Weihnachten: „Christus, der Retter, ist da…“ Oder: „Jesus der Retter ist da” ?

….diese Frage ist alles andere als nur theologisch subtil…
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
In Krisenzeiten neigen Menschen dazu, sich in (angeblich) altbewährte Traditionen zu flüchten, wenn sie sich denn nicht gleich Wahnvorstellungen und Verschwörungstheorien hingeben.
Um beim Weihnachtsfest zu bleiben: Es gibt das Bedürfnis in unserer „durchrationalisierten“ und digitalisierten Welt der totalen Ernüchterung, in die „verzauberte“ Welt der Kindheit, der Märchen und Legenden einzutauchen, um dort – wie im Traum – etwas Halt und seelische Wärme zu empfinden: Weihnachten ist der Inbegriff der Ergriffenheit, der Traditionspflege, des „Einst war es doch so schön“. Der ganze Kommerz–Wahn zu Weihnachten hat diese Wunschvorstellung nicht nur nicht kleingekriegt, der Kommerz hat diffuse Sehnsüchte wohl noch beflügelt…

2.
Also bleiben wir realistisch: Man kann wirklich nicht sagen, dass die Weihnachtsgefühle inklusive der obligaten Weihnachtslieder tatsächlich eine spürbare Verbesserung der Lebensverhältnisse gebracht haben. Man hat „Christus der Retter ist da“ viele Male gesungen, vielleicht mit Tränen in den Augen voller Wehmut, der Kindheit gedenkend … und ist dann drei Tage später wieder in die übliche Alltagsroutine zurückgefallen, die Alltagsroutine aus Egoismus, Hass, Neid, Gier und Krieg, siehe die orthodoxe Kirche in Pution -Russland und ihres Patriarchen Kyrill…

Weihnachten mit seiner humanen Botschaft hat selten (und kaum nachzuweisen) zu einer Neuorientierung, zur Abkehr vom üblich gewordenen Inhumanen geführt. Das über alle Jahrzehnte und Jahrhunderte empirisch zu belegen, wäre eine tolle Aufgabe. Die Kirchen würden solche Forschungen bestimmt nicht unterstützen…Also: Wer will im Ernst der Erkenntnis widersprechen, dass Weihnachten (gefeiert und Weihnachtslieder gesungen) wenig spürbar zu einer menschlicheren Welt beigetragen hat. Das ist die traurige Bilanz einer Religion, die sich als Heil, als Rettung selbst versteht. Bestenfalls fand diese Erlösung, Rettung, dann im Innern der privaten Seele statt. Aber die Wirkungen nach außen, politisch, sozial im Sinne universaler Gerchtigkeit, blieben aus.

3.
Manche „Optimisten“ werden auf die Bereitschaft zum Spenden hinweisen für „Brot für die Welt“ oder „Adveniat“. Aber Spenden für die Armen sind der hilflose Ausdruck dafür, dass „wir Erlöste“ -angeblich – strukturell die Welt nicht verbessern können oder verändern wollen: Der Hunger von Millionen Menschen weltweit besteht weiter  seit Jahren, die Kriege sind Alltagsrealität, die Rüstungsindustrie floriert, die Zahl der Milliardäre nimmt zu, die Anzahl von diesen Leuten Armgemachten ebenso… Da sind Spenden ein Alibi für die Hilflosigkeit der Kirchen, wirklich praktisch und politisch und sozial spürbar durchzusetzen, dass „dieser Christus der Retter wirksam da ist“. Es blieb und bliebt also beim Singsang. Wirkungslos.

4.
Mein Vorschlag zu einer wirklichen wirksamen Bedeutung von Weihnachten: Singen wir und sagen wir nicht länger „Christus, der Retter ist da“, sondern „Jesus, der Retter ist da“. Das ist mehr als eine theologische Spitzfindigkeit. Da geht es um Wesentliches. Aber das muss erklärt werden.

5.
Mir geht es um ein Thema, das nicht nur religionsphilosophisch Interessierte bewegt: Wenn der christliche Glaube, auch im Falle von Weihnachten, im Leben des einzelnen noch eine Rolle spielen soll, dann ist Glaube sinnvoll nur zu definieren als eine Form der Lebensorientierung, als eine Gestalt einer Lebensphilosophie. Der christliche Glaube als Lebensphilosophie mit der entsprechenden Lebenspraxis: Dann ist immer – wie bei jeder Philosophie – gemeint das vernünftige Verstehen, das Reflektieren, also auch die Kritik der „Inhalte“ dieser Lebensphilosophie, die da als kirchlicher Glaube verbreitet wird.

6.
Wer die uralten Weihnachtslieder betrachtet oder singt und eben darin einen hilfreichen Ausdruck seiner Lebensphilosophie sehen will, sollte sich also fragen: Was singe ich da eigentlich, welche Inhalte singe ich oder summe ich dann mit? Wenn es mir auf den Inhalt, den „Text“ der Lieder gar nicht mehr ankommt und diese für mich verständlicherweise veraltet wirken, dann reicht es, einige Weihnachtslieder einzig instrumental zu inszenieren. Und ich kann beim Hören der Melodie mir meine eigenen Gedanken machen jenseits von „O Kindelein von Herzen“ und den „himmlischen Heeren, die Ehre jauchzen“ usw. Nebenbei: Eines der wenigen, auch vom Inhalt her noch singbare alte Weihnachtslied ist für mich noch das Lied von Paul Gerhardt: „Ich steh an deiner Krippen hier“…

7.
Das beliebte Lied „Stille Nacht…“ verdient eine besondere kritische Aufmerksamkeit. Da heißt es in der 2. Strophe: „Christus der Retter ist da“? Christus ist der Retter. Und er soll also „da“ sein.
Wer das singt, hat, irgendwie verschwommen, einen oder seinen „Christus“ vor Augen, eine Art hoheitlicher Heilsgestalt, einen Gottessohn, der sich am Ende seines Lebens blutend und leidend für die Sünden der Menschen hingibt und dadurch seinen zornigen Vater(gott) versöhnt. Ist diese Überzeugung von Christen aus dem Mittelalter heute noch glaubwürdig und nachvollziehbar? Wie viele andere Theologen und Religionsphilosophen sage ich Nein. Es geht Weihnachten um Jesus von Nazareth, geboren als Kind von Obdachlosen in der Krippe zu Bethlehem, im Stall, inmitten seiner Eltern Maria und Josef. Dann war Jesus in Nazareth als Tischler tätig, später als Prophet und Prediger. Und er wurde umgebracht und später wussten seine Freunde: „Dieser Mensch ist der „Auferstandene“.

8.
Und jetzt kommt in meiner Sicht – ein theologisches Ereignis! Ein spiritueller Umbruch. Dabei geht es nur dem Schein nach um etwas Subtiles für „Spezialisten“: Es geht um den Unterschied zwischen „Christus“ und „Jesus“. Christus wird kirchlich verkündet als der himmlische Herr, die zweite Person der Trinität oder der Sühne leistende Sohn Gottes. Dies gilt in den Kirchen, selbst wenn oft von „Jesus Christus“ die Rede ist: Da tritt aber die Gestalt des Menschen Jesus immer in den Hintergrund gegenüber dem allmächtigen Christus. Das Konzil von Nikäa (325!) und die folgenden Konzilien haben diese Tendenz absolut verstärkt. Leider!

9.

Jesus von Nazareth hingegen ist der jüdische Mann mit einer bestimmten Geschichte, mit einem Lebensentwurf, einer bestimmten Lebensphilosophie. Er ist ein Mensch mit einem Gesicht, einer Geschichte, er wird zum Propheten, den viele für einen Lehrer, einen Weisen, halten. Als ein solcher Weisheitslehrer mit einer bestimmten Lebensphilosophie kann er dann als der “Christus”  bezeichnet werden, der über den begrenzten jüdischen Raum hinausweist: Ein Weisheitslehrer für viele Menschen vieler Kulturen, für Menschen, die sich seinen Werten anschließen wollen. Jesus als Person, mit einem Gesicht, einer Geschichte, mit seiner Liebe zur Gemeinschaft, zum gemeinsamen Speisen, seiner Praxis der Meditation und des gelegentlichen Rückzugs in die Wüste, mit seiner Liebe für die Frauen, seiner Liebe zu seinem “Lieblingsjünger Johannes” usw.: Dieser Mann Jesus weckt neue Einsichten, inspiriert zum Leben in Gerechtigkeit.

10.
Man denke daran, dass der große katholische Theologe Edward Schilllebeeckx (Nijmgen, NL) von Jesus als dem erlösenden Vorbild sprach. Insofern befinde ich mich hier in bester theologischer Gesellschaft. Und Jesus als Vorbild führt weiter zu der argumentierenden Frage: Wo sind heute weitere Vorbilder? Wahrscheinlich Gandhi oder Martin Luther King? Oder Bonhoeffer? Oder Erzbischof Romero aus El Salvador? Oder bestimmte Werke der Musik, vielleicht die Missa Solemnis von Beethoven? Oder manches von Literaten oder von Malern, etwa von van Gogh? Wie auch immer: „Jesus der Retter ist – in gewisser Hinsicht – da“.

Rettung – dieses große Wort – erhält so ein Angesicht, eine historische Konkretheit. Rettung ist dann etwas anderes als ein transzendentes, als ein nur innerliches Geschehen der Versöhnung, das sich abstrakt „himmlisch-irdisch“ zwischen Gott – Vater und seinem „eingeborenen“ Sohn „abspielt“.

11.
“Rettung der Welt”, ökologisch, friedenspolitisch, im Sinn der Menschenrechte… wird zur Aufgabe der Menschen, die Weihnachten feiern. Aber dies nicht als Last, nicht als Fremdbestimmung, sondern als Form, das eigene menschloche Wesen zu leben, lebendig zu sein.

Weihnachten ist das „Eingedenken“ an Jesus von Nazareth, den universalen Lehrer der Weisheit, den Propheten.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Nur ein konfessionsloser Staat kann Religionsfreiheit garantieren: Erfahrungen in Frankreich.

Die Trennung von Kirchen und Staat: Vor 115 Jahren, am 9. Dezember 1905.
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Wer Frankreichs Kultur verstehen will, muss wissen, was „laicité“ bedeutet. Dieser Begriff ist zentral, er nennt das Selbstverständnisses der französischen Republik und wird wieder einmal, seit Oktober 2020, von staatlicher Seite und den katholischen Bischöfen diskutiert.
Das Wort laicité ist nur mit Mühe, nur mit Umschreibungen, ins Deutsche zu übersetzen. Deutsche, auch deutsche Journalisten und Wissenschaftler, machen es sich zu einfach und behaupten: Laicité sei nichts anderes als „Laizismus“. Dieser „Laizismus“ ist jedoch bekanntlich die kämpferische Haltung eines atheistisch eingestellten Staates gegenüber den Religionen und Kirchen. Diese Identifizierung von laicité und Laizismus ist im Blick auf Frankreich oberflächlich und falsch. Laicité bedeutet: Ein „a-religiöserStaat“, nicht ein anti-religiöser Staat.
Erst seit 1946 definiert sich Frankreich in seiner Konstitution als eine „République laique“, der Sache nach war die Französische Republik schon seit 1905 „laique“.
2.
Die Französische Republik ist bestimmten Werten, als leitenden Idealen – mindestens theoretisch -, verpflichtet: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Diese drei sind philosophisch gesehen geradezu evident für ein humanes Zusammenleben. Man könnte auch sagen, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit haben beinahe die Aura des Heiligen. Sie sind als ein öffentliches republikanisches Bekenntnis unübersehbar wahrzunehmen an allen Rathäusern, staatlichen Schulen, öffentlichen Bibliotheken und auch auf französischen 1 sowie 2 Euro Münzen.
Hinzukommt, und dies ist genauso wichtig, förmlich als Zusammenfassung dieser drei Maximen, der vierte republikanische Wert, die „laicité“.
Die heutige Verfassung sagt im Artikel 2: „Frankreich ist eine unteilbare,= laique=, eine demokratische und soziale Republik“ . „Die Laizität ist der Eckstein des republikanischen Paktes, sie beruht auf drei untrennbaren Werten: Der Freiheit des Gewissens, der rechtlichen Gleichheit aller geistigen und religiösen Optionen, der Neutralität der politischen Macht ihnen gegenüber“. So formuliert im Jahr 2003 eine hochrangige staatliche Kommission das Wesen der laicité, diese Kommission wurde geleitet von dem hoch geschätzten ehemaligen Minister Bernard Stasi.
Keine bestimmte Religion oder Kirche wird in der französischen Republik als Staatskirche anerkannt, keine bestimmte Religion wird bevorzugt. Der Gedanke ist ausgeschlossen, dass der Staat – wie in Deutschland – Kirchensteuern in Milliardenhöhe jährlich für die Kirchen und im Auftrag der Kirchen einziehen könnte. Die laicité will in dieser Neutralität primär für den gesellschaftlichen Frieden, die Toleranz, in Staat und Gesellschaft sorgen.
3.
Es wird in den kommenden Wochen, ab 2021, ein Gesetzesprojekt debattiert werden, das die laicité aktualisieren soll, „republikanische Grundprinzipien“ sind das Programm. Gedacht ist dabei an eine Art philosophisch – ethischer „Basis-Philosophie“ der Republik. Angestoßen zu diesem Projekt wurden Präsident Macron und seine Regierung durch die jüngsten mörderischen Attacken von Terroristen, die sich selbst mit dem islamischen Glauben in persönliche Verbindung brachten. Diese mörderischen Kreise oder einzelnen Personen werden allgemein „radikale Islamisten“ genannt. Wie stark bei denen der Islam oder der Ungeist des Terrors ausgeprägt ist, wird in dieser Pauschalisierung nicht unterschieden.
Keine Frage: Die Französische Republik und viele ihrer Bürger sehen sich (seit einigen Jahren) durch „islamistische“ Kreise bedroht. Eine Zeit der Pauschalurteile, der Feindbilder, hat wieder begonnen, und schnell ist man bei „DEM“ Islam als dem „Feind“ gelandet. Diese Haltung zeigen rechte und liberale Politiker aus wahltaktischen Gründen, um die rechtsextreme Partei von Marine Le Pen nicht noch stärker werden zu lassen. Bekanntlich war ihr Vater Jean – Marie Le Pen als Gründer und Chef des FN ganz offensichtlich Antisemit. Die Tochter gibt sich hingegen, taktisch raffiniert, eher philosemitisch, um dann um so heftiger ihre Anti-Islam-Politik zu beschwören, die aber letztlich als Anti-Ausländer und Anti-Flüchtlingspolitik gemeint ist. „Les Francais d abord“ also die (weißen) Franzosen zuerst ist das Motto….
Dieser vielfältige Hintergrund spielt nun für das Projekt der Macron – Regierung eine wichtige Rolle, eine Art „republikanischen Grundwertekatalog“ zu schaffen. Die Muslime sollen in dieser Sicht umfassend informiert und gedrängt werden, die Werte der Republik Frankreich in der Praxis anzunehmen und zu leben. Dazu gehört selbstverständlich auch, die umfassend geltende Meinungsfreiheit zu respektieren. Tatsächlich geht es darum, allen Bürgern klar zu machen: Auch wenn Karikaturen als Ausdruck von Meinungsfreiheit oder sogar als Kunst – in der Sicht einiger – Blasphemien darstellen, gibt es einen rechtlichen Rahmen, diese Blasphemie zu respektieren. Mindestens solange, als nicht einzelne, ganz bestimmte konkrete Gläubige, in ihrem Glauben beeinträchtigt werden. Interessanterweise hat sich die katholische Kirchenführung in Frankreich auch für eine Einschränkung der umfassenden Meinungsäußerung ausgesprochen, wenn sie denn als Blasphemie öffentlich wird. Katholiken haben sich dadurch mit den entschiedenen Gegnern umfassend freier Meinungsäußerung im islamischen bzw. vor allem islamistischen Bereich in gewisser Weise verbündet.
4.
Die Integration der muslimischen Bevölkerung in die Französische Republik ist natürlich viel mehr als ein philosophisches oder religionspolitisch – „bildungsmäßiges“ Projekt. Das ist eigentlich den meisten Sozialwissenschaftlern, Politologen und auch etlichen Politikern klar: Dass das „Republikanischwerden“ bzw. „Demokratischwerden“ der muslimisch geprägten Bevölkerung bzw. der muslimischen Franzosen nur gelingen kann, wenn die evidente soziale und kulturelle Ausgrenzung der meisten Muslime in Frankreich aufhört. Das betrifft etwa die sehr oft sehr prekären Wohnverhältnisse in der Banlieue, das betrifft die Degradierung „arabischstämmiger“ Mitbürger bei der Arbeitssuche, den bekannten Rassismus etlicher Polizeibeamter usw.
5.
Bei einem neuen Nachdenken über die Werte der Republik heute kann auch der historische Rückblick nicht fehlen: Wie standen die Religionen zur Republik? Darüber wurde im Jahr 1905 nach jahrzehntelangen Debatten entschieden, als das Gesetz zur Trennung von Kirchen und Staat verabschiedet wurde. Dabei ging es damals dem Staat fast ausschließlich darum, sein Verhältnis zur katholischen Kirche festzulegen. Die protestantischen Kirchen und die Juden waren als die einzigen anderen damals aktiven Religionsgemeinschaften in Frankreich kleine Minderheiten, und vor allem: Sie hatten im Unterschied zu den Katholiken traditionell ein positives Verhältnis zur Republik und deren Werten. Protestanten und Juden hatten unter dem sehr katholischen „ancien régime“ gelitten, die Republik bedeutete für sie eine Befreiung von Verfolgung und Degradierung. Für die Katholiken, ihre Bischöfe, Priester und Mönche war die Sache ganz anders: Sie gehörten zur privilegierten Staatskirche. Nur die Armen, in den Dörfern, litten unter der Gier der Mönche und Bischöfe. Die so genannte „Entchristlichung“ in vielen Regionen Zentral-Frankreichs, in Burgund, im Limousin etc. hat in kirchlichen Missständen ihre Ursachen…D.h. die Kirche selbst ist also mit – verantwortlich für die offenbar unumkehrbare „Entchristlichung“ weiter Regionen in Frankreich. Was immer „Entchristlichung“ in der Soziologensprache auch im einzelnen bedeuten mag…
1905, dem Jahr der Gesetzgebung zur Trennung von Kirchen und Staat, waren mehr als 90 % der Bevölkerung katholisch getauft, aber nicht alle waren „praktizierend“. Wer kirchlich gebunden war, klammerte sich, politisch, auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an die Ideen der Monarchie. Schließlich hatten sie im „Zweiten Empire“ unter Louis Napoléon Bonaparte aufgrund vieler Privilegien eine kirchlich – klerikale Blütezeit erlebt, deutlichster Ausdruck dafür waren die vielen Neugründungen von Ordensgemeinschaften und Klöstern. Die meisten Katholiken waren um 1900 zudem mehrheitlich Antisemiten, wie die Ereignisse rund um die Dreyfus – Affäre beweisen. Die katholische Tageszeitung „La Croix“ (aus dem Verlagshaus mit dem hübschen Titel „La Bonne Presse“) war damals ein heftiges antisemitisches Hetzblatt. Das geben die Verleger, die französischen Augustiner, heute ganz offen zu. Denn die Katholiken identifizierten ja durchaus treffend Republik mit der Verteidigung der Menschenrechte. Und gerade diese galten den Katholiken als negativer, „abscheulicher“ Ausdruck des „Wahnsinns“ der Französischen Revolution.
In dieser antirepublikanischen Haltung wurden die Katholiken leidenschaftlich befeuert von den damaligen explizit und stolz sich reaktionär gebenden Päpsten, allen voran Gregor XVI. und Pius IX.
6.
Es ist also durchaus evident, wenn die Republikaner damals die katholische Kirche als Feind der Demokratie erkannten und diese feindliche Kraft politisch möglichst einschränken wollten. Der Katholizismus erschien den Republikanern schlicht und einfach als eine Bedrohung für das Zusammenleben und die Entwicklung fortschrittlicher Konzepte, etwa im Schulwesen, im Sinne einer Schulpflicht für alle…Heute tun manche katholischen Kommentatoren noch so, als seien die französischen Republikaner und nur sie allein, weil antiklerikal und angeblich auch atheistisch, diese üblen Bösewichte gewesen, nur sie wollten dem frommen Volk den Glauben nehmen.Die extremen Schattenseiten der Kirche werden dabei übersehen! Radikale Positionen unter den Republikanern hat es am Ende des 19.Jahrhunderts tatsächlich gegeben. Man denke an den angesehenen Wissenschaftler (Physiologen) und radikal antiklerikalen Politiker Paul Bert und an Emile Combes oder die damals breite Bewegung der „Freidenker“. Aber diese antikirchlichen Positionen haben sich sogar nach den Gesetzen von 1905 nicht durchgesetzt. Man denke nur an die Beiträge des Politikers Aristide Briand: Sein berühmter und gültiger Ausspruch ist: „Der Staat ist nicht antireligiös, er ist a-religiös“. Oder früher noch an den katholischen Philosophen und Sozialisten Jean Jaurès.
7.
Geblieben aber ist bis heute der immer wieder besprochene Eindruck, es gebe noch „zwei Frankreich“. Von einem „guerre des deux France“, einem „Krieg der zwei Frankreich“, spricht etwa der bekannte Forscher der laicité und bekennende Protestant Prof. Jean Baubérot. Es gibt also auch heute noch die republikanisch und entschieden demokratischen gesinnten Franzosen als die überwiegende Mehrheit. Und noch einige, z.T. finanziell starke Kreise, die antirepublikanisch und/oder monarchistisch gesinnt sind, zu denen u.a. auch die Anhänger des katholischen Traditionalismus zählen, der in frommer Treue zu dem erzreaktionären Erzbischof Marcel Lefèbvre immer noch eine starke Bedeutung hat.
Freilich gibt es auch „noch nicht ganz traditionalistische“, aber extrem konservative Kreise, die politisch gegen die Republik mobilisieren, etwa im Fall der „Ehe für alle“ Massen-Demonstrationen organisieren oder gegen die Gesetzgebung zugunsten des gesetzlich geregelten Schwangerschaftsabbruchs protestierten. In diesen Kreisen wurde auch eine „Christlich-demokratische Partei“ gegründet. Und etliche große Klöster, vor allem auch einige bekannte extrem konservative Bischöfe wie Dominique Rey von Fréjus-Toulon oder Marc Aillet von Bayonne, sind nicht gerade dafür bekannt, die französische Republik als eine „laique Republik“ zu unterstützen, um es milde zu sagen. Der französische Katholizismus hat sich immer einen stark konservativen, sehr päpstlichen „heißen“ Kern bewahrt, wenn er auch dialektisch auf der anderen Seite einige hoch interessante eher linke Projekte kannte, wie etwa die Arbeiterpriester oder „Basisgemeinden“, beide sind aber inzwischen fast untergegangen oder „untergegangen worden“ wegen autoritärer bischöflicher Zurückweisung. Dass der einzige wirklich theologisch progressive Bischof, Jacques Gaillot, 1994 abgesetzt wurde, kann hier nur erwähnt werden, an anderer Stelle habe ich über Bischof Jacques Gaillots Degradierung durch Papst Johannes Paul II. und die anderen Bischöfe berichtet.
Nebenbei: Im Pétain Regime unter der deutschen Besatzung siegte noch einmal das antidemokratische und katholisch-reaktionäre Frankreich.
8.
Das Gesetz der Trennung von Kirche und Staat aus dem Jahr 1905 ist also der Startpunkt einer Entwicklung der laicité, die sich dann im Laufe der Jahre immer weiter neu definierte und entwickelte. Und dies wird leider von den heutigen Kritikern der französischen laicité bewusst oder unbewusst übersehen: Im Laufe der Jahre hat die katholische Kirche viele gesetzliche Zusagen erkämpft und auch erhalten, durch die das kirchliche Leben in der Gesellschaft weiter ausgebaut werden konnte. Man könnte also sagen: Bisher hat die katholische Kirche Frankreichs seit 1905, zumal von den Päpsten dann unterstützt und vom Konkordat von 1921 abgesichert, rein rechtlich betrachtet eher eine positive Entwicklung genommen.
Voller Hochachtung sahen die national gesinnten Franzosen auf den Beitrag der Kleriker im Ersten Weltkrieg: Sehr viele Priester und Ordensleute kämpften an der Front (gegen die ebenfalls christlichen Deutschen). 4. 800 Kleriker (!) und 378 Nonnen haben „fürs Vaterland“ ihr Leben gelassen ( https://fr.geneawiki.com/index.php/Guerre_1914-1918_~_Le_Clerg%C3%A9_et_les_Congr%C3%A9gations_dans_la_Grande_Guerre#Statistiques). So viel nationaler Opfergeist gefiel dann selbst den eingefleischten Antiklerikalen…und führte zu einer gewissen Hochätzung der Kirche.
9.
Die Beispiele für die Entwickl ung der laicité sind sehr zahlreich, nur einige werden hier genannt: Katholische Privatschulen entwickelten sich seit 1960 rasant, auch dank der Zuschüsse vom Staat und der vor allem von wohlhabenden Familien unterstützten Schulen. Sie sehen auch heute in den katholischen Privat – Schulen mit SchplerInnen nur „aus gutem Hause“ eine Form der Behütung der Kinder vor den Problemen der Gesellschaft.
Heute besuchen etwa 2 Millionen Schülerinnen und Schüler katholische Privatschulen in Frankreich. Es gibt zudem 5 katholische (ziemlich teure) Privatuniversitäten. Ein gutes Beispiel für eine die Gleichberechtigung der Religionen fördernde laicité ist die Gestaltung religiöser Sendungen im staatlichen 2. Fernseh – Programm: Da beginnt das religiöse Programm an jedem Sonntag morgen um 8.45 mit einer Sendung der Buddhisten Frankreichs, danach folgen die orientalischen Christen, dann die Muslime, die Juden und die Protestanten sowie mit der längsten Sendezeit die Katholiken, die immer um 11 Uhr eine Messe life übertragen. Diese Programme werden in eigener Verantwortung der Religionsgemeinschaften realisiert. Darüber hinaus gibt es von Fall zu Fall auch objektive, aus journalistischer, unabhängiger Sicht realisierte Beiträge zum Zustand der Religionen. Auch das Kulturradio „France Culture“ hat sein eigenes religiöses Programm am Sonntagmorgen, sogar die Freidenker, die Freimaurer und die Gemeinschaft der Rationalisten haben da ihr Programm, das sie selbständig gestalten. Die Militärseelsorge müsste erwähnt werden mit 147 katholischen Geistlichen in einem eigenen Bistum, auch die anderen Religionen, auch die Muslime, habe ihre Militärseelsorger. Die heute recht lesenswerte und aufgeschlossene katholische Tageszeitung „La Croix“ (der Atheist Alfred Grosser war Jahre lang ein Kommentator dort) mit einer Auflage von ca. 100.000 Exemplaren erhält – wie andere Tageszeitungen auch – Unterstützung vom Staat, zur Zeit etwa 4, 4 Millionen Euro pro Jahr.
10.
Problematisch empfinden es viele, dass in den staatlichen Schulen kein Religionsunterricht erteilt wird. Der Staat versucht seit Jahren, überkonfessionelle Religionskunde anzubieten, über die „religiösen Tatsachen“, wie es heißt. Aber es fehlt noch an qualifizierten Lehrern. So erreicht dieses Angebot bisher nur eine Minderheit. Die katholische Kirche hat als eine Art ergänzenden Unterricht den konfessionellen Religionsunterricht am Nachmittag in den Gemeindehäusern eingerichtet, aber angesichts der zunehmenden Belastungen in den Schulen nehmen nur wenige Schüler dieses Angebot wahr.
11.
An üppige Gehälter, wie sie die Bischöfe in Deutschland erhalten, können französische Bischöfe freilich nicht denken: Bischöfe wie alle Priester erhalten – aufgrund von Spenden der Gläubigen – ein Gehalt, das dem offiziellen Mindestlohn entspricht, also etwa 1.500 Euro monatlich. Das ist auch das Gehalt des Pariser Erzbischofs. Zum Vergleich: Die Erzbischöfe von Köln oder München haben ein Gehalt von mehr als 10.000 Euro monatlich. Viele französische Priester sagen, dass sie mit dieser finanziellen Ausstattung zufrieden sind.
12.
Die katholische Kirche aber deutet die Republik manchmal doch noch als „übelwollend“ der Kirche gegenüber. So zeigt die Kirche oft noch ihr kämpferisches Gesicht.
Aktuell (im November 2020) gibt es wieder Konflikte zwischen der katholischen Kirche und dem Staat. Bei den aktuellen Auseinandersetzungen um die Einschränkungen wegen „Corona“ protestieren die Bischöfe gegen die Bestimmungen des Staates, in Zeiten des lock down nur 30 Teilnehmer an den Messen zuzulassen. Man braucht nicht viel Phantasie, dass sich auch in dieser Frage die Kirchenführung gegenüber dem Staat durchsetzt, zumal Papst Franziskus explizit auch die laicité kritisiert hat! Der Drang, die Gesellschaft und den Staat „moralisch“ zu beherrschen, ist in der Kirche immer noch lebendig.
Tatsächlich hat sich also der „conseil d Etat“, der Staatsrat, also eine Art oberstes Verwaltungsgericht, Ende November zugunsten der bischöflichen Forderungen ausgesprochen und die Regierung aufgefordert, viel mehr als nur 30 Personen in den Messen zuzulassen. Der Staatsrat hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese großzügige Haltung des Staates der Kirche gegenüber (und sicher dann im Gefolge auch allen anderen Religionen gegenüber) nicht verglichen werden kann mit Teilnahmebeschränkungen in Kinos, Theater usw. Ob dadurch die Beziehungen zwischen Kirche und Kultur zum Guten befördert werden, ist die Frage.
In Versailles jedenfalls, einem der Zentren des konservativen Katholizismus, fanden dann auch Ende November viele Messen statt mit mehr als hundert Teilnehmern, freilich, so wird betont, unter Beachtung der Hygiene – Regeln. Dass im Osten Frankreichs (Mulhouse) die ersten großen Corona-Ausbrüche nach Massen – Gottesdiensten evangelikaler Charismatiker stattfanden, scheint vergessen zu sein.
Alles Jammern katholischer Kreise, auch außerhalb Frankreichs, über die Schwäche der Kirche in der laicité in Frankreich ist in meiner Sicht also verlogen. Dass immer weniger Franzosen sich heute (etwa 50 Prozent, darunter die meisten ältere Leute) zum Katholizismus bekennen, hängt mit der dogmatischen Unbeweglichkeit der Kirchenführung zusammen. Eine Kirche, die nur zölibatäre Männer als Leiter von Eucharistiefeiern gelten lässt, gräbt sich förmlich ihr eigene Grab: Der Klerus in Frankreich ist im Greisenalter, und viele der wenigen Jüngeren Priester sind theologisch nicht gerade die muntersten. Es gibt Bistümer, wie Sens – Auxerre, wo nur noch 14 Priester laut offizieller Statistik, „jünger als 75 Jahre“ sind. Und diese „Jüngeren“ stammen meist aus Polen oder Afrika…
13.
Noch einmal: Die Sache war ab 1905 klar: Frankreich ist kein konfessionell geprägter Staat mehr. Keine Konfession ist Staatsreligion, wie einst im ancien régime. Die Republik ist religiös und weltanschaulich neutral, und gerade dadurch ermöglicht sie es, den verschiedenen Religionen in einem toleranten Miteinander in der Gesellschaft zu leben. Die französische Republik spricht von Gott, weil sie als Republik schlicht und einfach nichts von Gott wissen kann. Die Republik ist also wirklich gott-los, aber diese Haltung ermöglicht gerade den unterschiedlichen Religionen mit ihrem unterschiedlichem Gottes-Begriff ein Leben in Freiheit. Der gottlose Staat ist kein atheistischer Staat, wie es etwa die Sowjetunion unter Stalin war, die Französische Republik sieht in ihrer eigenen Gott-losigkeit gerade die Ermöglichung des pluralen religiösen Lebens. Wie ein Staat aussieht, der selbst einem konfessionell bestimmten Gott verpflichtet ist, sah man etwa in der verbrecherischen Diktatur des katholischen Staatschefs Franco oder des ultra – brutalen katholischen Diktators Trujillo in der Dominikanischen Republik oder in der Gegenwart etwa in Saudi-Arabien usw. Man möchte also mit vielen Theologen sagen: Gott sein Dank ist die Französische Republik gott – los, aber nicht atheistisch, um es noch mal zu sagen!
Und, nebenbei, wenn sich das Grundgesetz der Bunderepublik Deutschland in seiner Präambel auf „Gott“ bezieht, so ist damit bekanntlich nicht der trinitarische Gott der christlichen Dogmen und Kirchen gemeint. Sondern das Wort Gott wird hier als eine Art transzendentes Symbol verwendet, um den Menschen einzuschärfen: Es gibt eine Begrenztheit staatlicher und damit menschlicher Gewalt! Der Staat und seine Gesetze sind nichts Absolutes. Der Staat darf niemals sich selbst zu etwas Göttlichem erheben und erklären! (siehe dazu die wichtigen Ausführungen des Rechtsphilosophen Horst Dreier in seinem Buch „Staat ohne Gott“, München, 2018, S. 183 f.)
14.
Mit dem Islam tut sich der Staat seit Jahren schwer. Die Republik, der eigentlich nicht in die inneren Angelegenheiten irgendeiner Religionsgemeinschaft eingreifen darf, hat immerhin vor einigen Jahren schon selbst die Initiative ergriffen, die verschiedenen muslimischen Vereine unter einem gemeinsamen Dach zu vereinen. Diese Form staatlicher aktiver Religionspolitik diente dem Zweck, eine zentrale islamische Organisation als Ansprechpartner zu schaffen. Die verschiedenen Vereine der Muslime waren dazu nicht in der Lage. Genaue Zahlen über Muslime in Frankreich liegen nicht vor. Religionsstatistiken zu führen, verbietet das Gesetz der Trennung von Kirchen und Staat. Man schätzt, dass sich etwa 5 Millionen Menschen zum Islam bekennen. Sie werden von ca. 1.200 Imamen betreut, die meist aus arabischen Ländern stammen, ihnen stehen insgesamt 2.000 Gebetshäuser zur Verfügung, manchmal gibt es in größeren Städten ansehnliche repräsentative Moscheen, deren Bau seitens der übrigen Bevölkerung immer hoch umstritten war. Oder es sind meist nur schlichte Säle und einfache Räumlichkeiten. Die neuen Prinzipien der Republik, über die man im Februar 2021 diskutieren will, sollen dafür sorgen, dass Muslime besser gebildet werden, von Imamen, die alle in Frankreich ausgebildet werden, und in Moscheen predigen, die nicht von arabischen Regimen finanziert werden usw. Vor allem gilt es, den rechtlichen Status der islamischen Gemeinden zu verändern: Der Status soll, wie bei den Kirchen, als „association cultuelle“ nach den Gesetzen von 1905 gestaltet sein.
15.
Tatsache also ist, dass Staatspräsident Macron fest entschlossen ist, die muslimischen Vereine stärker zu kontrollieren, Aufrufe zu Hass und Terrror sollen schnell stärker bestraft werden… ein islamistischer Verein mit dem Titel „Barakacity“ wurde bereits aufgelöst.
Es darf aber bezweifelt werden, ob diese Maßnahmen der Politik allein hilfreich sind, „den Islam“ in die französische Republik stärker zu integrieren, um dann sozusagen einen französischen Islam zu schaffen, von dem durchaus auch einige liberale Imame in Frankreich sprechen…
Wenig hilfreich ist die unterschwellig auch in staatlichen Behörden spürbare Meinung: Der Islam und damit die Muslime seien im allgemeinen verdächtig, sie seien eher als andere polizeilich zu überprüfen, sie seien also a priori keine zuverlässigen Menschen. Solch eine Politik hinterlässt tiefe Verletzungen bei den Menschen. Die zerrissene Gesellschaft wird auf diese Weise nicht geheilt. Die Französische Republik hat große demokratische Ideale. Sie werden leider nicht für alle Bewohner und Mitbürger (denn sehr viele Muslime sind französische Staatsbürger!) angewendet. Die Krise westlicher Demokratien wird nur überwunden werden können, wenn die leitenden Prinzipien dieser Demokratien wirklich praktisch gelebt werden. Gerade im Blick auf die Schwachen, die Armgemachten, die Flüchtlinge, die Frauen usw. müssen Politiker darauf verzichten, bloß Sprüche zu machen oder an ihre nächste „Wiederwahl“ zu denken. Laicité ist eigentlich ein Bekenntnis. Und ein Bekenntnis hat nur Sinn, wenn es gelebt wird … auch von den Politikern und Bürokraten.

Copyright: Christian Modehn. www.religionsphilosophischer-salon.de

Friedrich Engels – der Verteidiger des Proletariats. Ein Philosoph, der nur ein verdorbenes Christentum kennenlernte: Friedrich Engels

Ein Hinweis von Christian Modehn

Friedrich Engels, der als “reicher Jüngling” begann, wurde durch die Vernunft, durch philosophische Reflexionen, durch Freundschaft (mit Karl Marx), durch Mitleiden und Empörung angesichts des himmelschreienden Elends (in England) zu einem die Welt-bewegenden Menschen. Aber im 20. Jahrhundert wurde sein Denken missbraucht in den realsozialistischen Regimen.

1.
Der Religionsphilosophische Salon Berlin kann den 200. Geburtstag von Friedrich Engels am 27. November 2020 nicht übersehen (Engels hat Marx überlebt, er ist am 5. August 1895 in London gestorben).
Zu unserem Focus „Philosophie der Religion“ sollen hier einige Stichworte genannt werden. Dabei wird heute von Engels – Forschern immer deutlicher betont: Die eigene intellektuelle, philosophische Leistung Friedrich Engels darf überhaupt nicht zugunsten von Karl Marx heruntergespielt werden. Nur im Zusammenhang mit Engels kann also von einer „marxistischen Philosophie“ gesprochen werden. Dabei bleiben die wichtigen, auch philosophischen Beiträge Friedrich Engels, zumal nach dem Tod von Karl Marx (1883), hier weithin unberücksichtigt.

2. Das fromme Elternhaus und die pietistischen Pastoren

In Wuppertal -Barmen wuchs Friedrich Engels in einer frommen pietistischen Unternehmer – Familie auf. Sie gehörte der calvinistisch – reformierten Tradition an, die Mutter hatte einen niederländischen Hintergrund. Ohne diese tiefe Bindung des jungen Engels an diese pietistischen Kirchen-Praxis ist dessen spätere Kritik an der christlichen Religion und den Kirchen nicht zu verstehen. Andererseits hat die frühe Kenntnis der Lehren der Urkirche, etwa in den Evangelien, durchaus bleibende Spuren bei Engels hinterlassen, nur so wird das ethische und politische Engagement Engels für das Proletariat verständlich.
Wuppertal – Barmen: Diese Stadt war also ein Zentrum extrem frommer Gemeinden und entsprechender Prediger, wie Friedrich Wilhelm Krummacher, den der junge Engels kannte, er schreibt: „Da heißt es: Der und der liest Romane, aber der Pastor Krummacher hat gesagt: Romanenbücher seien gottlose Bücher. Da werden komplette Ketzergerichte gehalten. Da wird der Wandel eines Jeden, der diese nicht besucht, recensiert. Jemand ist vorgestern im Concert gesehen worden – und sie schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Und was sind das für Leute, die so reden? Unwissendes Volk, die kaum wissen, ob die Bibel chinesisch oder hebräisch geschrieben. Ich habe eine rasende Wut auf diese Wirtschaft, ich will mit dem Pietismus und dem Buchstabenglauben kämpfen, solange ich kann.“ (Quelle: Deutschlandfunk vom 13.5.2013, Beitrag von Manuel Gogos).
Als Friedrich Engels in Bremen weitere pietistische Pfarrer kennenlernt, schreibt er: „Ich begreife nicht, wie die orthodoxen Prediger so orthodox sein können, da sich doch offenbare Widersprüche in der Bibel finden. Worauf gründet sich die alte Orthodoxie? Auf Nichts, als auf – den Schlendrian. Wo fordert die Bibel wörtlichen Glauben an ihre Lehre? Das ist ein Tödten des Göttlichen im Menschen, um es durch den todten Buchstaben zu ersetzen.“(ebd.)

3. Die Kirche in England in der Kritik

Vor der wichtigen Publikation „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845) hatte Engels im Jahr 1844 Beiträge für die Zeitung „Vorwärts“ verfasst über „Die Lage Englands“. Darin spricht Engels auch über die Bedeutung bzw. die schwindende Relevanz der englischen Staatskirche, die ja ihre armen und ausgehungerten Untertanen zum Sonntagsgottesdienst gezwungen hatte. Engels erinnert etwa an das Gesetz, „dass jeder, der sonntags ohne gehörige Entschuldigung aus der Kirche bleibt (also nicht am Gottesdienst teilnimmt, CM) mit Geldstrafe und respektive Gefängnis dazu anzuhalten ist… Selbst hier im zivilisierten Lancashire, ein paar Stunden von Manchester, gibt es einige bigotte Friedensrichter, die eine Menge Leute wegen unterlassenen Kirchenbesuchs zu mitunter sechswöchentlichem Gefängnis verurteilten“. Aber Engels sieht genau, dass diese rigiden Religionsgesetze auch im Falle von Gotteslästerung allmählich „veralten“, wie er sagt, während nur die christlichen Gruppen noch an den Gesetzen festhalten, „damit das Damoklesschwert der christlichen Gesetzgebung wenigstens über dem Haupt der Ungläubigen schweben bleibe und vielleicht als Drohung und Abschreckung fortwirke.“ (Quelle. http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_569.htm)

Theologisch ist es klar: Diese verrückten autoritären Verhältnisse in der rigiden Staatskirche erzeugen erst die religiöse Distanz, verursachen also den Atheismus der Arbeiterklasse. Das gilt sicher nicht nur für England, sondern überall, wo Arbeiter in der Profit-Gier-Wirtschaft als „Sachen“ behandelt wurden und werden.
Um den moralischen, politischen und sozialen Verfall in England zu begreifen, der die Armen zur Teilnahme am Gottesdienst zwang, lese man einige Passagen des Buches „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“: „Mir ist nie eine so tief demoralisierte, eine so unheilbar durch den Eigennutz verderbte, innerlich zerfressene und für allen Fortschritt unfähig gemachte Klasse vorgekommen wie die englische Bourgeoisie. […] Für sie existiert nichts in der Welt, was nicht nur um des Geldes willen da wäre, sie selbst nicht ausgenommen, denn sie lebt für nichts, als um Geld zu verdienen, sie kennt keine Seligkeit als die des schnellen Erwerbs, keinen Schmerz außer dem Geldverlieren. […] Und wenn der Arbeiter sich nicht in diese Abstraktion hineinzwängen lassen will, […] wenn er sich einfallen läßt zu glauben, er brauche sich nicht […] als Ware im Markte kaufen und verkaufen zu lassen, so steht dem Bourgeois der Verstand still. Er kann nicht begreifen, daß er mit den Arbeitern noch in einem anderen Verhältnis steht als in dem des Kaufs und Verkaufs, […] er erkennt keine andere Verbindung zwischen Mensch und Mensch an, als die bare Zahlung.“

4. Engels und das Urchristentum

1883 und noch einmal 1894 befasst sich Engels mit der Geschichte des Urchristentums. Die frühe Kirche und die Texte des Neuen Testaments interessieren ihn wieder, aber unter ganz anderen Bedingungen als zu seiner Jugendzeit in Wuppertal – Barmen. Nun sieht Engels, dass es zwischen der Geschichte des Urchristentums und der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts viele Verbindungen gibt. Das Urchristentum ist „im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter: Es trat zuerst auf als eine Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen […]. Beide, Urchristen und Arbeiter, werden verfolgt und gehetzt, ihre Anhänger geächtet, unter Ausnahmegesetze gestellt.“ In einem eigenen Beitrag befasste sich Engels im Juli 1883 mit dem neutestamentlichen Buch der Offenbarung des Johannes (die sogen. Apokalypse). Dabei fällt auf, wie stark Engels die damals entstehende historisch-kritische Bibelforschung kennt und respektiert. Indem Engels das Urchristentum als eine tendenziell revolutions – bereite Bewegung verstand, wurden Perspektiven eröffnet für ein aktuelles Christentum, das mehr ist als eine Ideologie der Bourgeoisie.

5. „Das Zeitalter des heiligen Geistes“

Bemerkenswert ist auch das frühe Interesse Friedrich Engels an der Geschichtstheologie des mittelalterlichen Theologen und Abtes Joachim von Fiore: Für dessen Spekulationen hatte Engels Sympathien (im Jahr 1842), auch er meinte, es könnte eine dritte, vom heiligen Geist allein geleitete Epoche anbrechen, nach den Epochen des „himmlischen Vaters“ und des „Sohnes“… „Das ist unser Beruf“, schrieb Engels, „dass wir dieses Grals Tempeleisen werden, für ihn das Schwert um die Lenden gürten und unser Leben förmlich einsetzen in den letzten heiligen Krieg, dem das tausendjährige Reich der Freiheit folgen wird“ (zit. in Wolfgang Eßbach, „Religionssoziologie I“, Paderborn 2014, S. 619).

6. „Das ökonomische Moment ist nicht das einzig bestimmende…“

Noch etwas, das mir wichtig erscheint: In einem Brief an Joseph Bloch vom 21.9.1890 teilt Engels eine interessante grundlegende Nuance mit im Verstehen dessen, was “man“ bis heute gewöhnlich in der dogmatischen Marx-Engels-Interpretation der sogenannten sozialistischen Staaten verbreitet hat. Joseph Bloch war Redakteur der „Sozialistischen Monatshefte“ in Berlin. Engels wollte in dem Brief zeigen, so der Kulturszoziologe Prof. Wolfgang Eßbach, dass sich nach dem Tod von Karl Marx Verkürzungen der Marxschen Theorie in der deutschen Arbeiterbewegung und somit auch in der Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Opponenten festgesetzt hatten. Diese Verkürzungen wollte Engels „korrigieren“ (ebd. S. 722). Zum Engels – Text selbst: http://library.fes.de/sozmon/pdf/1895/1895_19.pdf .
In dem hoch interessanten Brief schreibt Engels u.a.: „Die ökono¬mische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form…“

7. Das unchristliche Christentum

Die Erinnerung an Friedrich Engels anlässlich seines 200. Geburtstages führen zu einem Menschen, der sich christlich nennende Gesellschaften und einen sich christlich nennende Staaten erlebt, wahrnahm und analysierte. Dieses Christentum bewies in der Praxis nicht die geringste Spur von Menschlichkeit gegenüber den Armen und Unterdrückten, der absoluten Mehrheit der Menschen. Engels wurde auch durch philosophische Reflexionen zu einem Atheisten. Aber der Gott, den er zurecht seit der Jugend ablehnte, hatte mit dem Gottesbild Jesu und dem zentralen Gebot der Nächsten-Liebe nichts zu tun. Insofern ist der Atheismus von Engels auch kirchlich bedingt: Kirchlich verursachter Atheismus – das ist ein Thema, das der Religionsphilosophische Salon schon häufig debattiert hat – auch aus aktuellem Anlass.
Dabei wird nicht geleugnet, dass es auch zu Zeiten von Engels vereinzelt Pastoren, Theologen, kirchliche Gemeinschaften gab, die den Armen Beistand und Hilfe leisteten. Aber sie waren – was ja zunächst nicht zu verachten ist – nur fürsorglich – diakonisch tätig. Sie hatten keinen Mut, keine kritische Intelligenz, die Gesellschaft, auch die Ökonomie, zu untersuchen, die diese elenden Verhältnisse erzeugt. Die Kirchen und ihre Kirchenleitungen waren Teil der herrschenden Oberschicht, die jede kritische Gesellschaftsanalyse unterdrückte und Parteien verfolgte, die die Armen und die Arbeiter organisierten.

8.Ausblick
Der Politologe und Autor Prof. Michael Krätke über Friedrich Engels: „Engels erfand den Marxismus und war doch kein richtiger Marxist. Er war ebenso gut ein Revisionist und damit in guter Gesellschaft“.

Siehe auch die interessante website aus Wuppertal: Engels2000-hotline (LINK: https://www.wuppertal.de/microsite/engels2020/index.php)

Copyright: Christian Modehn. www.religionsphilosophischer-salon.de

Paul Celan: Vor 100 Jahren geboren – lebendig als Zeuge des Grauens

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Hoffentlich nicht nur am 23. November 2020, seinem Geburtstag vor 100 Jahren, erinnern sich nachdenkliche Menschen an Paul Celan. Über sein Leben und Leiden kann man sich anderswo informieren. Schon anlässlich der Erinnerung (am 20.4.2020) an seinen Todestag vor 50 Jahren sind etliche neue Studien erschienen. Jetzt auch: Die Gesamtausgabe seiner Gedichte , kommentiert! Erschienen bei Suhrkamp, 1262 Seiten für nur 34 €.
Celans Gedichte erschließen sich bekanntlich nicht der schnellen Lektüre. Sie sind nicht nur schwierig, sie müssen von der „Sache her“ schwierig sein. Denn die Welt des Grauens, die Welt des systematischen Tötens in den KZs, den Lagern der mordenden Deutschen, der Nazis, ist zwar – im politisch -ideologischen Zusammenhang zu verstehen. Denn nur wer dieses Grauen versteht, kann für die Zukunft neues Grauen verhindern. Aber Paul Celan zeigt: Nur in höchster Konzentration des Geistes, also mit der Entschiedenheit, der Opfer, der Juden, vorbehaltloses zu gedenken, gelingt der Versuch auch eines umfassenden, auch poetischen, d.h. von Empathie geprägten Verstehens.
2.
Gedenken heißt darum die Haltung, mit der alles Sich-Mühen mit den Gedichten Celans beginnt, und diese Haltung begleitet auch alles immer wieder neu versuchte Verstehen . Gedenken! Celan ist ein Zeuge dafür, dass es niemals eine damnatio memoriae (wie man im „alten Rom sagte) geben darf. Also eine öffentliche wie private „Verdammung und Auslöschung des Gedächtnisses und der Erinnerung“. So wurden von Politikern, die nichts mehr galten und gelten sollten, alle Statuen zerstört, alle Bilder vernichtet.
3.
Es darf niemals geschehen, dass politisch und geistig Verirrte in der Politik eine damnatio memoriae durchsetzen: Die also darauf drängen, den Holocaust bzw. die shoa, sollte als ein banales Ereignis abgetan werden, wie dies führende Politiker der AFD und anderer rechtsextremen Gruppen heute propagieren. Dieser massive Versuch einer damnatio memoriae der Juden findet also, wie alle wissen, in den letzten Jahren verstärkt statt. Die Schändungen von jüdischen Friedhöfen bis hin zu antisemitisch motiviertem Mord sind Versuche, eine Auslöschung der Erinnerung an Juden zu betreiben. Diesen totalen Anspruch verfolgte die NSDAP. Paul Celan (und sein Werk) ist ein Zeuge dafür, dass niemals die Erinnerung an das Grauen ausgelöscht werden darf.
4.
Es ist das Wort und die Tat des „Ein-gedenkens“, das gut die Haltung Celans trifft, wenn es um seine eindringliche Gestalt der Erinnerung geht: Es ist das Wort und die Handlung des Ein-gedenkens. Es zielt darauf, das Erinnerte im eigenen Geist zu bewahren, es dort aufzuheben, weil das Erinnerte eben nichts Objekthaft – Neutrales ist. Sondern weil es um Menschen geht, weil es also Erinnerte sind, Menschen, in deren Sein man förmlich im Erinnern ein-tritt. Das Eingedenken als der intensiven Form des Gedenkens ist viel mehr als das Andenken, das oberflächlich bleibt, weil es förmlich nur das Äußere berührt. Wer das Eingedenken übt und lebt, der holt die Vergangenheit (der Opfer z.B.) in seine Gegenwart.
5.
Das lebendige Eingedenken ist sozusagen eine Steigerung des Gedenkens, das oft gerade an „Gedenktagen“ einen bloß äußerlichen, pflichtgemäßen Charakter hat, ohne tiefere Wirkung. Wie viele Gedenktage anlässlich eines Kriegsendes wurden schon veranstaltet mit Sonntagsreden und wie wenig wurden Kriege verhindert durch diese Gedenktage und Gedenkreden. Wer das Eingedenken vollzieht, verbindet sich geistig und seelisch und politisch mit denen, derer man gedenkt. Sie treten ein in die eigene innere Welt. Sie werden „eins“ mit mir. So können sie „wirken“.
6.
Zum Wort „Eingedenken“: Der Philosoph Walter Benjamin (1892 – 1940) hat bekanntlich umfassend vom Eingedenken geschrieben, Paul Celan kannte ihn wohl nicht persönlich. Aber auch Celan, das sei noch einmal betont, lebte in dem Gedanken, dem Eingedenken – durch das poetische Werk – einen Raum und einen Platz zu geben.
7.
Nebenbei: Es wäre reizvoll, zumal für ein freies und spontanes Philosophieren inmitten der deutschen Sprache, Verben mit der Vorsilbe EIN auf deren tiefere Bedeutung zu untersuchen. Das muss ja nicht gleich zu sprachphilosophischem Meinen im Sinne Heideggers führen. Man denke also etwa an EIN-führen, EIN-lassen, EIN-Sehen, auch das: EIN-Schreiben, immer wird durch die Vorsilbe EIN eine Intensivierung des Ausgangsverbs erreicht.
8.
Zum Schluss:
In dem Gedichtband “ATEMWENDE” von 1967 spricht Celan ganz am Ende des Bandes von der rettenden Macht der Hoffnung, von Gott?:

EINMAL,
da hörte ich,
da wusch er die Welt,
ungesehn, nachtlang,
wirklich.

Eins und Unendlich,
vernichtet,
ichten.

Licht war. Rettung.

PS: Das merkwürdig erscheinende Wort „Ichten“ ist mittelalterliche Sprache, es hat wohl die Bedeutung: „wurde es zu etwas gemacht“. Es wurde also etwas vernichtet. So dass Licht war und Rettung.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Theologisches Denken gelingt nur im Miteinander

„Theologie aus Beziehung“ – ein neues Buch der Theologin Hadwig Müller
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
So war es Jahrhunderte lang: Die (Lehr)Bücher der katholischen Dogmatik, der Moraltheologie oder des Kirchenrechts usw. wurden an Schreibtischen verfasst, in Klöstern oder in Studierstuben von Priesterseminaren oder bischöflichen oder vatikanischen Palästen. Theologie, als Rede von dem Gott der Kirchen, entstand auf diese Weise in Europa. Und Europa war absolut, für alle Welt, maßgebend! Und es waren Männer, die „den“ Glauben „der“ Kirche den anderen „zum persönlichen Glauben“ vorsetzten. Katholische Theologie hatte, global betrachtet, im monologischen Denken einzelner oder gleichgesinnter Kleriker- Gruppen, ihren Ursprung und ihre Mitte. Das änderte sich nach 1970, also nach dem Ende des 2. Vatikanischen Konzils. Da fühlten sich auch Laientheologen berufen, ihre Ethikbücher oder ihre Fundamentaltheologie zu schreiben, meist aber auch als einzelne am Schreibtisch. Oft hatten die Autoren die Fragen ihrer Studenten noch im Hinterkopf.
Ich erinnere mich noch an eine zufällige Begegnung unterwegs in München – Schwabing mit dem mir bekannten ökumenisch aufgeschlossenen, also dialogfreudigen katholischen Laientheologen (und Ex-Dominikaner) Otto Hermann Pesch. Er erklärte mir stolz, er schreibe gerade an seiner katholischen Dogmatik. Als ich fragte, ob diese Dogmatik denn von München oder Bayern und den Menschen dort geprägt sei, sagte er mir eher verlegen: „Na ja, irgendwie schon“.
Die Bindung ans Universelle und die Methode des Monologischen überwiegt bei Theologen bis heute. Da und dort gab es früher wenigstens Vorbesprechungen der Sonntagspredigt von Pfarrern mit den Laien. Aber dafür haben die wenigen verbliebenen Priester keine Zeit mehr. Die Beispiele monologischer Theologie sind uferlos. Den nur mit einer monologischen Theologie glaubte die katholische Kirche viele Jahrhunderte lang ihre „Einheit“ zu retten.
Aber, wie gesagt, allmählich ändern sich die Verhältnisse – seit etwa 1970: Katholische TheologInnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien melden sich mit eigenen Studien zu Wort, nicht immer zur Zufriedenheit der vatikanischen Glaubens-Behörde. Die Liste der Bestrafungen und Schreibverbote von TheologInnen aus den genannten Kontinenten ist lang. Einheit kann also Rom nur als Einheitlichkeit verstehen.
2.
Nur wenn man diese Situation vor Augen hat, kann man verstehen, welche Bedeutung die theologische Arbeit von Hadwig Müller hat, gerade dann, wenn sie ihrem neusten Buch den sehr knappen, wie ein Programm gemeinten Titel gibt „Theologie aus Beziehung“. Also, einmal ausführlicher formuliert heißt das: „Theologie als Versuch, von Gott zu sprechen, aber erlebt, erfahren, gedacht und formuliert aus Begegnungen und Dialogen … und nach Begegnungen und Dialogen und Auseinandersetzungen. Und erst danach geschrieben, aber voller Verunsicherung und Infragestellung des eigenen Lebens. Theologie also geprägt von der Anwesenheit der oft befremdlich Anderen“.
3.
Hadwig Müller meint in ihrem Buch immer die konstruktiven theologischen Beziehungen, die zwar auch konfliktreich sein können, die aber nicht in ein Verhältnis der Herrschaft und Willkür ausarten. Schließlich hatten die viele Priester, die des sexuellen Missbrauchs angeklagt wurden und werden, auch „Beziehungen“. Und auch die Beziehungen sind nicht gemeint, wenn Posten an theologischen Fakultäten oder Akademien nur aufgrund von „Beziehungen“ erreicht werden können.
4.
Theologie aus Beziehung also, entstanden im Dialog, im Hinhören und auch im emotionalen “Miteinanderschweigen”: Dies ist das Motto und wie ein Programm eigentlich für alle, die aus dem anstudierten und angelernten, dogmatisch exakten Floskelhaften des Sprechens von dem Göttlichen, von Gott, dem Ewigen, herausfinden wollen. 20 Aufsätze aus zwei Jahrzehnten hat Hadwig Müller unter diesem Titel versammelt. Wer genau in der Bibliographie (S. 327 – 342) hinschaut, wird auf viele weitere, aktuelle Aufsätze, Studien und Bücher verwiesen. Die meisten Beiträge in dem Buch „Theologie aus Beziehung“ sind aus Begegnungen als Lernprozessen in Brasilien entstanden oder in Frankreich. Nach ihrer theologischen Promotion über Lacan zog es Hadwig Müller erst einmal vor, Deutschland zu verlassen, und sich den Fremden, den anderen, auszusetzen, eben in Brasilien, dort lebte sie von 1983 – 1993 vor allem in Basisgemeinden. Sie wird förmlich hineingestoßen in die reale Lebenserfahrung, wie die Armen ihren Gott erleben, als eine Wirklichkeit, die allem Elend zum Trotz Sinn stiftet und Mut macht, die Misere der totalen Ungerechtigkeit zu überwinden. Hadwig Müller sagt von ihren brasilianischen Freunden und Freundinnen, es seien „Menschen, die mich leben lehrten“ (49). Die Gemeinschaft der Unterdrückten – also eine Schule des Lebens: Nicht, um sich in diesem Zustand zu fixieren, sondern um die Gerechtigkeit für alle Wirklichkeit werden zu lassen. Die Autorin erkennt während ihrer Gespräche mit Ausgegrenzten und Armen in Sao Paulo und in Crateus (Nordostbrasilien) in Gemeinschaft mit dem wegweisenden Bischof Antonio Fragoso: „Armut ist geraubtes Leben – und ich war nicht auf der Seite der Beraubten“ (29). Das führt zu weiteren Fragen, die eigentlich das herrschende System einer reichen Kirche erschüttern: „Die Kirche ruft Gläubige dazu auf, die Lebensbedingungen de Armen zu verbessern. Aber sie schweigt meistens darüber, wie sich ihre Beziehung zu den Armen auf ihre Identität als Kirche Jesu Christi auswirkt“ (51f.). Ein Bischof, der als single in einem Palast lebt (wie so viele “Oberhirten” in Deutschland usw.) und dann von der kirchlichen Solidarität mit Armen schwafelt, ist natürlich aprioi unglaubwürdig. Zu einem solchen Satz kann sich Hadwig Müller allerdings nicht aufraffen… Sie schreibt eleganter, aber nicht minder radikal: „Die Option für die Armen verlangt von den Reichen selbst ein anderes Bewusstsein: sich als Bedürftige zu wissen, die selbst aufs Empfangen angewiesen sind und die um nichts anderes als die Armut der Armen“ (55). Was das nun wieder in einer katholischen Kirche in Deutschland bedeutet, die ein Kirchensteueraufkommen im Jahr 2018 von 6,25 MILLIARDEN Euro hat, wird leider nicht erwähnt oder gar ausgebreitet. Dabei hatte ich immer geglaubt, dass durch die Befreiungstheologie sozusagen die Aufmerksamkeit auf die Gelder und Reichtümer der Kirche geschärft wird auch hierzulande…
Sehr eindringlich ist ihr Essay „Der Hunger nach Brot – das Begehren des anderen“. Im Hungern wie im Begehren äußert sich die gleiche Sehnsucht und Angewiesenheit, “nicht ohne andere“ leben zu können. Die viel besprochene Option der Kirche für die Armen ist für die Autorin das „Herzstück der Befreiungstheologie“ (58), aber sicher auch der Mittelpunkt jeder Theologie.
5.
Es wäre für ein weiterführendes Gespräch vielleicht interessant, wenn man auch kritisch die Befreiungstheologen befragen könnte, inwieweit sie in vielen ihrer Aussagen die Bibel fundamentalistisch, im Sinne von wortwörtlich, verstehen. Und inwieweit die einzelnen Verhaltensweisen und Lebensregeln Jesu von Nazareth zu unmittelbar als relevant für die (auch politische) Gegenwart eingesetzt werden. Diese Kritik wird nicht vorgebracht, um die Theologien der Befreiung zu diskreditieren, sondern um andere befreiungstheologische Möglichkeiten aufzuzeigen, die weniger im Verdacht des biblischen Fundamentalismus stehen. Alternativ wäre zu denken und mit den Betroffenen zu besprechen: etwa die Erfahrung und die daraus entstehende Weisheit, dass Gott Mensch wird in Jesus von Nazareth, wie er erlebt wird, dass nun alle Menschen göttliche Würde erhalten! Das ist – ultrakurz gefasst – auch ein Gedanke Hegels und der christlichen Mystiker, etwa Meister Eckarts. Von da aus ließe es sich auch sehr gut eintreten für eine politische Neu-Ordnung, die die Menschenrechte als oberstes „göttliches“ Gestaltungsprinzip anerkennt. Da wäre mehr vernünftige Argumentation möglich als im unvermittelten Verweis darauf, dass Jesus ein armer Handwerker war „wie wir“, dass er solidarisch war und die Frauen und die Armen liebte…Aus solchen biographischen Elemente wird dann unmittelbar geschlossen: „Also sollten wir auch solidarisch sein etc…“. Wenn hingegen jeder Mensch von unendlichem göttlichen Wert ist, kann viel besser argumentativ und vernünftig auch eine mögliche „Revolution“ zugunsten und mit den Armen eingeleitet werden.
6.
Nach Deutschland zurückgekehrt, konnte sich Hadwig Müller u.a dem deutsch-französischen Dialog widmen, aber immer unter der kaum beachteten, aber wichtigen Perspektive der Religion und der katholischen Kirche. Die Autorin hat u.a. die hochinteressanten und durchaus – leider – einmaligen Entwicklungen im Erzbistum Poitiers genau kennengelernt. Sie erlebte dort eine Kirche, die, wie bekannt, auch von dem zunehmenden Mangel an Priestern bestimmt ist. Die aber daraus, geleitet von ihrem mutigen Bischof Albert Rouet, neue Konsequenzen zog: Teams von Laien werden in den Dörfern – und Stadt-Gemeinden ohne Priester zu verantwortlichen Animateuren der Gemeinde. Deutsche Pfarreien, das weiß ich, haben sich das Projekt in Poitiers angeschaut, aber meines Wissens nichts davon als Modell für Deutschland „übernommen“. Die Fixierung auf den Klerus ist also in Deutschland nicht zu brechen. Und das Modell von Poitiers macht eben auch viel Arbeit – bei den Hauptamtlichen…
7.
Diese hier besprochenen Themen erscheinen sicher vielen philosophisch Interessierten, etwa in Berlin, der säkularen Stadt, wie Einblicke in eine ferne noch kirchlich bestimmte Welt. Aber deutlich wird: Wenn sich TheologInnen auf das Zuhören, das geduldige Mitsein, den Dialog einlassen, und sich dabei in Frage stellen lassen: Dann gibt es neue, ungeahnte Einsichten. Das gilt ja auch für die Philosophien.
8.
Ein gewisses Hemmnis für säkular, „bloß“ philosophisch Interessierte ist sicher der Untertitel des Buches: „Missionstheologische und pastoraltheologische Beiträge“. Diese speziellen Zuordnungen gelten wohl dem zweifellos begrenzten Lesepublikum innerhalb der Kirchenorganisation, die mit diesen Begriffen noch etwas anfangen kann. So aber werden mit diesen Begriffen förmlich sprachliche Barrieren aufgerichtet, die verhindern, dass säkulare und „bloß“ philosophisch Interessierte dieses Buch aufschlagen und einiges lesen. Aber das Thema „Theologie aus Beziehung“ ist bleibend inspirierend: Eine ganze Buchserie könnte unter diesem Titel erscheinen aus Beziehungen von Theologen mit Arm-Gemachten hierzulande oder mit Schwulen und Lesben und deren neuen Familien oder mit Flüchtlingen oder mit Opfern rechtsextremer Gewalt. In jedem Fall werden nun vermehrt Menschen fragen: Spricht da ein Bischof aus Beziehung mit anderen Menschen, spricht er aus dem Leben als Begegnung, der Verantwortung, der Irritation durch andere? Und man wird sicher in Zukunft noch mehr theologische Bücher beiseite legen, die nur altbekannte Begriffe dreimal hin- und herwenden und den Eindruck bestärken, vom einsamen Schreibtisch aus eine zeitgemäße Spiritualität oder Theologie entwickeln zu können. Falls diesen meinen Hinweis Theologinnen lesen, bin ich gespannt, wie sie mir plausibel machen, dass nicht allein Hadwig Müller Theologie aus wirklichen Beziehungen, Begegnungen und Lernbereitschaft gestaltet…

Hadwig Ana Maria Müller, „Theologie aus Beziehung. Missionstheologische und pastoraltheologische Beiträge“. 351 Seiten. Grünewald-Verlag, Ostfildern, 2020, 38 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

(Nebenbei: Das Thema Befreiungstheologie bewegt mich seit vielen Jahren: Ich habe 1973 in der Philos.-Theolog. Hochschule St. Augustin bei Bonn die erste große Tagung über die Befreiungstheologie in Deutschland organisiert. 1975, also zu Beginn der Debatten über die Befreiungstheologie in Deutschland, habe ich einen kleinen Essay als Broschüre veröffentlicht „Der Gott, der befreit“. 1977 habe ich zusammen mit Karl Rahner und Hans Zwiefelhofer das Buch „Befreiende Theologie“ herausgegeben…)

Meinungsfreiheit und damit auch Blasphemie als Kunst sind normal in einer Demokratie! Und die Menschenrechte sind etwas “säkulares Heiliges”

Gott oder ein Prophet lässt sich von Menschen überhaupt nicht ärgern. Woher sollten Menschen das auch wissen?

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
In Frankreich, meint Prof. Thomas Römer, Direktor des „College de France“ (Paris) in einem Interview mit der Neuen Züricher Zeitung vom 9.11.2020, könnten jetzt „Glaubenskriege“ ausbrechen: Also gewalttätige Auseinandersetzungen fundamentalistischer, völlig unberechenbar agierender „Islamisten“ gegen die absolute Mehrheit der Franzosen und ihre Republik. Zu dieser Mehrheit der Franzosen gehören sicher auch die vielen moderaten Muslime, einzelne Imame, wie in Drancy oder Bordeaux haben sich explizit zur Republik und ihren Werten bekannt.
Die tödliche Gewalt islamistischer Kreise in Europa und anderswo hat viele Ursachen. Eine Ursache ist sicher begründet in ihrer Unfähigkeit dieser (nach außen hin) Frommen, satirische künstlerische Darstellungen des Propheten in französischen Zeitungen eben als Satiren wahrzunehmen. Diese Mörder geben an, ihr Glaube an Gott und den Propheten sei verletzt. Und. „Gott selbst will Rache“. Manche kritischen Beobachter sagen zurecht, dass auf diese Weise die Verbrecher ihre tötende Gewalt förmlich religiös entschuldigen. Und von den eigentlichen mörderischen Motiven ablenken.
Die meisten Franzosen (wie wohl die meisten Menschen in Europa) können doch wohl unterscheiden: Handelt es sich bei den satirischen Darstellungen um künstlerische Kritik gegen einzelne, heute lebende Personen? Solche satirischen Darstellungen sind abzulehnen! ODER: Handelt es sich um allgemein gehaltene Satiren gegen bloß ideale Wesen wie Gott/Göttin/Ewiges bzw. Personen der Vergangenheit, wie etwa Propheten oder Politiker oder Päpste. Im französischen recht ist es so, dass es rechtlich möglich ist, eine Religion als solche, ihre Gestalten und ihre Symbole satirisch zu beleidigen, hingegen ist es verboten, konkreter Anhänger/Mitglieder einer Religion persönlich zu beleidigen (vgl.: https://www.institutmontaigne.org/blog/le-blaspheme-en-france-et-en-europe-droit-ou-delit).
Die Kultur der Satire gibt im guten Sinne zu denken, zu fragen, zu relativieren usw.. Man muss dann erkennen, dass die meisten Menschen diese Unterscheidungsgabe („Kritik der Urteilskraft“ würde Kant sagen) hinsichtlich des Phänomens Blasphemie wohl erworben haben.
Noch einmal: Wenn also Künstler oder Satiriker ein höchstes Wesen, Gott genannt, kritisieren, wird dieses höchste Wesen als solches, Gott, eben NICHT verletzt, sondern nur die immer relativen und oft albernen Bilder des höchsten Wesens werden in Frage gestellt, zugunsten eines besseren Verstehens! Die Unterscheidung zwischen „Gott an und für sich“ und dem Gott, den Göttern, in immer neuen, relativen Bildern setzt natürlich ein bestimmtes Niveau der Bildung und der Reflexion voraus. Auch viele Christen, so muss man leider sagen, haben dieses Niveau nicht erreicht. Man denke an die orthodoxen Kirchen und ihre Kirchenführer, die Satire in der genannten Form der Blasphemie pauschal für eine Lästerung Gottes selbst halten. Diese Herren Patriarchen in Moskau z.B. meinen im Ernst, der Ewige würde sich durch endliche Menschen beleidigen lassen und so richtig böse werden. Theologie haben diese Herren leider nicht umfassend studiert, aber trotz ihrer Unbildung hohe kirchliche Funktionen erreicht und politischen Einfluss leider erlangt.
Ähnliche Entwicklungen hin zu Fanatismus gibt es bekanntermaßen auch im Judentum oder im Islam oder im Buddhismus…
Es sei also ein für alle Mal, als evidente Erkenntnis, die es selten auch in der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie gibt, gesagt: Das höchste Wesen, der himmlische Gott, der Ewige, der Absolute, wie auch immer man „Gott“ hilflos nennt, kann gar nicht von menschlicher Seite beschädigt werden,

2.
Zurück zu Frankreich heute: Der Hass so vieler Muslime in Frankreich auf Frankreich, das sie als ein nach außen hin christliches Land oder einen säkularen Staat verstehen, ist auch durch die soziale und damit auch politische Ausgrenzung von Bürgern muslimischen Glaubens bedingt. Die heutige Gewalt islamistischer Kreise und der befürchtete „Krieg“ sind also nicht nur explizit religiös im engeren Sinn begründet! Zu diesem Thema wurden geschätzte 1000 soziologische, politologische oder psychologische Studien verfasst. Wer dabei tatsächlich kritisch forschte, musste zu der inzwischen allgemein geteilten Erkenntnis kommen: So sehr es auch zahlreiche erfolgreiche und damit reiche Geschäftsleute, Künstler, Autoren, Ärzte etc. mit einem muslimischen Hintergrund in Frankreich gibt: Die meisten Menschen mit arabischen oder , türkischen oder „schwarzafrikanischen“ Wurzeln sind diskriminiert. Diskriminiert in der Qualität ihrer Bildung, ihrer Wohnung, der Wahl ihrer Berufe usw. Und dies gilt auch, wenn die genannten Muslime die französische Staatsangehörigkeit haben. Nebenbei: Auch Christen aus „Schwarzafrika“ oder Haiti werden auch in Frankreich diskriminiert. Mit anderen Worten: Die viel gepriesenen Werte der Französischen Republik (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) gelten vorwiegend für weiße Franzosen oder Hochbegabte oder finanziell bestens Ausgestattete aus den „anderen“ Regionen und Religionen der Welt.
Es sei also, ein für allemal, als evidente Erkenntnis gesagt: Das höchste Wesen, kann nicht beleidigt werden.

3.
Die meisten Franzosen sind nicht bereit, auf Errungenschaften ihrer demokratischen Kultur zu verzichten, dazu gehört die Satire und die Freiheit der Meinung und die Freiheit der Kunst! Diese demokratischen Werte wurden von den Europäern, auch den Franzosen, mit Mühe von den autoritären Machthabern im eigenen Lande erkämpft! Das darf man nie vergessen: Die große richtige Errungenschaft der Meinungsfreiheit und damit auch im letzten der Blasphemie wurde von Franzosen errungen in einem Jahrzehnte langen Kampf gegen dunkle und dumpfe, auch klerikale Mächte im eigenen Land. Man denke an Voltaire, Rousseau, Diderot usw., an die vielen große Denker, die die Französische Revolution in gewisser Weise vorbereiten. Jenes weltgeschichtliche Ereignis also, das mit viel Mühe und langfristig unter vielen Kämpfen die universal geltenden Menschenrechte formulierte und letztlich (!) die Republik über die autoritäre Regierung einzelner Machthaber siegen ließ.
Die demokratischen Bürger haben diese Wahrheit errungen, und diese wollen sie sich nicht von niemandem mehr nehmen lassen. Das hat nichts mit fundamentalistischem Eigensinn zu tun: Die Werte der Demokratie sind als Werte, die selbstverständlich weiterentwickelt, verbessert werden müssen, Ausdruck der Vernunft: Diese Werte garantieren prinzipiell das humane Zusammenleben von Menschen, autoritäre Regime mit ihren Willkürgesetzen hingegen garantieren eben das nicht. Da hat der einzelne überhaupt keine Menschenrechte, die er einklagen kann.

4.
Darum empfinden es heute viele Franzosen als einen Rückschlag, wenn jetzt etwa in Kreisen katholischer Kleriker gefordert wird: Eigentlich sollten wir Katholiken angesichts der abscheulichen Mordtaten und Abschlachtungen der letzten Wochen auf unsere Freiheit der Kritik, auch der Religionskritik und Satire etwa in Charlie – Hebdo verzichten.
Das ist der Ernst der Kleriker (dokumentiert etwa in DIE ZEIT vom 12.11.2020, „Glauben und Zweifeln“) ? Soll man also auf die eigene Kultur der Freiheit, auch der Meinungsfreiheit, verzichten? Würde man damit nicht schon jetzt den Mördern und Schlächtern nachgeben und ihnen sogar recht geben? Wäre der Verzicht auf die Kultur der Meinungsfreiheit und der umfassenden Religionskritik ein Dienst am Frieden in der Gesellschaft? Würden das Morden und Abschlachten dann aufhören? Oder würden sich die genannten fundamentalistischen Kreise andere Objekte ihres Hasses in unserer Gesellschaft suchen, harmloser dem Anschein nach als die bisherigen mörderischen Ziele, eben die Kirchen und Christen, Journalisten und Caféhaus-oder Bar Besucher und die Redakteure einer Satire-Zeitschrift.
Vielleicht würden demnächst diese mörderischen Kreise sich Damenunterwäsche, „Dessous“ – Abteilungen in Kaufhäusern oder Fachgeschäfte für Wein und Whisky aussuchen für ihr mörderisches Tun.

5.
Damit will ich sagen: Um des angeblich lieben Friedens willen mit Islamisten können und dürfen Europäer auf wichtige Inhalte ihrer Kultur nicht verzichten. Die Frage ist nur: Kann man den fundamentalistischen Islam zur Vernunft bringen? Das würde voraussetzen, dass es einen vernünftigen islamischen Glauben gibt, etwa in der allgemein gewordenen Einschätzung, dass sich der Koran nur in der historisch-kritischen Forschung erschließt. In den Moscheen müsste also, wenn es religiös – vernünftig zuginge, gelehrt werden: „Wir Muslime in Europa treten für die Werte der Republik ein. Unser muslimischer Glaube ist unsere private Überzeugung. Sie ist für den einzelnen im privaten Leben, bei Essensvorschriften etwa, gültig, sie kann aber niemals das Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft bestimmen“. Diese Erkenntnis ist natürlich auch für Christen und Juden gültig.

6.
Die Beispiele brutaler Herrschaft und mörderischer Unterdrückung gegenüber den angeblich feindlichen „Anderen“ in „anderen Kulturen“ (Indios, Afrikaner, Asiaten, Juden usw.) durch Christen und ihre Kirchenführer sind so überwältigend, das nur noch die Erkenntnis bleibt: Der Umgang mit den „heiligen Texte“ durch die jeweiligen Frommen bleibt auf den privaten Bereich und der Gottesdienste begrenzt.

7.
Worauf läuft diese vernünftige Begrenzung religiöser Macht hinaus? Ich meine, auf eine Art von Mystik, die weiß: Das Wesentliche im Zusammenhang von Gott und Mensch spielt sich im Geist, in der Seele, des Menschen ab! Pflegt also eure Mystik, möchte man philosophisch als Empfehlung geben. Sucht nicht fundamentalistische Einpeitscher auf, sondern weise Lehrer, selbstkritische und an euren Finanzen desinteressierte Meister der Mystik. Und lasst Staat und Gesellschaft mit euren religiösen Prinzipien aus angeblich heiligen Büchern in Ruhe: Der Staat ist und bleibt weltlich, er ist also allein den Menschenrechten verpflichtet und keinem religiösen Buch.
8.
Und wenn Fromme selbstverständlich als Bürger eines demokratischen Staates politisch und gesellschaftlich aktiv werden, dann immer stets in der selbstkritischen Haltung, mit der Frage: Folge ich jetzt meinen begrenzten religiösen Weisheiten oder tatsächlich den vorrangigen Menschenrechten? Religiöse Menschen haben in der Politik wie alle anderen keinen anderen Auftrag, als die Menschenrechten zur universalen Geltung zu bringen. Der Traum von einer kirchlich beherrschten Gesellschaft, von einem vom Koran oder von der Bibel oder den Weisheitsreden Buddhas oder den Weisheitslehren der Upanishaden bestimmten Staat kann nur als Wahn bewertet werden. Das ist evident. So viel Klarheit hat Philosophie, sie ist kein postmodernes permanentes “Sowohl als auch”. Es gibt letzte Evidenzen auch in der praktischen Philosophie.
9.
Und,theologisch betrachtet, sind die Menschenrechte etwas säkulares “Heiliges”. Demokraten entwickeln sie weiter. Und haben – einmal pathetisch gesagt – kein dringenderes Verlangen, als dass die Menschenrechte politisch und ökonomisch gelten, praktisch gelten. Allen frommen Diktatoren, allen antidemokratischen Präsidenten etc. zum Trotz. Die Menschenrechte sind zwar vernünftig betrachtet evident. Aber die Menschen müssen auch an sie glauben. Nur so, mit diesem emotionalen Impuls auch der Empathie, gelangen wir zur Praxis der Menschenrechte.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Welttag der Philosophie 2020: Welche praktische Bedeutung hat Philosophie heute?

Hinweise von Christian Modehn.

Dieser Beitrag wurde von mir vorbereitet als Grundlage für ein Gespräch in unserem religionsphilosophischen Salon am 21.11.2020, dem Welttag der Philosophie. Nun geht das nicht … wegen Corona. Aber vielleicht hat der eine oder die andere doch noch etwas Lust und vor allem Zeit, selbst, in der Einsamkeit des Nachdenkens, oder im Dialog in kleinstem Kreis, sich auf den Weg des Philosophierens zum Thema zu begeben: Was vermag Philosophie eigentlich heute.

1.
Müssen Philosophen – wieder einmal – beweisen, dass Philosophie heute not—wendig und hilfreich ist für die Gestaltung des individuellen Lebens wie für das Miteinander in Gesellschaften und Staaten? Ja, Philosophen müssen mit allem Nachdruck daran erinnern, dass das systematische und umfassend kritische und selbstkritische Denken (das ist Philosophie) auch heute unverzichtbar ist. Wer bitte schön, soll denn diese Fragen beantworten, etwa Geographen, Mathematiker, Ägyptologen oder Architekten? Also lebenswichtige Fragen wie zum Beispiel: Was ist Gerechtigkeit und wie sollte eine menschenwürdige gerechte Gesellschaft aussehen? Was ist der Maßstab, um etwa einen dem Anschein nach demokratischen Politiker als Diktator zu bezeichnen und ihn möglicherweise als Gefahr für die Menschheit in Pension zu schicken? Wer soll überleben in dem Fall, dass die hilfreichen Medikamente (auch Impfstoffe) für alle Betroffenen nicht reichen? Wer kann mir Wege zeigen, in meinem Leben einen Sinngrund zu entdecken, der das Überleben, geistig wie leiblich, ermöglicht? Ist der Mensch in seinem konkreten Dasein wirklich nur ein Resultat von allerlei Genen oder gibt es auch eine Freiheit des Geistes und des Denkens… Das sind Themen, mit denen sich vorrangig Philosophen befassen sollten und befassen müssen, selbst wenn es durchaus in allen (natur-)wissenschaftlichen Fachgebieten Menschen und speziell Forscher gibt, die über ihren nun einmal begrenzten Fachhorizont (diese fachliche Begrenzung muss ja um der Effektivität willen sein, Begrenzung ist also kein Vorwurf) hinausdenken und damit in den Bereich umfassend philosophischen, umfassend kritischen und selbstkritischen Denkens hinein gelangen.
Philosophie ist also über das spezielle „Fach“ hinausgehend eigentlich und wesentlich „Sache aller Menschen“. Nur: Einige betreiben das Philosophieren dauernd und systematisch forschend, andere, und das sind die meisten, philosophieren explizit gelegentlich, haben Einsichten, die sie im Alltagsgeschäft wieder vergessen.
2.
Damit wird schon Wichtiges angesprochen, wenn es um ein angemessenes Verstehen geht, was denn Philosophie ist. Dazu nur einige Hinweise. Sie werden publiziert anlässlich des „Welttages der Philosophie“ (am 21.11.2020), einer Initiative der UNESCO. Auch der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ hatte deswegen in früheren Jahren eigene größere Veranstaltungen gestaltet.
Was also ist Philosophie? Darauf gibt es zahllose Antworten. Einige Elemente einer Beschreibung ihres Wesens scheinen mir gültig zu sein. Denn nicht alles, was behauptet, Philosophie zu sein, verdient diesen Namen. Man denke daran, dass jede Ideologie einer großen Firma sich „Philosophie“ nennt; da ist es fast schon erträglich, wenn Fitness – Studios die eigenen Trainingskonzepte oder Wohlfühlatmosphären als „Philosophie“ bezeichnen.
3.
Angesichts der aktuellen Beliebigkeit im Umgang mit der Philosophie bzw. den Philosophien, betone ich: Es gibt etwas Normatives, das kann nur etwas Geistiges sein, ohne das Philosophie als solche nicht auskommt. Und ohne Normatives ist kein humanes Leben möglich. Jeder Mensch hat seine Normen, die ihm das eigene Leben ermöglichen. Ob diese Normen immer wirklich umfassend human sind, ist eine andere Frage, die sich nur im philosophischen Disput klären lässt. Da kommt es dann darauf an, dass der einzelne der sich zeigenden Vernunft – Erkenntnis tatsächlich für sein eigenes Leben folgt.
4.
Philosophie beginnt immer und lebt immer in allen Gestalten philosophischen Ausdrucks vom Philosophieren. Philosophieren als Denken und Nach – Denken, als kritisches Fragen und sich selbst befragen, ist der lebendige Vollzug, ohne den es keine Philosophie gibt. Dieses zu betonen, mag banal erscheinen, muss aber angesichts der offensichtlichen Vielfalt der „Philosophie – Begriffe“ gesagt werden. So wie die Praxis des Musizierens, also etwas des ständigen Klavier-Übens und Klavierspielens den Pianisten erst „macht“, so wird man Philosoph durch ständiges Fragen, Nachdenken, Innehalten, Prüfen von Begriffen und allgemeinen Selbstverständlichkeiten. Weil nun aber der Mensch, und zwar jeder Mensch, sich durch Geist und Verstand und Vernunft auszeichnet gegenüber allen Tieren, (deswegen ist der Mensch als durch den Geist ausgezeichnet eben KEIN Tier), ist jeder Mensch grundsätzlich in der Lage, zu philosophieren und möglicherweise Philosoph zu werden.
5.
Die Texte, die den Anspruch haben, philosophische Texte zu sein, sind Ausdruck, „Objektivation“, des Philosophierens bestimmter Menschen, die das Philosophieren zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht haben. Auch Dichtung kann Philosophie sein, philosophische Erkenntnisse offenbare, selbstverständlich auch Kunst und auf andere Art auch Musik.
6.
Die Vielfalt der Einsichten, die philosophische Texte offenbaren, ist keineswegs Ausdruck einer gewissen intellektuellen Schwäche der Philosophie. Die Vielfalt philosophischer Einsichten auch zum gleichen Thema ist notwendig und richtig. Denn die Einsichten sind Ausdruck des Geistes einzelner Menschen oder kleiner Gruppen („philosophische Schulen“). Und zum Wesen des Geistes gehört, dass seine Vollzüge, wie Freiheit, Denken, Handeln, Entscheiden, Gerechtsein, Lieben, Hassen usw. niemals auf eine eindeutige Formel für alle Zeiten gebracht werden. Philosophie kann (und will!) niemals die Eindeutigkeit der Mathematik erzielen, und sie darf auch niemals mathematische Eindeutigkeit als Ideal anstreben. Philosophie als Selbstverständnis des Geistes hat es mit der bleibenden Offenheit des Geistes zu tun. Geist ist immer auch geschichtlich, das wissen wir als Individuen genau: Was man als Kind dachte hinsichtlich des Weltzusammenhangs z.B., kann nicht mehr das sich stets wandelnde Weltverstehen eines Erwachsenen sein. Im Disput, im Dialog, wird Wahrheit erschlossen, selbst wenn sie vorläufig ist und weiterer Dialoge später bedarf. Insofern ist Philosophie eine Art unendlicher Prozess. Und dies ist, noch einmal kein Mangel, sondern Ausdruck der Lebendigkeit des Geistes. Auch die exakten Naturwissenschaftler betonen immer wieder: Alle unsere Erkenntnisse sind letztlich vorläufig.
In der herrschenden Mentalität des Machens und Schaffens und Bewältigens hat das Vorläufige von Erkenntnissen keinen Platz. „Man“ will absolute Sicherheit und befragt Wissenschaftler und Ärzte, was sie für die Zukunft, etwa der Gesundheit, denken, man tut so, als könnten Wissenschaftler und Ärzte das so genau wissen. Wir leben in einer Gesellschaft, die das exakte und sichere Wissen, möglichst für alle Zeiten, zum obersten Gott erklärt hat. Man lebt in totaler Unsicherheit und sucht Sicherheit bei den Wissenschaften…
7.
Dem widerspricht Philosophie selbstverständlich. Sie ist nicht nur vielfältig, weil sie sich mit den grundlegenden Fragen des Lebens reflexiv befasst, wie Denken, Fragen, Glauben, Suchen, Wissen etc. Philosophie ist vielfältig, weil alle ihre Antworten – wie sollte es anders sein – in einer bestimmten historisch – kulturell geprägten Sprache gegeben werden.
8.
Das heißt nun aber nicht, dass es in der Philosophie nur um historisch bedingte „relative“ Einsichten gibt. Der einzelne hat als einzelner immer seine (oft unbewusste) Lebensphilosophie, die er naturgemäß ernst nimmt. Dennoch ist der einzelne eben immer auch Mensch, also ein „allgemeines“ menschliches Wesen, das also von bestimmten wesentlichen menschlichen Merkmalen bestimmt ist. Diese allgemeinen Merkmale muss jeder individuelle einzelne mit berücksichtigen für seine eigene Lebensphilosophie. Insofern gibt es immer nur den „allgemeinen Individuellen“. Die Krise auch unserer Gesellschaft besteht sicher auch darin, dass die vielen einzelnen nicht mehr die wesensmäßige Bindung an das Menschlich – Allgemeine sehen und leben wollen.
9.
So sind die Formulierungen des kategorischen Imperativs durch Kant zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort entstanden, wie sollte es auch anders sein? Aber diese historische Eingebundenheit der Formulierungen des kategorischen Imperativs bedeutet auch: Dieser kategorische Imperativ hat allgemeine und universale Bedeutung für jeden Menschen. Dass er erst gegen Ende des 18, Jahrhunderts formuliert wurde, bedeutet: Die Menschheit brauchte lange Zeit, um zu dieser Deutlichkeit zu kommen. Vorher gab es ja in vielen Kulturen, auch in China (Konfuzius), auch in der Bibel, Formulierungen der „Goldenen Regel“, die in ihrer Schlichtheit der Sprache durchaus einem universalen ethischen Imperativ nahekommen. Der Kategorische Imperativ ist zwar universal gültig als Maßstab des Handelns, das heißt aber nicht, dass er auch von anderen philosophischen Ansätzen kritisiert und ergänzt werden kann. Einige (wenige) philosophische Einsichten sind zwar universal gültig, aber sie nicht im Unterschied etwa zu Glaubensdogmen der römischen Kirche unantastbar und in der Sprachgestalt unwandelbar. Philosophieren und Philosophie ist ein lebendiges, sich selbst entwickelndes Geschehen des Geistes.
10.
Philosophieren bietet also für selbstkritisch nachdenkliche Menschen durchaus Gewissheiten, die inmitten des Daseins und zum Überleben unverzichtbar sind. Der kategorische Imperativ wurde genannt. Hinzu kommt die philosophische Abwehr all derer, die sich als Meister vieler absoluter ideologischer Lehren aufspielen, etwa im religiösen, kirchlichen Bereich oder innerhalb atheistischer Kreise, die sich als atheistische Dogmen aufspielen. Hinzu kommt die Einsicht, dass wir oft in Selbst – Widersprüchen leben, das klassische und einfache Beispiel ist etwa der Satz: „Es ist doch alles relativ“. Oder: „Es gibt keine Wahrheit“ Oder „Alles und alle sind sinnlos“. Für Philosophen haben solche Sprüche keinen Bestand vor der Vernunft. Wer kann auf Dauer in Selbstwidersprüchen leben? Offenbar viele, denn sonst würden sie den Einsichten ihrer Vernunft in ihrer Lebenspraxis entsprechen…
11.
Die Hauptaufgabe der Philosophie heute, in Corona -Zeiten zumal, sind die Fragen der Ethik, darauf weist die UNESCO zum diesjährigen Welttag der Philosophie hin. Und dieser Hinweis ist berechtigt, keine Frage.
12.
Ich meine noch dazu In diesen Zeiten der tiefen Krisen: Corona, Demokratie-Abwehr durch Trump und andere Autokraten; Klimakatastrophen, zunehmende Armut usw., ist eine andere philosophische Frage dringend. Und ich sage philosophische Frage und nicht theologische Frage: Wie können wir im philosophischen Denken einen tragenden Sinngrund unseres Lebens entdecken, sozusagen im transzendierenden Nachdenken, das Hegel das „Grenzen-Überschreiten hin zum Absoluten“ nannte? Wenn diese Frage eine gültige vernünftige Antwort findet, werden auch ethische aktuelle Probleme in ein ganz anderes Licht gestellt. Es wird dann nämlich in der Vernunft eine den Menschen, die Welt, gründende „göttliche“ Vernunft wahrgenommen. Sie kann in Zeiten des massiven Zusammenbruchs des alten kirchlich – dogmatischen Glaubens eine neue Gewissheit im Leben geben, ohne dass dabei der alte Vorwurf des „religiösen Opiums“ wiederholt werden muss: Denn dieser vernünftige „göttliche“, „ewige“ „Lebensgrund“ befreit gerade zum Tun, auch zum politischen Tun zugunsten der Gerechtigkeit für alle.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin