Grenzgänge – Gespräche mit Menschen, die nach Gott oder dem Göttlichen suchen.

Über ein neues Buch des Theologen Stefan Seidel, Leipzig

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.

„Gott“ ist – auch jetzt – ein missbrauchtes Wort. Die Herren mit höchster politischer Macht, gemeint sind die Diktatoren und Verbrecher, sind so unverschämt, ihre Herrschaft mit „Gott“ zu legitimieren. Die Rede von Gott verkommt zur politischen Ideologie auch bei „prominenten“ Kirchenführern, man denke an Kyrill, den Patriarchen von Moskau, oder an Führer evangelikaler Kirchen in den USA, Brasilien, Südkorea, Uganda, Nigeria usw. Überall fördern diese angeblich Frommen eine gewisse Verdummung der religiösen Menschen mit ihrem Beharren auf ein wortwörtliches Verstehen von Bibelsprüchen. Als könnte Gott ALS Gott höchstpersönlich direkt zu uns sprechen…welch ein Wahn.
Man denke auch an den Papst und katholische Bischöfe, die, angeblich von Gott als Klerus auserwählt, gegen das Selbstbestimmungsrecht und die Gleichheit von Frauen sowie gegen das Recht auf Ehe von Homosexuellen kämpfen. Vom ideologischen Missbrauch Gottes im Islam und in jüdischen Traditionen (siehe die rechtsextremen Politiker im Staat Israel) wäre zu sprechen, vom gewalttätigen Hindu-Nationalismus ebenso, von den Göttern der Konsumwelten und des Kapitalismus, von den Star – Fußball – Helden in Argentinien wäre zu reden, die wie Lionel Messi oder zuvor schon Maradona als Messias, also wie Götter, massenweise verehrt werden.
Kein Mensch bei klarer Vernunft darf heute auf die Frage verzichten: Wie kann ich heute überhaupt von Gott noch sprechen? Oder sollten wir nicht eher verstummen? Angesichts universellen Missbrauchs des Namens Gottes eine viel zu wenig diskutierte Option…

2.

Das ist evident für alle, die noch reflektierte Lebenserfahrungen mit dem Göttliche haben: Sie können das Wort Gott nur noch verwenden, um für eine vernünftige und freie und zugleich spirituelle Gottlosigkeit von allen diesen genannten Götzen und Göttern einzutreten. Nur der von diesen Göttern radikal Befreite ist derjenige, der einen wahren Gott, den unnennbar Ewigen, umschreibend und suchend und fragend und skeptisch benennen kann…

3.

Es gehört also viel Mut dazu, von dem vielfältigen „Gott“ zu sprechen. Die Lösung heißt: Sprechen wir – so der Titel des neuen Buches von Stefan Seidel – von Gottsuchern. Wer Gott sucht, zweifelt heftig an seinem angelernten, geglaubten, angeblich gefundenen Gott, er ist selbstkritisch, will raus aus dem Gefängnis der transzendenten Sicherheiten. Und beginnt, für Gott neue, immer vorläufige, immer irgendwie relative Namen zu suchen. Der (die) Absolute könnte es sein, oder besser der (die) Ewige oder der Sinngrund, oder der Eine und die Einzige, oder „die Liebe über aller Liebe“.

4.

Darauf besteht derAutor Stefan Seidel zurecht und das ist durchaus originell: Wer nach Gott fragt, ist ein Grenzgänger.
Wer aber ist ein Grenzgänger beim Fragen nach Gott? Es ist ein Mensch, der alles Weltliche als Endliches erkennt und zu überschreiten sucht, der sich mit dem nur Irdischen und nur Endlichen niemals zufrieden gibt. Menschen genießen die Kraft des Geistes und der Vernunft, um nicht im bloß Weltlichen festzustecken. Erst wer die Grenze des Endlichen, also sich selbst überschreitet, kann überhaupt wissen, was es bedeutet, das Endliche als Endliche zu erleben. Wirklichkeitserfahrung ist ohne ständige Grenzgänge nicht möglich und undenkbar. Hegel kann uns das lehren: Wir sollten also in dem Sinne immer Grenzgänger sein. Wer aber oft Grenzen überschreitet, bemerkt die Grenzen gar nicht mehr, fühlt sich im neuen, dem überschrittenen „Territorium“ zuhause. Findet eine neue Heimat jenseits der Grenzen.

5.

Die LeserInnen dieses Buches werden hineingeführt in den kritischen Umgang mit dem gleichzeitig Gewissen wie Ungewissen, dem Deutlichen wie dem Dunklen, dem „Gott in uns“ und dem „Gott außerhalb von uns“. Stefan Seidel hat sich Gesprächspartner gesucht, die wissen, wie falsch die Wiederholung der traditionellen Dogmen ist, wie einschränkend die eingeübten Floskeln und Formeln der Kirchen sind: Diese können keine Wegweiser sein „über die Grenze hinaus“ in ein neues, befreites Leben. Vielleicht suchen viele, die diese Kirche als zahlende Mitglieder verlassen, dieses spirituelle Leben jenseits bisheriger Grenzen?

6.

Gesprächspartner Seidels sind vor allem SchriftstellerInnen, zwei Musiker, eine Tiefenpsychologin und auch sieben TheologInnen, aber die sind keine strengen Dogmatiker… der Vatikan und die Landeskirchenämter sind weit weg. Diese in sich vielfältige Gemeinschaft der GrenzgängerInnen stammt überwiegend aus Deutschland (wie Daniela Krien, Christian Lehnert, Patrick Roth, Ingrid Riedel…), aber auch eine Norwegerin Hanne Orstavik) kommt zur Wort, ein Tscheche (Tomas Halik) usw… Immer aber sind es Menschen, die mehr die Mystik leben und lieben als die Sprachen und die Denkgewohnheiten der Institution Kirche. Das ist entscheidend: Nur weil die Interview-PartnerInnen Distanz haben zu den üblichen religiösen Bindungen, können sie inspirierend und deswegen weiterführend sprechen. Stefan Seidel schreibt in seinem Vorwort. „Heute braucht es viele einzelne unorthodoxe, kreative Stimmen, die gewissermaßen als Mystikerinnen und Mystiker von heute -die Sicht auf den Horizont der Horizonte wiedereröffnen und uns dabei helfen, in einem tieferen Verbundensein mit allem zu ankern“ (S. 18).
Die neunzehn Gottsucher haben eine gemeinsame Spiritualität: Sie ist mit der Mystik verbunden. Mystik ist dabei alles andere als eine Erfahrung von Wundern und erhebenden Momenten, nicht das Verzückten von Gott und den Heiligen, Mystik ist die nüchterne, reflektierte Form der mehr geahnten, mehr gefühlten Verbundenheit mit dem Unendlichen und Ewigen.

7.

Die 19 Interviews können hier natürlich nicht im einzelnen besprochen werden.
Allen Interviews stellt Stefan Seidel biografische und eher werkgeschichtliche Hinweise voran. Seine Fragen haben eine feste Struktur: Seidel fragt eingangs nach der eigenen Gotteserfahrung und dem „Gottesbegriff“, und es scheint sein Lebensthema zu sein, immer wieder auch nach dem „Sprung in den Glauben“ im Sinne des Philosophen Kierkegaards zu fragen.Und so oft fordert der Autor am Ende eines jeden Gesprächs auf, über die persönliche Bedeutung von Sterben und Tod und der Auferstehung Jesu von Nazareth zu sprechen. So zeigt sich eine gewisse metaphysische Dimension. Denkbar wäre ja auch, immer wieder am Ende der Gespräche nach der Hoffnung zu fragen, die sich im politischen Engagement zugunsten der Millionen arm gemachter Menschen zeigt oder in der Mitarbeit in NGOs zugunsten eines letzten Rettungsversuches von Natur und Klima. Oder im Kampf gegen den Rechtsradikalismus, der sich überall (AFD, FPÖ, Fratelli d Italia, Le Pen Frankreich usw.) ausbreitet.

8.

Auf eine GesprächspartnerIn soll hier etwas ausführlicher hingewiesen werden.
Viele LeserInnen, wie der Autor dieser Rezension, werden sich freuen, ein längeres Interview mit der aus Südkorea stammenden Theologin Tara Hyun Kyung Chung zu lesen. Es ist ein überraschendes Erlebnis der eigenen eurozentrischen Begrenzung sich einzugestehen, dass diese außergewöhnliche Theologin hierzulande kaum bekannt ist: Christliche Gemeinden und ihre TheologInnen kreisen in Deutschland um sich selbst, wissen so wenig, wie viele Inspirationen gerade ChristInnen aus dem Süden dieser Welt bieten. Frau Chung, geboren 1956, lebt und arbeitet seit einigen Jahren in New York, sie hat unter der koreanischen Diktatur Widerstand geleistet und gelitten, hat den Buddhismus nicht nur studiert, sondern ihn als buddhistische Nonne praktiziert. Frau Chung versuchte, das enge eurozentrische und oftmals nationale Denken der europäischen Protestanten zu weiten, als sie auf der 7. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Canberra, Australien, im Jahr 1991, eine neue ökumenische Spiritualität aus Korea nicht nur in Worten beschrieb, sondern ihr leiblichen Ausdruck im Tanz verlieh. Das war damals für viele ein Skandal. Tara Hyun Kyung Chung ist eine außergewöhnliche Grenzgängerin: Theologin, Buddhistin, Therapeutin. Stefan Seidel schreibt: „Das entscheidende Kriterium religiöser Wahrheit ist für Frau Chung, ob diese Wahrheit zur lebensspendenden Kraft wird, mit der wir unser Leben erhalten und befreien können“ (S. 187).

9.

Der bekannte schwedische Dirigent Herbert Blomstedt erläutert, wie beim genauen Hören von Musik eine Spiritualität entstehen kann, „wo man sich von der Gottheit angesprochen fühlt“ (S.288).
Der bekannte Lyriker und Theologe Christian Lehnert beantwortet die Frage Stefan Seidels: „Wie kann heute von Gott gesprochen werden?“ „Vielleicht mit einer Wiederentdeckung der Poesie des Glaubens. Christentum ist kein System von Aussagen. Es geht nicht darum, was man sagen kann, sondern darum, was sich in der Sprache vollzieht, welche Kraft in der Sprache entsteht. Es geht darum, ein Spannungsfeld in der Sprache zu schaffen, das eine Beziehung zu Gott ermöglicht“ (S. 72).

10.

Der bloß angenommene, nur angelernte und übernommene Glaube, so schreibt Seidel im Gespräch mit der norwegischen Schriftstellerin Hanne Ørstavik, ist in der Gefahr, eine „Spielart der Macht und Manipulation und Lenkung“ durch andere zu sein, es gelte, hin zu einem „wahrhaftigen Glauben zu gelangen, und der ist eine „ureigene Rückbindung an das göttliche Ganze“ (S. 83).

11.

Grenzgänger sind die wahren spirituellen und theologischen LehrerInnen…Wer nicht religiöser Grenzgänger ist, bleibt ein Gefangener in seiner kleinen endlichen Welt. Grenzgänger können auch Friedensstifter, vielleicht Vermittler des Friedens sein. Denn sie sind in mindestens zwei verschiedenen Welten zu Hause.
Stefan Seidel: Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen. Claudius-Verlag München 2022. 26,00 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Karsamstag – Gedenken an den toten Gott?

Jesus von Nazareth, der „Sohn Gottes“:  Tot in seinem Grab. Und auch Gott ist tot?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Es wird Zeit, der Gedankenlosigkeit oder Oberflächlichkeit zu widerstehen. Wir sollten vernünftig verstehen, was christliche Gedenk-Tage und Feier-Tage bedeuten können… etwa der „KARSAMSTAG“. Das ist, so wird hier gezeigt,  keine spekulative Spielerei. Wenn Gott wenigstens für kurze Zeit tot war, können sich doch Atheisten freuen. Und Christen mit ihnen.

1.
Einige haben den Tag zwischen Karfreitag und Ostersonntag den Samstag des „toten Gottes“ genannt. Was für ein treffender Titel! Vielleicht zeigt sich da ein für Atheisten und Christen gemeinsamer Feiertag, ein gemeinsamer Gedenktag? Welch eine Herausforderung für eine wirklich umfassende Ökumene aller Menschen, also einer Gemeinschaft, die sich nicht durch enge konfessionelle Strukturen, sondern von der menschlichen Situation angesichts von Leben und Tod bestimmt. Eine Utopie? Vielleicht.

2.
Zu der Überzeugung, dass Gott selbst tot im Grab liegt, sind religiöse Menschen gekommen durch theologische Poesie, ein Lied des Mainzer Jesuiten Friedrich von Spee. Er, der Feind aller Hexenverfolgungen, hat seine Verse 1628 geschrieben, zu Beginn des allgemeinen Abschlachtens der Christen untereinander im „Dreißigjährigen Krieg“. Die Strophe des Jesuiten hat den theologisch wahrlich umwerfenden Text: „O Traurigkeit, o Herzeleid, ist das denn nicht zu klagen! Gottes Vaters einigs Kind wird zu Grab getragen.“
Gott des Vaters „einigs Kind“ – es ist jenes „Kind Gottes“, das ganz “EINS” ist mit Gott dem Vater im Himmel… dieses “Kind” ist in der klassischen Theologie Jesus von Nazareth. Mit dem sterbenden und toten Kind Gottes, Jesus, liegt also auch Gott selbst im Grab. Sind doch Christen wie auch der Jesuit von Spee vom Einssein Gottes mit Jesus überzeugt. So liegt also Gott selbst tot im Grab. Und noch zugespitzter gesagt im Denken der klassischen Theologie: Zwei „Personen“ der Trinität sind tot. Nur der Heilige Geist, in der klassischen Theologie die dritte „Person“ der Trinität, lebt weiter, der Geist ist ewig.

3.
Es ist die Mühe wert, sich auf ein Intermezzo einzulassen und die Rezeption dieser Strophe und des dann weiter gedichteten Liedes „O Traurigkeit, o Herzeleid“ zu bedenken. Der protestantische Theologe und Poet Johann Rist hat 1641 die Strophen 2 bis 6 hinzugefügt.

Christen, selbst die „rechtgläubigen“, die dogmatisch korrekten Protestanten und Katholiken, haben diese Strophe des Jesuiten Friedrich von Spee in ihre Gesangbücher aufgenommen. In dem katholischen Gesangbuch „Ehre sei Gott“, Berlin 1958, ist es unter der Nr. 58 mit diesem Text aufgeführt. Auch die späteren Neuauflagen (etwa „Gottlob 1975) haben den Text so, wie er ist, beibehalten, das gilt auch für die evangelischen Gesangbücher (1993), dort die Nr. 80.
Hingegen wurde die zweite Strophe dieses Liedes, geschrieben von dem protestantischen Pfarrer und Dichter Johann Rist, von Katholiken verändert. In der ursprünglichen Fassung von Johann Rist heißt es in der zweiten Strophe „ O große Not! Gottes Sohn liegt tot…“, so im „Evangelischen Kirchen-Gesangbuch von 1951 wie auch in der Neuausgabe des evangelischen Kirchengesangbuches von 1993.

Theologische Angst vor einem „toten Sohn Gottes“ bekamen hingegen die Katholiken. Und so folgen sie nicht dem Text des Protestanten Johann Rist. Und behaupten in ihrer katholischen Fassung der 2. Strophe: „O höchstes Gut, unschuldiges Blut. Wer hätt dies mögen denken, dass der Mensch seinen Schöpfer sollt an das Kreuz aufhenken“.
Diese katholische Formulierung „der Mensch hängt seinen Schöpfer ans Kreuz“ ist für fromme Gemüter auch sehr irritierend und äußerst gewagt: Nicht mehr nur Gottes Sohn (Jesus) ist tot, sondern nun auch sogar der Schöpfer selbst, also Gott Vater! Und zwar wurde Gott selbst von Menschen ans Kreuz gehängt, wie es in der zweiten Strophe heißt. Gott ist also durch die Tat der Menschen gestorben. Diese hier zitierte zweite Strophe von „ O Traurigkeit, o Herzeleid“ ist tatsächlich die Nr. 188 im offiziellen katholischen Gesangbuch für Deutschland, Österreich, Brixen und Lüttich enthalten!

4.
Dieser Hinweis war notwendig, um Probleme beim Verstehen des Karsamstag deutlich zu machen. Dieser Samstag heißt immer noch der Karsamstag, das Wort „Kar“ stammt vom althochdeutschen Kara und bedeutet: Kummer und Trauer. Der Karsamstag ist also der Kummer-Samstag, der Trauersamstag. Wenigstens für diesen einen Tag ruht tatsächlich auch heute noch der ganze übliche kirchliche Betrieb, also auch das Feiern von Messen und Gottesdiensten, wenigstens an diesem einen Tag, dem Karsamstag, so will die katholische Kirchenführung, soll in ihren Kirchengebäuden förmlich „toten Stille“ oder besser „Stille des Toten Christus oder des toten Gottes“ herrschen. In den katholischen Kirchen ist der Altar leer geräumt, es gibt keinen Blumenschmuck, in manchen Kirchen wurde früher sogar ein Sarg, als Symbol des Grabmals Jesu, aufgestellt.

5.
Der Karsamstag ist also eingefügt zwischen dem Kar-Freitag, dem Kreuzestod Jesu, und dem Sonntag, dem Tag der Auferstehung Jesu, dem Tag, an dem Jesus siegreich den Tod überwunden hat und mit verklärten Leib der Gemeinde erscheint. So formuliert die klassische Theologie der Rechtgläubigen, der Katholiken und Protestanten, das Oster-Geschehen – in dem eigenes konstruierten „Kirchenjahr“. In diesem kirchlichen Jahresablauf hat der tote Jesus von Nazareth als „Gottes eigenes Kind“ nur einen einzigen Tag der Toten-Ruhe, nach dem Tod am Kreuz geht es nach dem Intermezzo des Karsamstags gleich siegreich und erfreulich und voller Wunder mit Jesus weiter, wie es die vier Evangelisten sehr bildhaft und extrem, unkontrolliert enthusiastisch beschreiben.

6.
Der Karsamstag als Tag der Leere und des toten Jesus (bzw. des toten göttlichen Weltenschöpfers, wie es das Lied sagt) war und ist den Kirchen immer irgendwie peinlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass dieses Lied in der Zeit vor Ostern in den Messen oft gesungen wurde. Es ist ein Fremdkörper. Der tote Jesus, oder kirchlich-dogmatisch, der tote Jesus Christus oder sogar der „ans Kreuz gehenkte Schöpfer“, stören den Betrieb einer runden, alles wissenden und immer positiv gestimmten Theologie. Es gibt fast keine theologischen Studien zum toten Jesus (Christus) im Grab als Leiche. Es gibt also keine ausgebreitete und aktuelle Theologie des Karsamstags, die doch inspirierend sein könnte angesichts der Erfahrung vieler Menschen vom toten Gott.

7.
Denn der Gedanke könnte doch sein: Die Menschen haben „Gottes eignes Kind“ getötet, sie haben sogar den Schöpfer der Welt ans Kreuz gehenkt, wie es im Lied heißt. Die Menschen als Mörder Gottes, oder allgemeiner gesagt: Die Menschen als Mörder des Göttlichen, des Ewigen, des Heiligen – welche Provokation. Die Menschen haben die Idee Gottes ausgelöscht. Ist dieser Gedanke heute so abwegig, wenn wir an die Allmacht der Menschen in anderen Bereichen denke, in der Technik, der atomaren Rüstung, der systematischen Zerstörung der Natur, des Klimas, der Umwelt. Drückt „die letzte Generation“ nicht genau diese Erfahrung aus?

8.
Könnte Karsamstag nicht ein Tag werden, an dem das Schweigen in den Kirchengebäuden für eine Stunde unterbrochen werden sollte, etwa durch Lesungen, etwa aus Nietzsches Rede des tollen Menschen in dem Buch „Also sprach Zarathustra“: Nur ein kurzer Auszug:

„Wohin ist Gott?” rief der tolle Mensch, “ich will es euch sagen! 
Wir haben ihn getötet – ihr und ich!  
Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht?  
Wie vermochten wir das Meer auszutrinken?  
Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? 
Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun?
Wohin bewegen wir uns? 
Fort von allen Sonnen? 
Stürzen wir nicht fortwährend?  
Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? 
Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?  
Haucht uns nicht der leere Raum an? 
Ist es nicht kälter geworden? 
Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?…..

9.
Friedrich Nietzsche könnte also der Philosoph des Karsamstags sein. Und der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider könnte mit seinen Notizen “Winter in Wien” ein Theologe des Karsamstags werden. LINK. Als musikalische Inspiration zu Veranstaltungen an Karsamstag könnte die “Liturgie pour un Dieu mort” (“Liturgie für einen toten Gott”) wichtig sein, siehe die CD unter diesem Titel, der Komponist ist Charles Rabvier (1934-1984).

Auch andere Philosophen haben von Karsamstag gesprochen, etwa der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Er spricht in seiner Frühschrift „Glauben und Wissen“ (1802) von Karfreitag, ausführlicher dann wieder in seinen „Vorlesungen zur Philosophie der Religion“, die er viermal in Berlin vorgetragen hat. Dort sagt Hegel: „Gott ist gestorben. Gott ist tot. Dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden“ (Suhrkamp, Theorie Werkausgabe, Band 17, S. 291). Man sollte diese Worte einmal mit Nietzsches “tollem Menschen” vergleichen….Aber für Hegel ist der Tod Gottes nur ein vorübergehendes Moment im Leben Gottes: Und dieses Leben des göttlichen Geistes ist von der Dialektik der Vernunft bestimmt: Das Negative (Tod) muss also sein, aber es wird überwunden, “aufgehoben”! Gott erhält sich selbst in seinem Tod, er ist stärker als der Tod, so dass der Tod Gottes förmlich nur ein kurzfristiger Irrtum des Betrachters ist. Hegel schreibt im Anschluss an das genannte Zitat: „Es findet eine Umkehrung statt: Gott nämlich erhält sich in diesem Prozess, und dieser ist nur der Tod des Todes. Gott steht wieder auf zum Leben!“ (ebd.) Und später sagt Hegel. „Es ist die unendliche Liebe, dass Gott sich mit dem Fremden (d.i. dem Tod) identisch gesetzt hat, um es, das Fremde, also den Tod, zu töten“ (S. 292).

10.
Der Philosoph Hegel denkt die Lehre des protestantischen Christentums seiner Zeit in philosophischen Begriffen, so hofft er, auch die unkirchlichen, die skeptischen Zeitgenossen für den zentralen Inhalt des christlichen Glaubens interessieren zu können. Einige Jahre vor Hegel hat der Dichter Jean Paul (1763-1825) eine „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“ formuliert (1797), aber Jean Paul hat den Toten Christus vorsichtshalber nur als Traumgestalt beschrieben. LINK

11.
Eine starke Bedeutung für aktuelle Reflexionen und Diskussionen haben freilich die oben genannten Ausführungen Nietzsches. Von ihm stammt auch die aktuelle Frage: „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ Auch diese Frage stammt aus der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1887, III, Buch, Nr. 125: Dort heißt es: “Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“
Mit diesem Thema hat sich als einer der wenigen Theologen der niederländische Augustinerpater Robert Adolfs auseinandergesetzt: LINK  Robert Adolfs  Buch erschien 1966 unter dem Titel „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ (Styria Verlag auf Deutsch).
Robert Adolfs hat seinem Buch ein Zitat des Jesuiten Alfred Delp vorangestellt, der als Widerstandskämpfer gegen die Nazis am 2. 2. 1945 in Plötzensee hingerichtet wurde. Alfred Delp schrieb kurz vor seinem Tod: „Die Kirche steht durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise sich selbst im Wege. Ich glaube, über all da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von dieser Daseinsweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen“.
Die katholische Kirche wird für viele spirituelle Menschen besonders heute zum Grab Gottes: Das ist eine empirisch belegbare Tatsache. Man denke an den sexuellen Missbrauch durch Priester und Ordensleute, an die vielfache Korruption in den so genannten „neuen geistlichen Gemeinschaften“, an den immer noch herrschenden Klerikalismus und die ungebremste unkontrollierbare Allmacht des Klerus: All das vertreibt die Gläubigen aus der Kirche, sie sehen in ihrer dogmatisch erstarrten Kirche „Das Grab Gottes“. Und wollen auferstehen…

12.

Und was ist mit dem Grab Jesu? Ist es leer seit dem Ostermorgen? Vernünftige und kritische Theologen sagen nein. Die Überzeugung, dass Jesus von Nazareth auferstanden ist und lebt, kommt ohne den “Glauben” an das leere Grab aus. Jesu Körper bleibt im Grab, so ist es bei allen anderen Menschen. Aber: Jesu Geist lebt, sein Geist hat den Tod überwunden, so wie der Geist eines jeden Menschen den Tod überwindet. Wie genau der Geist im Ewigen lebt, das wissen wir nicht. Aber es bleibt dabei: Der Geist ist das Ewige im Menschen. Auch im Menschen Jesus von Nazareth.  Siehe auch den Hinweis zur “Auferstehung Jesu – vernünftig verstehen”: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Picasso und das Christentum: Überlegungen anläßlich des 50. Todestages Picassos am 8.April 2023.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.

Picasso hat seine Distanz gegenüber dem christlichen Glauben und der katholischen Kirche oft geäußert. Deswegen ließ er sich zur Mitarbeit an der inzwischen berühmten „Künstler-Kapelle“ von Assy (Savoyen) nicht gewinnen. Pater Alain Couturier, Künstler und Kunstexperte, hatte ihn – wie etliche andere andere Künstler – dazu eingeladen. Auch die Mit-Gestaltung der Rosenkranz-Kapelle in Vence bei Nizza (eingeweiht 1951), von Matisse gestaltet, hat Picasso abgelehnt.
Picasso,1881 in Malaga geboren, kannte den volkstümlichen Katholizismus Spaniens der Prozessionen und Heiligenverehrung, mit der Bindung des Klerus an die herrschenden Großgrundbesitzer. In Barcelona lernte er die frühe anarchistische Bewegung kennen, die auch die mächtige Klerus-Herrschaft bekämpfte. 1901 kam er in Paris an und war dort mit einer katholischen Kirche konfrontiert, die noch um Macht und Einfluss kämpfte. Erst 1905 wurden Kirchen und Staat getrennt. Es war der Klerikalismus, den Picasso stark ablehnte. Seine eigene, ungewöhnliche, nicht den kirchlichen Dogmen konforme Spiritualität zeigt er in seinen Werken. Man muss sie nur suchen.

2.

Vor allem ein – vom Umfang her – kleines Gemälde aus dem Jahr 1930 kann als eine der wenigen expliziten Darstellungen Picassos christlicher Motive gelten: die „Kreuzigung“. In einigen Zeichnungen (1929) hat Picasso dieses Gemälde vorbereitet: Eine weibliche Gestalt, mit dem Kopf nach unten, umschließt die Beine Jesu von Nazareth am Kreuz. Der Kunsthistoriker Horst Schwebel über diese enge Verbindung von Jesus und der Frau: „Dieses Bild ist eindeutig als Koitus zwischen dem Gekreuzigten und der Frau zu verstehen“ („Die Kunst und das Christentum“, München 2022, S. 160). Eine provokative Deutung des kirchlich gepredigten „Erlösungsgeschehens“ am Kreuz, auf die dann Picasso letztlich doch verzichtete: In dem Ölbild von 1930 ist dieses Motiv nicht mehr sichtbar.

3.

Man wird auch „Die Kreuzigung“ von 1930 mit der Lebensgeschichte Picasso verbinden müssen, es ist die letzte Zeit der Ehe mit der Tänzerin Olga Koklowa, die Ehe erlebte Picasso in ihrer letzten Phase als unerträglich…
Das kleine Gemälde „Kreuzigung“ (jetzt im Picasso Museum in Paris) hatte für Picasso immer eine große Bedeutung, er hat es bis zu seinem Tod nicht weggegeben (verkauft), sondern bei sich behalten. Das Gemälde erschließt sich dem Betrachter nur mit viel Ausdauer.
Der Betrachter ist gewarnt, durch die Hinweise des Kunstkritikers John Berger („Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso”, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 44), beim Verstehen der Arbeiten Picassos zu sehr aufs begriffliche Verstehen zu setzen: „Picasso leugnet die Kraft der Vernunft…Er hasst jede verstandesmäßige Erklärung und verachtet Ideen“ (S. 43 f.). Dennoch ist es normal, dass sich die Betrachter auch der “Kreuzigung“ eigene Gedanken machen… und die haben immer eine sprachliche, eine begriffliche also dann doch vernünftige Struktur…

4.

Zum Gemälde „Kreuzigung“:
Jesus am Kreuz ist von kleiner Gestalt, dabei eher an eine Skizze erinnernd, die Person ist kaum wahrzunehmen. Der Gekreuzigte wird in heller, weißer Umgebung dargestellt. Sonst dominieren die Farben Gelb, Rot, Orange, aber Schwarz als üblicher Ausdruck der Trauer wird vermieden. Der in heller, lichter Umgebung Hängende ist umstellt von Figuren, die man als bedrohlich und ungeheuerlich mit aufgerissen Maul deuten kann. Wollen sie die schmale Jesus-Gestalt verschlingen? Man entdeckt, wie ein Typ in die rechte Hand Jesu einen Nagel hämmert, eine andere Gestalt sticht mit in einer Lanze in Jesu Körper. Ein weibliches Wesen, ist es Maria (?), kann erahnt werden. Sie ist wie Jesus selbst eher schemenhaft dargestellt, dabei erscheint sie eher unsympathisch, aber offenbar abwehrend-aggressiv gegen die Widersacher?
Zu denken geben die hellen Farben, die Picasso für diese Darstellung von Leiden und Gewalt und Tod Jesu wählt: Picasso sieht offenbar in diesen lichtvollen Farben, dass der Gekreuzigte schon den Tod überwunden hat.

5.

Der in Künstler-Kreisen damals sehr bekannte Dominikanerpater Marie-Alain Couturier ( 1897-1954) stand auch mit Picasso in Verbindung. (Quelle: http://forezhistoire.free.fr/pierre-couturier.html) Pater Couturier hat die Darstellung christlicher Motive durch eher kirchenferne Künstler stets unterstützt und verteidigt. Zusammen mit dem Dominikaner Pater Pie R. Régamey (1900-1996) hatte er einige Jahre die angesehene Zeitschrift „l Art sacré“ geleitet, der Grundsatz dieser Zeitschrift war: Das Können der Künstler ist wichtiger als deren konfessionelle Bindung oder religiöse Orientierung. Er wandte sich gegen alle schlichte, bloß erbauliche Kirchen-Kunst. Die große intellektuelle Offenheit machte ihn in klerikalen Kreisen nicht gerade beliebt. Sein Freund Pater Regamey sagte: „Jedes gute Gemälde ist in sich edel und fromm und von daher geeignet, Gott zu ehren, ohne dass dazu der übernatürliche Glaube nötig sei“ (Régamey, „Kirche und Kunst im 20. Jahrhundert“, Graz-Wien, 1954, S. 245.)

6.

Vermag der Betrachter des Gemäldes „Kreuzigung“ (1930) die bei Picasso oft erlebte Erfahrung zu machen, förmlich hineingezogen zu werden in das Bildgeschehen? Wer etwa den „Spiegel“, 1932, oder den „Weiblicher Akt“,1939, betrachtet, ist geradewegs gezwungen, alle übliche Distanz zum Bild aufzugeben und ins Bild „hineinzutreten“ und auf vertraute Interpretations-Konventionen zu verzichten. Beim Gemälde „Kreuzigung“ ist die Erfahrung prägend, „dass das Minimum an Abstand“ (John Berger, S. 132) gegenüber dem Gemälde doch noch erhalten bleibt.

7.

Spiritualität im Werk Picassos sollte also gerade außerhalb der expliziten „christlichen Darstellungen“ zu suchen sein.
Der „frühe“ Picasso zeigte in Paris (etwa 1904) ein starkes Interesse und eine Leidenschaft für die armen Menschen, für jene, die aus der Gesellschaft ausgestossen waren.Man denke etwa an das Gemälde „Das kärgliche Mahl“ von 1904. „Das (hungernde) Paar verlangt nur das (eigene) Kranksein, um damit das von der Bourgeoisie monopolisierte und vulgarisierte Wohlbefinden zu beschämen. Es ist die entsetzliche Überlegenheit (des armen Paares)“, schreibt John Berger über dieses Picasso-Gemälde (a.a.O.,S. 54). Auch das berühmte Gemälde „Les Demoiselles d Avignon“ (von 1907) gehört in seiner kraßen Darstellung der fünf nackten Frauen zu den frühen Provokationen Picassos, zu seiner Kritik an der so genannten Zivilisation, die für ihn nichts als dekadent ist. Auch in diesem frühen Eintreten Picassos für die Armen und Ausgestoßenen zeigt sich eine Form von Spiritualität, die dem Geist des armen Jesus von Nazareth so fern bekanntlich nicht ist. Insofern ermuntert Picasso dazu, das ungewöhnliche Gesicht des Christlichen, des Jesuanischen, zu suchen und vor allem Spiritualität von Kirchenbindung zu unterscheiden.

8.

Auch beim bekanntesten Gemälde Picassos „Guernica“ (1937 ) werden spirituelle Dimensionen und eine Verbundenheit mit christlichen Traditionen vielfach besprochen. Das Gemälde entstand als Versuch einer Antwort auf die zerstörerische Gewalt der deutschen („Legion Condor“) und italienischen Faschisten, sie hatten die kleine, hilflose baskische Stadt Guernica 1937 in einem Bombenangriff fast total vernichtet, etwa 2.000 Tote sind zu beklagen.
Picasso hatte sich mit dem Isenheimer Altar auseinandergesetzt, das ist bekannt, und manche Betrachter des Gemäldes Guernica entdecken etwa das Motiv der Pietà in „Guernica“. In jedem Fall ist dieses Gemälde deutlicher Ausdruck für den Willen Picassos, mit seiner Kunst an der Seite der Leidenden, der Ausgegrenzten, der Opfer sinnloser Gewalt zu stehen.

Dabei ist nicht zu übersehen, dass in “Guernica”, von der Wahl der Farben her, eindeutig eine pessimistische Grundstimmung sich offenbart, durch die Schwarz-Weiß und GRAU Töne, die dominieren. Es ist, angesichts des Niedergangs der Macht der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg, ein Dokument der Trauer, vielleicht ein ahnungsvolles Zeugnis des Nahen der Finsternis…(siehe dazu Werner Spiess, Picasso – Die Zeit nach Guernica”, Hatje Verlag Stuttgart  1993, “Picasso”, S. 18 ff.).

1955 wird das riesige Original „Guernica“ im Haus der Kunst in München gezeigt. „Doch es dient dort nicht zur Aufklärung über die Luftangriffe der deutschen Legion Condor auf den baskischen Ort Guernica. Das ist besonders auffällig“, erklärt Julia Friedrich, Kuratorin im Museum Ludwig in Köln, „wenn so ein Bild, das die Verbrechen der Legion Condor zeigt, im Haus der Kunst in München präsentiert wird und dieser Zusammenhang ausgeblendet wird, sodass sich die deutschen Besucher, die dieses Bild angucken, mit den Opfern auf dem Bild identifizieren können, obwohl sie dem Kollektiv der Täter angehört haben.“ (Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-geteilte-picasso-im-osten-verehrt-als-kommunist-im-100.html, vom 25.9.2021). Und dieses ignorante Verhalten damals ist sicher typisch für den Umgang der frühen BRD- (Kultur)-Politiker mit der Vergangenheit, den Verbrechen des Nazi-Deutschland.

Über Picassos innere Verbundenheit mit der Kommunistischen Partei Frankreichs, der er 1944 beitrat und aus der nie austrat, müsste in dem Zusammenhang weiter nachgedacht werden. Und muss bedenken: Die Kommunisten und ihre Partei PCF galten in Frankreich als die stärksten Kräfte der Résistance gegen die Herrschaft der Nazis in Frankreich unter dem Pétain-Regime.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Sexueller Missbrauch durch einen hochrangigen Priester im Spanien des 17. Jahrhunderts: „Der Prozess versandete“…

Eine historische Studie zum sexuellen Missbrauch.

Ein Hinweis von Christian Modehn, zuerst veröffentlicht 2021, aktualisiert am 23.7.2023

1. Zur Einführung:

Die Geschichte der Homosexuellen war und ist eine von der heterosexuellen Mehrheit ignorierte Leidensgeschichte. In 69 Staaten wird auch heute noch, 2023, Homosexualität strafrechtlich verfolgt, in 11 Staaten droht Homosexuellen die Todesstrafe. Quelle: LINK   
Ohne körperliches Leiden, ohne Verfolgung, ohne Scheiterhaufen konnten nur einige wenige prominente Homosexuelle, modern gesprochen ohne „Outing“, überleben, es waren Fürsten und Päpste, Bischöfe und Pfarrer und Ordensobere und „einfache Mitglieder“ von Ordensgemeinschaften.
Und wie bei der jeder Geschichte von unterdrückten Minderheiten gibt es, abgesehen vom Judentum, auch keine ausgebreitete, gründliche Forschung zur Geschichte der Verfolgung der Homosexuellen, obwohl etwa in Spanien und Italien viele Dokumente zur Verfolgung und Ausrottung der Homosexuellen durch die katholische Inquisition in den Archiven vorliegen.

2.

Es ist förmlich ein Glückstreffer, wenn man in Deutschland Beiträge kirchenunabhängiger Historiker findet zu dem Thema. Ich empfehle die Lektüre des Aufsatzes von Prof. Raphael Carrasco „Sodomiten und Inquisitoren im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts“. Die Studie ist erschienen in dem Sammelband „Die sexuelle Gewalt in der Geschichte“, hg. von dem Historiker Alain Corbin, Wagenbach Verlag, 1992, dort S. 45-58. Die französische Ausgabe erschien 1989. Das Buch ist auf Deutsch nur noch antiquarisch verfügbar…

3. Über den sexuellen Missbrauchs eines spanischen Priesters aus dem Merzedarier-Orden im 17. Jahrhundert , dargestellt von Raphael Carrasco, siehe die ausführliche Darstellung:  LINK.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Die Auferstehung Jesu: Ostern ist das Fest des Ewigen im Menschen.

Ein Hinweis von Christian Modehn (März 2023).

Ostern ist mit der entscheidenden Einsicht verbunden: Jeder Mensch hat Anteil am Ewigen, am Göttlichen. Nur deswegen kann der Tod ein Übergang sein in eine neue geistige Wirklichkeit. Diese Einsicht hat Jesus von Nazareth vermittelt.

1.

Das Thema “die Auferstehung Jesu von Nazareth“ verweist auf die schwierige Frage: Gibt es eine Form der Überwindung des Todes, also ein „Weiterleben“ nach dem Tod?
Theologien und Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phien können auf das Thema nicht verzichten,  sie haben es mit der Lebensgestaltung, auch mit Sterben und Tod, zu tun. Hier wird eine der Vernunft verpflichtete Interpretation des Auferstehung Jesu von Nazareth vorgestellt. Und diese vernünftige Deutung ist einfach, verglichen mit dem Wortschwall der vielen bloß subjektivistischen, fundamentalistischen streng – kirchlichen Deutungen der Auferstehung Jesu.

2.

Am häufigsten wird bis heute in den Kirchen gelehrt und gepredigt: „Jesus ist seinem Grab entstiegen, und er ist als der leibhaftig Lebendige der Gemeinde erschienen.” Er ließ sich sogar körperlich berühren (vgl. die Erzählung vom „ungläubigen Thomas“)… Und später ist der Auferstandene “leibhaftig in den Himmel aufgefahren“. Diese sehr schlichte, aber regelmäßig bis heute verkündete Lehre hat den christlichen Glauben zu einer mysteriösen “verzauberten” Angelegenheit gemacht. Die üblichen Worte der Kirchen zur Auferstehung wecken kein nachvollziehbares Verstehen, sondern sie verbreiten den Nebel des Mysteriösen. So rutscht der christliche Glaube an die Auferstehung Jesu in den Bereich der Märchenerzählungen ab, aus Angst der Prediger und Theologen vor der Vernunft!

Man denke auch an die zahllosen Gemälde etwa aus der Barockzeit, die den Auferstandenen leibhaftig in der Welt herumlaufend zeigen oder das leere Grab mit schlafenden Grabeswächtern und siegreichen Engeln. Angesichts so viel wunderbaren Zaubers sagen dann viele Gläubige verzaubert: „Nach meinem Tod gibt es für mich im Himmel das große Wiedersehen mit den Eltern und dem lieben Onkel Heinrich und der Tante Charlotte“.
Man muss diese private Spiritualität als Meinungsäußerung respektieren, aber sie hilft nicht zu einer reflektierten Spiritualität der Menschen im 21. Jahrhundert. Sie hilft nicht zu einer reifen Spiritualität reifer, d.h. kritisch nachdenklicher, vernünftiger Menschen des 21. Jahrunderts.

3.

Die Frage ist also: Soll die Auferstehung Jesu von Nazareth ein zauberhaftes Ereignis in einer wunderbaren Welt des Ostermorgens voller frommer Phantasien bleiben? Oder sollte die Auferstehung Jesu von Nazareth mit dem einen Satz erläutert werden: „Die Freunde Jesu erkennen bald nach seinem Tod: Wie Jesus als der “Auferstandene” haben alle Menschen in ihrem Geist Anteil am Ewigen, es ist der Geist des Ewigen, der göttliche Geist, der den Tod eines jeden, auch den Tod Jesu, überwindet. Es geht um ein ewiges, geistiges „Leben“, nicht um ein leibliches.“

4.

Die zentrale Erkenntnis heißt: Nach seinem Tod wird Jesus von der Gemeinde, nach einer Phase der Trauer und des Entsetzens über seinen Tod am Kreuz, als der Lebendige erkannt. In ihrem Nachdenken über Jesus von Nazareth wendet sich die Gemeinde noch einmal dem Leben und den Lehren ihres Propheten Jesus von Nazareth zu: Und sie entdeckt: Dieser Jesus von Nazareth war von außergewöhnlicher geistiger Kraft in seinem Umgang mit den Menschen, in ihm selbst wurde die göttliche Wirklichkeit deutlich. Die Gemeinde erkennt also das Göttliche, das Ewige, im “irdischen” Leben Jesu von Nazareth. Und dieses Göttliche, dieses Ewige kann nur eine geistige Realität sein, sie kann als das Ewige im Menschen nicht sterben. Jesus nannte den Ewigen stets seinen Vater, er fühlte sich als sein „Sohn“, und lehrte zugleich: “Ihr Menschen seid – im Bild gesprochen – ebenfalls Söhne und Töchter des Göttlichen, des Ewigen, meines und unseres „Vaters“ im Himmel”.

Weil die Menschen Anteil haben am Ewigen, sind sie in der Lage, Jesus als den Auferstandenen zu erkennen.
Im „Neuen Testament“ gibt es vier unterschiedliche Erzählungen über diese Einsicht der Gemeinde: „Unser Freund und Lehrer Jesus von Nazareth, der „Menschensohn“, ist nicht in das Nichts des Todes verschwunden. Wir erfahren und verstehen kraft unseres Geistes IHN als eine bleibende, geistige Präsenz über den Tod hinaus.“

5.

Diese Erzählungen von der Auferstehung Jesu im Neuen Testament sind keine Tatsachenberichte! Kein Journalist, kein Historiker, hat die Auferstehung Jesu gesehen. Die Auferstehungs-Erzählungen des Neuen Testaments beziehen sich nicht auf ein datierbares Ereignis. Sie sind Mythen, d.h. Erzählungen von Menschen, die mit diesem Jesus persönlich und voller Liebe verbunden waren und nach seinem Tod gemeinsam zu neuen, überraschenden Erkenntnissen kommen.

6.

Die Erzählungen von der Auferstehung Jesu sind Mythen. Der Theologe Rudolf Bultmann nannte sein Programm das „Entmythologisieren“ der biblischen Erzählungen, und er meinte damit überhaupt nicht die Zerstörung des Inhalts von Mythen, sondern die Übersetzung der Mythen in nachvollziehbare moderne Sprache. Nur dann können etwa die Mythen der Auferstehung als Lebensorientierung uch heute gelten.
Lebensorientierung anbieten – das ist der Sinn von christlichen Erlösung. Von Erlösung spricht die Kirche ständig, aber was Erlösung inhaltlich nachvollziehbar bedeutet, wird meist ins Imaginäre, Phantastische geschoben, etwa in die Ideologie der Befreiung von der sogenannten Erbsünde.
Die Erkenntnis vom „Ewigen“ in jedem Menschen kann als Erlösung verstanden werden, im Sinne der Befreiung von der Angst, im Tod ins Nichts zu versinken. Es ist der Geist als die Präsenz des Ewigen, der als Geist den Tod eines jeden Menschen überwindet. Weitere Details zum „himmlischen Weiterleben“ zu nennen, würde nur zu haltlosen phantasievollen Spekulationen führen.

7.

Es bleiben Fragen zu den Mythen der Evangelisten: Etwa zum leeren Grab Jesu: Das Grab Jesu kann gar nicht leer sein, Auferstehung ist, wie gerade betont, ein geistiges Geschehen. Jesu Körper blieb also im Grab, und er wurde – geistig – als der Lebendige erfahren. Die Kirchen erlauben seit einiger Zeit auch die Feuerbestattung, offenbar wissen sie: Der Verstorbene lebt, geistig, auch wenn sein Körper zu Asche wurde.
Und nebenbei: Wäre der Auferstandene mit seinem alten, gekreuzigten Körper „auferstanden“, hätte er ja als ein Mensch noch einmal sterben müssen, was wäre dann aber passiert? Ein erneuter Prozess gegen ihn, den Kritiker des strengen religiösen Systems? Sinnlose Spekulationen sind das.
Der katholische Theologe Hans Kessler, Autor einer umfassenden Studie zum Thema, schreibt: „Wenn vom leeren Grab gesprochen wird, so ist dies nur eine Veranschaulichung der Auferstehung Jesu, ein Bild, ein Symbol, das die Erzählung farbiger machen soll. Der Osterglaube wird nicht vom leeren Grab begründet. Der Gedanke des leeren Grabes ist kein notwendiger Bestandteil des christlichen Auferstehungsglaubens. Eine im Grab aufgestellte Video-Kamera hätte den Auferstehungsvorgang nicht aufgenommen. Wer als religiöser Mensch auf einem leeren Grab besteht, leugnet das Menschsein Jesu Christi. Aber dass Jesus ganz Mensch ist, bleibt eine unaufgebbare Einsicht der Christenheit“. Zum Buch von Hans Kessler: LINK

8.

Die erste schriftliche Äußerung hat der Apostel Paulus im Jahr 50 in seinem „Ersten Brief an die Gemeinde in Thessalonich“ notiert, also knapp 20 Jahre nach Jesu Tod am Kreuz. Auch Paulus nennt kein Datum der Auferstehung. Er kennt aber den bereits lebendigen Auferstehungsglauben der Gemeinde, er spricht von der gemeinsamen, alles entscheidenden Überzeugung: „Wenn Jesus gestorben ist, dann wird Gott durch Jesus auch die Verstorbenen zusammen mit ihm zu Herrlichkeit führen“ (4. Kapitel, Vers 14). Mit anderen Worten: Die Verstorbenen werden wie Jesus „auferstehen“. Damit sagt Paulus in seinen Worten das aus, was oben gezeigt wurde: Weil alle Menschen im Geist mit dem Ewigen verbunden sind, werden auch sie – wie Jesus – “zur Herrlichkeit Gottes” gelangen. Der katholische Theologe Giuseppe Barbaglio von der Universität Mailand schreibt in der theologischen Zeitschrift CONCILIUM (2006): „Jesus Christus ist als der Auferstandene unser älterer Bruder. Was ihm widerfuhr, wird uns widerfahren. Seine Auferstehung ist das Anheben unseres neuen Lebens … und unserer Auferstehung“.

9.

Die Rede vom „Ewigen im Menschen“ hat als notwendigen theologischen Hintergrund eine vernünftige Deutung des biblischen Bildes von der „Schöpfung“ der Welten durch Gott oder das Göttliche oder den Ewigen.
Nur diese kurze Erläuterung: Wenn „Gott“, der Ewige, die Welten „schafft“, dann kann Gott, der Ewige, dies nur realisieren, wenn diese Welten mit ihm, dem Göttlichen, verbunden sind. Wären die geschaffenen Welten total selbstständig, also außerhalb der Wirklichkeit des Ewigen, dann wäre Gott nicht mehr der Göttliche, der Alles Stiftende und Umfassende. Die gottlose Welt wäre eine Konkurrenz zu einem Gott, der dann keine göttlichen Qualitäten mehr hätte.
Die Welt und die Menschen können also nur in einer tiefen geistigen Verbundenheit mit Gott, dem Ewigen, dem lebendigen GEIST, verstanden werden. Eine Überlegung, die vor allem der Philosoph Hegel vorgetragen hat.

10.

Die Welt als eine „Schöpfung des lebendigen göttlichen Geistes“ verstehen: Dies ist das einzige Wunder, mit dem sich kritisches theologisches Denken beim Verstehen der Auferstehung auseinandersetzen muss. Andere „Wunder“ braucht kein Christ, kein religiöser Mensch. Der evangelische Theologe Prof. Stefan Alkier (Uni Frankfurt.M) schreibt in seinem Buch „Die Realität der Auferstehung“ (2009) diese entscheidenden Sätze: „Die Welt, alles Leben und auch das je meinige Leben entspringen […] nicht einem blinden Zufall, sondern der intentionalen Kreativität des sich liebevoll in Beziehung setzenden Gottes…Wer diese Hypothese nicht teilt, kann auch nicht mit den Schriften des Neuen Testaments […] von der Auferweckung Jesu Christi und der Hoffnung auf die Auferweckung der Toten sprechen“ (S. 238).

11.

Die Gegenwart des Ewigen wird inmitten des Lebens erfahren und nicht nur theoretisch gedacht. Das ist die Überzeugung der frühen Christengemeinde, die der  Autor des 1. Johannesbriefes im Neuen Testament ausspricht, es ist ein Text, der am Ende des 1. Jahrhunderts geschrieben wurde. Der Autor schreibt:
„Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod”. (1 Joh 3, 14). Und im 4. Kapitel, Vers 12, heißt es: “Niemand hat Gott je geschaut, wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet”.

Mit anderen Worten: In der Liebe wird das Ewige in diesem menschlichen Leben erfahren.

Nur weil die Menschen lieben, also Liebe (er)leben (und Liebe ist immer mehr als Caritas, sie ist immer auch erotische Liebe), erfahren sie und denken sie das Göttliche, das im Menschen lebt. Dieses inmitten des Lebens präsente Göttliche wird den Tod überdauern. Diese Erkenntnis spricht der 1. Johannes Brief lapidar aus im Vers 6, Kap. 4: „Wir aber sind aus Gott”.

12.

Die Auferstehung Jesu sollte eine Lebensphilosophie inspirieren. Die Theologin Elisabeth Moltmann – Wendel schreibt: „Wenn wir aufmerksam werden auf die verwandelnden Kräfte, die schon hier unser Leben verändern, die uns anders sehen, fühlen, hören, schmecken lassen, dann können wir auch erwarten: Solche Kräfte werden nicht mit unserem biologischen Leben zu Ende sind. Wir können dem Schöpfersein Gottes zutrauen, dass es Energien gibt, die über unseren eigenen Lebenshorizont hinausreichen“.

13.

Kann die hier angedeutete Interpretation der Auferstehung Jesu von Nazareth “trösten”?
Sterben und Tod gehören zwar zum „Wesen“ der Menschen, aber das Sterben wird verschieden erlebt und erlitten: Im Krieg viel brutaler genauso auch in Hungerkatastrophen, dieses Sterben ist gewalttätiger als in einem gepflegten Hospiz in Europa. Immer sollte es dabei um die gemeinsame Frage gehen: Wie hätte das vorzeitige Sterben noch verhindert werden können? Durch eine Friedenspolitik, durch eine solidarische Politik…
Aber selbst wenn diese Fragen durchgearbeitet sind, drängt sich die eine Frage auf: Ist mit dem Tod alles vorbei? Ist das Versinken im Nichts die Antwort? Waren die jungen Soldaten im Krieg Russlands gegen die Ukraine nichts als „Kanonenfutter“, nur „lebendes Fleisch“, das dann durch den „Fleischwolf“ des Krieges geschickt wurde, wie kürzlich ein Kriegsreporter in einer Talkshow sagte?
Wer an das Versinken des Verstorbenen im Nichts behauptet, verkündet seine Glaubensüberzeugung, genauso wie es eine Überzeugung, eine Glaubenshaltung ist, die Ewiges im Menschen, in jedem Menschen, erkennen kann.
Angesichts des Todes denken – dabei kann man, wie immer bei existentiellen Fragen, keine Evidenz erreichen, wie man sie in den Naturwissenschaften oder der Mathematik gewöhnt ist. Eigentlich ist dies eine Selbstverständlichkeit.

14.

Diese Überlegungen haben auch politische Bedeutung. Wenn die Menschen wissen, sie sind mit dem Ewigen verbunden, dann haben alle Menschen eine besondere Würde. Dabei ist die wesentliche Gleichheit aller Menschen der Mittelpunkt der Menschenrechte, eine Gleichheit, die im Zusammenleben in einer gerechten Weltordnung realisiert werden muss.
Inspirierend bleibt dabei das „Auferstehungsgedicht“ des Schweizer Dichters Kurt Marti (1921-2017).
„Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn erst nach dem Tod Gerechtigkeit käme,
erst dann die Herrschaft der Herren,
erst dann die Knechtschaft der Knechte
vergessen wäre für immer!
Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn hier auf der Erde stets alles so bliebe,
wenn hier die Herrschaft der Herren,
wenn hier die Knechtschaft der Knechte
so weiterginge wie immer.
Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden,
ist schon auferstanden und ruft uns jetzt alle
zur Auferstehung auf Erden,
zum Aufstand gegen die Herren,
die mit dem Tod uns regieren!“

15.

Die vielen Millionen und Milliarden Leidender, Verfolgter, vor Hunger Sterbender, von den Kriegstreibern Getöteten: Was bedeutet für sie die Auferstehung? Darauf wird es keine evidente Antwort geben. Aber der in diesem Beitrag mitgeteilten Überzeugung folgend kann man denken: Sie haben als Menschen am Ewigen Anteil . Wer solches denkt, ist empört, dass für so viele Millionen Menschen auch heute nur der Gedanke an ein “ewiges Leben des Geistes”  sinnstiftend sein kann. Weil die herrschenden Menschen, die “Herrenmenschen” in der reichen Welt und die Herrenmenschen (Diktatoren) in der armen Welt, weiterhin weithin ohne Einschränkung so viel Unmenschlichkeit anrichten dürfen – vor den Augen der weithin hilflos gemachten “Bürger” dieser Länder.

16.

Ostern sollte also auch ein politisches Fest sein, das Fest der universalen gleichen Würde aller Menschen.
Dass diese gleiche Würde aller Menschen endlich Realität wird, ist die zentrale Aufgabe der Kirchen, wenn sie behaupten, dem Auferstandenen zu folgen. Aber die Kirchen sind zur Zeit fixiert auf sich selbst, zumal die katholische Kirche („Synodaler Weg“, Zölibat etc.), so dass sie ihre entscheidende Aufgabe der Weltgestaltung beinahe vergessen. Diese Weltgestaltung wird in dem schönen biblischen Symbol „Reich Gottes“ ausgedrückt, als einer Welt der Gerechtigkeit und des Friedens. Darin liegt der Lebenssinn für Menschen, die sich Christen nennen.

17.

Gilt die Auferstehung auch für die schlimmsten Verbrecher, Kriegstreiber, Mörder, Diktatoren? Dass sie als Menschen die Chance hatten, der vernünftigen Kraft ihres Geistes und ihrem Gewissen zu folgen, steht außer Frage. Nur: Sie haben sich dann im Laufe des Lebens stets für das Böse entschieden. Und sie sind dabei selbst böse geworden und haben sich damit selbst bestraft. Was mit diesen Leuten sozusagen post mortem passiert, entzieht sich jeder ernsthaften philosophischen oder theologischen Aussage… Die klassische Theologie kennt die neutestamentliche Erzählung vom “Endgericht” – und da wird eine deutliche Sprache gesprochen.

18.

Ich habe schon mehrfach Hinweise zum Thema “Die Auferstehung Jesu von Nazareth vernünftig verstehen” publiziert, etwa in einer Ra­dio­sen­dung für den RBB im April 2016, der TEXT: LINK

Und speziell ein Hinweis “Kant und die Auferstehung Jesu”: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

„Verräterkind“: Ein Roman von Sorj Chalandon. Widerstand in Frankreich gegen ein autoritäres Regime.

Der Roman hat zwei „Protagonisten“: Klaus Barbie, den „Schlächter von Lyon“ und einen Kollaborateur, den Vater des Autors.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Ein neuer Roman des französischen Autors und Journalisten Sorj Chalandon (geb.1952) mit dem Titel „Verräterkind“ (DTV, 2022, übersetzt von Brigitte Große): Über die Literaturkritik hinaus ist der Roman ein Anlass, weiter zu fragen. Was bedeutet die Kollaboration vieler Franzosen mit den Nazis? Warum sollte die Résistance in Deutschland (wieder) entdeckt werden? Wer unterstützte den „Schlächter von Lyon“, den SS-Mann und Gestapo-Chef Klaus Barbie, nach 1945? Und wie ist die Beziehung der Katholiken zu Pétain und der Résistance?

Teil 1: Hinweise zum Roman „Verräterkind“

1.
Der Roman spricht von Verbrechen der SS in Frankreich, besonders von den Untaten des Gestapo-Chefs Klaus Barbie in Lyon von Februar 1943 bis September 1944.
Im Mittelpunkt: Der Prozess gegen Barbie in Lyon im Jahr 1987.
Parallel dazu erzählt Sorj Chalandon von der Geschichte seines Vaters in der Zeit des Pétain – Regimes. Er war damals ein „salaud“, ein Dreckskerl, sagte der Großvater dem Enkel. Und dieser Typ, so will es der Autor, tritt dann im Roman als Beobachter des Barbie-Prozesses auf, während sein Sohn Sorj zugleich im Gerichts-Saal anwesend ist. Er berichtet als Journalist für die Pariser Tageszeitung „Libération“.
Sorj Chalandon muss gleichzeitig zwei unterschiedliche Prozesse verarbeiten: Den gegen Barbie und seinen privaten Prozess, den er nun gegen seinen Vater, den „Dreckskerl“, führen will. Er will ihm zeigen, dass er die Wahrheit über den „Verräter-Vater“ kennt.

2.
Der Roman ist unter dem Titel „Enfant de salaud“, also: „Kind eines gemeinen Kerls“, eines „Dreckskerls“, erschienen. Der französische Titel ist umfassender und deutlicher als „Verräterkind“. Der Vater des Autors hat sein Kind und die Mutter Jahre lang belogen, seine wahre Identität verschwiegen und riesige Lügenwelten, angeblich heldenhafter Taten, von sich selbst verbreitet. Die Realität ist: Er hat sich als Kollaborateur durchgeschlagen. Nach dem Ende des Pétain-Regimes wurde er angeklagt, verurteilt und zwei Jahre, von 1944 bis 1946, inhaftiert.
Erst im Jahr 2020 konnte Sorj Chalandon in die Strafakten seines Vater (Anklage: als Kollaborateur) einsehen, zwei Jahre später veröffentlichte er den Roman. Er lässt also seinen Vater mit diesem Wissen im Roman an dem Barbie-Prozess von 1987 teilnehmen.

3.
Diese kunstvolle Verbindung zweier unterschiedlicher Prozesse offenbart eine Gemeinsamkeit beider Täter: Weder Barbie noch sein Vater sind zum Bekenntnis der eigenen Schuld bereit und in der Lage. Beide sind seelisch erkaltete, moralisch „erstorbene“ Gestalten, selbst wenn die Bedeutung der Verbrechen Barbies sehr viel grausamer sind als die Lügen des Vaters.
Barbie ließ 44 jüdische Waisenkinder in Izieu deportieren, er gab sie dem sicheren Tod im KZ preis. Barbie war auch für die Folterung und Ermordung von Mitgliedern der Résistance, auch für den Tod des vorbildlichen Jean Moulin verantwortlich. „Barbie folterte mit Schneidbrennern, glühenden Schürhaken, Elektroschocks, kochendem Wasser und einer ganzen Sammlung an Peitschen, Werkzeugen und Knüppeln, die bei Verhören vor ihm auf dem Schreibtisch lagen“, berichtet wikipedia im Beitrag „Klaus Barbie“.

4.
„Dass der Barbie-Prozess überhaupt stattfand, ist in Frankreich schon als Erfolg und als Sieg über die Partei des Vergessens gewertet worden; nicht ganz ohne Grund, denn in den vier Jahren vor dem Prozess war vor einer öffentlichen Abrechnung mit der Vergangenheit gewarnt worden, die alte Wunden aufreißen und die Einheit der Nation gefährden könne“, schreibt der Journalist Lothar Baier, ein Spezialist für französische Politik, in seinem Buch „Firma Frankreich. Eine „Betriebs-Besichtigung“ (Berlin,1988, Seite 98 f.). Barbie wurde 1987 zu lebenslänglicher Haft verurteilt, er starb 1991 im Alter von 77 Jahren im Lyoner Gefängnis an Krebs. Er war wegen „Verbrechen gegen die Menschheit“ zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden.

Zweiter Teil: Weiterführende Hinweise zur Politik und zu den Kirchen

5.
Barbie, 1913 in Bad Godesberg geboren, konnte sich gleich nach Kriegsende in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands niederlassen. Er wurde von den amerikanischen Behörden als Agent beschäftigt, als Mitarbeiter des CIC (Counter Intelligence Corps), gegen ein gutes Honorar suchte er angeblich untergetauchte Nazis.

6. Der Klerus hilft Klaus Barbie bei der Flucht
Im Jahr 1951 gelang Barbie die Flucht nach Bolivien, vor allem durch die großzügige Hilfe des katholischen Klerus. Bekannt ist diese Hilfsbereitschaft der Kirche für Nazi-„Größen“ als so genannte „Rattenlinie“, treffender wurde sie auch als „Klosterlinie“ bezeichnet, wegen der großzügigen Verstecks der flüchtenden Nazis in Klöstern, etwa in Südtirol: Führende Mitarbeiter der Kirche (allen voran der Österreicher Bischof Hudal, 1885-1963), halfen vom Vatikan aus Hunderten Tätern des Nazi-Regimes, etwa Adolf Eichmann oder Josef Mengele und eben auch Klaus Barbie.
Der Historiker Prof. Peter Hammerschmidt hat sich in seiner Dissertation (von 2013) auch ausführlich mit der Barbie-Flucht mit Hilfe des Klerus befasst. Hammerschmidt erwähnt die geradezu „vorzügliche“ Hilfsbereitschaft des aus Bosnien-Herzegowina stammenden Franziskaner-Paters Krunoslav Draganovovic (1903-1983) für Barbie und seine Familie in Genua: „Verunsichert, aber dennoch optimistisch betrat die Familie Barbie am 12. März 1951 italienischen Boden und wurde in Genua von Pater Krunoslav Draganovic empfangen: In seinen Memoiren schreibt Barbie: Ich schaute mich nach einem Geistlichen um und sah ihn nicht weit von uns entfernt stehen. Er kam auf uns zu, nannte mich beim Namen und zeigte mir ein Passfoto von mir, das er in der Hand versteckt hielt.“
Draganovic organisierte für die Familie „Altmann“ (dies war der neue Name Barbies) zwei entscheidende Dokumente: Ein bolivianisches Einreisevisum und eine Reiseerlaubnis des Internationalen Komitee des Roten Kreuzes. Am 16. März begleitete der Priester die Neuankömmlinge zum bolivianischen Konsulat in Genua, wo Klaus Barbie die Anträge mit seinen neuen biographischen Daten ausfüllte…Barbie zeigte sich noch in seinen Memoiren tief beeindruckt von Draganovics Organisationstalent und seiner Hilfe bei der Beschaffung der begehrten Dokumente…„Draganovic bewerkstelligte diese Angelegenheit mit einer Leichtigkeit und Eleganz, die ich bis heute noch bewundere. Alle Türen zu den Behörden standen ihm offen“, so Barbie in seinen Memoiren (S. 245 in Hammerschmidts genannten Buch). (Quelle:  LINK )

7. Barbie – der BND Mitarbeiter
In Bolivien war Barbie enger Mitarbeiter des Diktators Banzer, er war viele Jahren dort zuständig für Techniken der Unterdrückung und Folter, aber auch für Waffenhandel und Drogenschmuggel.1966 arbeitete er von dort aus sogar einige Monate für den Bundesnachrichtendienst BND, unter seinem Namen „Klaus Altmann“… “Dass Barbie überdies gute persönliche Kontakte in Westdeutschland hatte, ist erst 2011 bekannt geworden“, so Peter Hammerschmidt. „Dieses Aktenmaterial legt die Vermutung nahe, dass Barbie bei seinen Reisen, die nachweislich bis 1980 in die Bundesrepublik durchgeführt wurden, eben auch vom Bundesamt für Verfassungsschutz protegiert wurde, zu einem Zeitpunkt, als Barbie identifiziert war, und – so zeigt das Aktenmaterial – offenbar hat Barbie in Deutschland auch neofaschistische Organisationen aufgebaut und hat eben dort auch Waffendeals abgewickelt.“ (Quelle: LINK )

Barbie wurde in Bolivien, auch aufgrund der Recherchen des Ehepaars Klarsfeld, entdeckt und, nun unter demokratischen Verhältnissen in Bolivien, 1983 nach Lyon ausgeliefert…

8. Die Organisation „Die stille Hilfe“ (der Nazis) in der BRD

Nach 1945 sammelten sich in der BRD Nazi-Freunde in einem Verein, um ihre geliebten Nazi-Verbrecher zu schützen und zu stützen. Sie nannten ihren Verein „Stille Hilfe“. Zu den „Betreuten“ der „Hilfe“ gehörte auch Klaus Barbie. In ihrem zweiten Rundbrief aus dem Jahr 1991 meinten die „Stillen Helfer“ , Barbie habe „im Kriege seinen Dienst für die deutschen Besatzungsaufgaben getan“.(Quelle: DER RECHTE RAND, Nr. 15 vom  Januar / Februar 1992, S. 3 ff.).
Die Gründung der „Stillen Hilfe“ fand 1949 in München statt, im Haus der Erzbischöflichen Ordinariates München mit Weihbischof Neuhäusler unter dem Titel »Komitee für kirchliche Gefangenenhilfe«, aus dem dann 1951 die „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte e.V“ hervorging, gegründet von Helene Elisabeth Prinzessin von Isenburg. Neuhäuslers Rechtsberater und Geschäftsführer des Komitees, Rudolf Aschenauer, vertrat vor Gericht Kriegsverbrecher und war im rechtsextremen Milieu aktiv..
Präsidentin des Nazi-Vereins „Stille Hilfe“ war Helene Elisabeth Prinzessin von Isenburg (* 6. April 1900 in Darmstadt als Gräfin von Korff genannt Schmising-Kerssenbrock; † 24. Januar 1974 in Heiligenhaus)
Sie hatte am 30. April 1930 Wilhelm Prinz von Isenburg und Büdingen (1903–1956) geheiratet, der 1937 Professor für Sippen- und Familienforschung in München wurde und die Rassenideologien des NS Regimes vertrat. Sie selbst wurde von der Hitler Partei als „politisch zuverlässig“ eingestuft.
Auch hohe protestantische Geistliche (wie Bischof Theophil Wurm, 1888-1953) gehörten zur „Stillen Hilfe“, aber der hohe katholische Klerus ließ sich seine Hilfsbereitschaft für Nazis nicht nehmen: Im Jahr 1955 wurde der Kölner Weihbischof Wilhelm Cleven (1893-1983) ins Präsidium der „Stillen Hilfe“ berufen.
Der Nazis fördernde Verein wurde als „gemeinnützig“ anerkannt: „Bis 1993 war der Verein, der in dieser Zeit 27 Mitglieder und ein paar Hundert Spender zählte, als gemeinnützig anerkannt. Der Verfassungsschutz stufte ihn als “harmlos” ein. Nach außen sprach Gudrun Burwitz (die Tochter Heinrich Himmlers) nicht darüber: Sie helfe, wo sie könne, sagte sie 1998 der “Times”. Mehr gab sie nie preis, SPIEGEL am 29.6.2018 (Quelle: LINK

9. Die Résistance:
Unter den vielen Aspekten der Résistance wird hier an das in Deutschland weithin unbekannte, vorbildliche Engagement der Bewohner der kleinen Stadt Cambon-sur-Lignon (Département Haute Loire, Auvergne) erinnert.

In Chambon-sur-Lignon (2.400 Einwohner heute) leben vor allem Protestanten, die sich in der entlegenen Gegend vor der Verfolgung durch das katholische Königreich zeitweise schützen konnten. Die Bewohner dieser „protestantischen Insel“ in Frankreich haben den Geist des Widerstandes bewahrt … und während des Pétain-Regimes Juden geholfen, die der Willkür der deutschen Besatzer und der Kollaboration der Franzosen hilflos ausgesetzt waren. Die Protestanten dort haben in ihren Häusern und Wohnungen ingesamt 5.000 Juden versteckt, eine unglaubliche Leistung in dieser Zeit. Es waren vor allem die protestantischen Pastoren André Tocmé und Edouard Theis, die zu dieser Hilfsbereitschaft aufriefen. Sie erinnerten an die Verfolgungen, die die Vorfahren im 18. Jahrhundert unter den katholischen Herrschern erlebt hatten: Und diese Erinnerung war mehr als eine rein geistige, spirituelle Idylle. Die Bürger von Chambon-sur-Lignon begleiteten unter großen Gefahren Juden bis zur Schweizer Grenze, auf Wegen, die ihre Vorfahren im 18.Jahrhundert schon gehen mussten.
1990 hat der Staat Israel die damaligen Bewohner des Stadt Chambon-sur-Lignon und die benachbarten Dörfer als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Diese „kollektive Ehrung“mit dem herausragenden Titel „Gerechte unter den Völkern“ ist einmalig… 2007 wurden diese ungewöhnlichen Menschen auch vom französischen Staat durch eine Zeremonie im Pariser Pantheon geehrt. Einer der Juden, der dort im Versteck überleben konnte, Erich Schwam hat dem Dorf eine Erbschaft von 3 Millionen Euro hinterlassen. Damit will er helfen, dass die Kinder des Städtchens eine gute Zukunft haben…. Jerome Lévy hat über Erich Schwam einen Dokumentarfilm realisiert. LINK

Nebenbei: Auch Albert Camus hatte enge Verbindungen zu dieser kleinen Stadt: Er lebte seit 1942 öfter dort, um zu schreiben und der guten Luft wegen, um seine Tuberkulose zu heilen. Und er erfuhr wohl von der Hilfsbereitschaft der Menschen dort. Die Geschichte seines Romans „Die Pest“ verdankt sich vielen Eindrücken dort, dem Ort des Widerstandes.. (Siehe das Stichwort Chambon-sur-Lignon in: „Dictionnaire Albert Camus“, ed. Laffont, Paris 2009, S. 127f.)
Informationen zu Chambon-sur-Lignon:LINK  

10. Die katholische Kirche im Pétain-Regime und die katholische Résistance.

Die Verehrung der Katholiken für Pétain, besonders in den ersten Jahren des Regimes, war sehr umfassend. Die meisten Bischöfe waren froh, dass Pétain eine „révolution nationale“ repräsentierte, in einem autoritären Staat, das den Namen Republik oder Demokratie nicht mehr beanspruchte. Die von Katholiken so sehr gefürchtete Dominanz der Freimauer, Sozialisten und „Laizisten“ war mit Pétain überwunden. Dass er und seine Minister mit Hitler sehr eng verbunden waren, wurde in Kauf genommen. Pétain gewährte den katholischen Schulen endlich wieder alle finanziellen Vorteile; Kreuze schmückte die öffentlichen Räume, das autoritäre Motto „Arbeit, Familie, Vaterland“wurde als Inbegriff des Christlichen interpretiert. Die meisten Bischöfe schwiegen, als Juden deportiert wurden. „Wegen eines unmittelbaren und letztlich nebensächlichen Vorteils für die Kirche opferten die Bischöfe die Proklamation der wichtigsten Prinzipen des Christentums, der menschlichen nämlich“, so die Historiker Francois und Renée Bédarida, zit. in Christian Modehn,“ Religion in Frankreich“, Gütersloh 1993, s. 83). Einige katholische Priester und Laien waren auch in der Résistance aktiv, aber vergleichen mit der kommunistischen Résistance waren es doch kleine Gruppen. Es ist bezeichnend, dass General de Gaulle die Befreiung Frankreichs in der Pariser Kathedrale Notre Dame ohne die Anwesenheit des politisch belasteten Kardinals Suchard feiern wollte. Neun Bischöfe wurden im Rahmen der „Reinigung“ aus ihren Ämtern entfernt, de Gaulle hatte eine viel umfassendere Befreiung von bischöflichen Pétain- Sympathisanten verlangt. Aber, vom Vatikan unterstützt, setzte sich in der Kirchenführung der Wille durch, das Schweigen der Bischöfe und die hohe Anzahl der Priester als Kollaborateure für die Zukunft zu ignorieren. „Die Kirche versuchte nicht, ihre eigene Vergangenheit anzunehmen und mit Mut ihre Verfehlungen anzuerkennen. Staat dessen hat sie es vorgezogen, Winkelzüge zu machen und zu spintisieren und tausend Rechtfertigungen zu finden“ (F. Und R. Bedarda, a.a.O, s 84).

11. Der Chef der Milice in Lyon, Paul Touvier, findet Zuflucht in Klöstern, bloß weil er „so katholisch erschien“…

Paul Touvier war 1943-1944 Chef der (mit dem Vichy-Regime Pétains kollaborierenden) Milice in Lyon. Er hat dort systematisch Juden verfolgt und Mitglieder der Résistance. „Der Judenmord war ihm ein persönliches Anliegen“, betonen Historiker übereinstimmend. Schon am 10.9. 1946 wurde er in Lyon – in Abwesenheit – zum Tode verurteilt.
Der Fall Touvier ist etwas Besonderes: Der katholische Miliz-Chef konnte sich viele Jahre, bis zum 24.Mai 1989, den Gerichten entziehen, weil er auf die Hilfe von Klerikern zählen konnte und in verschiedenen französischen Klöstern der offiziellen katholischen Kirche Zuflucht und Unterkunft fand. Von der Polizei entdeckt wurde er in Nizza, im dortigen Priorat der traditionalistischen Pius-Bruderschaft, der Gemeinschaft des schismatischen Erzbischofs Marcel Lefèbvre.
Paul Touvier wurde 1915 geboren, er wuchs in einer streng-katholischen Familie auf. Wie sehr viele französische Katholiken zu der Zeit lehnte er die republikanischen, „laizistisch“ genannten Werte Frankreichs ab zugunsten des autoritären, nazifreundlichen Pétain-Regimes.
Als 1966 das Todesurteil verjährte (nach 20 Jahren, so war das damals in Frankreich üblich), setzte sich Erzbischof Villot von Lyon für Touvuier ein, 1971 wurde Touvier sogar von Staatspräsident Pompidou begnadigt. Dies löste weite Empörung aus, zumal bekannt war, dass Touvier „das meiste des von ihm beanspruchten Vermögens tatsächlich von deportierten Juden geraubt hatte.“ (Quelle: wikipedia, Paul Touvier).
Ein weites Netzwerk aus Klerus und Klöstern unterstützte Touvier auf seiner Flucht vor der Justiz weiterhin. Vor allem das Hauptkloster der Kartäuser „La Grande Chartreuse“ muss erwähnt werden, das mit dem flüchtenden Touvier „enge und ausdauernde Verbindungen“ unterhielt (zit. in „Paul Touvier et l église“, Ed. Fayard, 1992, S. 136): Ähnliche enge Verbindungen gab es mit dem Benediktinerkloster Hautecombe und dem Trappistenkloster Tamié. Touvier verbreitete bei seinen, manchmal sogar ahnungslosen Gastgebern diese Lüge, unschuldig zu sein, er habe nur der legitimen Macht gedient und dabei versucht, das Schlimmste von einen Mitbürgern abzuwehren.
Um 1957 fand Touvier entschieden Hilfe von Monsignore Charles Duquaire, dem Sekretär des Lyoner Kardinals Gerlier. „Monsignore Duquaire hat im wahrsten Sinne Paul Touvier und seine Familie adoptiert. Er hat sich in dessen Dienst gestellt, er wurde sein Beschützer, sein Stratege. Die vielen Unternehmungen Duquaires zwischen 1959 und 1973 waren nicht nur seine Hauptsorge, sondern seine wichtigste Aktivität. Duquaire, 1907 geboren, hat als Priester in Rom Kirchenrecht studiert und wurde in dem Fach promoviert. Seit 1950 arbeitete er als Sekretär von Kardinal Gerlier, 1956 wurde er Prälat seiner Heiligkeit, des Papstes. „Die Verteidigung Touviers wurde in gewisser Weise Duquaires zweite Berufung“ (S. 159). In dem Buch „Paul Touvier et l église“ wird Duquaire eine „komplexe Persönlichkeit genannt (S. 161), er fühlte sich allen Ausgegrenzten gegenüber als der „barmherzige Samariter“. So ist für ihn der Paul Touvier „ein Opfer der Ungerechtigkeit“. Und das sagte Duquaire im Wissen, dass die Milice, die Touvier leitete, „einen widerwärtigen Charakter hatte.“ (S.162).
1994 wurde Touvier wegen Verbrechen gegen die Menschheit zu lebenslanger Haft verurteilt, er starb an Krebs 1996 im Gefängnis Fresnes.
In der traditionalistischen Haupt-Kirche St.Nicolas du Chardonnet (Paris) wurde ein Requiem für Paul Touvier gefeiert. Auch das ist bezeichnet für die rechtsextremen Sympathien der Pius-Bruderschaft in Frankreich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

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Die Bestattung und das Requiem der Traditionalisten und ihrer reaktionären Freunde zugunsten des Milice-Chefs Paul Touvier, ein Bericht der Tageszeitung „Liberation“, Paris, 26. Juli 1996. Als Beispiel für die unglaubliche Präsenz reaktionärer rechtsextremer Gruppen in Frankreich.

„Requiem pétainiste pour Touvier. Messe intégriste à Paris et inhumation à Fresnes pour l’ancien milicien“.
par Renaud DELY et Jean HATZFELD
publié le 26 juillet 1996 à 7h48   LINK

Quelle: https://www.liberation.fr/france-archive/1996/07/26/requiem-petainiste-pour-touvier-messe-integriste-a-paris-et-inhumation-a-fresnes-pour-l-ancien-milic_176198/)

Die Affaire Moro: Leonardo Sciascias Roman in neuer Übersetzung.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 14.3. 2023.

1.
Aldo Moro: Er war einer der bedeutenden Politiker Italiens: 1945 wurde er im Alter von 29 Jahren Mitglied der „Democrazia Cristiana“ (DC), und seitdem machte er große Karriere, er hatte viele maßgebliche Positionen in der DC Regierung und der Partei inne, zuletzt war er deren Parteichef.

2.
Am 16. März 1978 wurde Aldo Moro von den „Roten Brigaden“ in Rom entführt, fünf seiner „Wächter“ wurden sofort erschossen. 55 Tage verbrachte er im „Volksgefängnis“ der Roten Brigaden. Am 9. Mai 1978 wird Aldo Moro tot in einem Auto im Zentrum Roms aufgefunden, in der Nähe der Parteizentralen seiner DC und der Kommunistischen Partei: Beide Parteien sollten sich, so das neue, gewagte politische Projekt Moros in diesen Tagen, weiter politisch annähern und sogar kooperieren. Aber aufgrund der Entführung Moros und seiner Erschießung kam dieses Projekt, der „historische Kompromiss” der DC mit der kommunistischen Partei (Parteichef Berlinguer), nie zustande. Eine Kooperation von Christdemokraten, d.h. letztlich von Katholiken in Abhängigkeit vom Vatikan, und Reformkommunisten, passte den herrschenden konservativen Katholiken gar nicht. Und die extremste Linke, die Roten Brigaden, fürchteten um ihre so genannte proletarische Revolution, bei so viel Kooperation mit den Bürgerlichen. Aber im Vorhaben Moros und Berlinguers hätten die Chancen bestanden, dass zwei große Parteien Italien als eine Demokratie neu gestalten, die den Namen verdient.

3.
Die 55 Tage Moros als Geisel im Gefängnis der “Roten Brigaden“ hat der nicht nur in Italien hoch geschätzte Autor, Mafia-Spezialist und (linke) Politiker Leonardo Sciascia (1921-1989) in einer Art „dokumentarischem Roman“ untersucht. Das Buch erschien 1978, der Autor bezeichnete es als sein wichtiges, zentrales Werk. Es konzentriert sich auf eine tiefe Analyse einiger Briefe, die Moro aus seinem Gefängnis an Politiker seiner Partei wie an seine Familie schreiben konnte. Vor kurzem hat die Edition Converso eine neue Übersetzung dieses Buches von Sciascia veröffentlicht, aus dem Italienischen übersetzt von Monika Lustig, die schon zahlreiche italienische Autoren ins Deutsche übertragen hat.

4.
Sciascia Analysen zur sprachlichen Gestalt der Briefe Moros verdienen viel Aufmerksamkeit, er analysiert die Andeutungen Moros, die Implikationen seiner Forderungen, seiner Ängste.
Sciascias dokumentarischer Roman gehört nicht in die Reihe der zahlreichen „Moro-Enthüllungsbücher“. Der Text will in aufmerksamen Analysen zeigen, wie der von Terroristen gefangene Aldo Moro gerade im Schreiben seiner (insgesamt mindestens 30) Briefe seine Würde bewahrt, gegen die Sturheit seiner ehemaligen Parteifreunde in staatlicher Verantwortung ankämpft: Sie sind entschlossen, den einzelnen, den hilflosen Menschen zu opfern. Sie wollen in dieser Radikalität die Stärke des italienischen Staates gegenüber den Terroristen beweisen. Die Polizei bleibt untätig. So ist der einzelne Mensch hilflos der Staatsräson ausgeliefert: Das ist das Thema Sciascias.  Er will dem ermordeten Moro seine menschliche Würde zurückgeben, wie Fabi Stassi im Nachwort schreibt (S. 211).

5.
Je mehr Sciascia sich in die Briefe Moros vertieft, um so sichtbarer wird seine Nähe, wenn nicht Sympathie für den führenden Politier der Democrazia Cristiana, einer Partei, der Sciascia eigentlich mit heftigster Kritik gegenüberstand. Er spricht im Blick auf allerlei Machenschaften der DC von einem „christdemokratischen Regime“ (10) oder von einer „christdemokratischen Mafia“ (16). Aber Moro wird dann doch für Sciascia „zu einem der Allernächsten“ (211). Jenseits aller Staatsräson sieht der Autor den einzelnen, das Opfer der Terroristen, und vor allem: den offiziell von Politikern zwar bemitleideten, de facto aber von ihnen längst dem Tode preisgegebenen, hilflosen Menschen. Seine Parteifreunde (auch Kirchenführer) sind so dreist, und erklären Moro im Laufe der Gefangenschaft für geistig verwirrt, „anders, befremdlich geworden“, nur weil er dringend darum bittet, vor dem Erschießen bewahrt zu werden: Indem nämlich endlich die Politiker in Verhandlungen treten mit den Entführern und Moro freikaufen im Austausch mit den gefangenen „Genossen“. Die Rettung unschuldigen Lebens ist für Moro als Christen das höchste Gut. Die Bindung Moros an Grundsätze christlicher Ethik und damit auch seine tiefe Bindung an die katholische Kirche werden von Sciascia eher am Rande erwähnt: Sein Freund, Papst Paul VI. setzt sich für Moros Rettung öffentlich ein. Aber er fordert schlicht und einfach nur die Freilassung des politischen Freundes, diese allgemeine Forderung, ohne Gegenleistung des Staates, können die Rote Brigaden gar nicht erfüllen. Insofern steht also auch der Papst auf der Seite der offiziellen Staatsräson. Und seine päpstliche Zeitung, der Osservatore Romano, letztlich auch. Diese geringe Hilfsbereitschaft der Kirche(nführer) muss den sehr frommen Katholiken Aldo Moro besonders hart getroffen haben. 1973 war er in den so genannten “Dritten Orden” der Dominikaner als Laienmitglied eingetreten (siehe die Zeitschrift “Wort und Antwort”, 2013, ein Beitrag von Alessandro Cortesi OP, LINK).

6.
So weiß Moro kurz vor seinem Tod, dass der italienische Staat, in seinem “Staatskult” (S. 63) Härte und angeblich Würde zeigend, ihn, den Hilflosen zum Tode verurteilt. Er wird also hingerichtet. Direkt berührend ist der Abschiedsbrief an seine Frau (144 f.) Darin distanziert er sich erneut „verbittert“ (146) von seiner Partei. „Welches Böse kann aus diesem Bösen (d.h. seinem zugelassenen Tod) entstehen?, fragt Moro (147). In seiner zugelassenen Hinrichtung, ohne jede Verhandlungsbereitschaft mit den Entführern, sieht Moro ein „Staatsmassaker“ (146). Er hat ausdrücklich gefordert, dass bei seiner Totenfeier und Bestattung kein Vertreter der Partei, des Staates, dabei sein darf. Am 10. Mai 1978 schon wurde Moro in engstem Familienkreis im Städtchen Turrrita Tiberina beigesetzt. Eine Totenmesse ohne Leiche fand dann am 13. Mai 1978 in der Basilica San Giovanni im Lateran statt, Papst Paul VI.hielt die Predigt.

7.
Warum ist das Thema „Mord an Aldo Moro“ heute so wichtig: Weil die Hinrichtung Moros weite und breite Wirkungen zeigt. Die DC ist verschwunden, als starke Kraft zeigte sich dann die Eventpartei des Medien-Herrschers und Aufschneiders Berlusconi, jetzt ist eine neofaschistisch geprägte Ministerpräsidentin an der Macht mit sehr rechten Koalitionspartnern. “Treten die schlimmsten Befürchtungen ein, so wäre der politische Mord an Aldo Moro auf lange Sicht auch ein Mord an der Politik“, schreibt der Historiker Michael Sommer in dem Buch „Politische Morde. Vom Altertum zur Gegenwart“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, im Jahr 2005, dort S. 238. Und der Autor Fabio Stassi sagt im Nachwort zu Sciascias Buch: Die Literatur, auch die Darstellung und Interpretation von Aldo Moros Leiden,  sei “ein beharrlicher Protest gegen das Verschwinden der Vernunft” (S. 207).

Leonardo Sciascia, „Die Affaire Moro. Ein Roman“. Übersetzt von Monika Lustig. Sie hat auch ein kurzes Nachwort geschrieben: „Von der Pflicht, die Affaire Moro zu übersetzen“. Mit einem Nachwort von Fabio Stassi. Und einer Zeittafel.
 Edition Converso, Karlsruhe, 236 Seiten, 2022, 24€.

Am 15.3. 2023 um 21.55 und am 16.3.2023 um 22.30 sendet ARTE den FILM “Und draußen die Nacht” über Aldo Moro, auch in der Mediathek. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.