Über die Niederlage der Vernunft wegen der Allmacht der Ideologien!

Ein philosophischer Hinweis und ein Projekt der Forschung!
Von Christian Modehn am 14.8.2024

Unsere These: Die allgemeine menschliche Vernunft erlebt deswegen so viele Niederlagen, weil die meisten Menschen Ideologien förmlich „vergöttern“ und nicht dem eigenen kritischen Nachdenken vertrauen.

1.
„Das Unvernünftige setzt sich immer mehr durch“. „Wir erleben eine Niederlage der Vernunft“. Man beklagt zurecht den katastrophalen Zustand des Klimas, der Ökologie, die ungerechte Verteilung des Einkommens, die Ignoranz weltweit gegenüber den Menschenrechten, man verurteilt – ohne Erfolg – den Krieg Putins gegen die Ukraine oder die Bombardements im Nahen Osten, man beklagt die zunehmende (Atom-) Waffenproduktion, den Fundamentalismus in allen Religionen und so weiter und so weiter. Aber Klagen und Jammern ohne Nachdenken, ohne Reflexion, führt zum Populismus, zu den angeblich einfachen „Lösungen“ der Rechtsextremen und Neo-Nazis. Und die machen alles noch schlimmer.

2.
Was kann hier Philosophieren, also die lebendige Übung der Philosophie, leisten? Kann Philosophieren Auswege zeigen? Philosophische Hinweise bieten „nur“ kritische Klarheit im Umgang mit Begriffen und Erkenntnissen zu den vielfältigen Ursachen der „Niederlage der Vernunft“.

3.
Zur Erinnerung: Einst konzentrieren sich Philosophen in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema „Niederlage der Vernunft“ auf das Argument: Die Vernunft ist stets größer als die Unvernunft. Denn nur die Vernunft kann Unvernünftiges als solches erkennen. Vernunft vermag also mehr als Unvernunft, sie ist umfassender als die Unvernunft. Logisch mag dass stimmen. Wer etwa, in einem extreme Beispiel, zugunsten der Unvernunft behauptet: „Hass auf `die anderen` soll gelten,“ muss damit rechnen, auch selbst gehasst zu werden und im Hass umzukommen. Wer kann diesen Selbstwiderspruch seines Denkens ertragen?

4.
Philosophisch sollte klar sein: Es gibt einen allgemeinen Maßstab der selbstkritischen Vernunft, einen Maßstab, der jedem zur Verfügung steht, Unvernunft und Vernunft zu unterscheiden. Es sind die universell geltenden Menschenrechte, sie sind konkreter Ausdruck der allgemeinen humanen Vernunft. Diese Erkenntnis gilt, selbst wenn faktisch, in der Praxis (der Politiker, der Ökonomen, der religiösen Führer etc.), die Menschenrechte – entgegen dem besseren Wissens und Gewissens der Akteure – nicht respektiert werden.
Die einzelnen Formulierungen der Erklärung der Menschenrechte haben eine gewisse Selbst – Evidenz, d.h. kein Mensch, der sich Empathie und Nachdenken bewahrt hat, kann die Menschenrechte ernsthaft für ungültig, für Unsinn, erklären: Er würde sich selbst schädigen. Diktatoren, die Menschenrechte mißachten, müssen sich einmauern und total schützen, weil sie wissen: Ihr Leben und Herrschen ist unmenschlich, und es könnte deswegen von vernünftigen Menschen vernichtet werden. Die Diktatoren wissen also wenigstens ansatzweise, dass sie Verbrecher sind und bestraft werden könnten – von vernünftigen Menschen.
Wichtig ist genauso: Die Menschenrechte in ihrer inhaltlichen Gestalt haben eine lange Geschichte, fragmentarisch langsam erarbeitet von leidenden Menschen vieler Jahrhunderte. Sie litten unter der Willkürherrschaft der Mächtigen.

5.
Die universell geltenden Menschenrechte sind Ausdruck der Vernunft. In ihnen findet sich – bei ständiger Bereitschaft der Weiterentwicklung der Menschenrechte – der humane Geist des Menschen. Die Menschenrechte sind also Normen und Maßstäbe, um konkret Vernunft von Unvernunft zu unterscheiden.

6.
Die universellen Menschenrechte bleiben auch dort gültig, wo sie nicht respektiert werden. Sie sind zwar in Europa im Rahmen der Philosophie der Aufklärung zuerst formuliert worden, aber sie sind deswegen nicht bloß relative Produkte eines nur “regionalen europäischen Denkens“. Die Opfer in den Lagern, Gefängnissen, Folterkammern der autoritären Diktaturen, die zum Schweigen gebrachten Journalisten und „normalen Oppositionellen“, verlangen weltweit heute wie schon zuvor immer nur das eine: Die Geltung der Menschenrechte. Die Menschenrechte sind also universal, sie sind auch eine spirituelle Quelle des Widerstandes gegen die zum Unrechtsstaat verfestigte Unvernunft. Die Menschenrechte sind, philosophisch – metaphysisch gesagt, in die Herzen der Menschen, aller Menschen geschrieben, selbst wenn viele Menschen, Politiker, Führer, Rassisten usw. die Stimme der Menschenrechte in ihrer Vernunft gewaltsam zum Schweigen zu bringen versuchen.

7.
Aber: Welchen Sinn hat es überhaupt, von „der“ Unvernunft“ und „der Vernunft“ zu sprechen? Unvernunft und Vernunft benennen einen Zustand, sozusagen eine Gestalt des „objektiven Geistes“, wie Hegel sagte. Die Frage ist dann entscheidend: Wer oder was hat denn den Zustand von Unvernunft bzw. der Vernunft geschaffen und produziert? Die Antwort ist klar: Es sind immer Menschen, die sich in ihrer Freiheit für bestimmte Projekte entscheiden, diese sind dann entweder Ausdruck von Vernunft oder Unvernunft oder eine „graue Mischung“ von beidem. Dann muss geklärt werden: Ist die Vernunft in dieser trüben Melange noch zu retten?

8.
Sprechen wir also immer von Menschen in ihrer Entscheidungsfreiheit, wenn wir über Unvernunft und Vernunft nachdenken. Wir müssen die Subjekte, die Organisationen nennen, die unvernünftige Verhältnisse schaffen. Und die wir als solche kritisieren und einschränken. Es gilt also von Lobbygruppen zu sprechen etwa in der Beeinflussung der Politiker… Diese Lobbygruppen wollen etwa als Verteidiger der Auto-Industrie unbedingt ein Tempolimit verhindern, was insgesamt unvernünftig ist, nebenbei gesagt: Wie selbst der ADAC sagt. Aber diese unvernünftigen Lobby – Machthaber und die ihnen gewogenen Parteien (FDP) setzen sich durch und verlängern unvernünftige Umwelt – Verhältnisse… Aber, Gott sei Dank, es gibt ja Wahlen in Deutschland!

9.
Unvernünftige Zustände sind „materiell“, objektiv gesellschaftlich sichtbarer Ausdruck ethisch fehlgeleiteten, unvernünftigen Entscheiden und Handelns. Das Unvernünftige ist auch, wenn Entscheidungen von einst, die jetzt als unvernünftig erkannt werden, nicht korrigiert werden. Man denke an bestimmte grundlegende Elemente der demokratische Verfassung und des Wahlsystems der USA (Beispiel: Wahlmänner). Und ist das Wahlsystem Frankreichs (Mehrheitswahlrecht) der Weisheit letzter Schluss? Kritiker sagen zurecht: Die Macht des Präsidenten in Frankreich erinnert an die Macht der Könige einst. Immerhin wurde bei der Abschlussveranstaltung der Olympiade in Paris am 11. August 2024 nur die Melodie der Marseillaise gespielt, nicht aber auch noch der widerliche kriegerische Text dieser Nationalhymne gesungen! Ein richtiger Schritt, sich von unvernünftigem alten Schrott zu befreien, so sehr auch manche diesen noch lieben…

10.
Die Niederlage der Vernunft bedeutet immer die Niederlage des Denkens vernünftiger Menschen und das Versagen der Menschen im Gebrauch der Vernunft. Es gibt sicher auch eine Art Gewöhnung „in die Unvernunft hinein“. Diese Unvernunft verfestigt sich, objektiviert sich und wird als das Normale und Übliche empfunden. Unvernunft bestimmt dann den Alltag. In einer solchen Un – Kultur der Unvernünftigen ist es für den einzelnen schwer, sich seiner eigenen Vernunft zu „bedienen“. Unvernunft – in der ganzen Vielfalt beginnt bei schlichtem Blödsinn bis hin zur Kriegs-Propaganda – und ist immer Ausdruck menschlicher Entscheidungen. Sie ist also eine miserable Gestalt des menschlicher Geistes, also der Freiheit, der Vernunft.

11.
Die Konsequenz ist: Es müssen Reserven vernünftigen Widerstands gepflegt oder erst aufgebaut werden.

12.
Unvernunft hat ihre Ursache in der schwer bezwingbaren Macht des Egoismus von Einzelnen und Gruppen, Lobby – Gruppen, Parteien, Religionen usw. Und der vielfältige Egoismus bedient sich der Ideologien – um die eigenen, unvernünftigen Denkmodelle und Handlungsweisen zu verschleiern oder mit einem gewissen Glanz aufzuwerten. Ideologien sind die „Verkleidung“ der verschiedenen Formen des Egoismus, Nationalismus, Rassismus, Fundamentalismus („Ich habe die Wahrheit“) usw.

13.
Die kritische Reflexion über Ideologien ist ein „sehr weites Feld“. Hier können nur einige Elemente zum Verstehen der Macht der Ideologie genannt und zur Diskussion werden.

14.
Jeder Mensch gestaltet sich im Laufe seines Lebens sein Selbstverständnis. Darin weiß der Mensch – oft noch umthematisch – was ihm in seinem Leben wichtig sein soll. Der Aufbau dieses Selbstverständnisses ist ein Prozess während des ganzen Lebens. Ergeben sich starke Vorlieben, Sehnsüchte, werden Ideale propagiert, dann greifen Menschen – auch aus Bequemlichkeit – auf vorhandene Lebenslehren, also Ideologien, zurück.

16.
Ideologien beziehen sich auf Ideale, also auf globale Entwürfe von Vorstellungen, „wie das Leben, mein Leben, eigentlich sein sollte“. Ideologien sind also ausführlich gestaltete Theorien, die Idealen einen Ausdruck geben wollen.
Die expliziten Überzeugungen, Anschauungen von der Welt und der Gesellschaft, also die universell geltenden Menschenrechte, sind keine Ideologien. Ideologien sperren sich gegen kritische Selbstreflexionen, dies gilt nicht für Erklärung der allgemeinen Menschenrechte!

17.
Die Ideologien nehmen einen Ausschnitt der Lebenswirklichkeit für das Ganze des Lebens des einzelnen und der Gesellschaft: Und sie reden den Leuten ein: Dieser Teil sei das Wichtigste und absolut zu Verteidigende im Leben, also etwa der Nationalismus, der Rassismus, der Antisemitismus, der Konsumismus usw. In den meisten europäischen Sprachen, so auch in der deutschen, haben Ideologien die typische – ISMUS Endung: Faschismus, Kommunismus, Stalinismus, Kapitalismus, Liberalismus, Sozialismus, Kolonialismus, Machismus, Feminismus, religiöser Fundamentalismus und so weiter.

18.
Jeder Mensch, der sich – oft noch unbewusst – einer Ideologie anschließt, sucht also Schutz in einem verengten geistigen Gehäuse, er will sich davor bewahren, sich selbst eigene Gedanken über den Zustand des eigenen Selbst und der Welt zu machen und eigenständig Entscheidungen zu treffen. Ideologien haben eine – letztlich schädliche Funktion.

19.
Ideologien decken sozusagen die „nackte“ (noch vor-ideologische) geistige Existenz zu. Kann der Mensch ohne diese ideologische Verkleidung leben? Er braucht wohl immer Ideale und Wahrheiten: Nur muss jeder wissen: Jedes Ideal, jede Wahrheit muss ich selber prüfen, der Maßstab wurde schon genannt! Und wenn ich ein Ideal habe, etwa einer Religion angehöre, dann immer in dem Bewusstsein: Das ist mein Ideal, meine Religion, die darf ich anderen nicht aufdrängen oder gar versuchen, sie mit Gewalt, Krieg, durchzusetzen. Jeder kann ja seine absolute Lebensweisheit haben, aber es wäre Wahn zu meinen: Was ich glaube, sollen alle anderen auch glauben!

20.
Mit der Übernahme von Ideologien werden Menschen blind für das Wahrnehmen der ganzen Wirklichkeit in ihrer Vielfalt und Fülle. Ideologien schränken die Freiheit der Wahrnehmung ein. Sie sind wie ein Panzer, der den Menschen und seine weitgehend stillgelegte Vernunft einsperrt! (Siehe auch Fußnote 1).
Ideologisch gebundene bzw. ideologisch verseuchte Menschen leben mit anderen Menschen in einer Art Kampfmodus: Wer nicht meiner Ideologie entspricht, ist tendenziell mein Feind. Der Patriarch von Moskau, Kyrill I., liefert die Kriegs – Ideologie für Putin. Der Patriarch behauptet, dieser Aufruf zum Töten des ukrainischen Feindes sein Theologie. LINK
Leider hat der Weltrat der Kirchen in Genf den Kriegstreiber Kyrill noch immer nicht aus diesem ökumenischen Weltrat rausgeworfen.

21.
Kann der Mensch vernünftig, also „unideologisch“, sozusagen „nackt“, allein mit seiner eigenen Vernunft, leben? Oder ist seit jeder Kindheit aufgrund der Erziehung immer das Hineingestelltseins des einzelnen in einen ideologischen Zusammenhang üblich und geradezu normal? Das wird so sein.
Ich meine aber, dass gerade der Mensch erst reif und als vernünftig – erwachsen gelten kann, wenn er dieses sein Hineingeworfensein in eine fixe Ideologie der Eltern usw. erkennt und dann als Beschränkung seiner Lebenswirklichkeit überwindet, mindestens eingrenzt. Erst dann entsteht das entscheidende, allein geistiges Leben fördernde anti – ideologische Bewusstsein: „Ich bin zuerst Mensch mit allen anderen Menschen, alle sind als Menschen gleichberechtigt, sollen die selben Lebenschancen haben.“
Dieses Wissen kann als das allgemeine Menschheitswissen gelten, es liegt noch vor jeder Ideologie. Dieses allgemeine Menschheitswissen muss immer der kritische Impulse sein, wenn man sich im Laufe seines Lebens mit den sich aufdrängenden Ideologien auseinandersetzt. Denn diese Ideologien werden immer werbend als „die“ Lösung auftreten, etwa Konsumismus, „Haben ist wichtiger als Sein“, „Gott wird nur in dieser meiner Kirche richtig gelehrt“ usw.

22.
Ideologien als Verwirrungen, als Zerstörungen der Vernunft, werden seit einigen Jahren mit aller ökonomischen Gewalt bestimmter Milliardäre durch die sogenannten neuen Medien verbreitet. Tiktok, Telegram, Facebook und vielen anderen Plattformen sind auf die Denk – und Sehgewohnheiten junger Menschen adaptiert. Und auf diese Plattformen, sozial genannt, verbreiten sich „Influencer – Prediger“ mit ihren Ergüssen Werbevideos: In der Rezeption dieser Unvernunft endet vieles mit Gewalt. Ein Beispiel: Der Verfassungsschutz etwa spricht von der „Tiktokisierung des Islamismus“. Der Staatsschutz ist angesichts dieser Unvernunft oft hilflos. Das ist die große Frage, auf die Demokratien dringend eine Antwort geben müssen: Etwa: Wie lässt sich der Multi – Milliardär Elon Musk in seinem totalen Einfluss innerhalb der sogenannten sozialen Medien stark einschränken?

20.
Wer gegen den offensichtlichen Sieg der Unvernunft (und es sind die Unvernünftigen, die siegen!) noch in letzter Minute etwas unternehmen möchte: Der (oder die) setze sich mit der Allmacht der Ideologien auseinander. Sie werden nur von schwachen Menschen bevorzugt, Menschen, die den Verzicht aufs eigene Denken und politische Urteilen bequem finden. Kant schon recht: Was trotz allem hilft: „Bediene dich deines eigenen Verstandes und deiner eigenen Vernunft“.

Fußnote 1:
Wenn in einer streng katholischen Familie ein Familienmitglied aus der Kirche austritt oder Protestant wird, dann wird dieser „Übeltäter“ aufgrund des katholischen Fundamentalismus aus der Familie ausgeschlossen. Das war früher in Deutschland und weiten Teilen Europas geradezu üblich, dieses inhumane Verhalten (gab es auch bei Protestanten) kommt aber auch heute noch vor. Im islamischen Raum gelten diese Erfahrungen bis heute! Konversionen vom Islam weg sind persönlich meist eine Gefahr für Leib und Leben. So wird Religion als Ideologie sichtbar. So viele Millionen religiöser Menschen leben im ideologischen – religiösen Kampfmodus…unter dem die anderen leiden müssen, wenn sie nicht Widerstand gegen die Ideologien leisten.

COPYRIGHT! : Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon, Berlin.