Geert Wilders, der Populist und der Populismus in anderen Parteien.

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 5. 3. 2017.

Am 6. 3.: Zunächst eine, hoffentlich bis zum 15. 3. bleibende, erfreuliche Nachricht: Die jüngsten Umfragen zeigen, dass Wilders und seine PVV auf Platz zwei in der Wählergunst gerutscht sind. Und es ist zudem sowieso sehr wahrscheinlich, dass die PVV in der künftigen Koalition nicht (mit)regieren wird. Dennoch ist eine Auseinandersetzung mit dem zweifelsfrei etablierten Populismus auch in den Niederlanden wichtig. CM

In seinem neuen Buch „de populistische revolutie“ (2017) bietet Hans Wansink einen knappen Essay zum Populismus in Europa, den USA und auch in Deutschland (S. 91 ff). Wansink arbeitet als Redakteur der Tageszeitung „de Volkskrant“, er ist auch Autor einiger politischer Studien. In dem Buch bietet er auch einige interessante, hierzulande oft eher unbekannte Aspekte des politischen Lebens in den Niederlanden.

Auf Seite 40 erinnert er etwa an eine “Wähleruntersuchung” aus dem Jahr 1998, also noch vor dem Auftreten des Populisten Fortuyn: Damals meinten 60 Prozent der niederländischen Wähler: Ethnische Minderheiten und Allochthone (= Ausländer, so werden sie vornehmer genannt in Holland) hätten sich an die Gebräuche und Gewohnheiten der Niederlande anzupassen. Diese Leute meinten also, die alte Form der Assimilierung sei für Allochthone am besten, also die Aufgabe des Eigenen, um so zu werden wie die Mehrheit im Lande. Assimilierung ist auch aus der deutsch-jüdischen Geschichte bekannt. Bekanntlich hat die Assimilierung der Juden in Deutschland die mörderischen Verbrechen der Nazis gegen die Juden gerade nicht verhindert.

Diesen 60 Prozent der Niederländer also standen 20 Prozent gegenüber, die meinten: Die Allochthonen könnten ihre eigene Kultur in Holland beibehalten. „Dieses Wahl-Verhalten ist stabil geblieben und es gilt auch für die Asylsuchenden“, schreibt Wansink. „Ungefähr die Hälfte der Wähler meint seit 1998, dass „so viele wie möglich sich in den Niederlanden aufhaltende Asylsuchende in ihr eigenes Herkunftsland zurückgebracht werden müssen“. Ungefähr 20 Prozent meinen, dass “die Niederlande gerade mehr Asylsuchende aufnehmen sollten“. Man sieht daraus: Eine gewisse abweisende Haltung gegen Ausländern ist viel größer als die Bereitschaft, PVV und Wilders zu wählen. Abweisung von Fremden reicht viel tiefer und weiter…

Auch zur moralischen Einstellung der Populisten bietet Wansink einige Hinweise, die er im Anschuss an den Politologen Cas Mudde darlegt:

Es geht den Populisten immer um das saubere Volk, die der korrupten Elite gegenübersteht. Politik sollte für Populisten ein Ausdruck des Volks-Willens sein, wobei als „das“ Volk sich die Populisten (autoritär) verstehen. Kompromisse sollte dieses (populistische) Volk nicht eingehen; denn Kompromisse könnten das saubere Volk korrumpieren. Nebenbei: Über den Begriff „sauber“ und „säubern“ sollte man alsbald eigene politologisch-philosophische Studien betreiben, im politischen Zusammenhang verwendet erinnert Säubern natürlich an die Nazi-Sprache, interessant ist und kaum beachtet, dass der konservative Theologen Ratzinger alias Benedikt XVI. permanent vom „Säubern“ in Theologie und Kirche sprach. Populisten behaupten also unentwegt: Wir sind das echte Volk.

Auch Wansink erinnert daran, dass das jetzige Parteiprogramm von Geert Wilders (PVV) noch „extremer ist als das frühere“ (S. 168). Heute soll, nach seinen antidemokratischen Vorstellungen, auch die Religionsfreiheit von einer Million niederländischer Muslime eingeschränkt werden. Wansink schreibt, noch moderat: „Das ist ein rabiater Standpunkt, dadurch wird ein großer Teil der niederländischen Bevölkerung zu Bürgern zweiter Klasse gemacht. Das Programm der PVV steht in Spannungen (so milde sagt es Wansink) zum niederländischen Grundgesetz“.

Tatsache ist auch: Die Wähler von Wilders können sich ihren Führer gar nicht als Premierminister vorstellen. Sie „wollen durch Wilders nur ihren Unmut zu Wort bringen, es geht ihnen nicht darum, politische Verantwortung zu übernehmen“ (S. 168)

Unsere Vermutung, die jetzt schon überall im demokratischen Europa zu beobachten ist: Dann entsprechen eben auf etwas moderatere und diplomatischere und etwas vornehmere Art die etablierten regierenden Parteien dem, was Wilders, Le Pen, AFD (Pegida), FPÖ usw. fordern. Das heißt: Die Populisten regieren leider indirekt längst mit, auch wenn sie noch nicht an der Macht sind. Im Verzicht auf den absoluten Respekt vor den Menschenrechten und natürlich auch Flüchtlingsrechten, im Verzicht auf die grundlegenden, oft als christlich beschworenen Grundsätze nähern sich die demokratischen Staaten immer mehr den Überzeugungen der Populisten an. Die Folgen sind: Grenzen und Mauern rings um Europa; Hinnahme des Sterbens von Menschen auf dem Mittelmeer; Verhandlungen mit absolut korrupten Staaten oder ähnlichen Gebilden wie Libyen oder Ägypten; das alles mit dem Ziel: Europa soll so wohlhabend bleiben, wie es ist. Ethisch leitende Begriffe wie „das Leben mit anderen, Fremden, teilen“ und „solidarisch sein“ sind aus dem Wortschatz der Regierenden weithin verschwunden. Und nur noch wenige finden das schlimm. Die Angst vor möglichen Terror lähmt Vernunft und Gewissen der Herrschenden. Insofern ist der Populismus sowohl in den sich populistisch nennenden Parteien und wie der Populismus in den sich nicht populistisch, also demokratisch nennenden Parteien ein philosophisches Thema.

Hans Wansink, de populistische revolutie. 2017, Prometheus Verlag Amsterdam.

 

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

Geert Wilders, Populist in Holland – warum ist er gefährlich?

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 14. 2. 2017

Am 15. März 2017 finden in den Niederlanden die wichtigen, auch Europa betreffenden Parlamentswahlen statt. Gewählt werden die 150 Abgeordneten der „Zweiten Kammer“ in Den Haag. Der sehr heftig umstrittene, rechtslastige und explizit Islam-feindliche Politiker Geert Wilders und seine Partei PVV(Partei für die Freiheit) haben laut Umfragen gute Chancen, als die zahlenmäßig stärkste Partei aus dieser Wahl hervorzugehen. Etliche Medien sprechen davon, dass die PVV mehr 30 Sitze als stärkste Partei der „Zweiten Kammer“ erhalten könnte.

SPIEGEL Online spricht bereits von einer Chaos-Wahl, weil auch die demokratischen Parteien sich der Hetz-Propaganda von Wilders anpassen… Zu biographischen Hinweisen über Wilders: Siehe einige Notizen am Ende dieses Artikels…

Inzwischen hat in einer Studie Jan Werner Müller, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University (USA), auf WILDERS hingewiesen, der Titel seines Buches: “Was ist Populismus?”, 2016 bei Suhrkamp erschienen.

Wilders spricht zwar, so Jan Werner Müller, von Freiheit und Toleranz. Aber es ist er allein, der definiert, was diese Werte bedeuten und wer zum „wahren niederländischen Volk gehört“ (S. 27). Wilders propagiert die Ideologie, das Volk sei durch die gegenwärtige Regierung und ihre internationalen Verbindungen „beraubt“ worden: “Wir wollen unser Land zurück“( S. 34). Wilders redet dem Volk ein, er selbst gehöre zum (unterlegenen) Volk, dabei ist er seit 1990 ein Karrierepolitiker (S. 51). Wilders bestimmt mit seinen islamfeindlichen Vorgaben bis heute die Richtung der niederländischen Politik, obwohl er nie offiziell Regierungsverantwortung übernahm“ (S. 97). Wie ist mit den Populisten, also auch mit Wilders,  umzugehen? Der Autor hält es für falsch, die Ausgrenzung der Ausgrenzenden (Populisten) zu betreiben; er ist gegen das Motto „Mit denen reden wir nicht“ (S.96). Statt moralisch Populisten zu diskreditieren, sollen Demokraten mit Populisten diskutieren, „um die Fakten zurecht zu rücken. Bei Volksverhetzungen durch Populisten hilft das Strafrecht“ (S. 131).

Auch die Kirchen der Niederlande äußern sich kritisch zu Wilders und seiner Partei. Nach Marloes Keller von der  Protestantischen Kirche der Niederlande (PKN) sind aber auch in der Kirche Menschen, die für die PVV stimmen: “Auch haben wir Anhänger von dieser Partei in unserer Kirche. Ich denke aber, dass der größte Teil (der Kirchenmitglieder ?) auch denkt: Bis hier und nicht weiter, da müssen wir etwas etwas dagegen tun”, klicken Sie hier. Es wird oft in kirchlichen Kreisen argumentiert: “Die Leute wollen keine Wahlempfehlungen bzw. Warnungen vor bestimmten Parteien von der Kirchenführung mehr hören”. Dieser Satz ist richtig, solange es sich um demokratische Parteien handelte. In der BRD waren etwa die Wahlempfehlungen (bis ca. 1970) der katholischen Kirche eindeutig zugunsten der CDU. Heute sind die Programmpunkte der PVV etwa eindeutig gegen die Religionsfreiheit, wie sie das Grundgesetz verteidigt. Die PVV fördert den Hass gegen eine bestimmte Gruppe, gegen die Muslime, die Bürgerrechte der Muslime sollen aberkannt werden usw. Da ist es treffend, wenn die Kirchenführung sagt: Diese Partei ist für Menschen, die Christen sein wollen und der Demokratie verpflichtend sind, nicht wählbar. Es müssen Grenzen gezogen werden, was alles in einer liberalen Demokratie sagbar und machbar ist. Immerhin fand im März 2014 schon einmal ein Gottesdienst gegen den Rassismus in der Klosterkerk von Den Haag statt, aber die PKN sagte eher kleinmütig: Dies sei ein Gottesdienst bloss gegen den Rassismus, nicht aber gegen Wilders….

In der viel beachteten Recherche-Zeitschrift „de correspondent“ (Online, 50.000 Abonnenten, Redaktion in Amsterdam, verantwortlich ist der Philosoph und Journalist Rob Wijnberg) hat die Journalistin Greta Riemersma einige wesentliche Fakten zu Wilders und der PVV dokumentiert. In dem Beitrag mit dem Titel „Plädoyer für den Widerstand gegen Wilders“ werden einige Tatsachen den deutschen LeserInnen von mir übersetzt zugänglich gemacht:

-Geert Wilders ist ein Fan von Mister Trump. Der PVV Chef jubilierte, als Trump ein Einreiseverbot für Menschen aus 7 islamischen Ländern anordnete.

-Die Position von Wilders gegenüber Muslimen wurde im Laufe seiner politischen Karriere immer radikaler: 2010 sagte er: „Menschen, die sich an Regeln halten, sind von Herzen willkommen“. Jetzt sagt Wilders sehr „rabiat“, wie Greta Riemersma schreibt: Die Niederlande „gehören uns“, Wilders will „das (niederländische) Schiff wieder schön machen“ und abrechnen mit den „Liebhabern des Islam“ (Islamknuffelaars)

Wilders spricht von einem „Mega-Problem mit den Marokkanern“ in Holland. Er hält „den“ Islam für „barbarisch“, er differenziert nicht, urteilt falsch und pauschal. „Es gibt nur einen Islam“ sagte Wilders einem Journalisten aus Australien, die Belege finden sich dafür im Beitrag für “de correspondent”.

-„Wilders generalisiert und wiederholt sein Geschrei endlos“ (G. Riemersma) „Die fortdauernde Wiederholung von stets extremeren Standpunkten hölt das das Denkvermögen aus, so wie das tropfende Wsser es auf dem Stein tut…. Wilders und Trumps Taktik haben ein Kennzeichen: Die Steuern das Chaos an… Wenn das so weitergeht, laden wir in der Dunkelheit, daran liegt doch Steve Bannon sehr”.

-„Man lese das Wahlprogramm der PVV: Auch Wilders will die Grenzen schließen für Asylsuchende und Immigranten aus islamischen Ländern. Moscheen und islamische Schulen sollen schließen. Der Koran wird verboten; der zeitlich begrenzte Aufenthaltsstatus von Flüchtlingen wird aufgegeben. Wilders will aus den Niederlanden einen Polizeistaat machen, anders lassen sich seine Pläne nicht ausführen“, so Greta Riemersa in der Online-Zeitung „de correspondent“, Amsterdam.

-„Wilders weiß nichts von Menschen, die er noch stets Türken und Marokkaner nennt. Er weiß nicht, dass diese Menschen ganz normale niederländische Bürger sind – oder er will dies nicht wahrnehmen. Die Fehler, die einige von ihnen begehen, bezieht er auf „den“ Islam. Wilders kennt nur einen Islam, den der so genannten „Haß-Imame“…

-„Mit Muslimen spricht Wilders nicht, der Amsterdamer Imam Yassin El Forkani hatte ihn eingeladen, Wilders reagierte nicht“.  “Die linken Parteien müssen aufhören, den Denk-Mustern der rechten Parteien zu folgen”. “Man muss aufhören damit, dass PVV Anhänger, die Viertel, wo Muslime wohnen, „besetzte Gebiete“ nennen….”

Geert Wilders. Biographische Hinweise

Wilders (geboren am 6.9.63) ist in der sehr katholisch geprägten Region von Venlo im Südosten der Niederlande aufgewachsen, er erhielt eine katholisch geprägte Ausbildung im katholischen St. Thomas College unter Leitung der Augustiner-Patres. Im Alter von 18 Jahren ist er aus der katholischen Kirche ausgetreten, er nennt sich Atheist, will aber niederländische Christen für seine Partei gewinnen. Und das scheint ihm auch in seiner katholischen Heimat-Provinz zu gelingen: In Venlo und der Provinz Limburg erhielt die PVV zwischen 25 und 39 % der Stimmen.

Seine politische Karriere begann Wilders 1997 in Utrecht im Gemeinderat dort, 1998 wurde er als Mitglied der rechtsliberalen Partei VVD Abgeordneter der „Zweiten Kammer“, 2004 verließt er die VVD und gründete die „Einmann-Fraktion“ „Groep Wilders“, Gruppe Wilders. Daraus entstand die Partei PVV.

Nebenbei: Wie aufgehetzt die Stimmung in den Niederlanden ist, zeigt die geradezu lächerliche und kindische, aber überaus breit getretene Debatte um den „Zwarten Piet“, den „Neger“, den „Mohren“, der als Assistent vom Heiligen Nikolaus die Kinder mit Geschenken traditionellerweise am 6. Dezember beglückt. Zurecht wird wohl heute darauf verwiesen, dass dieser aus der Phantasie stammende Assistent des heiligen Nikolaus nicht länger als „Neger“ und Schwarzer auftreten sollte.  Die Leute aus dem Umfeld der PVV und anderer rechter Parteien verteidigen den Schwarzen Piet als Teil der niederländischen Identität. Mit Polizeischutz müssen die Umzüge dies Schwarzen Peters gefeiert werden…

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Es ist vorbei: Wenn der Katholizismus verschwindet. Am Beispiel des Bistums Tulle Frankreich.

Es ist vorbei: Wenn der Katholizismus verschwindet: Am Beispiel des Bistums Tulle, Département Corrèze, Frankreich. Ein Hinweis von Christian Modehn

Die These dieses Beitrags: Durch ihre offizielle Theologie, die den Klerus in den absoluten (und niemals in der Machtfülle zu korrigierenden) Mittelpunkt der Kirche stellt, sorgen auch heute Päpste, Bischöfe und Priester selbst dafür, dass die Gemeinden immer kleiner werden und alsbald in manchen Regionen Europas verschwinden. Damit verschwindet gewiss auch die Vermittlung des offiziellen katholischen Glaubens. Und damit die Kirche in der bisher bekannten Form. Diese These wird am Beispiel von Tulle deutlicher gemacht. Aber es gibt zahllose andere Bespiele. Dies sind Beobachtungen eher religionssoziologischer und theologischer Natur, die aber zum Verständnis dessen gehören, was Christentum heute in Europa bedeutet.

Der folgende Beitrag zeigt, wie in einem klassischen Kernland des so genannten Abendlandes, in Frankreich, konkret in Tulle und anderen Provinzstädten, der christliche Glaube tatsächlich verschwindet bzw. schon verschwunden ist, soweit man das vom Äußeren, der Kirchenstrukturen, her feststellen kann. Und der Beitrag stellt die Frage: Wer trägt dafür die Verantwortung? Diese Frage stellen Menschen, denen Religion, auch Christentum in ihrer vernünftigen und menschenfreundlichen Gestalt (!), noch wichtig ist. Ausführliche statistische Informationen auf Französisch (sozusagen als Beleg für unseren Beitrag für alle, die den Aussagen nicht trauen) siehe am Ende dieses Textes.  Von einem, so wörtlich, “Niedergang” des französischen Katholizismus, sprach der bekannte Soziologe Pierre Bourdieu bereits in seinem 1982 veröffentlichten Aufsatz “Die Heilige Familie. Der französische Episkopat im Feld der Macht” (Suhrkamp,Bourdieu, “Religion”, S. 130) bezogen auf “statistische Beobachtungen” zum Klerus…

Der Religionsphilosophische Salon interessiert sich auch für die Frage nach der Präsenz der Religionen und Kirchen in der Gesellschaft von heute. Deswegen auch für den Zustand der katholischen Kirche. Zum Beispiel, in meinem Fall vom Studium und von Publikationen her, besonders für die Kirche in Frankreich. Mein Buch “Religion in Frankreich”, 1994 erschienen, ist immer noch lesenswert.

Allen ist bekannt: Der Klerus bestimmt überall die katholische Kirche. Darüber braucht man keine langen Erklärungen mehr zu machen. Man denke an die so genannten Synoden, die Auswahl der Bischöfe, die Vollmacht der Interpretation der rechten Lehre usw.

Der neueste Trend des Klerikalismus: Nach der Anzahl der Kleriker wird das Leben der Gemeinden bestimmt. Das ist in ganz Europa so. Sind wenige (zölibatär)  lebende Priester da, gibt es eben wenige(r) Gemeinden. Da werden wegen der wenigen Kleriker Pfarreien geschlossen, Gottesdienstangebote reduziert; Gemeinden werden der wenigen Priester wegen zusammengelegt, manchmal sogar Kirchen abgerissen: Über die Abschaffung des Zölibats-Gesetzes wird kaum nachgedacht. Die Angst vor den Vorgesetzten ist ja katholisch „heilig“. Bischöfe fordern nur auf, für Priesterberufungen zu beten, so kürzlich in Berlin geschehen. Seit Jahrzehnten werden allerdings diese Gebete nicht erhört! Will “Gott” vielleicht (diese) Priester nicht mehr trotz aller Jahre langer Bittgebete?

Den Laien wird nicht die Vollmacht gegeben,aus eigener Verantwortung und in Freiheit, also ohne die üblichen Priester,  die Eucharistie zu feiern. Was soll denn bei so viel Borniertheit noch die theologisch wohl begründete Rede vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen? Darüber wird man im Reformationsgedenken 2017 wieder viel schwadronieren… Aber die interessierten Laien, falls überhaupt noch vorhanden, wurden für wirkliche Mitarbeit als Leiter der Eucharistie nicht ausgebildet. Natürlich muss das Rom genehmigen, macht es aber nicht. Denn auch da herrscht der Klerus absolut. So sterben also Gemeinden aus, der ganze Klerus guckt zu.

Das ist vor allem schlimm, weil dadurch auch sozial-kommunikative Räume verschwinden, vor allem auf dem Land oder in der städtischen Nachbarschaft, etwa in Neubaugebieten. Die Zahl der Katholiken, die in ländlichen Gegenden von Tulle oder Agen oder Guéret überhaupt noch sonntags an der Messe teilnehmen liegt bei ca. 2 Prozent! Und dieser Prozentsatz sinkt nachweisbar ständig, wohin denn bloß? Gegen Null. Hoffentlich findet der letzte Laie den viel besprochenen Lichtschalter. Und schreibt danach Bischöfen und dem Papst ein Telegramm. „Alles ist hier erledigt, alles ist hier vorbei“. Solche Sprüche haben fromme königstreue Katholiken nach der Französischen Revolution gehört, als extremistische Revolutionäre den katholischen Glauben abschaffen wollten.

Wie auch immer: Der Katholische Glaube ist und soll trotzdem ein total Priester-abhängiger-Glaube bleiben. Darf  man das dumme Verbohrtheit nennen, oder klerikale Machtgelüste? Natürlich. Dahinter steckt natürlich die Frage von Herrschaft und Macht. Aber dieser Zusammenhang wird spirituell ignoriert und „verkleistert“.

Das nur zur Einstimmung vorweg. Mit einem Wort: Dem Klerus und den Bischöfen ist es, durch ihre eigenen Taten bewiesen,  ziemlich egal, wenn Gemeinden verschwinden und soziale Kommunikation in den Gemeinden aufhört. Hauptsache: Die wenigen verbliebenen Kleriker bestimmen weiter alles.

Nun beispielhaft für viele andere Kirchenbezirke: Zum Bistum Tulle im hübschen Département Corrèze; die Gegend kennen viele Touristen vielleicht von Aufenthalten rund um die Dordogne. Und die sehr konservative fromme Gattin von Monsieur le Président Chirac, die Bernadette, lebte auch hier. Da hat sich jedenfalls Bischof Francis Bestion im Oktober 2016 hingesetzt und angesichts der aussterbenden Priesterschaft im Bistum errechnet: In 10 Jahren wird das Bistum Tulle mit ca. 250.000 meist katholisch getauften Christen nur noch 10 Priester haben. Die Tageszeitung “La Croix”, Paris,  berichtete darüber. Und diese zehn geistlichen Herren, so wird ausdrücklich betont, werden in „jugendlichen Alter“ sein, das heißt für die üblichen französischen Verhältnisse: Diese 10 Priester werden jünger als 75 Jahre sein, also vielleicht 73 oder 66. Ein Rentnerdasein verdientermaßen wird den alten Priestern nicht zugestanden. Sie lesen die Messe bis zum Umfallen. Was den so genannten Priester-Nachwuchs angeht: Momentan befindet sich ein (sic) junger Mann in der Ausbildung, um eines Tages Priester in Tulle zu werden.

Als Lösung werden nicht etwa Eucharistiefeiern durch gut ausgebildete Laien, Frauen und Männer, erwähnt. Sondern die wenigen Priester sollen in Gemeinschaften zusammenleben, um sich gegenseitig zu stützen und von dem gemeinsamen Leben aus in die vielen Dörfer auszuschwärmen, dort sollen sie wieder die Messe zu feiern. Sie werden ein paar Wochen im Dorf leben und dann zum nächsten „wandern“. Die Kirche spricht oft von Seelsorge, bei diesen alten, durch die Dörfer sausenden/wandernden die Messe lesenden Pfarrern ist Seelsorge wohl nicht möglich. Da werden nur noch Kultdienste von Greisen absolviert. Und wenn diese nicht mehr da sind, also in 15 Jahren, dann sind keine Priester mehr da. Dann gibt es keine Gemeinden, keine Kommunikation, falls man diese dann vonseiten der Leute her noch wünscht.

Was passiert also: Da wird die Religiosität förmlich vom allmächtigen Klerus ausgelöscht, falls man denn davon ausgeht, dass Spiritualität noch mit einer Messfeier etwas zu tun hat. Noch einmal: Der Klerus selbst erzeugt eine gewisse Entchristlichung der Gesellschaft. Noch mal zugespitzt: Die Kirche betreibt die Säkularisierung. Da hört man nur das Bedauern des Bischofs: „Der Mangel an jungen Priestern ist ein Handicap, dieser Mangel lähmt alles“. Also geht man sehenden und wissenden Auges in den Zustand der “Paralyse”, dieses Wort verwendet der Bischof.

Zum gegenwärtigen “Personal-Zustand”: Das Bistum Tulle zählt heute, 2016, noch 30 Priester, etwa 12 sind bereits älter als 80. Mehrere sind um die 75. Zum Vergleich: 2008 hatte das Bistum Tulle noch 87 Priester, davon 57 aktiv Tätige. Der Sterbeprozess ist also rasant. Es gibt auch keine Ordensgemeinschaften mehr im Bistum. Alle Nonnen und Mönche sind ausgestorben oder in Altersheime umgeziogen. Da bettelt der Bischöfe nun um Priester aus dem Ausland. Wer wird da wohl kommen, welcher Charismatiker, welcher Neokatechumenale oder Priester aus Kamerun oder Togo, wie so häufig schon in anderen französischen Bistümern? Dabei lobt man dann – diplomatisch klug – diesen internationalen Austausch, und vergisst: Diese Priester hätten eigentlich in Kamerun oder Togo auch ein bisschen was zu tun…

Welche Energie wird da von einem französischen Bischof verbraucht, anstatt die Laien zu Priestern auszubilden. Und eine gewisse Spiritualität zu retten.

Was da von Tulle berichtet wird, ließe sich leicht mit dem gleichen Inhalt selbstverständlich religionssoziologisch belegt fortsetzen für die Bistümer Verdun, Troyes, Auxerre, Moulins, Cahors, Limoges und so weiter. Da geht die Kirche als Kleruskirche dem Ende entgegen. Nur in Paris wimmelt es förmlich noch von Priestern. Aber da ist es ja auch so schön…

Copyright: Christian Modehn

Qui sont les catholiques de France ? Le Monde, 24.1.2014. Hinweise zum stetigen Schwund der Anzahl der Katholiken, des stetigen Schwundes der Teilnahme an der Sonntagsmesse und zur Altersstruktur der Teilnehmer an der Messe (es sind die “Alten”).

A quoi ressemblent les catholiques français, régulièrement critiques envers la politique du gouvernement actuel ? Portrait en chiffres.

Le Monde.fr | 24.01.2014 à 18h59 • Mis à jour le 24.01.2014 à 19h08 | Par Elvire Camus

Abonnez vous à partir de 1 € RéagirAjouter

Partager Tweeter

En France, le nombre de personnes se déclarant catholiques diminue de façon continue depuis la fin des années 70 mais reste important. En 1952, ils étaient 81 %, en 1978, 76 % et en 2010, 64 %.

En revanche, la pratique religieuse (mesurée par l’IFOP selon le critère de l’assistance à la messe dominicale), demeure faible et diminue progressivement depuis les années 50. En 1952, 27 % des catholiques se rendaient à la messe, en 2010 il n’étaient plus que 4,5 %. Par ailleurs, parmi les Français se déclarant catholiques, 57 % ne vont pas à la messe. Reste donc 43 % de pratiquants réguliers.

Cette tendance se reflète dans la baisse du nombre de mariages religieux et de baptêmes depuis 1990 : 147 146 mariages religieux ont été célébrés en 1990 contre seulement 74 636 en 2011, selon l’annuaire des statistiques de l’Eglise et la conférence des évêques de France. Le nombre de mariages civils a également fléchi en vingt ans et est passé de 287 000 en 1990 à 251 654 en 2010.

Le nombre de baptêmes est passé de 472 130 à 302 941 entre 1990 et 2010. A noter également que depuis les années 80, un nombre croissant de Français se déclarent sans religion : 21 % en 1987 contre 28 % en 2010.

  • Des catholiques pratiquants plus âgés

Le profil sociologique des catholiques français apparaît proche de celui de l’ensemble de la population française : une majorité de catholiques ont entre 35 et 49 ans (27 %) et 28 % des Français font partie de cette même tranche d’âge.

Pour autant, ce n’est pas le cas en ce qui concerne les catholiques se déclarant pratiquants : 21 % des Français ont 65 ans et plus contre 43 % de pratiquants. De même, alors que 25 % des Français sont retraités, 46 % des catholiques pratiquants le sont. Il apparaît également que les catholiques non pratiquants ont un profil plus proche de celui de la population française que des catholiques pratiquants, en terme de sexe, d’âge et de catégorie socio-professionnelle.

 

 

Thomas Müntzer – der (fast) vergessene Reformator als Theologe der Revolution

Von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Dieser Beitrag erschien in kürzerer Form in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM am 9. September 2016. Zu einem weiteren Beitrag zu Müntzers theologischem Profil, veröffentlicht am 6.10.2016, klicken Sie hier.

Der erste „Theologe der Revolution“ war auch einer der ersten Liturgie-Reformer. Vor Martin Luther hat er bereits 1523 die Messe auf Deutsch gefeiert: Thomas Müntzer wollte seine Gemeinde in Allstedt (Südharz) von „magisch wirkenden“ Texten befreien, um zur Erkenntnis des wahren Gottes zu führen. Dabei sollte zur Gewissheit werden: Die auserwählten Christen sind im heiligen Geiste eins mit Gott. Diese mystische Erfahrung bestärkte seinen politischen Kampf. Darum unterstützte Müntzer auch in Allstedt die empörten Bauern und Tagelöhner: Sie wollten „den wohllebenden Mönchen keinen Zins zahlen“ und gründeten einen „Widerstandsbund“. Gegen die Allmacht der Herrscher hatte sich ihr Pfarrer schon andernorts heftig ausgesprochen. Müntzer gehörte selbst zu den Verarmten. Für sie war er „Der Knecht Gottes“.

In den deutschen Messen zu Allstedt wurden zwar noch die alten, gregorianischen Melodien – auf Deutsch – gesungen. Aber das Volk war begeistert und strömte zu den Predigten. Dass Thomas Müntzer gleich nach der Liturgiereform die ehemalige Nonne Ottilie von Gersen heiratete, störte nur die katholischen Grafen der Umgebung.

In seiner „Fürstenpredigt“ im Schloss Allstedt (13.7.1524) ermahnte er, biblische Propheten zitierend, Fürst Johann von Sachsen und die anderen: Sie sollten sich der Protest-Bewegung des Volkes anschließen. Denn das Volk habe bei seiner Unterdrückung ein heiliges Recht auf Widerstand. Wenn die Fürsten an ihrer Herrschaft festhielten, gelten sie als Gottlose, die das Volk bekämpfen und vernichten wird.  Müntzer sah die Ursache allen Elends bei den Herrschenden.Wenn er Gewalt unterstützte, dann nur als Reaktion auf vorhandenes Unrecht der Fürsten und der Kirche bzw. Klöster. Dass “Gott die Mächtigen vom Thron stürzt”, wie das Magnificat Marias im Neuen Testament sagt, nahm Müntzer wörtlich! Er fühlte sich – mit den Ausgegrenzten – auf der Seite Gottes! So wie die Fürsten (und Luther) das Wort der Bibel wörtlich nahmen vom “Gehorsam der Untertanen unter (jede) Gewalt”…und dieses Wort rabiat durchsetzten um des eigenen Machterhaltes willen.

Es ist bezeichnend, dass von Müntzer, diesem „theologischen Revolutionär“ (H.J. Goertz), kein authentisches Porträt überliefert ist. Im Vergleich zu zahllosen Luther-Porträts ein Beleg, wie heftig er auch von den Wittenberger Reformatoren ausgegrenzt wurde. Selbst sein genaues Geburtsdatum ist unbekannt: Um 1489 wurde Müntzer in Stolberg (Harz) geboren. Biografische Details fehlen oft. Erst in den letzten Jahren wurde begonnen, eine kritische Gesamtausgabe seiner wenigen Bücher und zahlreichen Briefe herauszugeben. Er studierte Theologie in Leipzig und Frankfurt/Oder, 1513 wurde er zum Priester für das Bistum Halberstadt geweiht. Seit der Zeit, bis zu seiner Hinrichtung am 27. Mai 1525, war er ruhelos unterwegs, um für die Einheit von Mystik und Revolution einzutreten. In etwa 30 Städten, zwischen Prag und Braunschweig, Wittenberg und Basel, Zwickau und Frankenhausen, hat er sich aufgehalten, immer auf der Suche nach einer Predigerstelle. Müntzer ist der Heimatlose, überall wurde er verjagt und verfolgt.

Seit 1521 ist der eine Mittelpunkt seines Denkens offensichtlich: Der heilige Geist wirkt in jedem Glaubenden; es gibt eine Gottunmittelbarkeit, der Klerus spielt dabei keine Rolle. Aus der Gottunmittelbarkeit folgt die grundlegende Veränderung der Gesellschaft und das Ende der Gewaltherrschaft der Fürsten. Und sogleich ergoss sich der öffentliche Zorn Luthers über ihn, den Müntzer seinerseits ebenso heftig beantwortete. Inzwischen haben, dank der Studien etwa von Hans-Joachim Goertz, die alt vertrauten Müntzer Klischees keine Chance mehr: Er ist weder der sozialistische Held des Bauernkrieges noch der „Erzteufel“, wie ihn Luther und seine Kirche lange Zeit hinstellte.

Entscheidend ist heute: Müntzer war ein eigenständiger Reformator. Darum sollte 2017 über ihn umfassend diskutiert werden. Themen gibt es genug: Im Unterschied zu Luther galt ihm die je eigene, geistvolle Erfahrung des lebendigen Gottes alles. Er dachte oft wie die Mystiker des Dominikanerordens, vor allem Johann Tauler. Das Wort Gottes, auch die Lehre von der Rechtfertigung, waren für Müntzer nur ein äußerer Anstoß, Gottes Geist „in mir“ zu erleben. Und diesen Geist sah er im Widerstand der Armen politisch am Werke. Einzig dem Projekt „Reich Gottes auf dieser Erde am Ende unserer Zeiten“ wollte er dienen. Dabei dachte er wie andere Reformatoren apokalyptisch. Er sah im Aufstand des unterdrückten Volkes eine Art Notwehr. Denn einzig bei den Fürsten nahm die Gewalt ihren Anfang. Müntzer verteidigte „das Gewaltrecht der Guten“, also der leidenden Christen. Dass der staatskonforme Luther mit seiner Sympathie für die Fürsten letztlich auch nicht den Frieden förderte, ist eine Tatsache. Heute wünscht man sich, die vernünftigen Humanisten hätten mehr Einfluss gehabt in dieser apokalyptisch aufgewühlten Zeit. Vernünftiges Denken, Klarheit der Begriffe, Selbstkritik und philosophische Logik hatten bei dem Reformator Luther und seinem Kreis keine Chance. Und sie waren im Gefolge Augustins stolz darauf, Verächter der Philosophie und des Humanismus zu sein!

Thomas Müntzer wurde schließlich im „Endkampf“ aufseiten der Bauern in Frankenhausen (11. Mai 1525) gefangen genommen und in Mühlhausen am 27.Mai 1525 hingerichtet. Luther, aber auch Philipp Melanchthon, stachelten die Fürsten sogar noch an, diesen “Unmenschen” Müntzer zu töten. Diese direkte Aufforderung zur Tötung eines andersdenkenden Reformators ist – aus heutiger Sicht – ungeheuerlich. Diese Mordaufrufe Luthers werden offiziell in lutherischen Kirchen überhaupt nicht “behandelt”. Der Müntzer Spezialist und Historiker Hans-Jügen Goertz schreibt: Luther stand explizit und kämpferisch aufseiten der Fürsten und warnte diese eindringlich vor Müntzer als dem “lügenhaften Teufel, Weltfresser, Schwindelgeist”. “Luther tilgte alle menschlichen, individuellen Züge Müntzers”(Goertz, S. 254). Noch schlimmer: “Luther ließt sich die Gelegenheit nicht nehmen, den Gotteslästerer und Aufrührer Müntzer literarisch hinzurichten, bevor das Urteil gesprochen war und der Henker sein Schwert erhoben hatte. …Luther unterdrückte jeden Zweifel an dem martialischen Abschlachten der fliehenden Bauern bei Frankenhausen. Luther wollte allen Regungen von Mitleid und Nachsicht zuvorkommen. Dem Teufel und dem Antichristen (Müntzer) durfte niemand mit Verständnisund Erbarmen begegnen” (Goertz  S. 254 f.) “Seither, (also durch Luthers Polemik verursacht, CM) geistert die Kunde von dem Mordpropheten Müntzer durch die Zeiten…und die Deutschen haben gelernt, Nonkonformisten, Dissidenten und Revolutionöären mit Abscheu zu begegnen”. (Goertz, S. 257).

Nur vereinzelt fällt heute sein Name unter den Theologen der Befreiung. Sie wissen wie er: Die Kirche muss mit den mit den Unterdrückten Gerechtigkeit realisieren, sonst bleibt all ihr Tun gottlos. Eine Kirche aufseiten des Staates, eine Kirche, die den Staat sozusagen automatisch unterstützt, noch schlimmer: eine Staatskirche, ist in dieser Sicht eine Art Gotteslästerung; siehe etwa auch die entsprechenden Verbrechen in katholischem Milieu in der Zeit der katholischen Franco-Diktatur in Spanien.

Ob es im Reformationsgedenken (ab 31. Oktober 2016 ein ganzes Jahr lang) auch ein Müntzer-Gedenken geben wird, ob er eine Rolle spielen wird in den zahlreichen (evangelischen) Akademien-Veranstaltungen oder beim Kirchentag 2017, wäre zwar wünschenswert, ist aber angesichts dieser seiner „störenden Theologie“ eher unwahrscheinlich. Müntzers Theologie ist deswegen störend, weil mit ihm die ständige Staatsnähe des Luthertums (bis heute) kritisch diskutiert werden müsste. Müntzer würde heute von kirchlicher, also wohl christlicher Seite, diese Frage an die C-Parteien stellen: Seid ihr christlich, ihr so genannten Christlichen Parteien? Was soll dieses “C”? Diese Frage würde er angesichts des Umgangs mit Fremden und Flüchtlingen stellen, angesichts der von C Parteien nicht kritisierten und verhinderten Rüstungsproduktion, der geringen staatlichen Beiträge für eine unwirksame Unterstützung armer Länder, der zunehmenden Armut auch in Deutschland usw. Das Ergebnis wäre nicht nur für Müntzer niederschmetternd. Er würde wohl für die Streichung des “C” aus dem Titel der  beiden Christlichen Parteien plädieren. Wäre auch ein hübsches Thema im Reformationsgedenken…

Die „Thomas-Müntzer-Gesellschaft“ hat ihr Büro in Mühlhausen, dort erscheinen zahlreiche Studien. Etwa: Alejandro Zortin, Thomas Müntzer in Lateinamerika. 2010., 44 Seiten.

Zur Vertiefung besonders zu empfehlen: Hans Jürgen Goertz, Thomas Müntzer – Revolutionär am Ende der Zeiten. C. H. Beck. 2015. 352 Seiten, 24,95 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die AFD – ihre Widersprüche, ihr Zorn. Ein philosophischer Hinweis.

Zugleich eine begründete Meinungsäußerung von Christian Modehn

Philosophisch gesehen ist es evident: Wer sich selbst in seinen verbalen Äußerungen (sie sind bekanntlich immer Ausdruck des eigenen Denkens) widerspricht und die allgemeinen, für alle geltenden Gesetzen der Logik ignoriert, der lebt nicht-konsistent, der zeigt sich zerrissen, doppelbödig, widersprüchlich. Deswegen sollten solche Leute eigentlich ihre nicht-konsistenten Äußerungen korrigieren; es sei denn, sie wollen esoterische Weisheiten verbreiten, die nur Eingeweihten zugänglich sind. Damit gehören sie zu einer kommunikativ „abgekoppelten“ Sekte.

1. Sprechen, falls logisch, ist der Allgemeinheit verpflichtet

Leute, die in politischen Debatten bewusst logische Inkonsistenz zeigen und praktizieren, sind im sonstigen Leben  zumeist – notgedrungen von der Lebenspraxis – doch logisch konsistent. Sie benutzen wie alle anderen technische Geräte, verwenden im Alltag die allgemeinen üblichen Begriffe, um sich bei anderen verständlich zu machen. Aber sie schützen ihre politische Haltung vor der Logik, werfen Nebel um sich, bleiben bewusst unpräzise, wecken Ahnungen, wenig Einsicht. Logik hat immer mit Allgemeinheit zu tun.

2. Gilt die These: AFD gehört nicht zu Deutschland, aber AFD-Wähler durchaus“?

Die Führer der AFD behaupten als zentrale These, die so einfach klingt und deswegen so viel Wirkung erzielt in Kreisen, die gerne ohne lange nachzudenken autoritären Sprüchen folgen: Diese AFD Kernthese also heißt: „DER Islam gehört nicht zu Deutschland. Aber damit (so wird beschwichtigend gleich hinzugefügt, CM) ist nichts gegen einzelne Muslime gesagt“. Diese Aussage darf man nicht schnell übergehen wie es viele Journalisten tun, sondern eben auf seine Konsistenz prüfen: Gemeint ist nämlich: Die einzelnen Muslime dürfen bei einer Zurückdrängung und dann wohl auch bei einem Verbot DES Islam durchaus hier weiterleben. Sie dürfen wohl privat ihren Koran lesen und nicht nach außen hin erkennbaren Moscheen auch beten.
Diese These ist irrig und falsch: Der einzelne religiöse Mensch, eben auch ein Muslim, kann ohne den institutionellen Rahmen seine Religion, also ohne Gemeinde, ohne Lehrer, ohne Pfarrer wie auch immer, nicht als solcher leben. Auch der einzelne fromme Muslime, den die AFD ja freundlicher nicht vertreiben, sondern leben lassen will, braucht logischerweise die islamische Institution. Er braucht, wenn man den von der AFD verwendeten pauschalen Ausdruck verwendet, DEN Islam.

Zur weiteren Klärung des Problems: Die AFD Führer sollten sich mit dem Satz als “Gedankenspiel !”  auseinandersetzen, der der gleichen (un)logischen Struktur folgt: Der Satz heißt: „Die Partei AFD passt nicht zu Deutschland. Hingegen kann das einzelne AFD Mitglied und der einzelne AFD Sympathisant durchaus in Deutschland leben”.  Kann man AFD-Mitglied sein, ohne Bindung an die AFD-Führer, ohne Verbindung zur AFD Institution? Eher wohl nicht.

3. Ohne Islam gäbe es kein Europa, ebenso ohne Judentum und ohne Humanismus gäbe es kein Europa.

Zur üblichen und schon floskelhaften Beschwörung „des“ christlichen Abendlandes durch die AFD Führer: Da wird das christliche Abendland nur als polemischer Gegen-Begriff zum verhassten Islam verwendet. Diese Ideologie des gepriesenen „Abendlandes“ beruht auf historischer Unkenntnis: Wesentliche Erkenntnisse verdanken die Abendländer der intellektuellen Leistung des Islam, etwa in der Zeit von al andalus. Die Philosophie des Aristoteles (kaum zu überschätzen für die Entwicklung des modernen Europa) oder die Grundlagen der Medizin usw. verdanken „wir“ „dem“ Islam. Und das Abendland war also nie „nur“ christlich, sondern verdankt den muslimischen Gelehrten viel, und das Abendland ist auch noch humanistisch, seit der Renaissance. Und es ist jüdisch geprägt, die Zehn Gebote sind bekanntlich jüdischen Ursprungs, die Prophetische Rede von Gerechtigkeit und Gleichheit aller Menschen ist jüdisch. Europa ist auch jüdisch. Diese zweifelsfreie Erkenntnis wird von AFD Leuten und deren Führern nicht genannt. Und Journalisten sollten in ihren Interviews – zwischen den Zeilen – auf das hören, was von AFD nicht gesagt wird. Und wer „das Christentum“ authentisch verstehen will, weiß, dass die Liebe zum Fremden zum KERN des Christentums gehört. Wer sich zum christlichen Abndland bekennt, bekennt sich automatisch zur Liebe gegenüber den Fremden und Flüchtlingen. Wenn die AFD dieses authentische Christentum nicht mag, und vieles spricht dafür, dass sie es nicht mag, dann sollte sie wie Herr Gauland (AFD) ehrlich sein und sagen: „Wir von der AFD sind nicht christlich, sondern heidnisch“

Nebenbei: Zwar utopisch, aber möglich: Es könnte ja sein, dass eines Tages AFD Leute auch irgendwo als Fremde im Ausland auftauchen und um Asyl bitten: Was machen sie dann, wenn sie im Zufluchtsland hören: „Die AFD passt nicht in unser Land“.

Immanuel Kant hat, immer logisch völlig überzeugend, empfohlen zur Überprüfung der eigenen ethischen Haltung sich selbst zu fragen: „Ist meine Maxime (“Der Islam gehört nicht zu Deutschland”) als Gesetz für alle möglich?“ Kant hätte diese genannte Maxime als Unsinn und Irrsinn zurückgewiesen.

Also noch einmal: Die Führer der AFD haben vom Christentum keine Ahnung, sie bedienen sich des „Christlichen Abendlandes“ nur, um ihre ANTI-Islam-Haltung polemisch und dem Scheine nach ein bisschen hübsch- freundlich und fromm zu kaschieren. Es gibt keine Wertschätzung des christlichen Abendlandes bei den AFD Führern. Das ist ideologische Propaganda. Frau von Storch hätte – als explizite Pro-Life-Verteidigerin – am liebsten auf Frauen und Kinder an der Grenze geschossen (wurde später von ihr irgendwie revidiert und wie immer von der „Lügen-Presse falsch verstanden).

Politische Gegner werden Feinde, und in der AFD selbstverständlich – so lange „man“ noch nicht an der Macht ist – bloß bedrängt usw. In der FPÖ hingegen wurde nach dem knappen Wahlsieg des Demokraten Alexander van der Bellen gesagt: „Na wartet ab, wenn wir FPÖ Leute erst mal die Macht haben, dann, ja dann…”  wird’s keine Demokratie mehr geben, möchte man sinngemäß fortsetzen. Der AFD Philosoph Marc Jongen hat in einem Interview mit der „ZEIT“ (vom 25. Mai 2016, Seite 42 im Feuilleton, nicht in der ZEIT Rubrik Politik, auch seltsam …) frei und offen das demokratische System –etwa Österreichs – MORSCH genannt. In Österreich habe man noch alle Ressourcen gegen die FPÖ zusammengekratzt, „bevor es (das System) um so eindrucksvoller (eben morsch) einstürzen wird“. Zu der Aussage vom Zusammenbruch des angeblich morschen demokratischen Systems wird von den Journalisten nicht weitergefragt….Später wird AFD Jongen noch in der ZEIT sagen, dass aufgrund eines deutschen Passes niemand automatisch Deutscher sein sollte. Wie denn sonst? Offenbar ist in der Sicht des AFD Jongen ein Deutscher nur, wer sein deutsches „reines Blut“ nachweisen kann. Das führt gedanklich in die Nähe von 1933 usw ist meine Meiungsäußerung. Und wenn die demokratische Legislative der Bundesrepublik das Gesetz verabschiedet hat, dass mit dem deutschen Pass jemand Deutscher ist, dann ist an diesem Rechtsverhältnis NICHTS zu deuteln. Genau diese demokratische Überzeugung aber will die AFD aushebeln.

4. Das diffuse Plädoyer für den Zorn. Zugleich ein Hinweis zum Thema Sloterdijk und die AFD

Ein neuer, klug klingender Begriff taucht unter AFD Führern oft auf, der Begriff “Thymos”, der gern von der AFD-Philosophen mit „Zorn“ übersetzt wird. Dabei ist diese enge Bedeutung eher selten, Thymos heißt eigentlich im Alt-Griechischen Gemüt und Lebenskraft, nur selten Leidenschaft und Zorn.

Aber seit dem Buch „Zorn und Zeit“ mit dem Untertitel „Politisch-psychologischer Versuch“ (erschienen bei Suhrkamp, 2006) wird viel von Thymos und der wichtigen Rolle des Zorns im „(deutschen) Volk“ schwadroniert, auch in den Kreisen der intellektuell noch etwas interessierten AFD Führung. Sloterdijk ist in seinen Thymos-Reflexionen von 2006 von Francis Fukuyama angeregt worden, der schon 1989 (!) den Begriff einführte in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“. Marc Jongen, der AFD-Philosoph, zeigt in dem ZEIT Interview vom 25. Mai 2016 Verständnis für die rebellische Form des Thymos : „Wenn die Regierung den Bürgern von oben etwas aufdrückt, dann kommen notwendigerweise rebellische Energien noch“. Und es ist im Zusammenhang klar, dass er mit den „rebellischen Reaktionen“ die AFD Aktionen und wohl auch Pegida Attacken meint. Denn er fährt fort: “Wäre es denn wünschenswert, wenn es gar keine Abwehrreaktionen gäbe?“ Da wird wieder nicht nachgefragt: Denn mit dem eher noch ein bisschen freundlichen Wort „Abwehrreaktionen“ sind wohl auch Attacken gegen Flüchtlingsheime und Drohungen gegen demokratisch gewühlte Politiker gemeint. Dabei wird von Jongen indirekt behauptet: Nur die AFD (bzw. wohl auch Pegida) gestalten die richtigen Abwehrattacken gegen die Demokratie, die „von oben etwas aufdrückt“, so Jongen. Demokratie wird in diesen undemokratischen Kreisen bereits als etwas erlebt, das „von oben aufdrückt“…

Die in der AFD verhassten Linksradikalen („sie reißen alle Grenzen ein“, so wörtlich Jongen) gelten in der AFD als „verirrte Abkömmlinge des Christentums“, sie sind die eigentlichen Übeltäter. Warum? Weil sie das deutsche Volk und die deutsche Nation in ihren Grenzen nicht mehr lieben. Volk und Nation werden wieder zum Maßstab von anständig und unanständig. Man erinnere sich bitte …

Jongen ist zwar im ZEIT Interview ein bisschen sauer, dass Sloterdijk offenbar die AFD kritisiert. Der Sloterdijk Assistent, wohl ein intimer Kenner seines einstigen Meisters, meint dann aber doch glücklich: „Mein Eindruck ist, dass seine, Sloterdijks, Äußerungen zur Flüchtlingskrise so fern zu dem nicht stehen, was ich sage und was auch die Position der AFD ist. Und das ist letztlich wichtiger und auch wirksamer (!) als seine oder meine persönlichen Befindlichkeiten“. Mir ist nicht bekannt, dass Sloterdijk sich gegen diese Einbeziehung seines Denkens zur Flüchtlingsfrage in die AFD Ideologie öffentlich gewehrt hat.

Auf diese aktuelle Bedeutung des Sloterdijkschen Thymos-Begriffs weist jetzt Ijoma Mangold in DIE ZEIT vom 2. Juni 2016, Seite 37, hin. Der ZEIT-Journalist zeigt in seinem sehr lesenswerten Artikel, dass AFD und Pegida gern vom „Ausnahmezustand“ sprechen, als dem Moment, wo die geltenden Gesetze der Demokratie eben nicht mehr gelten und eben besonders Berufene, eben die AFD etc., in tiefster Not zur Rettung des Volkes die Macht ergreifen. Mangold schreibt: „Sie (die AFD Leute) sprechen gern vom Ausnahmezustand, denn der beendet qua Gewalt die (angeblichen, in der AFD Sicht) bloß künstlich-abstrakten Rechtsverhältnisse. Der Ausnahmezustand, der Ausbruch des Volkszorns (also Thymos, siehe Sloterdijk), ist der feuchte Traum aller Rechten. Der Vordenker der neuen Rechten, Götz Kubitschek, spricht vom Ernstfall. Marc Jongen, Solderdijks Assistent bis vor kurzem, bezeichnet das mit dem griechischen Begriff Thymos und fügt hinzu, dass es sich dabei hoffentlich um einen gerechten Zorn handelt“. (Vielleicht irrt diese AFD/Pegida-Masse auch in ihrer Wut, rechnen damit AFD Führer?

Man sieht, wie dieser schwammige und diffuse Thymos Begriff und diese Thymos, also Wut Ideologie, durch Sloterdijk 2006 verbreitet, Wirkungen im rechtslastigen Lager hat. Auch Martin Lichtmesz, ein rechter Ideologe, sprach nach der Wahl des Bundespräsidenten in Österreich im Mai 2016 diese verschwommen-drohenden Worte: „Ein Freund meinte, sein Thymos Spiegel wäre gerade am Platzen“ (Heißt das, er wäre bereit, seinen Zorn öffentlich auszutoben?) “Der Rekurs auf den Volkszorn ist immer eine verhohlene Gewaltanwendung. Wenn dem Volk erst mal der Geduldsfaden reißt, dann schützen euch eure Schein-Wahlergebnisse auch nicht mehr“: Mit diesen Worten fasst Ijoma Mangold die Thesen der Thymos-Besessenen neu rechten Ideologen zusammen.

5. Nietzsche wieder einmal der Meisterdenker ganz rechts

Es wäre wichtig, erneut auf das allen rechtslastigen und populistischen Zorn stimulierende Buch „Zorn und Zeit“ von Sloterdijk näher einzugehen. Schon dieser Titel hat ja für Philosophen einen gewaltigen Anspruch, er erinnert an Martin Heideggers grundlegendes Werk „Sein und Zeit“ (1927). Heidegger wollte den Sinn von Sein aus der Zeit verstehen. Sloterdijk will jedenfalls hohe Ansprüche wecken und möchte wohl unsere Zeit im Horizont des Zorns neu lesen oder, wer weiß das schon genau bei der Unschärfe der Formulierungen, den Sinn von Zorn aus unserer Zeit verständlich machen… Sloterdijk lobt den Thymos im Blick auf die frühe griechische Mythologie: Homers Thymos-Lehre wird freundlich zugestimmt, von den mythischen Helden ist die Rede, die zum Hüter des Zorns auserkoren sind. Und Heidegger wird fiktiv in das Thymos-Geschehen eingereiht: Sloterdijk legt dem Meister aus Messkirch die vielleicht sogar treffenden thymotischen Worte in den Mund: “Auch kämpfen heißt danken“ (S. 24). Nebenbei: Heidegger konnte (dem Sein) danken, dass er nur am Schreibtisch “kämpfen” musste in seinem antisemitischen Wahn ab 1933… Aber man könnte den Satz auch allgemeiner verstehen: Der thymotische Mensch kämpft also für seine Sache und ist dankbar, dass er kämpfen, also auch töten und ausmerzen kann. Für Sloterdijk hat die platonische Philosophie (leider) „die Austreibung des großen (!) Zorns aus der Kultur“ begonnen… O ihr Helden des Homer, möchte man weiter fantasieren, was wart ihr doch für thymotische Kämpfer. Ihr hattet wenigstens noch den „Mannesmut“ (so Sloterdijk, S. 26) und wart nicht in die furchtbaren (menschlichen) „demuts-trunkenen Subkulturen” versackt, „in denen schöne Seelen sich (in der Demokratie, CM) gegenseitig (bloß) Friedensgrüße schicken“(so Sloterdijk, S. 31). O ihr thmyotischen und mythischen Kämpfer, möchte man im Sinne Slotderdijks weiter schwadronieren, ihr hieltet – den Göttern sei Dank – nichts von Frieden und Friedensgrüßen….Kein Wunder also, wenn Sloterdijk explizit den Egoismus lobt als „die beste der menschlichen Möglichkeiten“. (Seite 31).

Und dann kommt die zentrale Aussage. Sie zeigt Sloterdijks meist in der Schwebe belassene, oft aber auch offene Vorliebe für Nietzsches radikales „Reformatorentum“, wie er sagt. Dieses bedeutet für Sloterdijk: Nietzsche vollbringt eine wertvolle Leistung, er schafft neue, eben “nicht-metaphysische, nicht-christliche moralische Gesetze” (so Sloterdijk in seine Buch „Philosophische Temperamenten, 2009, Seite 116f.). Sloterdijk schreibt in „Zorn und Zeit“: „Erst Nietzsche hat in dieser Frage wieder für klare Verhältnisse gesorgt“. Das heißt im Sinne des Übermenschen, wie es Nietzsche in seinen sehr späten Werken lehrte, etwa im „Antichrist“ (verfasst 1888) heißt es gleich am Anfang: „Die Schwachen und Missratnen sollen zugrunde gehen: Erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen (den Schwachen und Missratnen) noch dazu helfen, zugrunde zugehen. Was ist schädlicher als irgendein Laster? Das Mitleiden der Tat mit allen Mißratnen und Schwachen – das Christentum…“

Aber solche unmittelbaren Nietzsche-Zitate erspart sich Sloterdijk in seinem Plädoyer für den Egoismus „als der besten Möglichkeit“. Er lässt mit großen Worten und großer Geste vieles schön schwammig und ahnungsvoll offen. Marc Jongen etwa, der AFD Philosoph, versteht seinen Meister in Karlsruhe. Jongen sagt: „Es wäre abwegig zu meinen, der Zorn (Thymos) haben seine besten Zeiten bereits hinter sich“. Also:Der Zorn gegen das angebliche „morsche demokratische System“ wird bald stärker werden.

Sind Demokraten nun noch mehr gewarnt? Oder versuchen demokratische Politiker jetzt, bloß um zu verhindern, dass die AFD die Mehrheit erlangt, die AFD ihrerseits zu imitieren und Forderungen der AFD zu übernehmen? Man hat stark diesen Eindruck in der Flüchtlingspolitik jetzt, Juni 2016. Offenbar fehlt den Politikern und den Bürgern der demokratische Thymos. Und es fehlt das Bewusstsein, dass Politik eben auch etwas mit Moral und Menschenrechten zu hat.

6.Nietzsche -ein philosophisch-politischer Schwerpunkt ab sofort 

Die bisherigen Hinweise machen deutlich: Die so freundliche, so wohlwollende Rezeption zentraler Behauptungen des Spätwerkes Nietzsches zur neuen In(Un)-Humanität durch die neue Rechte, auch durch die AFD, angefeuert durch die eher undeutlichen Aussagen Sloterdijks zu Nietzsche, muss weiter bearbeitet werden. Nietzsche ist „am Kommen“, das ist keine Frage. Er ist ohnehin schon der Meisterdenken der Nouvelle Droite, die es bekanntlich seit 1970 in Frankreich gibt; es ist Nietzsche, den die extreme Rechte in ihre eigene Weltanschauung als Chefdenker eingliedert.

Dabei darf es nicht bleibe: Als erste Einführung zur kritischen Nietzsche Lektüre empfehle ich in dem Buch von Vittorio Hösle „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (C.H.Beck Verlag, München, 2013), das Nietzsche Kapitel mit dem Titel „Die Revolte gegen die universalistische Moral“ (Seite 185-207). Nietzsche und mit ihm seine Freunde und Deuter heute in der AFD und anderswo, so die Erkenntnis, wehren sich gegen die universalistische Moral, also gegen die allgemeinen und für alle (auch für Flüchtlinge) geltenden Menschenrechten. Es wird ein Regime etabliert von wertvollen und weniger wertvollen Menschen, die Ideologie der Herrenmenschen.

7.Wer wird die universalen Menschenrechte verteidigen?

Es geht also heute an erster Stelle für alle Demokraten darum, dass nicht noch die Geltung der Menschenrechte ertrinkt, untergeht und verschwindet. Dies zu debattieren hat absoluten Vorrang, auch in den Kirchen. Aber wie kann eine multinationale Organisation, wie die römische Kirche, im Ernst die Menschenrechte verteidigen, wenn sie in sich selbst, in ihrer eigenen Struktur, die Menschenrechte und damit die Demokratie nicht realisieren will (weil Gott es nicht will, wie es im Vatikan fundamentalistisch heißt..). Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hat der Vatikan bekanntlich NICHT unterzeichnet. Alle netten, menschenfreundlichen Aktionen von Papst Franziskus sollten auch in diesem Licht gesehen werden.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.
Dieser Beitrag ist eine begründete Meinungsäußerung.

Theologie der Befreiung: Neue Erkenntnisse zur Option für die Armen, zur Rolle des Hilfswerkes ADVENIAT usw. .

Neues zur lateinamerikanischen Theologie der Befreiung

Hinweise von Christian Modehn am 9.5.2016 anlässlich eines Buches von Kardinal Aloisio Lorscheider, Brasilien.

Theologen und Bischöfe, vor allem aus der katholischen Kirche, neigen bekanntermaßen dazu, ehrlich und ungeschützt erst dann bestimmte Wahrheiten auszusprechen, wenn sie pensioniert sind und im Ruhestand leben, zurückgezogen von allen offiziellen Ämtern. Also außerhalb der Schusslinie der römischen Glaubenskongregation leben…

Kardinal Aloisio Lorscheider aus dem Franziskaner-Orden hatte höchste amtliche Funktionen inne: Er nahm am 2. Vatikanischen Konzil teil, war Generalsekretär und Vorsitzender der bedeutenden brasilianischen Bischofskonferenz (bis 1978) und Vorsitzender der gesamt-lateinamerikanischen Bischofskonferenz CELAM von 1976 bis 1979; er führte 1979 den Vorsitz der Generalversammlung in Puebla, Mexiko, und nahm auch an der späteren CELAM- Konferenz in Santo Domingo teil. Er war Theologiedozent in Rom, seit 1973 Erzbischof von Fortaleza, danach in Aparecida. 2004 wurde sein altersbedingter Rücktritt vom Papst angenommen. Er ist sozusagen ein Top-Kenner der kirchlichen Verhältnisse in Lateinamerika. Er ist schon und gerade als Bischof immer ein Freund der Befreiungstheologie gewesen, er lobte und unterstützte die Basisgemeinden. Einen solchen aufrechten, immer selbstkritischen, bescheiden lebenden lateinamerikanischen Bischof findet man nicht so oft…

Kurz vor seinem Tod im Jahr 2007 (geboren wurde Aloisio Lorscheider 1924 in Südbrasilien) gab der pensionierte Erzbischof noch 2006 ein längeres Interview für eine Gruppe von Christen in Fortaleza. Dieses wichtige theologische Zeugnis ist jetzt, 9 Jahre nach der brasilianischen Veröffentlichung, auch auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Lasst euer Licht leuchten“. Der Untertitel ist schon treffender bzw. provozierender und weniger lyrisch: „Rückblicke in die Zukunft der Kirche“. Erschienen in der edition ITP-Kompasse, Münster. Das Buch hat 184 Seiten, es wurde von Conrad Berning übersetzt. Es enthält auch wichtige kurze Stellungnahmen kompetenter Befreiungstheologen und Freunde des Kardinals.

Das Interview selbst ist in meiner Sicht sehr inspirierend, weiterführend, weil da von einem Insider in aller Deutlichkeit druchaus neue Fakten zur Theologie der Befreiung genannt werden, die sicher das weitere Interpretieren dieser nach wie vor lebendigen Theologie (obwohl von Rom oft genug kaputt geredet) bestimmen sollte.

Ich nenne in aller Kürze nur einige Tatsachen, die Kardinal Lorscheider in dem Buch mitteilt:

Zu seinem Umgang mit Basisgemeinden in Fortaleza, Nordostbrasilien: „Ich höre dort einfach nur hin. So gestaltet sich heute der Weg der Kirche. Dieses Miteinander ist uns abhanden gekommen“ (S. 28).

„Bischöfe und Priester müssten sich in der historisch-kritischen Methode der Bibelinterpretation weiterbilden. Dies geschieht in der Tat jedoch nicht“. (S. 42).

Rom will keine Diskussion zum Zölibat:
„Als ich als einer der Präsidenten des CELAM nach Puebla zur Generalversammlung der Bischöfe fuhr, erhielten wir die Order, nicht über den Zölibat zu diskutieren und über die Frage, ob die Theologie mehr spekulativen oder mehr einen praktischen Charakter besäße. Trotzdem sprach Bischof Hypólito aus Nova Iguacu das Problem des Zölibates in Puebla an“ (S. 46).

„Tatsache ist, dass wir 20 Jahrhunderte lang keine Frauen im Priesteramt hatten. Aber auch wenn es das in zwanzig Jahrhunderten nicht gab, ist es kein Grund, dass es heute nicht anders werden könnte“ (S. 49).

Zur Wahl des polnischen Kardinals Wojtyla zum Papst 1978: „Die Deutschen (Kardinäle) hatten dabei großen Einfluss. Auch wegen der damaligen Sorge um den Marxismus. Innerhalb Europas galt Karol Wojtyla als eine der Koryphäen im Kampf gegen den Marxismus….Es gab im Konklave eine gewisse fundamentalistische Tendenz. Man wollte Sicherheiten… Der Vorgänger, Papst Paul VI., wurde von einigen als ambivalent gesehen, weil er nicht genau wisse, was er wolle“ (S. 57). Überhaupt müsste man weiter untersuchen, wie die panische Angst des Klerus vor “dem” Sozialismus seit Pius XII. allbestimmend wurde, bis hin zur Rücksichtnahme gegenüber dem Faschismus (als dem angeblich gerungeren Übel). Diese panische Angst vor dem (angeblich atheistischen) Sozialismus bestimmte den Umgang mit Befreiungstheologen, diese Haltung war sicher auch von den Mächtigen in den USA erwünscht, siehe die Beziehungen Reagan-Papst Johannes Paul II. Leider wird das Thema in dem Buch nicht vertieft.

Der Beitrag des belgischen, in Brasilien lebenden Theologen José Comblin unterbricht das Interview mit Lorscheider. Comblin schreibt, dass Kardinal Lorscheider als Celam Chef den reaktionären kolumbianischen Generalsekretär des CELAM Bischof Lopez Trujillo „ertragen“ musste. „Lorscheider allein weiß, wie viele Demütigungen er von Trujillo hinnehmen musste und zu ertragen hatte“ (S. 59). Auch das gehört dazu: Lorscheider spricht in dem Buch davon, dass er seit langer Zeit schon schwer herzkrank ist: „Ich habe vier Bypässe und einen Herzschrittmacher“ (S. 31). Darf man vermuten, dass u.a. der Umgang mit reaktionären Kirchenfürsten wie Lopez Trujillo krank machen kann?

Ich meine: Lopez Trujillo, dem Opus Dei sehr nahe stehend und in etliche nie geklärte Finanzgeschäfte mit dem CIA und den Drogenbossen verwickelt, wurde durch römische Protektion dann sogar Chef des CELAM (1979-1983) und später Chef der obersten päpstlichen Familienbehörde im Vatikan. Dort verbreitete er viel Merkwürdig-Dummes, etwa, dass Kondome Löcher enthielten, deswegen kämen Kondome als Schutz gegen AIDS überhaupt nicht in Frage. Solch ein Mann war Chef des päpstlichen „Familienministeriums…“   Sein schädlicher Einfluss kann kaum überschätzt werden, dazu sollten endlich religionswissenschaftlich-politologische Studien über Herrn Lopez Trujillo verfasst werden, Theologen sind für diese Studien zu befangen und eben kirchen-abhängig….

Zurück zum Interview mit Kardinal Lorscheider: „Wir Bischöfe müssen auch Ankläger ungerechter Strukturen sein, nicht nur Verkünder der frohen Botschaft“ (S. 66).

Besonders wichtig sind die Hinweise Lorscheiders zur viel besprochenen Option für die Armen, die sozusagen ein Motto ist in weiten Kreisen der lateinamerikanischen Kirche: Die Frage wird gestellt: „Sie meinen also, diese Option sei weniger pastoral und evangeliengemäß als vielmehr strategisch-politisch motiviert?“ Die Antwort von Kardinal Lorscheider: „Ja, das glaube ich. Diese Option war mehr strategisch-politisch innerhalb des damaligen politischen Kontextes“ (S. 68). Zuvor weist Lorscheider auf die in kirchlichen Kreisen starke Angst vor dem Kommunismus und dem Marxismus hin. Mit der kirchlichen Option für die Armen wollte die Kirche also Marxismus und Kommunismus schwächen. Dass in den Evangelien die Armen selig gepriesen werden, war den Bischöfen also aus strategischen Gründen erst mal nicht so wichtig.

Interessant sind die Hinweise von Kardinal Lorscheider zum katholischen Hilfswerk ADVENIAT (auf Seite 69).

Es wurde ja immer von Adveniat heftig und polemisch bestritten, dass unter dem damaligen ADVENIAT Chef, Bischof bzw. dann Kardinal Franz Hengsbach aus Essen, (zudem dem Opus Dei nahe stehend, Ehrendoktor der Opus die Uni Navarrra in Pamplona, er erhielt auch einen Preis von Diktator Banzer in Bolivien usw.) eine entschiedene und finanzstarke Institution GEGEN die Befreiungstheologie gearbeitet hat. Also aus Spendengeldern der braven deutschen Katholiken finanziert. P.S.: Ich selbst habe als Journalist, Mitarbeiter im WDR Fernsehen,  die Wut von ADVENIAT Leuten zu spüren bekommen, als ich in einem Bericht dies nachwies (durch ein Interview mit dem damaligen Weihbischof und Opus Dei Mann Karl Josef Romer, Rio de Janeiro). Solche berufsschädigenden Attacken von Adveniat wurden selbstverständlich nie zurückgenommen, niemand hat sich für diese blödsinnige Kritik, durch KNA obendrein treu verbreitet, bei mir entschuldigt…

Nun also sagt einer, der es wissen muss, nämlich Kardinal Lorscheider: „Wir wussten, dass von Deutschland aus, vor allem von ADVENIAT, Druck gegen die Befreiungstheologie aufgebaut wurde. Das ging sogar so weit, dass der Erzbischof und spätere Kardinal Hengsbach aus Essen, dem Sitz Adveniats, eine ganze Studienreihe mit diversen Büchern und Publikationen gegen die Befreiungstheologie organisierte. Einige Bischöfe Lateinamerikas standen auf seiner Seite. Es gab dann in Deutschland eine REGELRECHTE VERSCHWÖRUNGSWELLE, ausgehend von der Gruppe um Hengsbach. Sie verfügten über viel Geld…“ Eines der anti-befreiungstheologischen Büchern von Hengsbach trägt den Titel: “Utopie der Befreiung”, Mitherausgeber ist der oben genannte Bischof Lopez Trujillo…

Die 4. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischof 1992 in Santo Domingo nennt Erzbischof Lorscheider – als Teilnehmer dort – „einen Reinfall“, “weil Rom begann, massiv zu dominieren“ (S. 69). „Reinfall“ auch noch einmal auf Seite 71. „Ich habe mich dort (in Santo Domingo) geschämt, ich sehe noch einen Theologen in unserer Gruppe, der wusste gar nichts. So waren auch die anderen, alle waren sehr schwach“ (71).

Was will Rom, d.h. der Vatikan eigentlich in der gesamten Kirche und der Welt erreichen? „Das Hauptinteresse Roms ist immer, die Kirche zu verteidigen“ (S. 70)

Welche Gruppen und Klassen spricht die Kirche heute noch an? „Es gibt viele in der Kirche, die fühlen sich am wohlsten in der High Society. Unsere Kirchgänger sind nicht die Armen“ (s. 72).

Kardinal Ratzinger hat in seinem zähen Kampf gegen die Befreiungstheologie immer den Begriff Heil (umfassend) gegen die Befreiung (nur politisch, wie er meint) ausgespielt. Dagegen betont Kardinal Lorscheider: „Aber wir wollen eine Befreiung, die zugleich Heil bedeutet, d.h. den Blick auf den Körper und die Seele richten. Wir wollen, dass es dem Menschen materiell gut geht und spirituell auch….Gnade zusammen mit menschlicher Leistung“ (S. 76).

Zur Theologie heute insgesamt: „Zur Zeit befinden wir uns theologisch in einem Stillstand. Unsere Theologen sind nicht müde, aber ziemlich verzweifelt und verängstigt“ (S. 78).

Mit einer philosophischen Weisheit sollen diese Hinweise beendet werden. Lorscheider sagt im Blick auf die Kirche und den Vatikan: „Das Sich-Hinterfragen ist eine der Voraussetzungen, um sich entwickeln zu können“ (S. 99).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

Spotlight – der Film. Und über das Fehlen des investigativen Journalismus zu Kirchenthemen in Deutschland

SPOTLIGHT: Der Film.

Über die gute Macht der kritischen Presse und das Fehlen des Recherche-Journalismus in Deutschland….

Ein Hinweis von Christian Modehn

Der große Spielfilm SPOTLIGHT (eigentlich auch ein „gespielter Dokumentarfilm“) beweist: Wenn der politische, der demokratische Wille bei Journalisten geweckt und dann tatsächlich auch gelebt wird, kann durch journalistische Recherche unglaublich Wichtiges und Wertvolles geleistet werden. Das Investigativ-Team der Zeitung „Boston Globe“ (USA) hat allen Einschüchterungen und Angstmachereien der „großen Herren“ ,vor allem in der römischen Kirche von Boston, widerstanden; die Journalisten haben in diesem Umfang sicher als die ersten (2002) der Welt gezeigt: Es gibt einen weit verbreiteten Missbrauch von Kindern durch Priester im Erzbistum Boston. So wurde die Wahrheit frei gelegt, die mit aller Macht zugedeckt und verschwiegen wurde von den Vorgesetzten, also den kirchlichen Bürokraten an der Spitze. Sie werden ja oft „Verantwortliche“ und „Elite“ genannt, ein seltsamer Titel angesichts ihrer Kumpanei, die eigenen Leute, die Kleriker, unter allen Umständen zu schützen. Diese Tatsache erschüttert genauso wie das Leiden der Opfer Mitgefühl weckt und Schmerz. Dass in der Kirche zuerst der Schutz des Klerus gilt, selbst im Falle von Vergehen, Verbrechen oder Mitwisserschaft, trifft noch immer zu, ist eine Tatsache: Allein die Anwesenheit des damals (2001) alles vertuschenden Kardinals Law aus Boston nun in Rom spricht Bände:

„Im Dezember 2002 verließ Law Boston nach Rom und entging somit einer bereits erlassenen Vorladung des Staatsanwalts zum Vorwurf der Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern.(Wikipedia). Der Spotlight Artikel erschien in „The Boston Globe“ Anfang Januar 2002. Von 2004 bis 2011 war Law verantwortlicher Priester in berühmten Kirche Santa Maria Maggiore in Rom.

Man denke auch daran, dass der Nuntius der Dominikanischen Republik, Erzbischof Wesolowski, Kinder in Santo Domingo missbrauchte, nach der Aufdeckung seiner Taten (2013) aber nicht den Behörden der Dominikanischen Republik übergeben wurde, sondern eben schnell nach Rom flog und sich dann im Vatikan versteckte bzw. dort im Hausarrest festgehalten wurde. Er soll, so wird behauptet, eines normalen Todes, Herzstillstand, vor seinem Prozess im Vatikan am 27.8.2015 gestorben sein…Auch dem australischen Kardinal George Pell wird Vertuschung von pädophilen Untaten der dortigen Priester mit vielen Gründen vorgeworfen. Er lebt jetzt im Vatikan, kein Geringerer als Papst Franziskus ernannte ihn am 24.2.2014 zum Leiter der päpstlichen Wirtschaftsbehörden. Das kirchliche Motto des Kardinal heißt bezeichnenderweise: „Nolite timere, fürchtet euch nicht!“

Über den Film SPOTLIGHT ist mit gutem Grund sehr vieles Lob geschrieben worden; wunderbar, dass er einen Oscar in der Kategorie Bester Film erhielt. Selbst die Tageszeitung des Papstes, der Osservatore Romano, empfiehlt den Film oder auch der Erzbischof von La Valetta, Malta, Charles Scicluna. Er fordert sogar, alle Klerikern, sie sollten sich unbedingt den Film anzusehen. (siehe La Croix, Paris, 1.3.2016).

Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon wollen wir nur aus unserer religionskritischen Perspektive (und der journalistischen auch !) einige weiterführende Fragen stellen:

Gibt es heute überhaupt Recherche-Teams unter Journalistinnen und Journalisten, die für kirchliche Medien arbeiten? Gehört unabhängige Recherche zum Profil eines Journalisten, der in einem der kirchlichen Blätter arbeitet? Wollen die Herausgeber, also die Kirchenleitungen, überhaupt investigativen Journalismus? Wir kennen die Szene als Journalisten auch von Innen her recht gut, und geben uns selbst die Antwort: Nein, investigativen Journalismus gibt es in kirchen-abhängigen Medien nicht, zumindest nicht in Deutschland. Wie ist das zu deuten? Ist Kirchenpresse eine milde Form von Propaganda? Sicher spielt das eine Rolle, und auch die Angst vor der Freiheit des Wortes.

Gibt es investigativen Journalismus in Deutschland zum Thema Religionen und Kirchen in der übrigen, der nicht kirchlich bestimmten Presse? Da könnte sicher mehr geschehen, viele große Zeitungen bearbeiten das Thema Religionen und Kirchen eher nebenbei, abgesehen jetzt von den Reportagen zum Islam… Aber welches Blatt wagt sich an das Thema „Trennung von Kirche und Staat in Deutschland“ wirklich mit einer großen Stoy? Welches Blatt wagt sich mit einer großen Story also über mehrere Seiten an die Frage: Welches Niveau haben heute eigentlich die zahlreichen katholisch-theologischen Fakultäten und Hochschulen? Darf man nach der (gesellschaftlichen und praktisch-kirchlichen) Relevanz vieler der dort geschriebenen Doktorarbeiten fragen? Ist das Kirchliche Gesetzbuch, der Codex, jetzt nicht endgültig vorwärts und rückwärts für den Dr. Theol. durchgebetet, Verzeihung, durchgeackert worden? Oder ein anderes tolles Recherche-Thema: Wie viel Geld verdienen tatsächlich Erzbischöfe und Bischöfe in Deutschland? Und wie viel Grundbesitz und wie viel Vermögen haben die sich arm nennenden katholischen Ordensgemeinschaften in Deutschland?

Darüber sagen die „armen Ordensleute“ naturgemäß nichts. Sie erläutern auch nicht, warum die frommen Leute angesichts des Reichtums der Orden immer noch weiter brav für sie spenden sollen.

Wann werden sich investigative Journalisten an dieses Themen wagen: Den – vielfach so zurecht bezeichneten – Orden der Milliardäre, also den Orden der Legionäre Christi? Wann wird als Fortsetzung zu SPOTLIGHT ein Film, ein dokumentarischer Spielfilm, über den Gründer der Legionäre Christi, Pater Marcial Maciel gedreht, den sogar Papst Benedikt XVI. einen Verbrecher nannte.

Tatsache ist: Von sich aus leistet die katholische Kirche keine umfassende Aufklärung zu den drängenden Fragen, die gesellschaftlich relevant sind. Fehlt es an investigativem Journalismus, dann gibt es auch keine Aufdeckung verdrängter Wahrheiten. Das ist die traurige Wahrheit. So kann, um ein Wort Jesu zu zitieren, die Wahrheit gar nicht freimachen, weil es keinen unabhängigen, ausdauernden und Widerstands-bereiten investigative Journalismus gibt.

Heute sind fähige und tatsächlich auch vom Fach her qualifizierte Journalisten (also Theologen und Religionswissenschaftler oder Philosophen) in Festanstellung (nur die haben die Zeit und das Geld, sich um diese Themen zu kümmern) offenbar kaum noch zu finden … oder sie sind mit Arbeit überlastet.

Wir finden es traurig, dass der verdienstvolle Dominikaner Pater Thomas P. Doyle, der in den USA seit langer Zeit für die Missbrauchsopfer eintritt, in Deutschland nahezu unbekannt ist bzw. unbekannt „gehalten“ wird.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon