Moriscos und der Maranen führte auch zu einer wirtschaftlichen Katastrophe: Kenntnisreiche Händler und Handwerker fehlten. So geht es eben einer Regierung und einem König, der der Stimmung des Volkes folgt und Rassismus in die eigene Politik bestimmend übernimmt.

Nebenbei: Als Judenchristen von der Inquisition verfolgt und verbrannt wurden, hat man deren Besitz vonseiten der Inquisition sofort übernommen. Was die Nazis später taten, hatte also historische Vorbilder.

3. Wer vom goldenen Jahrhundert spricht, muss auch vom realen Gold sprechen, das den Ureinwohnern Amerikas von den Spanien geraubt wurde.

Alles Gold und Geld, das aus den so genannten Vize-Königreichen Lateinamerikas kam, wurde für die vielfältigen Kriege ausgegeben. Viel Gold ging unterwegs in die Hände der Seeräuber und der „bandoleros“ zu Lande.

Nur ein Hinweis, dass in dieser Zeit einer theologischen Verirrung durch die Inquisition und den Eroberungs – bzw. Missionierungsgedanken doch einige vernünftige und ziemlich authentische Christen lebten. Erinnert werden soll nur an den Dominikaner Mönch Bartolomé de Las Casas.

Er bezeichnet in seinen öffentlichen Predigten die Spanier seiner Zeit, im 16. Jahrhundert, als Götzendiener. Er sagt: „Die Spanier haben Gold zu ihrem Gott gemacht“, so in Gutierrez, S. 22. Dort wird auch Christoph Columbus erwähnt, er sagte: „Das Gold ist das wertvollste aller Güter. Wer es besitzt, hat alles, wessen er in dieser Welt bedarf wie auch die Mittel, um die Seelen vor dem Fegefeuer zu bewahren und sie in die Freunde des Paradieses zu schicken“. (auch Gutierrez, S. 25)

Die Stimmen, die sich gegen das Abschlachten und Ausnutzen der Indianer wehrten und für eine menschenwürdige Behandlung der Indianer eintraten, wie Pater Bartholome de la Casas, wurden zwar offiziell am Hofe Karl V. angehört und humanere Behandlungen der indianischen Völker wurden auch befohlen. Aber in den Vizekönigreichen Lateinamerikas folgten die Conquistadores nicht diesen Weisungen. Das Morden und Ausbeuten der Indianer nahm kein Ende.

Zu Mord und Totschlag ein Beispiel aus der frühen Zeit der sogen. Entdeckung: Die geschätzte Einwohnerzahl in Westindien betrug 9 Millionen im Jahr 1520. Und es war eine Million Einwohner übrig geblieben im Jahr 1570. (Gutierrez, Gott oder das Gold, S. 10.)

 Sehr wichtig und bislang nahezu unbekannt: Es gab einen „Indianer“ in Peru, ein Mitglied des Volkes der Quechua, sein Name: Felipe Guaman poma de Ayala. (Gutierrez, S.13), er lebte von 1535 bis 1615. Kurz vor seinem Tod hat er ein umfangreiches Buch auch mit vielen Bildern, Skizzen, fertig gestellt, an dem er lange daran gearbeitet hat. Er spricht als Augenzeuge, der „alle Schrecken dieser Christen“ gesehen hat. Er hat erlebt, was die Armen leiden. Er wendet sich an die Leser in Spanien. „Diese spanischen Übeltäter verschlingen mein (“indiansches”) Volk. Mir selbst als Christen will es scheinen, dass ihr Spanier euch allesamt zur Hölle verdammt (Gutierrez S.15). Und noch einmal: „Mit ihrer Gier nach Gold sollen die Spanier in die Hölle fahren“ (Gutierrez S.189) Das heißt: In der Sicht einiger Theologen und der indianischen Völker selbst ist das spanische Reich ein gottloses Reich, trotz aller zur Schau gestellten Frömmigkeit. Das siglo de oro ist ein gottloses Zeitalter in der Sicht aufgeklärter Christen schon damals! Und es ist, klassisch-theologisch gesprochen, eine Art Blasphemie, wenn mit dem erbeuteten Gold, den indianischen Völkern entrissen, dann in den spanischen (aber auch lateinamerikanischen) Kathedralen, Kirchen und Klöstern die Bilder des leidenden Christus, etwa im Rahmen,  vergoldet wurden. Mit verbrecherisch erworbenem Gold wollte man Gott ehren, die Kirche in goldigen Glanz setzen und die Frömmigkeit fördern.

4. Ein Hinweis zur Philosophie im Goldenen Zeitalter: Baltasar Gracian (1601-1658).

Er war ein Jesuit, der ohne Erlaubnis seiner Ordensoberen z.T. unter Pseudonym, kurzgefasste Lebensweisheiten für den erfolgreichen Mann seiner Zeit schrieb. Dieses Büchlein, das “Handorakel”, sollte man als Dünndruckausgabe stets bei sich als Lebenshilfe haben. Ich meine: Das Handorakel war so eine Art ANTI-Evangelium und ANTI-Bibel mit Grundsätzen, die dem Geist der universalen Nächstenliebe eher widersprechen. Das Handorakel des Baltasar Gracian war eines seiner meist gelesenen Bücher: Allein 10 verschiedene Ausgabe und Übersetzungen in Deutschland…

Baltasar Gracian war auch kurze Zeit als Prediger, auch am Hof von Madrid, tätig. Er wollte den Menschen ein erfolgreiches Leben aufzeigen mit 300 relativ kurz gefassten Lebensregeln, die er in seinem Buch von 1647 darstellt. Den Wahn der Welt zu erkennen ist das Motto des pessimistischen Denkers.

Er schreibt also Vorschläge und Weisungen seines klugen Denkens, wie man sich möglichst klug erfolgreich durchs Leben schlägt; wie man weltgewandt wird und sich zu behaupten weiß; wie man sich verstellen lernt und sich durchsetzen, wie man im richtigen Moment abwarten muss und vorsichtig agiert, nur nicht zu viel von sich selbst sagt, auch aus Angst vor der allmächtigen Inquisition. Freundschaft wird gelobt, aber es wird eher ein Grundmisstrauen gegenüber den anderen empfohlen.

Das Leben des Menschen ist, so Gracian, milicia, ist Kampf, und wir klugen Menschen sind umgeben von der malicia, der Bösartigkeit, der anderen. Nur Raffinesse ist dem gewachsen!

Gracian wurde von seinem Orden bestraft, bestraft, eingesperrt, weil er seine Werke nicht vor Drucklegung den Oberen zur Kontrolle gezeigt hatte.

Gracian hat mehrere Bücher geschrieben, unter anderem auch den Roman „El Criticon“, der viel beachtet wird auch von konservativen Kreisen noch heute.

Ein Hinweis nebenbei: Es gibt etwa in der „Bibliothek des Konservatismus” in Berlin, Fasanenstr. Nr. 4, zahlreiche Ausgaben des “Handorakel”, sie stehen wahrscheinlich in der Bibliothek irgendwo im Umfeld der 33 mal dort versammelten Ausgaben von „Mein Kampf“ und dem „Mythos des 20. Jahrhunderts“ und eben… etwa der „Jungen Freiheit“… Äußerst konservative Denker haben sich für ihr autoritäres Denken immer wieder Gracians bedient…

Der Jesuit Dominik Terstriep hat sich in seinem Buch „Indifferenz“, 2009 erschienen, mit Gracian kritisch auseinandergesetzt (dort Seite 123 ff). Eine kleine Rarität in der Theologie der Gegenwart!

5. Zu Cervantes

Auch Cervantes war betroffen vom Kulturdirigismus und der Inquisition. Er studierte bei dem Humanisten Juan Lopez de Hoyos, vielleicht auch bei Jesuiten in Vallodolid. Er zitiert Cristobal de Fonseca aus dem Augustinerorden. Er wurde als Seefahrer gefangen genommen und nach Algerien gebracht, im Gefängnis von 1575 bis 1580, dort Gedichte geschrieben von Mönchen des Trinitarier-Ordens losgekauft.

Es gibt in Don Quijote gelegentlich auch eine starke Darstellung von Predigten, der Ritter und sein Knecht Sancho halten sich, so wird deutlich, durchaus für Theologen.

Auch bei Cervantes gibt es diese typische Angst: Er sparte seine Kritik für bessere Zeiten auf. „Der kluge Mann spart sich für bessere Gelegenheiten auf, so Don Quijote. II 28, 934, ähnlich wie Gracian. Tatsächlich hatte die Inquisition auch Cervantes verdächtigt, er würde den Ideen von Erasmus anhängen. Die Inquisition ließ diese Stelle nicht durchgehen, wo eine Herzogin zu Sancho sagt: „Und Ihr, Sancho, mochtet daran denken, dass die Werke der Nächstenliebe, die lau und nachlässig vollzogen werden, kein Verdienst nach sich ziehen und gar wertlos sind“. (II 36).

Und weiter: „Unseren Herrgott soll man um seiner selbst willen lieb haben, ohne an Himmel und Hölle zu denken“, so wird von Mariano Delgado zitiert in: „Don Quojote für Theologen“. Dies war ein ketzerisches Postulat der Mystiker, Gott um seiner selbst willen zu lieben, ohne dabei immer gute Werke tun zu müssen.

Nebenbei: Die Religion am Hofe war sehr vom Aberglauben durchsetzt, durchaus mit so genannten heidnischen Praktiken, etwa, wenn dem kranken Sohn von Philipp IV. Amuletten angelegt werden, damit er bloß gesund bleibt.

6.Eine systematische Überlegung: Das Goldenes Zeitalter: In der Frühzeit oder in der Zukunft?

In der Dichtung Ovids und in vielen Mythen ist die goldene Zeit die Vergangenheit: Eine paradiesische Zeit, in der eben alles stimmte, alles schön und gerecht war, so, wie es Ovid in den Metamorphosen beschrieb, als der ersten glücklichen Ur-Zeit, in der die Gerechtigkeit herrschte und die Menschen von sich aus und ohne gesetzlichen Zwang das Gute und Rechte taten („Aurea prima sata est aetas“ …so beginnt der Text). Die eigene Gegenwart wurde dann von Ovid als die eiserne Zeit der Härte und des Zwangs beschrieben. Bei Ovid gibt es vier Zeitalter dort, es beginnt mit gold, also mit Frieden und Gerechtigkeit, geht über zu Silber, dann das erzürnte Zeitalter, dann zum Schluss das eiserne Zeitalter. Scham, Wahrheit und Treue verschwinden, es herrschen Betrug als auch List als auch Hinterhalt und Gewalt und die verbrecherische Liebe zu besitzen (=Geiz) nach.

Die Mystik, die christliche, neigt dazu, die gute Zeit in die Vergangenheit zu legen, in die zeitlose Ewigkeit bei Gott: Dort strebt die Seele, die ihren göttlichen Funken entdeckt hat, dort, in der Urzeit, erlebt sie die Erlösung, als Austritt aus Geschichte, als ewiges Sein in Gott.

In der Bibel wird im Buch des Apokalypse, der Geheimen Offenbarung, ganz am Ende, im 21. Kapitel, das neue Jerusalem als Ort der Verheißung beschrieben, Die Stadt war aus reinem Gold, heißt es da in Vers 18. Das ist die neue Welt. In der aller Schrecken beendet ist. Goldene Zeitalter also in der Zukunft. Dort gibt es keinen Tempel (der Juden) mehr. In der Zukunft wird die unmittelbare Gottesbegegnung geben.

Es wäre der Kritik am Gold im AT weiter nach zugehen, in den Psalmen etwa: „Die Götzen sind Silber und Gold; der Fromme liebt Gottes Gebote mehr als Gold“.

Geschichtsphilosophisch sehr interessant ist, dass es seit dem Mittelalter, etwa in Joachim von Fiore, später dann im 16. Jahrhundert durch Thomas Morus, die goldene Zeit als die zukünftige Zeit entwickelt wird. Als Utopie der menschlichen Welt, die dann auch gemacht werden kann von den Menschen. Utopie ist sozusagen ein Aufruf zur Tat. Das goldene Zeitalter wird eher wahrgenommen als Geschenk, als zufälliges Glück, etwa viele Künstler um sich zu haben. Konservative Denker weisen bis heute die Utopien ab, weil in der Utopie immer die kritische Negation der Gegenwart mitgemeint ist, wie Ernst Bloch, der Philosoph des „GEISTES der Utopie“ meint. Schon bei Thomas Morus, in seiner UTOPIA von 1535, ist Sozialkritik in großer Schärfe dargestellt. Anstelle des Egoismus wird eher für die Gütergemeinschaft plädiert.

In Berlin spricht man von den goldenen Zwanzigern, die Jahre 1924 bis 1929, die so goldig für alle Berliner, besonders für solche, die arbeitslos im Schatten der Hinterhöfe lebten, ja nicht waren. Politisch war alles sehr schwankend, das kulturelle Leben in bunter Vielfalt, die Nacht wurde zum Tage, neue Eleganz, Luxus, an der wenige teilhatten.

Das Wirtschaftswunder, einige Jahre nach der Beendigung des Holocaust, also in der Erhardt-Ära, Kanzler von 1963 -66) wird wegen des Wirtschaftsaufschwungs (bei bleibenden Schweigen über die Nazi-Verbrechen) auch golden genannt. Politisch eher ein unaufgeklärtes, die Vergangenheit verleugnendes Zeitalter!

7. UNSER persönliches goldenes Zeitalter:

Irgendwann hat jede Nation und sicher auch jedes Individuum das Verlangen, eine bestimmte reale Zeit in der eigenen Geschichte als das goldene Zeitalter oder das goldene Jahrhundert, el siglo de oro, festzulegen. Eine Zeit, meist in der Vergangenheit, in der eben alles stimmte, alles schön und gerecht war.Vielleicht ist es die (schöne !) Kindheit?

Es ist merkwürdig, wenn Künstler und Intellektuelle, die in der DDR in einer Nische der versteckten, aber sichtbaren Opposition lebten, heute sagen: „Nie war die DDR vielgestaltiger als während ihrer Auflösung von Innen heraus, so Wolfgang Engler, heute Rektor der Schauspielschule Ernst Busch. „im Gedächtnis derer, die daran teilhatten, war dies die beste Zeit“ (Tagesspiegel 15. 7. 2016).

8. Ein kritischer Hinweis zum Schluss:

Die Ausstellung „el siglo de oro“ befindet sich in der Gemäldegalerie in ständiger Berührung und Sichtweite zur allgemeinen, wunderbaren Dauerausstellung. Ich bin kurz vor Ende der Spanien-Ausstellung schnell mal zu den alten Meistern der Holländer ausgewichen. Und ich muss sagen: Es war dort für mich eine Art Befreiung, ein Aufatmen, das reale Leben von armen, vor allem bürgerlichen Menschen in Holland auf den Genre-Gemälden zu erleben. So viel Alltag, so viel Menschlichkeit, so viel Lachen und Freude und Staunen und Lesen und Saufen und Prügeln usw. Das ist doch der Alltag. Im „el siglo de oro“ hat kein Heiliger gelacht. Nur ständig diese Christus-Leichname, die Kreuzigungen, die (Selbst) Quälereien von Heiligen, dieses Blut, die Wunden.

Warum kam kein die Kunst finanzierender Klerus damals auf die Idee, den Jesus der Bergpredigt malen zu lassen, wäre doch ein tolles Motiv gewesen; oder den Jesus, der die Händler aus dem Tempel rausschmeißt; der Wunder wirkt am Sabbat natürlich als Gesetzesbrecher; der die Tischgemeinschaft liebte, der mit den Frauen so freundlich-erotischen Umgang pflegte und so weiter und so weiter. Die kirchlichen Auftrageber liebten das Leiden und das Blut und den Tod. Diese Kunst, diese Blut-Kunst der Leichname und Sterbenden, von der Kirche finanziert, ist in dieser Einseitigkeit in meiner Sicht häretisch und theologisch falsch im eigentlichen Sinne: Sie wählt einige wenige Aspekte aus dem Leben Jesu aus, die Geburt mit der Jungfrau, und immer wieder das Kreuz … und die Mönche und die Heiligen, die sich als Sünder geißeln und permanent – angeblich – Buße tun. Der Klerus stellt sich in den Mittelpunkt. Diese Tradition des leidenden, Blut triefenden Christus lebt bis heute in der semana santa. Manche Fromme oft wohl krankhaft fromm, lassen sich selbst heute noch bei diesen volksreligiösen Folklore-Veranstaltungen ans Kreuz nageln. Auf den von spanischer Frömmigkeit bestimmten Philippinen ist das noch üblich. Da staunen die Touristen… Jedenfalls ist in meiner Sicht die absolute Dominanz der Kreuzesdarstellungen und des sterbenden, verstorbenen Jesus, verheerend für ein wirklich umfassendes Verstehen des Christlichen. Dass heute so viele Menschen damit nicht mehr so viel zu tun haben, kann ich verstehen. Zeigt uns doch den ganzen Jesus von Nazareth, könnte eine Forderung heißen.

Noch einmal gefragt: Was bringt also die Ausstellung „El siglo de oro“? Sie zeigt zweifellos wunderbare Porträts von Menschen, wunderbare Charakterstudien der oft depressiven oder dummen Herrscher (Philipp IV. und Karl II.) oder der Leute am Hof . Über allem aber steht ein Schatten der Trauer, wenn nicht der Verzweiflung. Natürlich auch darüber, dass dieses “allermächtigste Königsreich”, das bis nach Lateinamerika und bis auf die Philippinen seine Macht ausgedehnt hatte und mit millionenfachem Mord an den sogen. Indianern sich finanziell zunächst bestens stabilisiert hatte, eben doch sich übernommen hatte in den Kriegen. Es war zudem an der eigenen wirtschaftlichen Unfähigkeit gescheitert. Aber auch dadurch, dass man in Spanien keine bürgerlichen Freiheiten gewährte und Wissenschaft und Forschung verhinderte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, blieb Spanien ein weithin klerikal bestimmtes eher unbewegliches, starres Land.

9. Ein aktueller Hinweis zur weiteren Debatte: Was vermag Kunst in einem Staat der Repression?

Die Kunst des “siglo de oro” war, wenn, dann nur andeutungsweise schwach, kaum politisch-kritisch. Die kritische Haltung konnte sich kein Künstler leisten, Cervantes deutet eine solche Haltung in seinem Don Quijote an.

Hingegen: Ein Hinweis auf eine heute wirkmächtige, Politisches tatsächlich verändernde Kunst: Vom 16. Juli bis 26. September 2016 gibt es im Martin Gropius Bau eine empfehenswerte Ausstellung über die oppositionelle Kunst in der DDR. Ihr Titel: „Gegenstimmen“.

Der totalitäre Herrschaftsanspruch konnte sich in der DDR eben nicht total durchsetzen, es gab von Künstlern erkämpfte freie Räume, zwar bescheiden, aber gegen Mitte der 1980 Jahre wachsend. Das waren Künstler, die nicht mehr auf sozialistische Reformhoffnungen setzten, wie der Kurator der Ausstellung, Paul Kaiser, schreibt. „Die Künstler folgten nur ihrer eigenen Erfahrungswelt, sie propagierten eine Generaldistanz, die sich nicht mehr um die Erweiterung eines künstlerischen Vokabulars, sondern um eine gänzlich neue Semantik bemühte… dadurch trug die Bohème auf ihre Weise zu innenpolitischen Destabilisierung der DDR bei.“ … „Diese Künstler sind leider fast vergessen“. Es gibt bis heute eine Verblendung, eine Ignoranz, „eine vampiristische Konsequenz westdeutscher Sinngebungsinstanzen“, wo wird Christoph Tannert von Paul Kaiser in „Museumsjournal“, 3/2016 Seite 53, zitiert.

Die Voraussetzung für diese so mutige Kunst: In der DDR gab es immerhin doch eine schwache Pluralität, trotz der dominanten Einheitspartei: Es gab die Informationen usw. aus dem Westen via Radio und Fernsehen; es gab immerhin die Kirchen, vor allem die sich nicht ins Getto versteckende evangelische Kirche, und es gab eben die Künstler, die Schriftsteller, die Filmemacher, die Musiker, die alle, trotz Stasi-Präsenz, ein Stück Freiheit eroberten. Diese Ideen waren dann die Kraft, das Regime, selbst schon ökonomisch am Ende, 1989 zum Sturz zu bringen.

Solche Konstellationen gab es in dem total vereinheitlichten, von Angst vor „den anderen“ zerfressenen katholischen System im Goldenen Zeitalter Spaniens nicht.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Literatur zum Umfeld: Goldenes Zeitalter in Spanien

Gustavo Gutierrez, Gott oder das Gold. Der befreiende Weg des Bartolomé de Las Casas. Herder Verlag, 1990.

Bartolomé de Las Casas: Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder. herausgegeben von Michael Sievernich, Inselverlag, Frankfurt/Main / Leipzig 2006.,

Sehr zu empfehlen, bewegend: Reinhold Schneider: Las Casas vor Karl V. Szenen aus der Konquistadorenzeit. 8. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2000 Ersterscheinung 1938, nach der 1. Auflage von den Nazis verboten, dann wieder 1946 erscheinen)

Baltasar Gracian, „Hand Orakel und Kunst der Weltklugheit“. Fischer Taschenbuch, 2008. 7 Euro. Ein philosophischer Ratgeber für ein erfolgreiches Leben.

Martin Franzbach, Cervantes, Reclam Heft, 80 Seiten. 1991. Sehr zu empfehlen.

Über den wichtigen kritischen Schriftsteller aus dem Quechua Volk mit Namen Waman Puma de Ayala (ca. 1535 bis 1615) liegen meines Wissens auf Deutsch keine Studien vor. „Es ist das reichhaltigste und umfassendste Dokument, das uns aus der Epoche der ‘Besiegten der Eroberung’ überliefert ist“, so Bernard Lavallé in Hdb.d.Gesch.Lateinamerikas, Bd.1, S.514

Informativ auf Deutsch wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Waman_Puma_de_Ayala#Literatur

Auf Deutsch eine Einführung zu Felipe Guaman poma de Ayala: http://sammelpunkt.philo.at:8080/2226/1/Fr%C3%BChmann_Poma-de-Ayala.pdf

Grundsätzlich zu Spanien im allgemeinen und en passant auch zum Goldenen Zeitalter: Juan Goytisolo, Spanien und die Spanier. Taschenbuch, viele Auflagen. 11 Euro. Suhrkamp.

Die AFD – ihre Widersprüche, ihr Zorn. Ein philosophischer Hinweis.

Zugleich eine begründete Meinungsäußerung von Christian Modehn

Philosophisch gesehen ist es evident: Wer sich selbst in seinen verbalen Äußerungen (sie sind bekanntlich immer Ausdruck des eigenen Denkens) widerspricht und die allgemeinen, für alle geltenden Gesetzen der Logik ignoriert, der lebt nicht-konsistent, der zeigt sich zerrissen, doppelbödig, widersprüchlich. Deswegen sollten solche Leute eigentlich ihre nicht-konsistenten Äußerungen korrigieren; es sei denn, sie wollen esoterische Weisheiten verbreiten, die nur Eingeweihten zugänglich sind. Damit gehören sie zu einer kommunikativ „abgekoppelten“ Sekte.

1. Sprechen, falls logisch, ist der Allgemeinheit verpflichtet

Leute, die in politischen Debatten bewusst logische Inkonsistenz zeigen und praktizieren, sind im sonstigen Leben  zumeist – notgedrungen von der Lebenspraxis – doch logisch konsistent. Sie benutzen wie alle anderen technische Geräte, verwenden im Alltag die allgemeinen üblichen Begriffe, um sich bei anderen verständlich zu machen. Aber sie schützen ihre politische Haltung vor der Logik, werfen Nebel um sich, bleiben bewusst unpräzise, wecken Ahnungen, wenig Einsicht. Logik hat immer mit Allgemeinheit zu tun.

2. Gilt die These: AFD gehört nicht zu Deutschland, aber AFD-Wähler durchaus“?

Die Führer der AFD behaupten als zentrale These, die so einfach klingt und deswegen so viel Wirkung erzielt in Kreisen, die gerne ohne lange nachzudenken autoritären Sprüchen folgen: Diese AFD Kernthese also heißt: „DER Islam gehört nicht zu Deutschland. Aber damit (so wird beschwichtigend gleich hinzugefügt, CM) ist nichts gegen einzelne Muslime gesagt“. Diese Aussage darf man nicht schnell übergehen wie es viele Journalisten tun, sondern eben auf seine Konsistenz prüfen: Gemeint ist nämlich: Die einzelnen Muslime dürfen bei einer Zurückdrängung und dann wohl auch bei einem Verbot DES Islam durchaus hier weiterleben. Sie dürfen wohl privat ihren Koran lesen und nicht nach außen hin erkennbaren Moscheen auch beten.
Diese These ist irrig und falsch: Der einzelne religiöse Mensch, eben auch ein Muslim, kann ohne den institutionellen Rahmen seine Religion, also ohne Gemeinde, ohne Lehrer, ohne Pfarrer wie auch immer, nicht als solcher leben. Auch der einzelne fromme Muslime, den die AFD ja freundlicher nicht vertreiben, sondern leben lassen will, braucht logischerweise die islamische Institution. Er braucht, wenn man den von der AFD verwendeten pauschalen Ausdruck verwendet, DEN Islam.

Zur weiteren Klärung des Problems: Die AFD Führer sollten sich mit dem Satz als “Gedankenspiel !”  auseinandersetzen, der der gleichen (un)logischen Struktur folgt: Der Satz heißt: „Die Partei AFD passt nicht zu Deutschland. Hingegen kann das einzelne AFD Mitglied und der einzelne AFD Sympathisant durchaus in Deutschland leben”.  Kann man AFD-Mitglied sein, ohne Bindung an die AFD-Führer, ohne Verbindung zur AFD Institution? Eher wohl nicht.

3. Ohne Islam gäbe es kein Europa, ebenso ohne Judentum und ohne Humanismus gäbe es kein Europa.

Zur üblichen und schon floskelhaften Beschwörung „des“ christlichen Abendlandes durch die AFD Führer: Da wird das christliche Abendland nur als polemischer Gegen-Begriff zum verhassten Islam verwendet. Diese Ideologie des gepriesenen „Abendlandes“ beruht auf historischer Unkenntnis: Wesentliche Erkenntnisse verdanken die Abendländer der intellektuellen Leistung des Islam, etwa in der Zeit von al andalus. Die Philosophie des Aristoteles (kaum zu überschätzen für die Entwicklung des modernen Europa) oder die Grundlagen der Medizin usw. verdanken „wir“ „dem“ Islam. Und das Abendland war also nie „nur“ christlich, sondern verdankt den muslimischen Gelehrten viel, und das Abendland ist auch noch humanistisch, seit der Renaissance. Und es ist jüdisch geprägt, die Zehn Gebote sind bekanntlich jüdischen Ursprungs, die Prophetische Rede von Gerechtigkeit und Gleichheit aller Menschen ist jüdisch. Europa ist auch jüdisch. Diese zweifelsfreie Erkenntnis wird von AFD Leuten und deren Führern nicht genannt. Und Journalisten sollten in ihren Interviews – zwischen den Zeilen – auf das hören, was von AFD nicht gesagt wird. Und wer „das Christentum“ authentisch verstehen will, weiß, dass die Liebe zum Fremden zum KERN des Christentums gehört. Wer sich zum christlichen Abndland bekennt, bekennt sich automatisch zur Liebe gegenüber den Fremden und Flüchtlingen. Wenn die AFD dieses authentische Christentum nicht mag, und vieles spricht dafür, dass sie es nicht mag, dann sollte sie wie Herr Gauland (AFD) ehrlich sein und sagen: „Wir von der AFD sind nicht christlich, sondern heidnisch“

Nebenbei: Zwar utopisch, aber möglich: Es könnte ja sein, dass eines Tages AFD Leute auch irgendwo als Fremde im Ausland auftauchen und um Asyl bitten: Was machen sie dann, wenn sie im Zufluchtsland hören: „Die AFD passt nicht in unser Land“.

Immanuel Kant hat, immer logisch völlig überzeugend, empfohlen zur Überprüfung der eigenen ethischen Haltung sich selbst zu fragen: „Ist meine Maxime (“Der Islam gehört nicht zu Deutschland”) als Gesetz für alle möglich?“ Kant hätte diese genannte Maxime als Unsinn und Irrsinn zurückgewiesen.

Also noch einmal: Die Führer der AFD haben vom Christentum keine Ahnung, sie bedienen sich des „Christlichen Abendlandes“ nur, um ihre ANTI-Islam-Haltung polemisch und dem Scheine nach ein bisschen hübsch- freundlich und fromm zu kaschieren. Es gibt keine Wertschätzung des christlichen Abendlandes bei den AFD Führern. Das ist ideologische Propaganda. Frau von Storch hätte – als explizite Pro-Life-Verteidigerin – am liebsten auf Frauen und Kinder an der Grenze geschossen (wurde später von ihr irgendwie revidiert und wie immer von der „Lügen-Presse falsch verstanden).

Politische Gegner werden Feinde, und in der AFD selbstverständlich – so lange „man“ noch nicht an der Macht ist – bloß bedrängt usw. In der FPÖ hingegen wurde nach dem knappen Wahlsieg des Demokraten Alexander van der Bellen gesagt: „Na wartet ab, wenn wir FPÖ Leute erst mal die Macht haben, dann, ja dann…”  wird’s keine Demokratie mehr geben, möchte man sinngemäß fortsetzen. Der AFD Philosoph Marc Jongen hat in einem Interview mit der „ZEIT“ (vom 25. Mai 2016, Seite 42 im Feuilleton, nicht in der ZEIT Rubrik Politik, auch seltsam …) frei und offen das demokratische System –etwa Österreichs – MORSCH genannt. In Österreich habe man noch alle Ressourcen gegen die FPÖ zusammengekratzt, „bevor es (das System) um so eindrucksvoller (eben morsch) einstürzen wird“. Zu der Aussage vom Zusammenbruch des angeblich morschen demokratischen Systems wird von den Journalisten nicht weitergefragt….Später wird AFD Jongen noch in der ZEIT sagen, dass aufgrund eines deutschen Passes niemand automatisch Deutscher sein sollte. Wie denn sonst? Offenbar ist in der Sicht des AFD Jongen ein Deutscher nur, wer sein deutsches „reines Blut“ nachweisen kann. Das führt gedanklich in die Nähe von 1933 usw ist meine Meiungsäußerung. Und wenn die demokratische Legislative der Bundesrepublik das Gesetz verabschiedet hat, dass mit dem deutschen Pass jemand Deutscher ist, dann ist an diesem Rechtsverhältnis NICHTS zu deuteln. Genau diese demokratische Überzeugung aber will die AFD aushebeln.

4. Das diffuse Plädoyer für den Zorn. Zugleich ein Hinweis zum Thema Sloterdijk und die AFD

Ein neuer, klug klingender Begriff taucht unter AFD Führern oft auf, der Begriff “Thymos”, der gern von der AFD-Philosophen mit „Zorn“ übersetzt wird. Dabei ist diese enge Bedeutung eher selten, Thymos heißt eigentlich im Alt-Griechischen Gemüt und Lebenskraft, nur selten Leidenschaft und Zorn.

Aber seit dem Buch „Zorn und Zeit“ mit dem Untertitel „Politisch-psychologischer Versuch“ (erschienen bei Suhrkamp, 2006) wird viel von Thymos und der wichtigen Rolle des Zorns im „(deutschen) Volk“ schwadroniert, auch in den Kreisen der intellektuell noch etwas interessierten AFD Führung. Sloterdijk ist in seinen Thymos-Reflexionen von 2006 von Francis Fukuyama angeregt worden, der schon 1989 (!) den Begriff einführte in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“. Marc Jongen, der AFD-Philosoph, zeigt in dem ZEIT Interview vom 25. Mai 2016 Verständnis für die rebellische Form des Thymos : „Wenn die Regierung den Bürgern von oben etwas aufdrückt, dann kommen notwendigerweise rebellische Energien noch“. Und es ist im Zusammenhang klar, dass er mit den „rebellischen Reaktionen“ die AFD Aktionen und wohl auch Pegida Attacken meint. Denn er fährt fort: “Wäre es denn wünschenswert, wenn es gar keine Abwehrreaktionen gäbe?“ Da wird wieder nicht nachgefragt: Denn mit dem eher noch ein bisschen freundlichen Wort „Abwehrreaktionen“ sind wohl auch Attacken gegen Flüchtlingsheime und Drohungen gegen demokratisch gewühlte Politiker gemeint. Dabei wird von Jongen indirekt behauptet: Nur die AFD (bzw. wohl auch Pegida) gestalten die richtigen Abwehrattacken gegen die Demokratie, die „von oben etwas aufdrückt“, so Jongen. Demokratie wird in diesen undemokratischen Kreisen bereits als etwas erlebt, das „von oben aufdrückt“…

Die in der AFD verhassten Linksradikalen („sie reißen alle Grenzen ein“, so wörtlich Jongen) gelten in der AFD als „verirrte Abkömmlinge des Christentums“, sie sind die eigentlichen Übeltäter. Warum? Weil sie das deutsche Volk und die deutsche Nation in ihren Grenzen nicht mehr lieben. Volk und Nation werden wieder zum Maßstab von anständig und unanständig. Man erinnere sich bitte …

Jongen ist zwar im ZEIT Interview ein bisschen sauer, dass Sloterdijk offenbar die AFD kritisiert. Der Sloterdijk Assistent, wohl ein intimer Kenner seines einstigen Meisters, meint dann aber doch glücklich: „Mein Eindruck ist, dass seine, Sloterdijks, Äußerungen zur Flüchtlingskrise so fern zu dem nicht stehen, was ich sage und was auch die Position der AFD ist. Und das ist letztlich wichtiger und auch wirksamer (!) als seine oder meine persönlichen Befindlichkeiten“. Mir ist nicht bekannt, dass Sloterdijk sich gegen diese Einbeziehung seines Denkens zur Flüchtlingsfrage in die AFD Ideologie öffentlich gewehrt hat.

Auf diese aktuelle Bedeutung des Sloterdijkschen Thymos-Begriffs weist jetzt Ijoma Mangold in DIE ZEIT vom 2. Juni 2016, Seite 37, hin. Der ZEIT-Journalist zeigt in seinem sehr lesenswerten Artikel, dass AFD und Pegida gern vom „Ausnahmezustand“ sprechen, als dem Moment, wo die geltenden Gesetze der Demokratie eben nicht mehr gelten und eben besonders Berufene, eben die AFD etc., in tiefster Not zur Rettung des Volkes die Macht ergreifen. Mangold schreibt: „Sie (die AFD Leute) sprechen gern vom Ausnahmezustand, denn der beendet qua Gewalt die (angeblichen, in der AFD Sicht) bloß künstlich-abstrakten Rechtsverhältnisse. Der Ausnahmezustand, der Ausbruch des Volkszorns (also Thymos, siehe Sloterdijk), ist der feuchte Traum aller Rechten. Der Vordenker der neuen Rechten, Götz Kubitschek, spricht vom Ernstfall. Marc Jongen, Solderdijks Assistent bis vor kurzem, bezeichnet das mit dem griechischen Begriff Thymos und fügt hinzu, dass es sich dabei hoffentlich um einen gerechten Zorn handelt“. (Vielleicht irrt diese AFD/Pegida-Masse auch in ihrer Wut, rechnen damit AFD Führer?

Man sieht, wie dieser schwammige und diffuse Thymos Begriff und diese Thymos, also Wut Ideologie, durch Sloterdijk 2006 verbreitet, Wirkungen im rechtslastigen Lager hat. Auch Martin Lichtmesz, ein rechter Ideologe, sprach nach der Wahl des Bundespräsidenten in Österreich im Mai 2016 diese verschwommen-drohenden Worte: „Ein Freund meinte, sein Thymos Spiegel wäre gerade am Platzen“ (Heißt das, er wäre bereit, seinen Zorn öffentlich auszutoben?) “Der Rekurs auf den Volkszorn ist immer eine verhohlene Gewaltanwendung. Wenn dem Volk erst mal der Geduldsfaden reißt, dann schützen euch eure Schein-Wahlergebnisse auch nicht mehr“: Mit diesen Worten fasst Ijoma Mangold die Thesen der Thymos-Besessenen neu rechten Ideologen zusammen.

5. Nietzsche wieder einmal der Meisterdenker ganz rechts

Es wäre wichtig, erneut auf das allen rechtslastigen und populistischen Zorn stimulierende Buch „Zorn und Zeit“ von Sloterdijk näher einzugehen. Schon dieser Titel hat ja für Philosophen einen gewaltigen Anspruch, er erinnert an Martin Heideggers grundlegendes Werk „Sein und Zeit“ (1927). Heidegger wollte den Sinn von Sein aus der Zeit verstehen. Sloterdijk will jedenfalls hohe Ansprüche wecken und möchte wohl unsere Zeit im Horizont des Zorns neu lesen oder, wer weiß das schon genau bei der Unschärfe der Formulierungen, den Sinn von Zorn aus unserer Zeit verständlich machen… Sloterdijk lobt den Thymos im Blick auf die frühe griechische Mythologie: Homers Thymos-Lehre wird freundlich zugestimmt, von den mythischen Helden ist die Rede, die zum Hüter des Zorns auserkoren sind. Und Heidegger wird fiktiv in das Thymos-Geschehen eingereiht: Sloterdijk legt dem Meister aus Messkirch die vielleicht sogar treffenden thymotischen Worte in den Mund: “Auch kämpfen heißt danken“ (S. 24). Nebenbei: Heidegger konnte (dem Sein) danken, dass er nur am Schreibtisch “kämpfen” musste in seinem antisemitischen Wahn ab 1933… Aber man könnte den Satz auch allgemeiner verstehen: Der thymotische Mensch kämpft also für seine Sache und ist dankbar, dass er kämpfen, also auch töten und ausmerzen kann. Für Sloterdijk hat die platonische Philosophie (leider) „die Austreibung des großen (!) Zorns aus der Kultur“ begonnen… O ihr Helden des Homer, möchte man weiter fantasieren, was wart ihr doch für thymotische Kämpfer. Ihr hattet wenigstens noch den „Mannesmut“ (so Sloterdijk, S. 26) und wart nicht in die furchtbaren (menschlichen) „demuts-trunkenen Subkulturen” versackt, „in denen schöne Seelen sich (in der Demokratie, CM) gegenseitig (bloß) Friedensgrüße schicken“(so Sloterdijk, S. 31). O ihr thmyotischen und mythischen Kämpfer, möchte man im Sinne Slotderdijks weiter schwadronieren, ihr hieltet – den Göttern sei Dank – nichts von Frieden und Friedensgrüßen….Kein Wunder also, wenn Sloterdijk explizit den Egoismus lobt als „die beste der menschlichen Möglichkeiten“. (Seite 31).

Und dann kommt die zentrale Aussage. Sie zeigt Sloterdijks meist in der Schwebe belassene, oft aber auch offene Vorliebe für Nietzsches radikales „Reformatorentum“, wie er sagt. Dieses bedeutet für Sloterdijk: Nietzsche vollbringt eine wertvolle Leistung, er schafft neue, eben “nicht-metaphysische, nicht-christliche moralische Gesetze” (so Sloterdijk in seine Buch „Philosophische Temperamenten, 2009, Seite 116f.). Sloterdijk schreibt in „Zorn und Zeit“: „Erst Nietzsche hat in dieser Frage wieder für klare Verhältnisse gesorgt“. Das heißt im Sinne des Übermenschen, wie es Nietzsche in seinen sehr späten Werken lehrte, etwa im „Antichrist“ (verfasst 1888) heißt es gleich am Anfang: „Die Schwachen und Missratnen sollen zugrunde gehen: Erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen (den Schwachen und Missratnen) noch dazu helfen, zugrunde zugehen. Was ist schädlicher als irgendein Laster? Das Mitleiden der Tat mit allen Mißratnen und Schwachen – das Christentum…“

Aber solche unmittelbaren Nietzsche-Zitate erspart sich Sloterdijk in seinem Plädoyer für den Egoismus „als der besten Möglichkeit“. Er lässt mit großen Worten und großer Geste vieles schön schwammig und ahnungsvoll offen. Marc Jongen etwa, der AFD Philosoph, versteht seinen Meister in Karlsruhe. Jongen sagt: „Es wäre abwegig zu meinen, der Zorn (Thymos) haben seine besten Zeiten bereits hinter sich“. Also:Der Zorn gegen das angebliche „morsche demokratische System“ wird bald stärker werden.

Sind Demokraten nun noch mehr gewarnt? Oder versuchen demokratische Politiker jetzt, bloß um zu verhindern, dass die AFD die Mehrheit erlangt, die AFD ihrerseits zu imitieren und Forderungen der AFD zu übernehmen? Man hat stark diesen Eindruck in der Flüchtlingspolitik jetzt, Juni 2016. Offenbar fehlt den Politikern und den Bürgern der demokratische Thymos. Und es fehlt das Bewusstsein, dass Politik eben auch etwas mit Moral und Menschenrechten zu hat.

6.Nietzsche -ein philosophisch-politischer Schwerpunkt ab sofort 

Die bisherigen Hinweise machen deutlich: Die so freundliche, so wohlwollende Rezeption zentraler Behauptungen des Spätwerkes Nietzsches zur neuen In(Un)-Humanität durch die neue Rechte, auch durch die AFD, angefeuert durch die eher undeutlichen Aussagen Sloterdijks zu Nietzsche, muss weiter bearbeitet werden. Nietzsche ist „am Kommen“, das ist keine Frage. Er ist ohnehin schon der Meisterdenken der Nouvelle Droite, die es bekanntlich seit 1970 in Frankreich gibt; es ist Nietzsche, den die extreme Rechte in ihre eigene Weltanschauung als Chefdenker eingliedert.

Dabei darf es nicht bleibe: Als erste Einführung zur kritischen Nietzsche Lektüre empfehle ich in dem Buch von Vittorio Hösle „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (C.H.Beck Verlag, München, 2013), das Nietzsche Kapitel mit dem Titel „Die Revolte gegen die universalistische Moral“ (Seite 185-207). Nietzsche und mit ihm seine Freunde und Deuter heute in der AFD und anderswo, so die Erkenntnis, wehren sich gegen die universalistische Moral, also gegen die allgemeinen und für alle (auch für Flüchtlinge) geltenden Menschenrechten. Es wird ein Regime etabliert von wertvollen und weniger wertvollen Menschen, die Ideologie der Herrenmenschen.

7.Wer wird die universalen Menschenrechte verteidigen?

Es geht also heute an erster Stelle für alle Demokraten darum, dass nicht noch die Geltung der Menschenrechte ertrinkt, untergeht und verschwindet. Dies zu debattieren hat absoluten Vorrang, auch in den Kirchen. Aber wie kann eine multinationale Organisation, wie die römische Kirche, im Ernst die Menschenrechte verteidigen, wenn sie in sich selbst, in ihrer eigenen Struktur, die Menschenrechte und damit die Demokratie nicht realisieren will (weil Gott es nicht will, wie es im Vatikan fundamentalistisch heißt..). Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hat der Vatikan bekanntlich NICHT unterzeichnet. Alle netten, menschenfreundlichen Aktionen von Papst Franziskus sollten auch in diesem Licht gesehen werden.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.
Dieser Beitrag ist eine begründete Meinungsäußerung.

Der Leichnam Pater Pios im Petersdom ausgestellt: Eine Scharlatanerie?

Der Leichnam Pater Pios (1887-1968) wird im Petersdom ausgestellt: Eine Scharlatanerie?

Ein Hinweis von Christian Modehn, im Februar 2016.

1.

Es ist ein merkwürdiges und bedenkenswertes Zusammentreffen zweier Ereignisse: Beide dokumentieren auf verschiedenen Ebenen die unvernünftig erscheinende Glaubenspraxis im Vatikan: Am 30.1. 2016 gibt es Massendemontrationen in Italien gegen das Vorhaben der Regierung, auch in diesem Land endlich – sozusagen als Schlußlicht in Europa bei diesem Thema – die eingetragene Partnerschaft von Homosexuellen gesetzlich zu ermöglichen. Der Vatikan ist mit üblichen Argumenten sozusagen der Lieferant ideologischer, religiöser Weisheiten. Aus der schlichten Beschreibung im Alten Testament “Als Mann und Frau schuf Gott die Menschen” (Genesis, 1,27) wird wie üblich und dumm gefolgert: Also kann es deswegen nur eine Ehe von Frau und Mann geben. Von der damals einzig möglichen Heteroehe ist in diesem Bibel-Vers(verfasst ca. 500 vor Christus) keine Rede. Aber der Vatikan entnimmt der Bibel seine Weisheiten, wie es ihm, demVatikan, gefällt.

2.

An dieses Thema traut sich kein katholischer Theologe “ran”: Die merkwürdige angeblich wundertätige Gestalt des süditalienischen Kapuziner-Paters Pio ist für katholische Theologen tabu. Wovor haben diese gut bezahlten Uni-Professoren Angst? Mit diesem angeblich stigmatisierten Kapuziner, der, empirisch erwiesen, in Italien auch heute noch mehr Verehrung findet als Christus oder Maria,  befassen sich “nur”  Soziologen, Historiker oder Kunsthistoriker, wie etwa Urte Krass, Stigmata und yellow press. Die Wunder des Pater Pio”. Bibliographische Hinweise am Ende dieses Beitrags. Wichtig ist das Buch des Historikers Sergio Luzzatto, das nun nach der italienischen Erstausgabe auch in Frankreich publiziert wurde: “Padre Pio. Miracles et politique à l`age laic”, erschienen bei Gallimard , 528 Seiten, 30 €. Das Buch setzt die Gestalt dieses Kapuziners in den historischen Kontext, in dem es das Bedürfnis gab, einen Heiligen zu “schaffen”; es beschreibt auch die Anstrengungen derer, die Pater Pio – sicher aus finanziellen Gründen – in die Gestalt eines zweiten Christus erhöhen wollten.  Der Autor zeigt, wie die Faschisten sich der Gestalt Pater Pios bemächtigten.

3.

Der Religionsphilosophische Salon als Ort der Religionskritik hat sich mit Pater Pio schon seit Jahren mehrfach befasst. Diesmal ein aktueller Hinweis:

Man glaubt es kaum, schon gar nicht bei dem angeblich progressiven Papst Franziskus: Da wird der Leichnam (im Glaskasten) Padre Pios, des Volksheiligen aus Süditalien und Idols u.a. aller Taxifahrer und Mafia-Bosse, aus Süditalien in den Petersdom transportiert und vom 8. bis 14. Februar 2016 ausgestellt, anläßlich des so genannten Heiligen Jahres der Barmherzigkeit. Reliquien, eine einbalsamierte Leiche,  soll also den Gedanken der Barmherzigkeit befördern. Auf welchem theologischen Niveau bewegen sich die Herren des Vatikans eigentlich? Oder geht es nur um Werbung für die Kunstschätze des Vatikans und Roms im Heiligen Jahr? Um mehr Geld in den Kassen des Vatikans und der römischen Hotelbetriebe, zu denen bekanntermaßen heute sicher hundert Klöster gehören. Die Klöster stehen fast leer, und werden in komfortable 4 bis 5 Sterne “Herbergen” verwandelt, die Augustiner, die Nachbarn des Papstes, taten es in Rom, die römischen Franziskaner (die bei dem Projekt pleitegingen) und viele andere…Mit Pater Pio, bei vielen sehr schlichten und weniger schlichten, frommen Gemütern, lässt sich Geld machen…

4.

Religionsphilosophen fragen sich, hat mit dieser Darbietung eines Leichnams in der katholischen Hauptkirche die Vernunft nun endgültig den Vatikan verlassen? Muss der Papst sich so populistisch geben und vielleicht dabei noch konservativere Leute dort versöhnen, dass er den Leichnam Padre Pios, sichtbar und zentral im Petersdom ausstellt? Um was zu bewirken? Dass die naiv gemachten und von ihren Pfarrern ungebildet gehaltenen Frommen dort vor der Leiche beten, den Heiligen bitten und anflehen, seine jetzt nicht mehr blutenden Wunden betrachten und vergessen… dass dieser Mann ein Scharlatan war? Davon sprechen viele Studien, selbst einst die Päpste.

5.

Manche Beobachter fragen: Wie lange will der Vatikan heute eigentlich noch die Nerven der Protestanten strapazieren mit solchen irrigen Kulten um einen heilige Scharlatan? Ist alles Reden von Ökumene im Vatikan nichts als Gerede, indem man genau die Dinge heute ausdrücklich wieder tut, die Martin Luther zurecht verurteilte, wie das Ablasswesen (die “heilige Pforte durchschreiten” usw)., denn auch der Ablass ist bekanntlich wieder so beliebt und eben den Kult um angeblich heilige Leichname bzw. Skelette fördert. De facto sind sich die getrennten Kirchen offenbar bis heute nicht näher gekommen. Das sagt auch jetzt Kardinal Müller, der oberste Glaubenshüter in Rom, wenn er sich die Einheit der Christen nur als Rückkehr zum Papst vorstellen kann. Kurz und gut, warum wagt es kaum jemand zu sagen: Die Ökumene ist nichts als ein schöner, frommer “Schein”? Vielleicht eine Art theologischer Zeitvertreib? Hübsch, wenn man sich zu Konferenzen mit den ewig selben Themen trifft usw. Es geht letztlich unausgesprochen, aber sichtbar im Handeln im Vatikan, nur um die pure Vorherrschaft Roms, eines Roms, som, wie es eben “immer schon war”.

6.

Wir haben schon vor einigen Jahren auf diesen merkwürdigen “Volksheiligen”, der als Priester kaum ein vernünftiges Wort predigen konnte, angeblich mit den Wunden Christi ausgestattet,  aufmerksam gemacht. Zur Lektüre klicken Sie bitte hier.   

Interessante Hinweise, etwa zur Kritik der Päpste an diesem Scharlatan, bietet auch ein Beitrag aus Stuttgarter Zeitungvon 2015, klicken Sie hier.

Wir empfehlen die Lektüre des Beitrags von Urte Krass, “Stigmata und yellow press. Die Wunder des Pater Pio”  in dem Sammelband aus dem Suhrkamp Verlag (2011), hg von Alexander C.T.Geppert und Till Kössler, dort Seite 383-394. Diese Studie von Urte Krass (München) sollte jedem Besucher der wundertätigen Leiche Pater Pios im Petersdom als Pflicht-Lektüre überreicht werden. Geld genug dafür haben ja die Kapuziner mit ihrem “Wunderpriester”, der auch über seinen Tod hinaus für eine wunderbare Geldvermehrung der völlig naiven Frommen seit Jahrzehnten sorgt.

7.

Die Protestanten sollten im Umfeld des Reformationsgedenken 2017 (und des “Ökumenischen Kirchentages” 2017) diese Studie lesen, um sich einen Eindruck zu machen, was heute so alles wichtiggefunden wird in der katholischen Volksspiritualität, mitten im Petersdom, mitten in Italien… Diese total irrationale Volksfrömmgkeit wird amtlich, päpstlich,  gefördert …. weil sie soviel Geld-Segen bringt. Bekanntlich hat ja das riesige Krankenhaus in San Giovanni Rotondo und die dortige “wunderbar-große” Kirche des Stararchitekten Renzo Piano viele Millionen verschlungen…

Ergänzungen am 6.2.2016:  Was sagt der (angeblich progressive) Papst Franziskus von Pater Pio: Ein Zitat aus kath.net: “Nachdem am gestrigen Freitag (5.2.2016) die Reliquien von Pater Pio und Leopold Mandic in Prozession in die Petersbasilika gebracht wurden, wo sie bis zum 11. Februar bleiben werden, begrüßte Papst Franziskus die Gebetsgruppen des heiligen Pio in einer Audienz auf dem Petersplatz. In seiner Ansprache an die Zehntausenden von Pilgern unterstrich der Papst, dass Pater Pio ein „Diener der Barmherzigkeit gewesen sei. Durch das “Apostolat des Hörens, den Dienst der Beichte, sei Pater Pio eine „lebendige Liebkosung des Vaters“ gewesen, der die Wunde der Sünde heile und das Herz mit seinem Frieden aufrichte. Der heilige Pio habe dies tun können, da er immer mit der Quelle verbunden gewesen sei. Er habe ständig seinen Durst am gekreuzigten Jesus gestillt und sei so zu einem „Kanal der Barmherzigkeit“ geworden“. Er habe das Geheimnis des Schmerzes gelebt, den er aus Liebe aufgeopfert habe. So sei sein kleiner Tropfen zu einem großen Fluss der Barmherzigkeit geworden”.

8.

Und der “Fluss der Barmherzigkeit” strömt nach Rom zur Leiche Pater Pio, berichtet ebenfalls kath.net am 6.2.2016: “Pilgeransturm zur Reliquie übertrifft Erwartungen. Fünf Stunden Schlangestehen für fünf Sekunden bei der Pater-Pio-Reliquie. Zehntausende nehmen dies auf sich. Von Stefanie Stahlhofen (KNA). 450 Kilometer hat Filomena für diesen Augenblick hinter sich gebracht. Aus Lagonegro in der Basilikata ist die 65-jährige nach Rom gekommen, um die Reliquie des Heiligen Pater Pio (1887-1968) zu sehen. Dreieinhalb Stunden lang stand sie in der Schlange, andere sollen fünf Stunden gewartet haben. Egal. Filomenas Augen strahlen. «Seelenruhe» habe Pater Pio ihr gegeben, sagt sie. Der Glassarg ist kaum zu sehen vor lauter Menschen. Sie hinterlassen Blumenschmuck und kleine Zettel, pressen einen Schal, eine Hand mit oder ohne Rosenkranz, ein Heiligenbild gegen den Schrein. Sie knipsen Fotos mit dem Handy, murmeln ein Gebet. Vor ihnen der Anblick von Pios Leichnam in der typischen Kutte, die schwarz gewordene Hand über der Brust gefaltet. Eine Silikonmaske verdeckt das Gesicht. Sie verleiht dem Heiligen mit dem grauen Bart einen friedlichen Gesichtsausdruck”.

Für Philosophen: Wie der Philosoph G.W.F. HEGEL den Reliquienkult deutet, lesen Sie hier.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Grenzen der Heidegger Forschung

Es gibt keine historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Martin Heideggers

Über die Grenzen der Heidegger Forschung

Ein Hinweis von Christian Modehn

Am 13. 11. 2014 (Nr. 47) veröffentlichte DIE ZEIT einen wichtigen Beitrag von Eggert Blum über neue Erkenntnisse einer kritischen Heidegger-Forschung. Der Titel „Die Marke Heidegger“. Der Untertitel „Wie die Familie des Philosophen jahrzehntelang versuchte, das Image des umstrittenen Denkers zu kontrollieren und kritische Studien klein zu halten“.

Eggert Blum arbeitet als Journalist vor allem für SWR 2.

Sein Beitrag für DIE ZEIT findet unseres Erachtens leider nicht eine breitere Rezeption in der Öffentlichkeit. Dabei bietet er einige wichtige Erkenntnisse aus neuester Forschung über den Philosophen Martin Heidegger. Um zu weiteren Recherchen – wenn möglich – zu ermuntern, nur einige zentrale Fakten aus dem Beitrag von Eggert Blum.

– Die Familie Heideggers, allen voran der Sohn Hermann Heidegger, „üben eine strikte Kontrolle über die Gesamtausgabe aus, sie beanspruchen Deutungshoheit über das Heideggerbild in der Öffentlichkeit und versuchen, kritische Stimmen klein zu halten“. Tatsache ist also, trotz der allmählich abgeschlossenen „Gesamtausgabe“: „Es gibt keine historisch-kritische Gesamtausgabe, die Änderungen des Autors kenntlich und so die Textgeschichte überprüfbar mache“. Damit sind vor allem die Äußerungen des NSDAP Mitglieds Martin Heideggers (Mitglied bis 1945) zur Rolle der Juden gemeint, etwa: „Über die Vorbestimmung der Judenschaft zum planetarischen Verbrechertum“ (so ein Zitat Heideggers in DIE ZEIT vom 13.11.2014).

– Die Philosophin Sidonie Kellerer hat sich große Verdienste erworben, im Detail nach zu weisen, wie Martin Heidegger nach 1945 höchst peinliche Äußerungen (um es mal moderat zu sagen) über Juden ausgelöscht hat. Der Beitrag zeigt diese sehr genaue Recherche am Beispiel des Aufsatzes “Zeit des Weltbildes”, den Heidegger 1938 in Freiburg gehalten hat. In der Veröffentlichung dieses Aufsatzes in dem Sammelband “Holzwege” 1950 streicht Heidegger Äußerungen dieses Vortrags, die er 1938 zugunsten der NSDAP Ideologie gemacht hatte.

– Nachschriften aus Universitätsseminaren, etwa aus dem Wintersemester 1933 /34, in denen Heidegger den Führerstaat, Nationalismus und Antisemitismus propagiert, fehlen in der Gesamtausgabe. Sie ist ja auch keine kritische Gesamtausgabe … und somit eigentlich nur sehr begrenzt für die Forschung verwendbar. Dies ist wohl die am meisten schockierende Erkenntnis, die der Artikel vermittelt.

– „Teile des Nachlasses befinden sich weiter in Familienhand“, also bei Hermann Heidegger und dessen Sohn.

– Hermann Heidegger, der Sohn,  publiziert seine Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft im Verlag ANTAIOS, wo sich vor allem Autoren der so genannten Neuen Rechten (Nouvelle Droite, etwa der Meisterdenker Alain de Benoist tummeln). Der ANTAIOS Verlag stellt Hermann Heidegger auf der Verlagswebsite – zweifellos mit dessen Einverständnis – vor: „Seit 1976 ist Hermann Heidegger verantwortlich für die Gesamtausgabe der Werke seines Vaters Martin Heideggers“.

– Der von Heidegger selbst geschätzte Interpret und Herausgeber einiger Werke der Gesamtausgabe, der Philosoph Friedrich Wilhelm von Herrmann, hat dem russischen Nationalisten Alexander Dugin (er gehört zu Putins Beraterkreis) ein zweistündiges Filminterview gegeben. Der Journalist und Philosoph Thomas Assheuer schreibt über Alexander Dugin in “Die Zeit” vom 17. Dezember 2014, Seite 4: “Von der inneren Unterwanderung des Westens träumt auch der russische Philosoph Alexander Dugin. Im Mai (2014) war Dugin in Wien Stargast eines =Geheimtreffens=, an dem neben dem FPÖ Chef Heinz Christian Strache auch die Ekelin Jean-Marie Le Pens teilnahm, also eine Abgeordnete des /französischen/ Front National… Dugin wird nicht beleidigt sein, wenn man ihn eine Neofaschisten nennt… Dugin entwirft  eine Blaupause für eine postliberale Gesellschaft, die auf den Ruinen des Westens errichtet werden soll…”

Uns ist nicht bekannt, ob sich der “hervorragende Heidegger Spezialist”, Prof. Friedrich Wilhelm von Herrmann, zur Bedeutung und zum Sinn seinwa ausführlichen Fernsehgesprächwa mit Dugin geäussert hat. Die Hauptfrage bleibt also: Welche philosophische Nähe zwischen Dugins explizitem Abweisen des demokratischen Liberalismus und der expliziten Kritik Heideggers an der “Macht des westlichen Imperalismus” gibt es? Ist es also purer Zufall, dass sich der Neofaschist Dugin für Heidegger interessiert und sich alles hübsch von Heideggers Sekretär und Oberinterpreten erläutern lässt?

– Eggert Blum stellt am  Ende seines Beitrags die Frage: „Man mag fragen, warum man sich heute noch mit Heidegger beschäftigen soll. Ist über den NS Philosophen nicht alles Entscheidende gesagt? Kann man den ernst zu nehmenden Teil seiner Philosophie nicht einfach den Spezialisten überlassen?“ Der Autor fährt fort: „Das könnte ein Irrtum sein. Denn für Nationalisten und radikale Rechte ist dieses Denken attraktiver denn je“.

Der Beitrag in DIE ZEIT: http://www.zeit.de/2014/47/philosoph-heidegger-antisemitismus

Zum Interview Friedrich W. von Herrmann mit dem russischen Nationalisten Alexander Dugin:

http://www.4pt.su/de/content/prof-alexandre-dugin-mit-prof-friedrich-wilhelm-von-herrmann

Die angesehene Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ veröffentlichte 2007 einen Beitrag über Dugin mit dem Titel „Faschismus a la Dugin“. Zur Lektüre klicken Sie bitte hier.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Kapitalismus und Protestantismus. Anläßlich von Max Webers 150. Geburtstag

Kapitalismus und Protestantismus: Zum 150. Geburtstag des Soziologen Max Weber am 21. April 2014

Hinweise anlässlich der Neuerscheinung „Max Weber“ von Jürgen Kaube  (Rowohlt Verlag 2014)

Im Rahmen unserer religionsphilosophischen Interessen und Forschungen möchten wir empfehlend auf die ausführliche und anregende Studie von Jürgen Kaube „Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen“  hinweisen. Wir können hier nur auf einige Aspekte dieses Werkes aufmerksam machen, Aspekte, die zu einem differenziertem Studium der Thesen von Max Weber inspirieren können.

Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin befassen wir uns seit Jahren mit der Frage, wie Mentalitäten, auch religiöse oder speziell kirchlich geprägte, Einfluss haben und bestimmend sein können für politisches, kulturelles und wirtschaftliches Handeln. Uns interessiert etwa innerhalb der Korruptionsforschung die Frage, wie stark volkstümliche, aber auch dogmatisch geprägte katholische Lehren und Bräuche die vor allem in romanischen Ländern (Italien, Lateinamerika) lange dauernde, weit verbreitete Korruption gefördert und zugelassen haben, bis hin zur kirchlich unterstützten Etablierung von Gewaltherrschaft durch Caudillos etwa in Lateinamerika, man denke etwa an die Diktatur von Leonidas Trujillo in der Dominikanischen Republik. Damit hängt  die grundlegende Frage zusammen, wie stark klassisches katholisches Fühlen und Denken etwa die Entwicklung von Demokratie und Republik behindert haben. Da ist das empirische historische Material sehr ergiebig. Und wenn der oberste Leiter des Katholizismus (der Papst) selbst demokratische Strukturen für seinen Staat (Vatikan) und seine Kirche ablehnt, und zwar mit Berufung auf göttliche Weisungen, dann sind für die Bildung von Mentalitäten sozusagen alle Türen geöffnet, auch für das eigene Land demokratische Strukturen  zu unterbinden und zu verbieten, zumindest nicht euphorisch zu fördern. Allerdings wird man wohl niemals monokausal religiöse Mentalitäten für die Struktur staatlicher Verfasstheiten geltend machen können, etwa am Beispiel des Zusammenhangs von Korruption und Katholizismus. Bei dem Thema müsste aber doch die prägende Bedeutung für die Mentalitäten, etwa die Rolle der Wallfahrtsorte (spezielle Wallfahrtsorte für die Mafia gibt es in Italien) und der Beichte usw. entwickelt werden. Das ist ein Forschungsthema unseres Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons in der Beziehung von Katholizismus und (demokratischer, republikanischer) Mentalität. .

Zu Max Webers Entdeckungen der Beziehung von protestantischer Mentalität und kapitalistischer Wirtschaft: Deutlich ist, wie nuanciert Jürgen Kaube zu dem vielfach besprochenen Zusammenhang von „Kapitalismus und protestantischer Ethik“ Stellung nimmt. Die Arbeiten Webers zu dem Thema sind ja immer noch von hohem Interesse. Darum kann die Lektüre dieser Texte hilfreich sein für eine erste grundlegende Orientierung.

Max Weber, immer bemüht seine aktuelle Gesellschaft zu begreifen, interessiert sich vor allem für „die Mentalität, die den Konkurrenzkampf bejaht“  (S. 181),  und diese kapitalistische Mentalität hat es für ihn bereits geben, als die wirtschaftliche Organisationsform (Kapitalismus) noch gar nicht vorhanden war. Weber entdeckt also bestimmte religiös geprägte Menschen, für die „Selbstdisziplin“, „Berufsfleiß und Konsumverzicht“ der  entscheidend wichtige und gottgewollte Lebensmittelpunkt sind. Und diese Werteordnung findet er in dem von ihm so bezeichneten Puritanismus. „Weber verwendet die Bezeichnung Puritaner  einerseits freigiebig – nämlich für alle ethisch rigorosen Sekten, von den Täufern über die Pietisten bis zu den Methodisten“ (S. 182).  So wird auch Benjamin Francklin in die Reihe der Puritaner gestellt oder der „humanistische Mystiker“ Sebastian Franck.  Nebenbei: Wenn Weber den Begriff “Sekte” verwendet, denkt er an den heutigen Begriff “Gemeindekirche” oder “Freikirche”,

Ernüchternd ist die Einschätzung Kaubes:

Max Weber sehe den spirituellen Ursprung seines „herbeikonstruierten Puritanismus“ (S 182) in der (von diesen Kreisen betonten) Unmittelbarkeit des einzelnen Frommen zu Gott selbst. Von Weltlichem, also Irdischen, auch Kirchlich – Institutionellem,  kann in dieser protestantischen Sicht kein ewiges Heil, also keine Erlösung, kommen. Nur durch die eigenen frommen Anstrengungen, dies sind Gebote der persönlichen Gottesverbundenheit, genannt Askese, könne der Fromme spüren, ob Gott wohlgefällig ist. Harte Arbeit ist also erforderlich, meint Max Weber, bis zum Lebensende permanent geleistet, um Hoffnung zu haben, von Gott im Jenseits angenommen, also erlöst, zu werden. Wer seine Lebenszeit untätig vergeudet und faulenzt, verfehlt seine Unmittelbarkeit mit Gott. „In den Schriften des puritanischen Erbauungsschriftstellers und Moraltheologen Richard Baxter erkennt Weber eine Art Vorbereitungsprogramm für die Gestalt des künftigen Unternehmers: Reichtum als solcher ist diesem Typus ein Ärgernis, weil man so zur Untätigkeit verführt wird, es kommt auf Kapitalbildung an, also aufs Reinvestieren. (vgl. S. 184).

Den Winter 1901 – 1902 hat Weber in Rom verbracht,  dabei werden zwei Themen für ihn wichtig: Er erlebt die – ganz vorsichtig, etwas aufgeschlosssene Regierung von Papst Leo XIII. (seit 1878). Aber die Schatten der heftigen antimodernen Positionen und Polemiken seines Vorgängers Pius IX. sind noch spürbar: Und Katholiken haben diese geschlossene Getto- Mentalität selbst übernommen. Weber erinnert sich dabei an einen Satz des Zentrumspolitikers Hermann Mallinckrodt, “dass die Freiheit des Katholiken darin besteht, dem Papst gehorchen zu dürfen”. Diesen Satz bezeichnet Max Weber als eine These von universeller Geltung, “weil er das Prinzip der Anstaltsgnade, also die durch eine Organisation vermittelte Erlösung auf den Punkt bringe” (so Kaub, S. 140). Zweitens studiert Weber in Rom intensiv die Geschichte der katholischen Orden und Klöster, dabei wird deutlich, wie die Mönche in ihrem Leben der Bescheidenheit und Askese indirekt weltliche Macht schaffen und auch von ökonomischem Erfolg begünstigt werden: Der Konsumverzicht der Mönche führt zu Ersparnissen und Investitionen …und zum wirtschaftlichen Erfolg der Klöster. Diese Studien in Rom haben sicher inspirierend gewirkt für den 1905 veröffentlichten Aufsatz “Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus”.  Darin wird die These erläutert, der Protestantismus habe mit seinem Arbeitsethos das katholische Mönchtum noch übertroffen! (Kaube, S. 143). Ohne Askese kann es für Weber keine Kulturleistungen geben.

Gegen diese weithin bekannte Theorie Max Webers über den Begründungszusammenhang von protestantischem Glauben und Kapitalismus wurden und werden Einwände vorgebracht, Jürgen Kaube verweist auf Heinz Steinert „Max Webers unwiderlegliche Fehlkonstruktion“ (Frankfurt  M. 2010) und die Studien von Hartmut Lehmann, etwa „Webers Protestant Ethic“ (Cambridge 1993).

Kaube stellt die schon oft präsentierte Frage an Webers Konstruktion:  „War am Ende nicht den Protestanten das Kaufmannsdasein gemäß, sondern den Kaufleuten die protestantische Gesinnung?“ (S. 184). Der Autor nennt Webers Argumentationstechnik in dem Zusammenhang „atemberaubend“ (S. 184). Er spricht von einer „virtuosen Konstruktion“ (S. 185).

Diese These Webers hat ihren Ursprung in der Überzeugung, dass bestimmte Kreise des Protestantismus die Moderne, auch die moderne Wirtschaftsordnung, hervorgebracht haben, eine protestantische Religion als prägende Kraft der Moderne – das klang zu seiner Zeit wohl attraktiv. Hegel hatte ja noch in der Reformation Luthers den Ursprung der modernen Welt gesehen.

So auch Max Weber, darin mit seinem Kollegen und Freund Ernst Troeltsch eng verbunden. Die klare und nüchterne, hart zupackende und ökonomisch kreative Mentalität aber findet Weber gerade nicht im Luthertum, das er selbst „die schrecklichste Erscheinungsform der Schrecken“ nennt (S. 187).  Inspirierend für die moderne Wirtschaftsform, den Kapitalismus, hat für ihn hingegen nur der Puritanismus gewirkt.

Einen skeptischen Blick auf den Zustand seiner Gesellschaft hat Weber sich bewahrt: Er weiß genau, dass diese moderne Gesellschaft der Arbeitsteilung, der Zersplitterung des Lebens, alles andere als eine ideale Gesellschaft ist. Er sah, “aus dem Bürger einen Fachmenschen werden, der in einem  = stahlharten Gehäuse =  von gesellschaftlicher Abhängigkeit gefangen ist” (Detlef Clausen), seit die puritanische Moral keine prägende Kraft mehr hatte.

Auch zu dem vielzitierten Wort Webers von 1909 , “religiös absolut unmusikalisch zu sein” (immer wieder von Jürgen Habermas gebraucht) bietet Jürgen Kaube die Ergänzung Webers, er neige dazu, MUSIKALISCH religiös zu sein und der “Musik eine innerweltliche Erlösung vom Alltag zuzutrauen” (so Kaube, S 289 in seinen Hinweisen zu Webers Musiksoziologie). Inspirierend für weitere Studien sind Kaubes Hinweise zur “Wirtschaftsethik der Weltreligionen” (S. 336 ff.)

copyright:christian modehn, religionsphilosophischer salon berlin.

Karl Rahner: zum 30. Todestag: Glaubenslehren sind Ausdruck religiöser Erfahrungen

Karl Rahner, zum 30. Todestag: Die Glaubenslehren sind Ausdruck religiöser Erfahrungen

Von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin, am 24.März 2014.

Hier wird eine neue Interpretation des zentralen Denkens Karl Rahners vorgeschlagen: Zentrale Aspekte seiner Theologe sind von einem Geist bestimmt, den man durchaus “liberal-theologisch” nennen kann. Diese Einschätzung hat bisher wohl niemand in der Form gewagt. Grundlage für diese Interpretation der “Grundstimmung” und wesentlicher Aussagen Rahners ist seine zentrale, immer wieder zitierte These “Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein”. Und Mystik ist eben nur denkbar als eine INDIVIDUELLE Interpretation des Glaubens. Ein historischer Beleg: “Ab dem 16. und 17. Jahrhundert wird Mystik die Erfahrung eines radikal individuellen Umgangs mit dem Unversellen, dem Transzendenten, mit Gott”. (Koenraad Geldof, in: “Michel de Certeau”, hg. von Marian Füssel, Konstanz 2007, Seite 140.

……………………………………………

Am 30. März 1984 ist der große Theologe Karl Rahner SJ im Alter von 80 Jahren verstorben. Im zeitlichen Abstand fragen sich heute einige, die Rahners Denken nach wie vor bemerkenswert, sogar wichtig und bleibend-aktuell finden, was denn das „besonders Anregende“, das „besonders heutiges Nachdenken Provozierende“ ist? Diese Frage ist natürlich angesichts der Fülle der Themen, zu denen Karl Rahner in seinem umfangreichen Werk Stellung nahm, schwierig zu beantworten. Seine Kritik an der bürokratischen, der „Geist auslöschenden Kirche“  ist unvergessen, sein Zorn über die Dummheit der Etablierten ist bekannt;  seine Vorschläge für eine „Ökumene jetzt“ (mit den Protestanten) ebenso. Diese Themen  und Vorschläge werden heute verdrängt, schon damals fanden sie nicht die berechtigte begeisterte Aufnahme in einem von Angst geprägten katholischen Milieu, etwa das Buch “Strukturwandel der Kirche als Chance und Aufgabe”, 1973.  Viele LeserInnen legen Rahners Werke als zu schwierig beiseite, sie vergessen allerdings dabei,  dass noch viel mehr die klassische katholische Schul – Theologie, selbst der offizielle römische Katechismus und das katholische Kirchenrecht, etwa die Ehegesetzgebung, alles andere als einfach und schnell nachvollziehbar,  gar „verständlich“  sind.

In unserer Sicht gilt es, eine bestimmte großartige Anregung Karl Rahners aufzugreifen, die ihren Ursprung in seiner transzendental gewendeten anthropologischen Theologie hat. Damit ist das (letztlich von Kant inspirierte) Denken gemeint,  bei jeder geistigen Wirklichkeit, also auch dem Glauben des einzelnen, nach den Bedingungen der Möglichkeit für ein Verstehen dieser Wirklichkeit zu fragen und diese Bedingung zu nennen. Wichtig und für weitere Diskussionen inspirierend ist also, kurz gesagt und nachvollziehbar formuliert, die Rahnersche Erkenntnis: Zwischen der in Sätzen formulierten, sozusagen vorgegebenen Glaubenslehre und dem religiösen Bewusstsein des glaubenden Menschen gibt es keine Fremdheit, auch nicht nur eine vage gedankliche Verbindung, sondern eine innere Nähe und sachliche Identität. D.h.: Was sich im religiösen Bewusstsein des einzelnen Christen erfahrungsmäßig zeigt, ist letztlich nichts anderes, als was in der zentralen Glaubenslehre, satzhafter Art sozusagen, ausgedrückt und formuliert wird.

Mit diesem Prinzip will Rahner andeuten: Es gibt grundsätzlich keine Fremdheit zwischen der grundlegenden Glaubenslehre und dem subjektiven religiösen Bewusstsein. Damit wird eine Antwort gegeben auf die neuzeitliche Problematik, wonach der christliche Glaube etwas völlig Fremdes und damit das Subjekt Entfremdendes ist. Die dialektische Theologie (etwa Karl Barth mit seinem Spruch „Gott ist ganz anders“) hat ja diese Entfremdungsthese ihrerseits zustimmend aufgegriffen und nur noch für weitere Befremdlichkeit gesorgt, meinen wir. Ob die für die Neuzeit typische Suche nach Überwindung der Fremdheit des „anderen“ im allgemeinen ihrerseits Norm sein kann, wäre aber eine eigene Diskussion für sich. Jedenfalls hat Rahner nie die göttliche Wirklichkeit als beliebiges Produkt menschlichen Geistes verstanden, auch wenn sich Gott zuerst und vor allem eben IM menschlichen Geist zeigt!

Karl Rahner wusste: Diese innere Verbindung von Mensch und Gott im Sinne tiefer Identität zwischen subjektiver religiöser Erfahrung und objekthafter Lehre kann schnell der Häresie verdächtigt werden, etwa im Rahmen der Abweisung des Modernismus durch die Päpste zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Vertreter dieser Theologie, die dann wegen des Modernismus angezeigt wurden, hatten ja das Ziel, sozusagen eine liberale katholische Theologie zu schaffen, in der das religiöse Bewusstsein des einzelnen Katholiken (endlich einmal) aufgewertet in den Mittelpunkt gestellt werden sollte.

In dem Aufsatz „Die Forderung nach einer =Kurzformel= des christlichen Glaubens“ (von 1965, veröffentlicht in Band VIII der „Schriften zur Theologie“ Seite 153 ff.) beschreibt Rahner diese (oben genannte) innere Verbindung von Subjektivem und Objekthaftem, Satzhaften. Demzufolge ist der (objektive, also satzhafte) Glaube „keine von außen an den Menschen herangetragene Ideologie“ , sondern der Glaube (also die Glaubenslehre) ist „die erfahrene und erlittene Wirklichkeit seines (d.h. des Menschen) Leben selbst“.  An der Stelle, auf Seite 153 in Band VIII., weist Rahner dann sozusagen prophylaktisch im Blick auf das strafende Lehramt in Rom  auf die für ihn zentrale Gnadenlehre hin: In Fußnote 1 heißt es also: „Wenn man bedenkt, dass die Gnade Christi der äußeren Predigt des Evangeliums IMMER SCHON zuvorgekommen ist (nämlich als Anwesenheit der Gande im Menschen selbst, CM), kann diese Forderung (nämlich nach einer Kurzformel) nicht des Modernismus verdächtigt werden“. Mit anderen Worten gilt es an die zentrale Lehre von der göttlichen Gnade zu erinnern: Die Gnade Gottes ist als Gabe in jedem Menschen anwesend, diese Gnade ist aber schon die Offenbarung Gottes selbst. In jedem Menschen ist die Offenbarung also anwesend. Das hat weitreichende Bedeutung, auch im Blick auf den Dialog der Religionen usw. Gott/Gnade ist in allen geistbestimmten Vollzügen des Menschen lebendig zugegen. Sie findet in der satzhaften Beschreibung der Offenbarung, etwa in der Bibel, ihren sprachlichen Ausdruck. So weit ich weiß, hat Rahner nicht gesagt als konsequente Fortsetzung dieses Denkens: Die Bibel etwa ist Ausdruck des subjektiven Glaubens religiöser Menschen. Das hätte ja nahe gelegen und wird in einer protestantischen liberalen Theologie ja auch so betont!

Noch einmal: Karl Rahner will ein inneres Entsprechungsverhältnis, eine Identität, zwischen religiösem individuellen Glauben und satzhafter Lehre aufzeigen.

Das gilt etwa auch für die Christologie. In dem Buch „Ich glaube an Jesus Christus“, Theologische Meditationen, Benziger Verlag, 1968, Seite 29) heißt es: „Wir wollen von einem Punkt ausgehen, an dem der Glaube an Jesus Christus nicht als eine bloß von außen kommende, wenn auch noch so erhabene Zutat zur unabwälzbaren Existenz des Menschen erscheint. Sondern wir wollen den Glauben an Jesus Christus in der innersten Mitte der Existenz (!)  auffinden, wo er (Jesus) schon (!) wohnt, bevor wir, hörend auf die Botschaft der Kirche, diesen Glauben dann worthaft reflektieren“.  (Die Ausrufungszeichen sind von mir, CM).

Für Rahner gibt es also immer schon eine Anwesenheit des göttlichen Geistes in jedem Menschen. In alltäglichen Lebensvollzügen wird darum auch die Wirklichkeit Gottes erfahren, und gerade nicht in exklusiv sakralen Ereignissen,  etwa charismatischen Verzückungen. Gott ist da, wenn der Sinn des Lebens bejaht werden kann, Gott ist da, wenn Liebe möglich wird, wenn Solidarität gelingt. Gott zeigt sich im Alltag. Und diese Alltags – Erfahrungen finden einen Ausdruck in der Glaubenslehre.

Und genau an dieser Stelle beginnen weitere Frage, die Rahner selbst nicht beantwortet hat: Sind denn schlechterdings alle Glaubenslehren aus der inneren, der subjektiven Erfahrung heraus rekonstruierbar? Also findet sich das religiöse Subjekt in allen katholischen Glaubenslehren selbst wieder? Für die Gestalt Jesu Christi mag diese Verbindung von Subjektiv und Objekthaft gelingen, für die Gottesfrage im allgemeinen auch, aber wie ist es mit der römisch – katholischen Lehre von Maria, dem Papsttum usw. Da wird es wohl unmöglich, aus der religiösen Erfahrung des Subjekts her diese Lehren als „meine“ Lehren, also als Ausdruck meiner Gefühle zu verstehen.

Wir sehen also, dass der Ansatz einer transzendentalen, anthropologischen Theologie angesichts der Überfülle vorgegebener Kirchenlehren irgendwie dann doch sehr begrenzt ist.

Aber die Leistung Rahners bleibt gültig, unter der Voraussetzung, dass die katholische Kirchenlehre sich tatsächlich auf einiges Wesentliche reduzieren könnte und Vereinfachung nicht als Verlust der vorgeblichen „Substanz“, sondern als befreienden Gewinn begreifen würde. Wer am alten „Glaubensgut“ festhält hängt weiter fest am befremdlichen und entfremdenden Charakter der vielen detaillierten Glaubenslehren,  also der Eindruck bliebe: Die katholische Lehre ist eine kaum nachvollziehbare Überfülle von Lehren.

Traurig ist es in unserem Sinn, dass diese hier beschriebene ZENTRALE Linie innerhalb der Theologie Rahners heute im katholischen Raum nicht mehr fortgesetzt wird. Es gibt eine ungeheure Angst, zum ersten Mal überhaupt eine katholische liberale Theologie zu entwickeln, die eine Korrespondenz zwischen religiösem Gefühl und der “Lehre” herstellt. Vielleicht liegt es auch daran, dass Schleiermacher innerhalb der katholischen Theologie keine Rezeption gefunden hat und meines Wissens z.B. der liberale Theologe in Berlin heute, Prof. Wilhelm Gräb, noch nie in einer katholischen Akademie oder katholischen Gemeinde gesprochen hat. Es gibt eine fundamentale Angst der römischen Katholiken vor einem liberal – theologischen Denken. Diese Angst ist meines Erachtens in Spuren selbst noch in der katholischen Abwehr von Rahners transzendental – theologischer Theologie zu spüren…

Dabei hat Rahner erste Ansätze für eine sehr moderate Form katholisch-liberaler Theologie entwickelt. Aber es gibt die herrschende und allmächtoge, nicht befragte Überzeugung, dass alles, was sich im Laufe der Jahrhunderte als katholische Lehre angesammelt hat, weitgehend doch erhalten bleiben soll. Nur gelegentlich werden nicht mehr nachvollziehbare Lehren beiseite gelegt, wie etwa der Limbus Puerorum, also die Vorhölle, die für kleine, ungetaufte Kinder einst bestimmt war.

Sicher haben Rahner Interpreten recht, wie Herbert Vorgrimler (in: „Karl Rahner verstehen“, Kevealer 2002, S 51 f.) und Karl Lehmann (In: „Karl Rahner Lesebuch“, Freiburg 2104, S. 27), wenn sie auf die tiefe Bindung Rahners an den Katholizismus hinweisen, trotz aller leidenschaftlichen Kritik am bürokratischen System Kirche.

Selbst wenn Rahner gegenüber der Kirche „eine unbedingte Loyalität“ (Vorgrimler, S. 51)  hatte: Tatsache ist, dass er den theologisch (für katholische Verhältnisse!) ungeheuerlichen Versuch machte, eine ganz innige Verbindung, wenn nicht Identität zwischen subjektivem Glauben und objektiver Lehre aufzuweisen und diese zu fordern als einen Beitrag, den Katholizismus aus der Entfremdung innerhalb der modernen Kultur herauszuführen.  Diese  Leistung Rahners sollte weiter konkretisiert und allseitig diskutiert werden.

Einige Zitate Rahners zu dem Thema:

Rahner kann das menschliche Dasein auf seine verborgenen Tiefen hin „ausloten“. Mitten im so genannten banalen Alltag ereignet sich die Erfahrung Gottes  „So etwa, wenn man plötzlich die Erfahrung personaler Liebe und Begegnung macht. Plötzlich selig erschreckt, wie man in Liebe absolut, bedingungslos angenommen wird, obgleich man für sich selber allein in seiner Endlichkeit und Brüchigkeit dieser Bedingungslosigkeit der Liebe, die einem entgegenkommt von der anderen Seite, gar keinen Grund und keine zureichende Begründung geben kann. Wie man selbst ebenso liebt, in unbegreiflicher Kühnheit die Fragwürdigkeit des anderen überspringend, wie diese Liebe in ihrer Absolutheit einem Grund vertraut, der ihr selber nicht mehr untertan ist, ihr in seiner Unbegreiflichkeit zuinnerst und von ihr unterschieden zugleich ist“.

„Ich bin der Überzeugung, dass das Christentum eben nicht nur eine von außen her kommende Lehre ist, die dem Menschen eingetrichtert wird. Sondern, dass es wirklich ein Christentum von Innen heraus, von der innersten persönlichen, menschlichen Erfahrung her, gibt und geben muss. Das Christentum ist nicht eine Lehre, die von aussen einem erzählt, dass es so etwas gibt wie Gnade, Erlösung, Freiheit, Gott, so wie einem Europäer mitgeteilt wird, dass es Australien gibt. Sondern das Christentum ist wirklich die Auslegung dessen, was in der innersten Mitte des Menschen ((an einer vielleicht verdrängten, vielleicht nicht reflektierten Erfahrung doch)) schon gegeben ist.

Noch in seinem letzten öffentlichen Vortrag, wenige Tage vor seinem Tod im März 1984, hat Rahner in Freiburg im Breisgau laut stark und dochmit melancholischem Ton gesagt: „Ich musste als Christ und als Theologe gar nicht selten mit einer gewissen Anstrengung des Geistes und des Herzens fragen, was mit einem bestimmten Satz, den das kirchliche Lehramt als Dogma vorträgt, eigentlich gemeint sei, um eine Zustimmung ehrlich und ruhig leisten zu können. Ich habe aber in meiner eigenen Lebensgeschichte keinen Fall erlebt, in dem mir dies nicht möglich gewesen wäre. Wenigstens dann nicht, wenn ich mir bei solchen Dogmen klar machte, dass sie alle nur mit einem, ihrem Richtungssinn auf das Mysterium Gottes selbst richtig verstanden werden“. Das “Mysterium Gottes” selbst aber, diese Ergänzung sei im Sinne Rahners erlaubt, zeigt sich gerade IM RELIGIÖSEN BEWUSSTSEIN des einzelnen.

 

Copyright: Christian Modehn, 24. 3. 2014.