Der atheistische Christ – der religiöse Atheist: Wider die klassischen Grenzziehungen. Ein Salonabend

Wir setzen die Gespräche in der Urania vom 21. 11. 2013 fort unter dem Titel:
Der atheistische Christ – der religiöse Atheist: Wider die klassischen Grenzziehungen.
Das Thema verdient weiter unsere intensive Beachtung, wenn uns daran liegt, eine neue Kultur des religiösen und nichtreligiösen Miteinanders (in Berlin und sonst) zu gestalten und aufzubauen.
Der Ort: Die Galerie Fantom in der Hektorstr. 9 in Berlin Wilmersdorf. Beginn: Um 19 Uhr am MITTWOCH 4. Dezember 2013.
Teilnahme gebühr, für Studenten frei, auch sonst Ermäßigung, sonst: 5 Euro.
Bitte um Anmeldung, da die Zahl der Plätze begrenzt ist an: christian.modehn@berlin.de

Zur Veranstaltung in der Urania am 21. 11. 2013 klicken Sie bitte hier.

Luthers religiöses Handeln: Aktueller denn je

Luthers religiöses Handeln: Aktueller denn je
Von Christian Modehn

Es wird – immer häufiger – behauptet: „Was es an der Reformation (Luthers) zu feiern gibt, ist nach wie unklar“. So etwa Wolfgang Thielemann in „Christ und Welt“, der Beilage zur Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 7. November 2013.
Prof. Wilhelm Gräb hat in einem Interview mit dem religionsphilosophischen Salon bereits Wesentliches gesagt, zur Lektüre klicken Sie bitte hier.

Weil Religionsgeschichte auch zu den Themen des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons gehört, möchten wir in einigen Thesen noch einmal deutlich machen:

– Martin Luther hat das allgemeine Priestertum aller (!) Gläubigen zu recht als den Kern theologischer, biblisch begründeter Kenntnis wie auch religiöser, kircheninstitutioneller Praxis erkannt. Darüber gibt es unter katholischen und evangelischen Theologen eigentlich keine Debatte mehr. Aber Luthers Hinweis bleibt heute in der Praxis umstritten: Vom Priestertum aller Gläubigen in der Praxis kann in der römischen Kirche nach wie vor keine Rede sein. Die römische Kirche wird in jeder Hinsicht ausschließlich geführt und geleitet vom Amtspriestertum, auch unter Papst Franziskus dürfte das so bleiben. Laien können „helfen“ und dienen, sie haben nichts zu entscheiden in theologischen und moralischen Fragen. Sie werden bestenfalls mal befragt. Also: Über diesen Impuls Luthers könnte man auf Weltebene und auf bundesdeutscher Ebene diskutieren. Oder stört solches Gespräch das angeblich prächtige ökumenische Klima? Meidet man man heute unter Protestanten theologische Themen, um der römischen Kirchenführung nicht zu nahe zu treten? Oder hat sich unter Protestanten selbst eine Art klerikale Hierarchie gebildet?

– Noch mal etwas Theologisches: Luther hat die entscheidende Mitte des Evangeliums, und damit das Kriterium für wichtig und sekundär,in der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders durch Gnade erkannt. Nach heutigem modernen theologischen Verständnis sollte man diese Mitte des Evangeliums neu verstehen, etwa in der humanen Praxis des menschlichen Miteinanders, der Solidarität, sowie in dem Respekt vor der spirituellen Haltung des einzelnen religiösen Menschen. Die zentrale Stellung der Theologie der Sünde, auch die verheerende Lehre von der Erbsünde, aber auch die Lehre von der Rettung der Welt durch Christi Blut, der sich seinem erzürnten Vater hingibt, all das lassen wir guten Herzens heute endlich beiseite. Und belasten niemanden mehr damit. Darin werden wir von vielen Theologen und Historikern weltweit unterstützt, die Christen an der Basis glauben etwa an die Erbsünde ohnehin nicht. Die Basis ist bereits häretischer als die Herren in Rom es sich träumen lassen. Darüber könnte man auch im Rahmen der Reformationsgedenken nett diskutieren, sozusagen über theologische Traditionen, die nicht mehr hilfreich, weil nicht mehr verständlich sind. Und die deswegen guten Gewissens beiseite gesetzt werden sollten. Diese Freiheit darf sich ein moderner Christ gern nehmen, das ist für liberale Christen keine Frage.

– Wolfgang Thielemann spricht in dem genannten Beitrag auch davon, dass Luther „ein Kämpfer wider katholischen Aberglauben“ gewesen sei; dass aber diese Haltung heute obsolet, also überflüssig, ist. Genau das Gegenteil ist richtig: Auf den Ablass hat die römische Kirche bis heute nicht verzichtet; dass Heilige im Himmel unsere Gebete hören und uns hilfreich zur Seite stehen, ist Lehre der römischen Kirche heute. Dass es bei einzelnen Super Frommen Stigmata gibt, etwa bei dem heiligen Pater Pio, ist römische Lehre. Dass Gott in seiner Allmacht (und Willkür) Naturgesetze – von ihm selbst geschaffen – auch wieder mal durchbricht etwa in Heilungswundern, ist offizielle Lehre …Ebenso, dass Maria gnadenhaft hilft vom Himmelsthron aus, das wird in jedem zweiten Marienlied heute weltweit gesungen. Dass Jesus den Fischer Petrus zum ersten Papst bestellte, ist offizielle Lehre. Da wird der Spruch Jesu an Petrus „Du bist Petrus, der Fels … usw“ ausnahmsweise mal wörtlich von der Kirchenführung gedeutet. Die Warnung Jesu an die Jünger „Nennt euch nicht Meister“ oder „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich“ werden selbstverständlich nicht wörtlich verstanden von der Kirchenführung. Was soll man denn dann mit all dem Milliardenbesitz der Kirche machen, mit allem dem Luxus usw… Dieser absolute Interpretationshoheit der Bibel durch die Kirchenführung entspricht die Verachtung – immer noch – der historisch – kritischen Bibelforschung, die selbst im 2. Vatikanischen Konzil noch festgeschrieben wurde. Also, zu diskutieren gäbe es genug … im Sinne des Reformators Martin Luther.

– Und ist die Vision, der Traum, von der institutionellen Einheit einer Kirche nicht der Traum von Herrschaft? Ist eine und einzige christliche Kirche wirklich ein “Gewinn” oder wäre das nur ein monolithischer, leichter beherrschbarer Block? Wir brauchen nicht diesen Traum einer institutionellen Einheit weiter zu träumen, es gibt Wichtigeres. Etwa das Elend der hungernden und sterbenden Kinder endlich zu besiegen, um nur eines von vielen Themen erster Dringlichkeit heute zu nennen. Es ist ja auch die christliche Welt Europas und Amerikas, die diese verheerende Armut mit erzeugt…Vielleicht sollte man in dem Zusammenhang von Sünde sprechen…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.

Die Reformation geht weiter: Der Theologe Wilhelm Gräb über ein angeblich “schwieriges Fest” (2017)

Ein Vorwort: Es melden sich immer mehr (auch evangelische) Stimmen, die behaupten, “was es an der Reformation zu feiern gibt, ist immer noch nicht klar”. So Wolfgang Thielmann in der Beilage zur Wochenzeitung DIE ZEIT mit dem Titel “Christ und Welt”, erschienen am 7. November 2013, Seite 1. Wem das wirklich immer noch nicht klar ist, angesichts der Zustände in den christlichen Konfessionen, sollte die Vorschläge zu einem angemessenen, vernünftigen Reformations – Verständnis lesen, wie sie im folgenden der protestantische Theologe Wilhelm Gräb vorträgt. Das Interview wurde am 26. Oktober 2013 unter dem Titel “Die Reformation der Reformation” auf dieser website veröffentlicht, am 7. November 2013 wurde diese Einleitung vorangesetzt.

Die Reformation der Reformation – Neue Themen für ein wichtiges Ereignis
Der Theologe Prof. Wilhelm Gräb, Berlin, zum Reformationstag 2103
Die Fragen stellte Christian Modehn

Die Erinnerung an die Reformation Martin Luthers hat sehr oft nur den Cha-rakter des kritischen Rückblicks und der Wiederholung alter Standardthemen, wie etwa der Rechtfertigung des Sünders. Sollten nicht neue Gotteserfahrungen besprochen werden, etwa der “Gott in uns”, die Sakralität der Person; das Göttliche, das in der Musik (in jeder Musik?) oder auch in der Erotik erlebt wird? Oder in der Solidarität mit Verarmten und Leidenden?

Die Reformation muss weitergehen, immer weitergehen. Die des 16. Jahrhun-derts zieht ihre Faszination bis heute aus dem Gedanken religiöser Freiheit, den sie im Rückgriff auf das biblisch verstandene Evangelium aufzustellen gewagt hat. Jeder Mensch ist gleich unmittelbar zu Gott und kann sich selbst aus der Hl. Schrift über das richtige Tun belehren. Doch entstanden sind neue so ge-nannte evangelische Kirchentümer und natürlich auch Theologien, die ihre Aufgabe darin sahen und sehen, die Identität der evangelischen Kirche unter Beru-fung auf die reformatorischen Bekenntnisse zu stabilisieren.
Ich sehe die Aufgabe einer gegenwartsorientierten reformatorischen Theologie anders. Sie muss die Augen öffnen für die Gegenwart Gottes in dieser Welt. Hinweisen muss sie darauf, dass Gott die Idee ist, wonach das Ganze unseres Lebens, ja das Ganze der unendlichen Welt sinnvoll ist, obwohl es unsere Fas-sungskraft übersteigt. Weil ein Gott ist, wird das Ganze zusammengehalten, ge-hen wir im Unermesslichen und letztlich Unverfügbaren doch nicht verloren. Wir empfinden Gottes Gegenwart, wo uns die Welt entgegenkommt, in Men-schen, die wir lieben, mit denen wir eins werden, die uns verstehen oder für die wir uns einsetzen; in der Musik, sofern sie uns anspricht; in Werken der Kunst, sofern diese uns unsere merkwürdige Weltstellung sichtbar machen.
In der Sinngewissheit unseres Lebens schattet sich die Präsenz des göttlichen Seinsgrundes ab. Aber wir brauchen auch die Verständigung über unsere Selbstgefühle und Gottesideen. Das ist die Aufgabe einer gegenwartsbezogenen reformatorischen Theologie. Dann nimmt sie den Freiheitsimpuls der Reformation auf. Dann denkt sie Gott in den Erfahrungen unseres heutigen Lebens als den, der es macht, dass der Gedanke von der unverlierbaren Würde und dem unendlichen Wert eines jeden Menschen nicht nur in der Welt ist, sondern in ihr auch nicht mehr verloren gehen kann.
Nebenbei bemerkt, so verstehe ich auch die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung des Sünders aus dem 16. Jahrhunderts. Sie wollte damit sagen, dass Gott das Lebensrecht jedes Menschen vorbehaltlos anerkennt, unabhängig von seiner Leistung und seiner sozialen Zugehörigkeiten. Nur hat sie das Evan-gelium noch in Vorstellungen ausgedrückt, die die unseren nicht mehr sind und auch nicht werden müssen.

Wie tief reicht protestantische Selbstkritik? Welche Traditionen belasten die Kirche in Deutschland heute? Ist sie frei genug, Überorganisation und Büro-kratie zu überwinden zugunsten neuer religiöser „Spielräume”, etwa der freie, umfassende religiöse Dialog außerhalb der Kirchenmauern, in Theatern, Kinos, Cafés, Konzerthäusern, in denen dann selbstverständlich auch neue Themen verhandelt werden.

Viel geschieht in dieser Richtung, mit den Citykirchen, auch hier in Berlin, mit den evangelischen Akademien, (auch den katholischen Akademien) und vielen Bemühungen um kulturelle Zeitgenossenschaft. Aber das alles ist dennoch viel zu wenig. Deshalb ist es so wichtig, dass wir an der Idee eines freien Protestan-tismus festhalten, der nicht mit der evangelischen Kirche zu verwechseln ist. Ihn gibt es seit dem späten 19. Jahrhundert. In ihm lebt der Freiheitsimpuls der Reformation am deutlichsten fort. Aber er befindet sich selbstverständlich auch nicht in einem ausschließlichen Gegensatz zur institutionalisierten evangelischen Kirche. Beide sind ein Stück weit auch aufeinander angewiesen. Bedauerlich ist jedoch, dass auch die evangelische Kirche immer noch meint, so etwas wie ein „Wächteramt“ über das Religiöse in Kultur und Gesellschaft ausüben zu müs-sen. Sie sieht sich im Besitz von Normen biblisch-reformatorischer Wahrheit, die sie den religiösen Interessen der Individuen entgegenhält. Wo sie sich aber selbst umstellt, verändert, und nichts anderes zu sein versucht als Kirche für die Religion der Menschen, dort kann viel Freiheitsluft auch in sie selbst, in ihre le-bendigen Gemeinden Einzug halten. Dort hört sie auf, sich – theologisch, wie organisatorisch – vor allem mit sich selbst zu beschäftigen.

Heutiges protestantisches Reformationsgedenken wehrt schamhaft die Kritik an der römischen Kirche ab, um der angeblich so guten Ökumene willen, könn-te man meinen. Sollten Protestanten nicht heute auch die Freiheit haben, Miss-stände in der römischen Kirche oder etwa auch in der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats zu benennen? Welche Kritik wäre dann wichtig?
Die Ökumene kommt mir oft so vor, als sei sie vor allem von einem ökono-misch kalkulierten Kartelldenken bestimmt. Man schließt sich zusammen, um das Christentum, mit dem man sich identifiziert, besser gegen die säkulare Ge-sellschaft verteidigen zu können. Weil die evangelische Kirche dem reformatori-schen Freiheitsimpuls schon viel zu zaghaft folgt, will sie von Kirchenkritik nichts wissen. Wer sie übt, gilt schnell als Feind des Christentums und der Religion. Dass die Reformation in ihrem Kern Kirchenkritik war, davon hat auch die evangelische Kirche heute keine Ahnung mehr. Wie sollte da von ihr Kritik an der katholischen oder orthodoxen Kirche erwartet werden können? Es geht zwischen den Kirchen ähnlich zu wie in der Politik. Die Kritik anderer Kirchen schickt sich genauso wenig wie die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.
Der andauernde Freiheitsimpuls der Reformation, der ja doch der des Evangeli-ums ist, der Botschaft von der Menschlichkeit Gottes, kann nur wirksam wer-den, wenn unterschieden wird zwischen der Religion des Evangeliums und der institutionalisierten Kirche. Dann ist jede Kirche, wie immer sie sich nennt, zu kritisieren, wenn sie nicht der Menschwerdung des Menschen dient, seinen e-lementaren Lebens- und Freiheitsrechten. Wo sie sich nicht dafür einsetzt, dass die den Geist des Evangeliums für unsere Zeit formulierenden Menschenrechte jedem Menschen zukommen, unabhängig von deren nationalen und kulturellen Zugehörigkeiten, ihren sexuellen und religiös-weltanschaulichen Orientierungen, ist eine Kirche zu kritisieren. Ich erspare mir jetzt, aufzuführen, was da im Blick auf das Verhalten und die Stellungnahmen der Kirchen – die römische und die orthodoxe Kirche besonders betreffend, die evangelische aber nicht ausneh-mend – konkret anzuführen wäre. Ich denke, es steht uns nur zu deutlich vor Augen.

Copyright: Prof.Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

“Die Nonne”: Zu einem neuen Film über einen Roman von Denis Diderot

Die Nonne. Anlässlich der Berlinale 2013 ein Hinweis auf einen Film, inspiriert von einem Roman von Denis Diderot:

Wenn das Leben im Kloster krank macht

Von Christian Modehn, veröffentlicht am 8.2.2013

Inzwischen, Anfang November 2013, läuft der Film “Die Nonne” in deutschen Kinos. Dabei werden immer noch falsche Behauptungen in die Welt gesetzt. Da wird Diderot (in der Beilage zu “Die Zeit” mit dem Titel “Christ und Welt” vom 7. Nov. 2013) einfach gedankenlos und uninformiert “ein Atheist” genannt, nichts ist falscher als das, um einmal diese sprachlich falsche Formulierung zu benutzen. Er hat Theologie studiert, war später Deist, und das ist bekanntlich kein Atheist! Die “Nonne” ist auch kein “Witz, keine Satire” des Philosophen Diderot, wie behauptet wird in dem Blatt, sondern der Roman basiert auf Beobachtungen und Erfahrungen der eigenen Schwester. Der Roman Diderots ist auch keine “schwüle Klosterfrau Fantasie”, so wieder der Autor Raoul Löbbert, sondern ein realistisches Zeugnis damaliger (nur damaliger ????) Klosterwelten. Was haben christliche Journalisten davon, in christlichen Zeitschriften so viel Unsinn zu verbreiten?
…….
Dieser Text wurde anläßlich der berliner Filmfestspiele 2012 publiziert:

Das Jahr 2013 ist auch ein Diderot – Gedenkjahr. Der französische Philosoph der Aufklärung wurde vor 300 Jahren, am 5. Oktober 1713 in Langres, geboren Er ist weltbekannt geworden vor allem als Begründer und „Leiter“ des großen Projektes der „Enzyklopédie“. Das „Diderot Jahr“ wird jetzt „eingeläutet“ mit einer Neuverfilmung des Romans „La Religieuse“, „Die Nonne“. Der Film wird auf der Berlinale 2013 im Wettbewerbsprogramm gezeigt. In den Kinos soll er ab Ende März zu sehen sein. Regisseur des Films ist Guillaume Nicloux. Er bezieht sich auf den (gar nicht so umfangreichen) Roman von  Diderot, verfasst um 1760, aber erst nach seinem Tod (1784 in Paris) im Jahr 1796 veröffentlicht. Diderot musste sich vor den Repressionen der Zensurbehörden hüten, 1749 wurde er bereits „wegen Atheismus“ in Vincennes inhaftiert, aber aufgrund prominenter intellektueller Fürsprecher freigelassen.

Für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon ist es eine Selbstverständlichkeit, anlässlich des Films auf den Roman hinzuweisen als einen Beitrag aufklärerischer Religionskritik. Diderot klagt die Zurückweisung der Selbstbestimmung von Frauen (aber auch von Männern) in der Kirche an, er legt die Scheinheiligkeit, ja Gewalttätigkeit in den Klöstern frei, diese abgeschottete Welt, die er “Gefängnis” oder gar “Grab” nennt. Die Religionspolitik der Revolutionäre ab 1789, selbst die Laicité als strikte Trennung von Kirchen und Staat, ist nur aus der Kenntnis der Religionskritik zu verstehen, wie sie sich etwa im Pariser Salon d Holbachs und Diderots (10, Rue des Moulins, Paris 1. Arr.) ausdrückte.

Zum Inhalt des Romans, den Diderot in der Ichform seiner Protagonistin Suzanne Simonin erzählt. Sie lebt einige Jahrzehnte vor der Revolution von 1789, ist  ein außereheliches Kind einer angesehenen Familie: Als junges Mädchen (sechszehneinhalb Jahre alt) wird sie von den Eltern gezwungen, ins Kloster einzutreten. Finanzielle Interessen der Eltern sind dabei ein Hauptmotiv. Der Roman schildert den Leidensweg der Suzanne Simonin in drei verschiedenen Klöstern: Bei den unterschiedlichen, meist leidvoll – schmerzhaften Erfahrungen dort bleibt sie ein frommes, „ein gottesfürchtiges Wesen“, das sich den Sinn für Freiheit und Selbstbestimmung bewahrt, aber aufgrund ihrer schlimmen Erfahrungen in eine tiefe menschliche Krise gerät. Diderot hat also keine Ambitionen, seine Protagonistin als ein „amouröses“ Wesen, der Lust verfallenes Mädchen, darzustellen; was ja einer gewissen Tradition der „Libertins“ entsprechen würde, der auch sexuell “hoch interessierten” Freigeister der damaligen Zeit. Sie verfassten viele populäre, ans Pornographische grenzende Schriften und Romane. In dieser Tradition steht das Werk „La Religieuse“ von Diderot nicht! Er will die Realität dokumentieren, in einer eher sachlich – nüchtern beschreibenden Sprache.

Im ersten Kloster „Sainte Marie“ weigert sich Suzanne Simonin, die endgültigen, „ewig“ bindenden  Gelübde abzulegen. Sie muss das Kloster verlassen; in Ronchamp erlebt sie dann zuerst eine fromme, freundliche Oberin. Darin wird deutlich, dass Diderot durchaus an einer differenzierten Analyse der Klosterwelten interessiert ist. Nach dem Tod dieser Oberin, Frau von Monc, beherrscht dann eine strenge „Chefin“, Schwester Sainte Christine, das Kloster. Sie ist einer rigiden Glaubenspraxis verpflichtet und terrorisiert förmlich ihre junge Mitschwester. Gezwungenermaßen legt dort Suzanne ihre Gelübde ab. Als “ungehorsame Nonne” wird sie bestraft, ausgegrenzt, malträtiert, aller Kleider beraubt, mit nackten  Füßen wird sie durch die Gänge gehetzt, in dunklen, unterirdischen Räumen festgehalten, “in welchem man mich auf eine von Feuchtigkeit halb verfaulte Strohmatte warf” (36). “Meine erste Absicht dort war, mich zu töten. Ich schlug mit dem Kopf gegen die Mauern und zerfleischte mich, bis das Blut floß…Jeden Morgen trat eine meiner Henkerinnen (also Mitschwestern) ein und sagte zu mir: Gehorchen Sie unserer Oberin und sie werden dieses Gefängnis hier im Kloster verlassen” (37). Als seelisch gebrochene junge Frau bittet Suzanne schließlich sogar um Verzeihung für Vergehen, die sie gar nicht begangen hat. Das Gesetz der Folter hat Diderot hier klar erkannt…. Angesichts ihres unsäglichen Leidens findet sie Unterstützung bei einem Anwalt: Ihm gelingt es, Suzanne aus diesem Kloster zu befreien: Aber wieder landet sie in einem Kloster: Dort, in St. Eutrope, findet Suzanne überhaupt keine Ruhe: Sie ist den lesbischen Ambitionen und Aufdringlichkeiten der Oberin ausgesetzt. “Ich liebe Sie bis zum Wahnsinn”, gesteht ihr die Oberin gleich nach ihrem Eintritt (S. 70). Diderot schildert aus sachlicher Distanz, wie die Oberin mit ihren lesbischen Ambitionen die 20 jährige Suzanne förmlich verfolgt und bedrängt, wie sie nachts  gar in das Bett der jungen Nonne steigt, voller Entschuldigungen, ihr, der Oberin, ginge es körperlich so schlecht. Diese Berichte erinnern fast wörtlich an die vielen Ausreden mit denen der pädophile Ordensgründer Pater Marcial Maciel (gestorben 2008) junge Novizen seines Ordens (Legionäre Christi) ins Bett lockte. All das ist von den Betroffenen genau dokumentiert…. Ausdrücklich verbietet diese Oberin ihrer Geliebten Suzanne, diese “Bettgeschichte” zu beichten: Denn dann  wüßte der Beichtvater, der allen Nonnen im Kloster die Beichte abnimmt (auch ein interessantes Nebenthema: Beichte als Kontrolle),  genau Bescheid über die lustvollen Nächte dort. Vor allem die “fromme Oberin” wäre enttarnt. Suzanne ist noch so fromm und selbstbewußt, dass sie doch die Ereignisse beichtet… und dies auch der Oberin gesteht. Diesem Bekenntnis folgt der geistige Zusammenbruch, schließlich der Tod der Oberin…Nach all diesen seelischen Verwirrungen gelingt der jetzt 20 jährigen Suzanne  die Befreiung aus diesem Kloster Gefängnis mit Hilfe eines jungen Priesters, Dom Morel. Auch er gesteht der jungen Nonne, dass er gegen seinen Willen ins Kloster gesteckt wurde. (S. 100). War Diderot gegen die lesbische Liebe im allgemeinen eingestellt? Sicher nicht, er war nur gegen die Ausnutzung eines Herrschaftsverhältnisses mit sexuellen Interessen!

Suzanne landet in Paris als gebrochene Frau, sie schlägt sich, auch körperlich am Ende, als Wäscherin durch. Ihr Leben ist  von Ängsten bestimmt, die Klöster haben sie kaputt gemacht. “Ich habe mir niemals den im Kloster herrschenden Geist zueigen machen können… Dennoch habe ich mich gewisse Gebräuche gewöhnt, die ich menchanisch wiederhole, zum Beispiel, wenn eine Glocke läutet, so mache ich entweder das Zeichen des Kreuzes oder kniee nieder. Klopft man an meine Tür, sage ich “Ave”, wie im Kloster…Meine Gefährtinnen jetzt fangen an zu lachen und zu glauben, ich wollte die Nonnen kopieren. Doch ihr Irrtum kann unmöglich lange dauern, meine Unbesonnenheit wird mich verraten. Und ich werde verloren sein”. Dies sind die letzten Worte, die Diderot von der jungen Frau Suzanne übermittelt (s. 108f.) (Zitiert nach Denis Diderot, Die Nonne, Contumax Verlag, 2010, nach einer anonym erschienen Übersetzung in Zürich aus dem Jahr 1797 (sic), also ein Jahr nach dem Erstdruck in Paris).

Der Roman, so wurde betont, erinnert an die Gestalt eines barocken Märtyrerdramas. Darin will der Philosoph seine Erkenntnis verbreiten: “Der Mensch ist für die Gesellschaft geboren. Trennt man ihn von der Gesellschaft (d.h. steckt man ihn in ein Kloster außerhalb der Gesellschaft), werden tausend Begierden in seinem Herzen erwachen, überspannte Gedanken werden in seinem Geist keimen…“. Diderot greift sozusagen die neuzeitliche, reformatorisch geprägte Klosterkritik auf. Luther und Calvin haben das klösterliche Leben entschieden zurückgewiesen: Aber Diderots Kritik gründet nicht so sehr in der Bibel, sondern in der Vernunft. Die klösterlichen Gelübde führten zu einer Verkümmerung, wenn nicht Entartung menschlichen, gemeinschaftlichen Lebens. Klosterleben sei identisch mit Selbstentfremdung.

Mit dieser Überzeugung steht Diderot nicht allein; darin ist er eins mit den aufgeklärten Geistern seit dem 17. Jahrhundert in Frankreich. Die zwangsweise Einweisung von jungen Frauen in Klöster war damals üblich, wobei die Adligen ihre Klöster für Adlige hatten, die bürgerlichen eben ihre bürgerlichen Klöster. Vielfach wurde dokumentiert, dass auch junge Männer in Klöster eintraten, weil sie dort ein bequemes Leben erwarten durften. Man lese nur einmal die entsprechenden Kapitel des Journalisten Louis Sebastién Mercier: „Mein Bild von Paris“ (publiziert in Paris seit 1781): „In Paris wimmelt es von Abbés, tonsurierten Pfäfflein, die weder der Kirche noch dem Staat dienen, ausschließlich dem Müßiggang leben und den Kopf voller Frivolitäten haben“ (Zit. S. 75 in der deutschen Ausgabe des Insel Verlages 1979). Die geistliche Dimension, die “Berufung“, war eher selten. Insofern ist der Roman „La Religieuse“ alles andere als ein Bericht von einer Ausnahmesituation. Diderot kannte die katholische Kirche sozusagen selbst von innen: In einer frommen Familie aufgewachsen, von Jesuiten ausgebildet, befand er sich sogar auf dem Weg zum Priestertum: Die entsprechende Tonsur hatte er bereits erhalten. Später schreibt Diderot: „Können diese Gelübde, Armut, Gehorsam, Keuschheit, die dem Wesen der Natur zuwiderlaufen, jemals eingehalten werden? Es sei denn nur von einigen missgebildeten Geschöpfen, in denen die Keime der Leidenschaften verwelkt sind“, fragt Diderot.

Das Kloster wird für ihn und seine philosophischen Freunde zum Symbol für ein Leben ohne Perspektiven und Hoffnungen. Im Jahr 1758 wurde in den Pariser Salons der Bericht von Marguerite Delamarre viel diskutiert: Sie hatte als Nonne im Kloster Longchamp die Öffentlichkeit alarmiert über ihre zwangsweise Einweisung in das „geistliche Haus“. Zudem hatte Denis Diderot erlebt, wie seine Schwester Angélique als Nonne im Ursulinenorden seelisch erkrankte, weil sie meinte, den Gelübden unbedingt folgen zu können. Angélique starb „als Wahnsinnige“ (so der Diderot – Spezialist Yvon Belaval) im Alter von 28 Jahren im Kloster…Diesen Schock hat Denis Diderot nie vergessen…

Persönlicher Hintergrund des Romans ist Diderots explizite Zuneigung und Liebe zu Frauen; er kritisierte, wie sie in der patriarchalen Gesellschaft „beschränkt werden und vernachlässigt werden, wie sie als Erwachsene zum Schweigen verdammt sind“ („Sur les femmes“ von 1772).

Der Roman „La religieuse“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit des einzelnen; manche Interpreten sprechen gar von „Hymne auf die Wahlfreiheit“. „La religieuse“ wurde nach der Veröffentlichung im Jahr 1796 verboten; auch die Filmversion durch Jacques  Rivette unterlag noch 1966 der Zensur; ein Jahr später war der Film ein großer Erfolg.

Man darf gespannt sein, wie die Klöster in Deutschland und Frankreich, wie die römische Kirche insgesamt,  angesichts des neuen Films reagieren: Werden sie den Film tolerant / oder ignorant /  übersehen? Wird es heißen: Ja, so ähnlich war einmal das Klosterleben einst an einigen Orten. Aber heute ist das alles ganz anders, besser, heute sind Klöster Orte der Freiheit und persönlichen Entfaltung ohne jegliche Neurose: Werden die Klöster das sagen? auch angesichts der Mißbrauchsfälle, auch angesichts der Verbrechen (die selbst Benedikt XVI. öffentlich so eingesteht) vom Ordensgründer Pater Marcial Maciel?

Der Berliner Kardinal Rainer M. Woelki macht Mut, dass angesichts des Films “Die Nonne”  die Diskussion über die Gründe und Abgründe des Klosterlebens nun beginnen kann: “Jesus wäre bestimmt auch gern ins Kino gegangen”, scheibt Woelki in der sogen. Boulevard – und Springer Zeitung B.Z., (eigentlich oft durch Fast – Nackt – Fotos von Frauen bekannt)…Und Woleki fährt dann in diesem Presseerzeugnis fort, so berichtet die seriöse “Berliner Zeitung” (8. Februar 2013, Seite 26), “die Filmfestspiele seien eine eindrucksvolle Auseinandersetzung mit realen (Sic!) Themen”. Jesus habe mit seinen Gleichnissen auch nichts anderes gemacht als die Spilefilme heute leisten…Also: Was würde Jesus sagen, wenn er “Die Nonne” im Kino sieht?  Würde er Luther und Calvin in deren prinzipieller Skepsis gegenüber dem Klosterleben zustimmen?

Copyright: christian modehn am 8.2.2013     www. religionsphilosophischer-salon.de

 

 

 

 

Albert Camus wird 100: Zwei neue Bücher

Albert Camus wird 100: Zwei neue Bücher
Von Christian Modehn

Siehe auch einen Beitrag in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM, zur Lektüre klicken Sie bitte hier.

Das Interesse an Albert Camus wird hoffentlich noch über seinen Geburtstag am 7. November hinausreichen. Natürlich steht an erster Stelle die Lektüre seiner Werke, sie liegen auf Deutsch – zum Teil in Neuübersetzungen ! – vor, zudem sind sie preiswert im Rowohlt Verlag publiziert.
Leider sind unseres Erachtenes wichtigste einführende Arbeiten nicht auf Deutsch zugänglich. Wegen Camus Französisch lernen, das wäre ja auch ein sinnvolles Lebensprojekt.
An erster Stelle muss das “Dictionnaire Albert Camus” erwähnt werden, das unter der Leitung von Jeanyves Guérin bei Robert Lafffont, Paris, erschienen ist. Es liegt seit 2009 als preiswerte Taschenbuchausgabe vor und ist zum Preis von 30 Euro nahezu ein Geschenk. Das Buch umfasst 974 Seiten und ist, als Dictionnaire eben ein Camus – Lexikon von A bis Z, mit einem Personenregister, einer Bibilographie und Filmographie, auch ausführliche biographische Daten fehlen nicht. An dem Lexikon haben nach unserer Zählung 65 PhilosophINNen und PhilologINNen mitgearbeitet, darunter auch die deutsche Camus Forscherin Brigitte Sändig, Potsdam, sie hat ja die empfehlenswerte Camus Monographie (bei Rowohlt) geschrieben.
Gerade religionsphilosophisch Interessierte werden in dem Dictionnaire gründlich informiert (und auf weitere Literatur verwiesen, immer wieder übrigens auch auf den deutschen Philosophen und Camus Spezialisten Heinz Robert Schlette.) Die religinsphilosophisch relevanten Artikel beginnen bei Absolu, gehen weiter über Absurde, Atheisme, Bonheur, Cain, Dieu, Eglise usw… Interessant auch ein eigener Beitrag “Réception Chrétienne”, wo deutlich wird, dass Camus mit Mauriac, Marcel, Jan Marie Domenach diskutierte, mit Bernanos war er befreundet. Die großen katholischen Zeitschriften in Paris haben sich mit ihm befasst, mit den wenigen Theologen der Résistance war Camus ebenfalls freundschaftlich verbunden. Von den Dominikaner – Patres in Paris wurde Camus zu einem Gespräch ins Kloster eingeladen. Die eigene Spiritualität von Camus wird in den Stichworten Nature, Nemesis, Soleil, Solidarité usw. deutlich. Man wünscht sich dringend eine Übersetzung dieses Buches.
Bescheidener, doch nicht weniger inspirierend ist das Sonderheft der Reihe “Une vie, une Oeuvre” der Tageszeitung Le Monde, das vor kurzem über Albert Camus erschienen ist. “la révolte et la liberté” ist der Titel. Das Vorwort von Bernard – Henri Lévy verdient kritische Beachtung, vor allem seine Ausführungen über Camus “Ja und das Nein zur Natur” (S. 13 f.). Das Heft hat 122 Seiten, es enthält viele Fotos, Daten, Textauszüge, Literaturangaben usw. und kostet nur 7,90 Euro.
Christian Modehn

Wie Heilige gemacht werden: Der Klerus spricht sich selber heilig

Am 1. November wird in den katholischen Kirchen der Heiligen gedacht, “alle sind zur Heiligkeit berufen”, so wird behauptet. Wir bieten zur persönlichen Lektüre einen Kurzbeitrag, der am 1.11. 2013 im WDR gesendet wurde.

Wenn der Klerus sich selber heilig spricht
Ein Kommentar von Christian Modehn, gesendet in WDR 5 „Diesseits von Eden“ am 1. 11. 2013

„Zur Heiligkeit sind alle in der Kirche berufen“, erklärt das Zweite Vatikanische Konzil. Aber Jesus selber lehrte, dass viele zwar zur Heiligkeit berufen, aber nur wenige auserwählt sind. Darum muss genau geprüft werden, ob die Erwählten absolut tugendhaft und fromm lebten. Zudem muss nachgewiesen werden, dass bei Anrufung des potentiellen Heiligen auch Wunder passiert sind. Diese mühevolle Arbeit leistet das päpstliche Ministerium für „die Angelegenheiten der Heiligsprechung“. Im Jahr 2001 waren dort 126 Mitarbeiter tätig, darunter 2 Frauen. Alle anderen sind Priester. Und wen sprechen diese Kleriker heilig? Fast ausschließlich Angehörige ihres eigenen Standes. Wenn Frauen als himmlische Fürsprecherinnen offiziell angefleht werden dürfen, sind es Jungfrauen, Nonnen oder Witwen. Heilige Hausfrauen oder heilige, lebensfrohe Singles gibt es nicht. Eine „heilige Hure“ kam nur als Kinofilm einmal vor. Wenn die Kleriker sich also selber heilig sprechen, fördern sie nur die Aufwertung ihres ehrwürdigen Standes. Die einfachen Christen, die Laien, sollen Priester und Bischöfe in prächtigen Bildern hoch auf den Altären bewundern oder ihren Leichnam in einem Glassarg verehren. Wenn es so viele heilige Kleriker gibt, dann werden schon mal von den päpstlichen Beamten „kleinere“ Untugenden übersehen: Etwa, dass der Opus Dei Gründer, der heilige José Maria Escriva, ein Freund des Diktators Franco war. Oder dass der heilige Pater Pio mit Mussolini eng verbandelt war. Wen wundert es, dass schon früher problematische Gestalten heilig wurden: Etwa der Gründer des Piaristenordens, Pater José von Calasanza: Er wurde im 18. Jahrhundert nicht nur heilig gesprochen, sondern im 20. Jahrhundert auch noch zum Patron katholischer Volksschulen erklärt, obwohl er nachweislich pädophile Priester in seinem Orden duldete und schützte. Wahrscheinlich hatte der Orden genug Geld, um die Heiligsprechung durchzusetzen. Denn der Vatikan verdient gut an seinen Heiligen. Ein Heiligsprechungs – Prozess kostet heute mindestens 50.000 Euro, oft 300.000 Euro. Zu aufwendig sind die vielen Recherchen und die langwierigen Überprüfungen der vorgeblichen Wundertaten, heißt es. Martin Luther wusste genau, warum er diese Art von Heiligenverehrung für die evangelische Kirche nicht wollte.

Albert Camus – Sein Unglaube und sein Glaube: Zum 100. Geburtstag am 7. November 2013

Albert Camus: Zu seinem 100. Geburtstag.
Ein Beitrag, der vielfach vergessene Aspekte im Leben und Denken von Albert Camus freilegt.

Das vorliegende Manuskript gehört zu einer Ra­dio­sen­dung von NDR Kultur am 20. Okt. 2013. Die Form entspricht der für Hörfunkproduktionen üblichen Struktur. Red.:Dr. Claus Röck NDR
Das Manuskript ist ausschließlich zu privatem Gebrauch bestimmt!

„Das Leben ist ein Geheimnis“
Albert Camus – ein frommer Ungläubiger
Von Christian Modehn

1. SPR.: Berichterstatter
2. SPR.: Berichterstatter
3. SPR.: Zitator Camus.

1.SPR.:
Das Flanieren in Paris hat einen besonderen Reiz im so genannten „Intellektuellen – Viertel“ rund um Saint Germain des Prés, auf der Rive Gauche, dem linken Ufer der Seine. Dann erinnert man sich, vielleicht im Café „Deux Magots“ verweilend, an die glorreichen Jahre nach der Befreiung von der Naziherrschaft. Da wurde in der „Brasserie Lipp“ oder dem Musikclub „Tabou“ ausgelassen gefeiert und heftig debattiert: Philosophen und Journalisten, Literaten und Künstler wollten sich übertreffen mit ihren Visionen für eine bessere Welt.

2.SPR.:
Im Herbst 1943 hatte sich der Schriftsteller Albert Camus in Paris niedergelassen. Seine Bücher „Der Fremde“ und „Der Mythos des Sisyphus“ waren gerade erschienen und hatten begeisterte Aufnahme gefunden, auch bei den Intellektuellen. Der Philosoph Jean Paul Sartre und seine Gefährtin Simone de Beauvoir ließen jedoch den jungen Autor spüren, dass er nicht ganz zu ihnen passte. Hatte doch Camus den Makel, keine berühmte Pariser Elitehochschule besucht zu haben. Er galt als „Algerien – Franzose“ und war somit eine Art Emporkömmling aus der fernen Kolonie. Dort wurde er am 7. November 1913 in dem Dorf Mondovi geboren: Die Verhältnisse zu Hause waren äußerst bescheiden. In seinem autobiographischen Roman „Der erste Mensch“ erinnert er sich an die Kindheit:

3. SPR.:
Ich war immer inmitten einer Armut aufgewachsen, die so nackt war wie der Tod.

1.SPR.:
Der junge Camus wurde früh mit der brutalen Sinnlosigkeit des Lebens konfrontiert: Sein Vater, zu Beginn des Ersten Weltkrieges an die französische Front abkommandiert, erliegt schon wenige Wochen später seinen Verletzungen. Der arme Mann aus der Kolonie: Er war nichts als Kanonenfutter. Das Entsetzen darüber klingt selbst in Camus distanzierter Sprache an:

3.SPR.:
Der Vater hatte Frankreich nie vorher gesehen. Er sah es. Und wurde gleich getötet.

2. SPR.:
Die Großmutter kümmert sich um die beiden Kinder, Albert und Lucien; die Mutter, stark behindert, ist kaum in der Lage, korrekt zu sprechen. Zu alledem leidet Albert Camus an der Tuberkulose, mit dieser Krankheit wird er sein ganzes Leben zu kämpfen haben.

1.SPR.:
Aber er will sich den widerwärtigen Bedingungen des Daseins nicht unterwerfen: Er liebt die Welt, und er liebt die Menschen. Schon in einem seiner frühesten Essays mit dem Titel „Sommer in Algier“ schreibt Camus:

3. SPR.:
Wenn es eine Sünde gegen das Leben gibt, so besteht diese Sünde darin, auf ein anderes, jenseitiges Leben zu hoffen und sich der unerbittlichen Größe dieses jetzigen Lebens zu entziehen. Ich behaupte, dass ich am Glück der Engel im Himmel keinen Geschmack finde.

2.SPR.:
Seine philosophischen Interessen helfen ihm, seine eigene, einmalige Lebenshaltung zu entwickeln. Er studiert den Kirchenvater Augustin und gleichzeitig den antiken Philosophen Plotin. In Algier widmet er beiden Denkern seine philosophische Lizenziatsarbeit. Und gleich danach macht er seine ersten Versuche als Schriftsteller. Er sieht seine Berufung als Künstler darin, anderen zu helfen, den Lebenssinn inmitten des Unsinns zu entdecken.

1.SPR.:
Als Journalist in Paris weiß er sich dieser Mission verpflichtet. Die Zeitung Combat stand, wie der Name sagt, ganz im Dienst des Kampfes gegen die deutsche Besetzung. Heftig wurden dabei auch Kollaborateure attackiert, jene Franzosen, die sich unter dem Nazi – freundlichen Regime des Marschall Pétain so recht wohl fühlten.

2. SPR.:
Nach der Befreiung Frankreichs durch die Alliierten im August 1944 beginnt aber für Albert Camus ein neuer Kampf, diesmal gegen totalitäres Denken, nun auch in Friedenszeiten. In seinem Roman „Die Pest“ lässt Camus den Arzt Dr. Rieux eine ihm selbst so wichtige Überzeugung aussprechen:

3. SPR..
Diese Freude über das Ende der Pest ist immer wieder bedroht, und die Pest und das schlimmste Übel können jederzeit wiederkommen.

1.SPR.:
Camus tritt leidenschaftlich ein für die Rechte der Menschen, zumal der kleinen Leute; blinden Terror und staatliche Gewalt will er bedingungslos bekämpfen, egal, ob sie von Faschisten oder von Kommunisten verübt werden.
Und genau daran zerbricht die Freundschaft mit Sartre und seinem Kreis, zu dem auch die Philosophen Maurice Merleau – Ponty und Francis Jeanson gehörten. Sie sind überzeugt, die gerechte Welt beginne hinter dem eisernen Vorhang. Die sonst so kritischen Köpfe haben viel Verständnis für die Sowjetunion; sie können es ertragen, dass eine systematische Auslöschung der Opposition politisch notwendig erscheint. Straflager seien nichts anderes als ein notwendiges Mittel, um den guten Zweck des Kommunismus zu befördern.

2. SPR.:
Albert Camus ist über so viel Verblendung entsetzt. Und er ist nicht bereit, um der Freundschaft mit einigen Intellektuellen willen auf sein Mitgefühl für die unschuldigen Opfer zu verzichten. Er ist einer der wenigen Intellektuellen in Paris, die sich mit den Arbeiterprotesten in Ost – Berlin oder Budapest solidarisieren. Seine ehemaligen Freunde wissen nun: Camus gehört nicht mehr zu ihrer Clique. Er ist ein sozialistischer Demokrat; ein Rebell, kein Revolutionär. Darum gilt er nun als Ausgestoßener und Verfemter. Um so mehr verehren ihn seine Leser weltweit: Seine Romane „Die Pest“ und „Der Fremde“ werden in mehr als 45 Sprachen millionenfach verbreitet.

1. SPR.:
Aber äußere Erfolge können ihn kaum trösten. Die Stadt Paris erscheint ihm kalt und fremd. Ein Leben inmitten von Steinwüsten wird ihm zur Last. Er zieht sich in kleinere Städte zurück, nach Avignon oder Angers, erst kurz vor seinem Tod findet er seine wirkliche Heimat inmitten der Schönheit der Provence.

2. SPR.:
Das Leben in den anonymen Großstädten kann Camus nur bestehen mit seiner humanistischen Spiritualität. Sie folgt keiner speziellen Tradition; sie ist sein eigenes, sein schöpferisches Werk. Leitend ist die Überzeugung: Niemand sollte sich einreden lassen, das wahre menschliche Leben beginne erst in ferner Zukunft, etwa in der klassenlosen Gesellschaft oder –religiös formuliert – im Himmel. Wer heute leidet, will trotz allem jetzt sinnvoll leben.

3. SPR.:
Der einzelne Mensch erlebt, dass er sinnvoll leben will, das gehört zu seinem Wesen. Gleichzeitig aber erleben wir, wie unsere Versuche, dem Leben Sinn zu geben, auch wieder scheitern und uns in Verderben ziehen können.

1.SPR.:
Diese Doppelbödigkeit des Lebens ist für Camus bestimmend: Es gibt auf dieser Welt nie das vollständig Gute, es gibt nur die Mischung aus Ja und Nein, aus Glück und dem „Absurden“.

2.SPR.:
In dem Essay „Der Mythos des Sisyphos“ zeigt Camus, wie der Mensch in einer offenbar aussichtslosen Lage doch noch selbst seinen Sinn finden kann: Auch wenn Sisyphus den Stein wieder und wieder auf den Berghang hinaufwälzt und dieser dann am Gipfel sofort wieder hinunterrollt: Sisyphos ist stolz, von so viel Sinnlosigkeit überhaupt zu wissen, also auf sie zu schauen und nicht wie ein Tier an sie gekettet zu sein. Immer bin ich es, der diese Leistung vollbringt. Ich stehe also über dem Mechanismus der Monotonie von Hinauf und Hinunter. Camus schreibt:

3. SPR.:
In diesem Widerstand zeigt sich eine stille Freude. Alles ist gut. Man muss sich Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen. Das Absurde hat nur Sinn in dem Maße, indem man ihm gerade nicht zustimmt .

1.SPR.:
Die Erfahrung von Absurdität und Sinnlosigkeit schließt menschliche Entwicklung und Reifung gerade nicht aus. Denn der Mensch kann immer seine schöpferische Kraft entwickeln und für sein eigenes Leben sinnvolle Horizonte erschließen. Diese Fähigkeit des Geistes befreit aus existentieller Bedrängnis. Camus hat dafür eine Art Formel:

3.SPR.:
Schöpferisch sein, bedeutet zweimal zu leben.

1.SPR.:
Denn es gibt neben dem unmittelbaren, alltäglichen Leben noch das reflektierte, das geistige Leben. Und das ist größer als alle Aussichtslosigkeit oder Gebundensein an schlimme Umstände. Deswegen kommt für Camus auch der Suizid nicht in Betracht. So sehr er selbst mit der Versuchung des Selbstmordes zu kämpfen hatte, etwa als er die Untreue seiner ersten großen Liebe durchmachen musste. Hand an sich zu legen, lehnt er aber grundsätzlich ab: Denn das würde bedeuten, sich dem Absurden zu unterwerfen.

2. SPR.:
Camus, der 1960 bei einem Autounfall aus dem Leben gerissen wurde und dessen Werk unvollständig blieb, hat eine Antwort auf die Frage: Unter welchen Bedingungen sich Menschen der Erfahrung von Sinnlosigkeit widersetzen können Und er verweist auf die ihm eigene Spiritualität: Dieser Begriff war Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts noch auf die enge Kirchenwelt begrenzt, deswegen verwendete ihn Camus auch nicht. Aber seine Äußerungen sind klar: In der tiefen Verbundenheit mit der Natur findet er den Grund seines geistigen Lebens, seine Spiritualität: Er denkt dabei vor allem an die Welt des Mittelmeeres mit ihrer Kraft der Sonne und der unendlichen Weite des See , vor allem aber auch an die Stille der Natur im Abseits der Städte. Er schreibt:

3. SPR.:
Es ist meine schwere Bestimmung, auf heidnischem Boden in einer christlichen Epoche geboren zu sein. In diesem Sinne fühle ich mich den Werten der antiken, griechischen Welt näher als dem Christentum. Griechenland ist für mich nur noch ein langer strahlender Tag und auch eine von Blüten bedeckte Insel, die unablässig auf einem Meer des Lichts dahin treibt. Dieses Licht gilt es festzuhalten.

1.SPR.:
In seinen Romanen und Essays beschreibt Camus, wie im Erleben der Schönheit eine Dimension des Heiligen berührt wird. Für ihn ist dies kein Rückfall in romantische Gefühle, sondern eine moderne Weltsicht, die den Menschen aus der Verkapselung in Individualismus und Egoismus befreien kann. Diese sinnstiftende Gabe der Natur kann nur wahrnehmen, wer sich der Welt geradezu andächtig zuwendet und die Natur nicht dem technischen Zugriff unterwirft. In der Profitgier entstehen nur verwüstete Landschaften. In seinem Buch „Licht und Schatten“ schreibt er – beinahe mystisch bewegt – von einem Besuch in Palma de Mallorca:

3. SPR.:
Wenn ich dort in den Höfen voller grüner Pflanzen und runder grauer Säulen stehen blieb, verschmolz ich mit diesem Geruch des Schweigens. Ich verlor meine Grenzen und war nichts anderes mehr als der Klang meiner Schritte oder jener Vogelschwarm, dessen Schatten ich in der Höhe auf den sonnigen Mauern wahrnahm. Im Schweigen dort fand ich eine neue und doch vertraute Köstlichkeit.

2.SPR.:
Dabei weiß Camus durchaus, dass die Natur doppeldeutig erlebt wird. Die Sonne schenkt zwar Leben; sie kann aber auch mit ihrer unbezähmbaren Kraft vieles vernichten. Nur mit Klugheit und Maß kann sich der Mensch der Natur aussetzen. Dann aber wird er reich beschenkt, gelegentlich sogar in Großstädten, die eigentlich keinen Raum bieten für erhebende Natur – Erfahrungen. In dem von ihm als abweisend und hässlich erlebten Prag wurde Camus eine besondere Erfahrung geschenkt:

3. SPR.:
In einem Barockkloster am Rande der Stadt, ließen die Lieblichkeiten des Augenblicks, der gemächliche, helle Ton der Glocken, die vom Turm auffliegenden Tauben und auch ein Duft von Kräutern ein tränenerfülltes Schweigen in mir entstehen. Es brachte mich der Erlösung auf Haaresbreite nahe.

1.SPR.:
Erlösung erwartet Camus nicht in religiösen Zeremonien der Kirchen. Nur inmitten des Lebens, in einem geschenkten Augenblick der Stille gelingt es, eine Spur der Transzendenz zu sehen. In seinen „Carnets“, den „Tagebuch Notizen“, beschreibt er seine spirituelle Haltung:

3. SPR..
Das Wort Atheismus hat keinen Sinn für mich. Bei mir ist es so: Ich glaube zwar nicht an Gott, ich bin aber auch kein Atheist“.

2.SPR.:
Camus lebt – paradox – in gottloser Frömmigkeit, er kennt die Ahnung des Heiligen, er liebt das Erhabene in der Natur und weiß, dass da jedes Wort nur Fragment ist. Aber er erlebt, wie der Mensch in eine dauerhafte Gegenwart gestellt wird: Die Last der Vergangenheit wird dann ausgeblendet und die Aufgaben der Zukunft werden zurückgestellt. Nur die Gegenwart ist im Naturerleben „da“. Wer dies achtsam erlebt, wird in die Zeitdimension der langen Dauer gehoben, in einen gedehnten, sozusagen stehenden Augenblick. Der fließende Zeitstrom ist überwunden und die Ahnung wird geweckt, was Ewigkeit meinen könnte. Von der Schönheit der Natur unterstützt, wird dabei das Geheimnis allen Lebens berührt. Selbst noch der Mörder Mersault, der Protagonist in dem Roman „Der Fremde“, kann sich in seiner Zelle kurz vor seiner Hinrichtung durch den Anblick der Natur geborgen, wenn nicht gerettet fühlen.

3. SPR.:
Ich bin mit den Sternen über dem Gesicht wach geworden. Geräusche vom Lande stiegen zu mir herauf. Gerüche von Nacht, Erde und Salz erfrischten meine Schläfen. Der wunderbare Frieden dieses schlafenden Sommers drang in mich ein wie eine Flut.

1. SPR.:
Aber für Camus ist Spiritualität kein Selbstzweck. Immer geht es ihm darum, Widerstandsreserven zu wecken inmitten des Alltags. Auch der politische Kampf für die Rechte der Unterdrückten kann niemals auf eine geistvolle Lebensphilosophie verzichten. Wie sollte man denn sonst die vielen kleinen, die vielen frustrierenden Schritte hin zu einer Verbesserung der Welt überhaupt leisten können?

2.SPR.:
Wer die neue, die gerechtere Welt aufbauen will, muss immer auch Nein sagen zu den alten Verhältnissen. Diese Dialektik zwischen Ja und Nein ist entscheidend. Und Camus sieht darin eine Art Urkraft des menschlichen Geistes! In seinem Buch „Der Mensch in der Revolte“ hat er diesen Gedanken weiter entfaltet.

3. SPR.:
Der Revoltierende kämpft für eine Unversehrtheit seines Wesens Und die Bewegung der Revolte beruht auf der kategorischen Zurückweisung eines als unerträglich empfundenen Leidens.

1.SPR.:
Der Mensch muss rebellieren, einfach nur, weil er Mensch ist, das gehört zu seinem Wesen! Dabei ist die Rebellion oder die Revolte grundlegend verschieden von der Revolution. Diese lässt sich von brutaler Macht und tötender Gewalt leiten. Die Einheitspartei im Kommunismus wie im Faschismus maßt sich an, Hort der Wahrheit zu sein und deswegen Menschen auslöschen zu dürfen. Auch in der westlichen Welt, mit ihrer Lust am unbegrenzten Konsumieren und Vernichten der natürlichen Ressourcen, sieht Camus nichts als zerstörerischen Nihilismus, es ist die Ideologie: Alles auf dieser Erde ist letztlich wertlos und deswegen zu verbrauchen.

2. SPR.:
Nur der Rebell, also der „Mensch in der Revolte“, kann dem herrschenden Nihilismus Einhalt gebieten: Camus findet Bündnispartner, denn es gilt, eine breite Bewegung der Solidarität aufzubauen, mit kritischenGewerkschaften vor allem. Er sieht, wie sich rebellische Menschen unterstützen, wenn sie ein gemeinsames, humanes Projekt haben. Camus formuliert diese Einsicht in einer weithin bekannten Formel:

3. SPR.:
Ich empöre mich. Also sind wir!

1. SPR.:
Ein denkwürdiges und anspruchsvolles Wort: Das Lebens Motto von Camus! Denn wenn das Leben wesentlich Protest ist gegen Ungerechtigkeit und Rebellion gegen den Nihilismus, dann erlebt man Außergewöhnliches: Der einzelne weitet sich auf die anderen hin, es entstehen Verabredungen, es wächst Gemeinschaft. Camus betont:

3. SPR.:
In der Revolte zeigt sich eine Bejahung des Lebens; diese Zustimmung übersteigt den Einzelnen. Sie zieht ihn aus seiner Einsamkeit und gibt ihm einen Grund zum handeln. Der Revoltierende kämpft für eine Unversehrtheit seines Wesens. In der Revolte übersteigt sich der Mensch.

2.SPR.:
Auch wenn Camus immer wieder betont, nicht an den Gott der Christen und ihrer Kirchen zu glauben, so ist er alles andere als ein militanter Feind der Religionen. Er meint zwar, die Theologen wüssten zu viel von der göttlichen Wirklichkeit und dem Geheimnis des Lebens. Dennoch ist es für ihn wichtig, mit den Christen zu diskutieren. So folgte er gern einer Einladung der Dominikaner Mönche in Paris und er läuterte ihnen seine religionsphilosophische Haltung:

3. SPR.:
Ich möchte festhalten, dass ich mich nicht im Besitz irgendeiner absoluten Wahrheit fühle, aber auch niemals von dem Grundsatz ausgehen werde, die christliche Wahrheit sei eine Illusion. Vielmehr möchte ich Ihnen sagen, dass die Welt heute ein echtes Zwiegespräch nötig hat.

1.SPR.:
Camus ist überzeugt: Die Zeit ist gekommen, dass sich Ungläubige wie Gläubige vereinen in ihrer Rebellion gegen jegliche Verachtung menschlichen Lebens. Seine christlichen Freunde hat er mehrfach aufgefordert, über die eigenen Dogmen hinauszublicken zugunsten elementarer Lebenserfahrungen. In seinem Buch Licht und Schatten schreibt Camus:

3. SPR.:
Die Welt ist schön. Außerhalb dieser schönen Welt gibt es kein Heil und keine Rettung.

2.SPR.:
Aber der Mensch wird sterben, was kann dann über den Tod hinwegtrösten? 1957 notiert Camus :

3. SPR.:
Wenn ich einmal sterbe, dann wird dieser schöne Ort wie Tipasa am Mittelmeer noch weiter seine Fülle und Schönheit verbreiten. Darin finde ich meinen Trost. Wir entscheiden uns für die treue Erde, das kühne und nüchterne Denken, die klare Tat, die Großzügigkeit des wissenden Menschen. Im Lichte bleibt die Welt unsere erste und letzte Liebe.

1.SPR.:
Wenige Tage vor der Verleihung des Literatur – Nobelpreises im Dezember 1957 in Stockholm formulierte er noch einmal das, was ihn trägt:

3. SPR.:
Wie viele andere Menschen von heute bin ich des Mäkelns und der Bosheit, mit einem Wort, des Nihilismus müde. Was zu verurteilen ist, sollte verurteilt werden! Aber kurz und bündig. Was hingegen noch gelobt zu werden verdient, sollte ausführlich gelobt werden. Schließlich bin ich ja deswegen Künstler. Denn selbst das Werk, das verneint, bejaht doch noch indirekt etwas und ehrt auch so das armselige und herrliche Leben, unser Leben.

Literaturhinweis:
Unter den Werken Albert Camus verdient die neue Übersetzung von „Hochzeit des Lichts“ (übersetzt von Peter Gan und Monique Lang), erschienen im Arche Verlag, Hamburg – Zürich, 2013, besondere Beachtung, zumal im Blick auf das Thema Spiritualität.