Kamala Harris – die „multireligiöse“ Vizepräsidentin der USA

Ein Hinweis von Christian Modehn im November 2020.

1.
Präsident Jo Biden ist gläubiger und praktizierender Katholik, das hat sich allmählich herumgesprochen. Einige katholische Bischöfe der USA haben aber Jo Biden noch in letzter Zeit sein „Katholischsein“ abgesprochen und davor gewarnt, dass Katholiken ihn wählen. Mit „Erfolg“:62 Prozent der Katholiken haben dann als gehorsame Gläubige tatsächlich TRUMP gewählt. Wollten die Bischöfe also behaupten: Jo Biden sei ein verkappter Atheist? Von wegen. Er hat nur die Ursünde für viele konservative und reaktionäre Katholiken begangen, und eben nicht die „Pro Life Bewegung“ zu seinem obersten Gott erklärt, wie es eben die genannten Kreise, auch evangelikaler Prägung, vor allem tun. Für sie ist sozusagen der Kampf für Pro Life der militante Glaubenskampf seit Jahren. Und die Grundsätze von „Pro Life“ sind das oberste Glaubensbekenntnis.
Jo Biden ist hingegen ein gläubiger Katholik, für den der Kampf um die Demokratie und Menschenrechte und Menschenwürde für alle an oberster Stelle steht. Das sind ja ohnehin die einzig möglichen humanen und demokratischen Positionen! Mit religiösen Prinzipien und Sprüchen aus heiligen Schriften lässt sich bekanntlich kein demokratischer Staat machen.
2.
Und was bedeutet der religiöse Glaube der Vizepräsidentin Kamala Harris? Diese Frage zu stellen ist in den USA normal, obwohl offiziell Kirchen und Staat getrennt sind. Aber im Unterschied zur radikaleren Laizität in Frankreich: Dort ist es eher ungehörig wissen zu wollen, was glaubt dieser oder jene Mensch, Nachbar, Kollege, Politiker, welcher Konfession gehört er an, geht er zur Kirche, zur Synagoge, zur Moschee etc…? So etwas darf man und will man in Frankreich, durch die Verfassung festgelegt, gar nicht wissen, darum gibt es auch keine präzise Religionsstatistik in Frankreich!
3.
Und das ist nun wirklich hoch interessant für alle religionswissenschaftlich oder auch theologisch Interessierten: Eine multireligiös lebende höchstrangige Politikerin in den USA: Diese Situation ist kein Wunschtraum mehr, sondern Realität: Was Prof. Perry Schmidt-Leukel in Deutschland oder die Theologin Manuela Kalsky in den Niederlanden (Amsterdam) seit Jahren fordern und selbst leben: Die multireligiös Religiöse: Das ist Wirklichkeit – bei Kamala Harris, der US Vizepräsidentin. Dieser Aspekt ist natürlich nur einer von vielen Aspekten, die wichtig sind, um Kamala Harris zu verstehen.
4.
Die Mutter von Kamala Harris , Shyamala Gopalan Harris, gestorben 2009, stammt aus Indien (Chennai, Madras), sie war eine gläubige Frau gemäß hinduistischer Spiritualität – auch als sie in den USA
lebte…und für die Menschenrechte kämpfte. Während ihrer Reisen in Indien nahm Kamala Harris an Riten in hinduistischen Tempeln teil.
Der Vater Donald Harris stammt aus Jamaica und war mit der Baptistenkirche verbunden. Kamala Harris Ehemann Dougles Emhoff ist mit jüdischen Gemeinden verbunden, und sie bekennt „mit dem ich die Traditionen und Feiern des Judentums teile“, berichtet die Tageszeitung La Croix, Paris.

In San Francisco ist Kamala Harris eng verbunden mit der Bapistengemeinde von Pastor Amos C. Brown. Er sagte über Kamala Harris in der Zeitschrift „Sojourners“: „In meiner Sicht verkörpert sie einen Satz aus dem Jakobus-Brief des Neuen Testaments, dort heißt es: „Ein Glaube ohne Taten und Werke ist tot“ (Jak. 2,26). Ein erstaunliches, sehr treffendes Wort eines berühmten US-Theologen und Kämpfers für die Menschenrechte, ist doch der Jakobus Brief von Martin Luther aufs heftigste kritisiert und abgewiesen worden, gerade weil im Jakobus Brief das TUN so betont wird als Weg der Erlösung. Dieser irrigen Interpretation Luthers folgen leiden heute immer noch viele Protestanten, aber dies ist ein anderes Thema. Kamala Harris bestätigt die Aussage ihres Pastors: „Ich habe schon in der Jugend in der Baptistenkirche von Oakland damals gelernt: Den Glauben haben bedeutet: Er ist eine Aktion. Wir müssen ihn leben und in Taten verleiblichen“. Im Pressedienst „Protestinter“ sagte sie: „Der Gott, an den ich glaube, ist der Gott der Liebe. Er will, dass wir den anderen dienen und im Namen derer sprechen, die weder reich noch mächtig sind. Dabei ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ganz zentral für mich“. Kamala Harris geht soweit, sich öffentlich auch zum privaten Gebet zu bekennen, „um Kraft und Schutz zu erbitten, gute Entscheidungen zu treffen“…

5.
Kamala Harris lebt außerhalb rigider religiöser Identitäten. Dies kann eine gute Voraussetzung sein, um ein Land, das ideologische Barrieren und religiöse Eindeutigkeiten über alles pflegt, etwas mehr zu versöhnen, d.h. zur Vernunft zu bringen, Vernunft ist bekanntlich etwas den Menschen Gemeinsames und Allgemeines. Nur sie, verbunden mit Empathie, kann eine Demokratie aufbauen. Und es ist keine Frage: Wer sich in diesem durch Mr. Trump verwüsteten Land verändern muss, sind zu allererst die meisten Republikaner. Ihre führenden Politiker und Parteimitglieder haben 4 Jahre zugesehen, offenbar aus eigenem finanziellen Interesse, wie dieser korrupte Mann, Mr.Trump, die demokratischen Werte zerstörte und die Lügen zur allgemeinen Unkultur zu etablieren suchte. Die Versöhnung der Menschen in den USA wird heftig werden. Auch die Kirchen sind innerlich politisch zerrissen. Wo sind die neutralen Vermittler, die Mediatoren?

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

Dieser Hinweis verdankt einige Information der Tageszeitung La Croix, vom 9.11.2020, dort der Beitrag von Claire Lesegretain.

Reichtum einschränken. Christian Neuhäusers neues Buch.

Ein neues Buch von Christian Neuhäuser: „Wie reich darf man sein?“
Eine Buchempfehlung von Christian Modehn, noch einmal empfohlen am 6.November 2020, zuerst veröffentlicht am 10.9.2019.

1.
Eine umfassende kritische Erforschung des Reichtums, also vor allem der Reichen, heute wie damals, in Europa und anderswo, gibt es bis jetzt eher nur fragmentarisch. Die Reichen selbst sind nicht gern Thema kritischer Studien, eher fühlen sie sich noch in der „Klatsch-Presse“ wohl. Anders die breit angelegte Armuts-Forschung: Die Zahl der Armen und Arm-Gemachten nimmt zu und deren Leben ist sehr prekär, wenn nicht oft – wie in Afrika – miserabel.

2.
Die absolute Zahl der Superreichen ist hingegen eher bescheiden: Laut „Forbes Wirtschaftsmagazin“ gab es 2.208 Milliardäre weltweit, sie besitzen durchschnittlich 4,8 Milliarden US Dollar. Mister Trump besaß 2018 nur 3,1 Milliarden Dollar, der Ärmste steht nur noch auf Rang 766 seiner Milliardärs-„Brüder“. Das Vermögen an Geld (auch Aktien, Immobilien usw.) dieser Herren ist immens, sie wissen schlicht nicht mehr wohin mit dem vielen Geld… und so ist deren politischer Einfluss ebenfalls riesig. Sie unterstützen Politiker, die den Milliardären nichts antun, sondern sie als „Mitbrüder“ durch ihre Steuerpolitik fördern. Charles und David Koch etwa (zusammen haben sie 120 Milliarden Dollar) unterstützten den Milliardär Trump in seinem Wahlkampf förmlich aus ihrer Portokasse mit bloß 400 Millionen Dollar.
In Deutschland leben 123 Milliardäre. Nur als Vergleich: Etwa die Hälfte der Weltbevölkerung – 3,4 Milliarden Menschen oder 46 Prozent – müssen mit maximal 5,50 Dollar pro Tag auskommen. Sie müssen würdelos leben, etwa im Falle von Krankheit können sie sich, in extremer Armut lebend, ärztliche Pflege und Medikamente nicht leisten. Von Bildung, Zugang zum Wasser etc. wollen wir nicht reden: Die superreiche Welt hat sich daran gewöhnt, dass die Armen, das sind viele Millionen Menschen förmlich krepieren oder im Mittelmeer ertrinken…Von einem „Sterben in Würde“ kann ja nur in der reichen Welt die Rede sein oder in den Gettos der Reichen in den armen Ländern.

3.
Solche allgemeinen, „gesichtslosen“ Informationen kennen natürlich die Milliardäre und Millionäre. Aber sie streben voller Gier und ohne Mitleid, also ohne Sinn und Vernunft, und vor allem ohne Gespür für die allgemeine Würde aller Menschen, immer mehr nach ihre Milliarden/Millionen Profiten. „Das Vermögen der Milliardäre ist um durchschnittlich 2,5 Milliarden US-Dollar (2,19 Milliarden Euro) pro Tag gestiegen – ein Plus von 12 Prozent zum Vorjahr. Indes habe die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung 11 Prozent – 500 Millionen Dollar je Tag – verloren“. (Quelle:
https://www.wiwo.de/politik/ausland/oxfam-bericht-milliardaere-wurden-taeglich-um-2-5-milliarden-dollar-reicher/23889560.html). Und die Milliardäre begründen ihren irren Luxus wohl mit der alten These: „Eigentum ist etwas Heiliges für die Menschen“…Und man wundert sich, dass man diese Zahlen liest und sich eingestehen muss, dagegen eigentlich nichts mehr tun zu können. Die päpstlichen Appelle, etwa von Papst Franziskus, sind ja deswegen so albern, weil die Prälaten und Kardinäle etwa im Vatikan und in Rom alles andere als vorbildlich bescheiden leben. Die Kirchen sind also scheinheilig. Ihre kritische Armuts/Reichtums-Analyse ist weitgehend scheinheilig. Trotzdem fordert die Kirche (auch von spendablen Armen) immer mehr Spenden, etwa den Peterspfennig etc.) Man lese etwa die große Studie des römischen Recherche-Journalisten Emiliano Fittipaldi „Avaricia“, „Geiz“, über den Reichtum der Kirche in Rom; es ist bezeichnend, dass Fittipaldis Buch NICHT auf Deutsch erschienen ist! Schließlich verfügen die beiden Kirchen in Deutschland über 12,6 MILLIARDEN Euro Kirchensteuer im Jahr 2018. Und dies trotz der zunehmenden Kirchenaustritte! Nur ein Beispiel über die Gehälter des Nachfolger des armen Jesus von Nazareth: Kardinal Marx in München „verdient“ monatlich ein Grundgehalt (B 10) von
12.526 Euro. (Quelle: http://www.kath.net/news/61517). Zum Vergleich: Durchschnittlich (!) verdienen Münchner Bürger 4.169 Euro brutto monatlich im Jahr 2017. (Quelle: https://www.tz.de/muenchen/stadt/muenchen-ort29098/jeder-dritte-ist-gutverdiener-so-viel-gehalt-bekommen-muenchner-11866084.html)

4. In der Philosophie gibt es bis jetzt meines Wissens wenige Studien über den Sinn und vor allem den Unsinn (d.h. das politisch – ethisch Gefährliche) des Reichtums. Christian Neuhäuser, Prof. für praktische Philosophie an der TU Dortmund, kommt das Verdienst zu, jetzt in einer kleinen Schrift zu gerechtem Preis erneut wichtige philosophische, d.h. auch ethische Impulse zur Frage zu geben: „Wie reich darf man sein?“ (Reclam Verlag 2019) Das Buch kann ich für einen weitesten Leserkreis dringend empfehlen, für Gesprächsrunden, selbst für den Unterricht in den Schulen: Auch wenn nicht alle Aspekte ausgeleuchtet werden können bei dem geringen Umfang von 90 Seiten: Es ist ein Buch, das zu denken gibt und deswegen vielleicht auch zum Handeln führt. Weil die Reichen es sich angewöhnt haben, pauschal Kritik am Reichtum als „Neid“ der Armen, Unbegabten, Erfolglosen usw. zu bezeichnen, widmet sich Christian Neuhäuser in seinem Buch auch dem Thema Gier und Neid sehr differenzierend. Schlimm ist, grundsätzlich gesehen, immer Gier. Mit dem Vorwurf, jemand sei neidisch, hingegen muss man sehr vorsichtig und unterscheidend umgehen….
ABER: „Zurzeit ist kaum jemand stolz darauf, sich gegen sozioökonomische Ungleichheit und gegen schädlichen Reichtum stark zu machen“. Das ist die Diagnose des Philosophen Christian Neuhäuser in seinem neuen Buch „Wie reich darf man sein?“ (85). Aber vielleicht – so die Hoffnung des Autors – könnten sich die LeserInnen seines eindringlichen Buches gedanklich wie praktisch doch noch aufraffen: Und vom üblichen Lob des Reichtums lassen und umkehren zu einem Lob des gerechten Umgangs und der gerechten Umverteilung der großen „Vermögen“. Vielleicht gibt es eines Tages, so hofft der Autor, eine „Gerechtigkeitsbewegung“ (im Sinne der Überwindung des „schädlichen Reichtums“), so, wie sich – mühevoll ebenso – eine feministische oder eine ökologische Bewegung etablierte. In jedem Fall wird der Kampf gegen „schädlichen Reichtum“ zu neuen Lebensformen und zu „einem guten politischen Leben“ führen. Eine gewaltige Aufgabe, denn die meisten Menschen wollen immer mehr, immer mehr Geld, so wird ihnen permanent von den Reichen (deren Medien) selbst – werbewirksam – eingeflößt. „Geiz ist geil“ ist das Motto. Und die allgemeine Gier nach dem ständigen Wachstum ist längst eine staatstragende „Tugend“, deren Wahn kaum befragt wird. Profitmaximierung der Firmen der Reichen ist oberstes Gebot, dem sich gern die so genannten demokratischen Regierungen beugen.

5. Warum spricht Neuhäuser von “schädlichem Reichtum”? Das ist eine der zentralen Thesen des Buches, die hier nur angedeutet werden sollen: Reichtum ist schädlich, weil die Reichen, vor allem die Superreichen, längst das politische Leben auch in den Demokratien bestimmen, die man deswegen am liebsten nur noch so genannte Demokratien nennen sollte. Man denke nur an die Wahl von Mister Trump zum Präsidenten: Da haben 2 Milliardäre heftig finanziell geholfen. Und so können sie das Profil der gegenwärtigen Politik in den USA mitbestimmen. Die Autorin und Journalistin Jane Mayer, so Neuhäuser (S.72), sagt das, was so viele längst wissen: „Die USA sind aufgrund des politischen Einflusses der Reichen schon längst keine Demokratie mehr. Ein Nicht-Milliardär wird sich einen Wahlkampf als Präsidentschaftskandidat wohl kaum noch leisten können“. „Beschränkung von Reichtum ist für die Stabilität und Gerechtigkeit von zentraler Bedeutung“ (79)
Eine weitere gut begründete These im Buch: „Die Reichen haben ihren Reichtum eigentlich nicht verdient“ (24). Nicht „verdient“ zunächst im moralischen Sinne, weil sie mit dem Reichtum meistens egoistisch in Saus und Braus leben und –polemisch zugespitzt – eher ein Hotel für ihre Hunde in New York bauen als eine Wohnsiedlung für Obdachlose. Diese könnten sie aus ihrer „Portokasse“ bezahlen und sich dann in den Medien als großartige Gönner feiern lassen. Und, zweitens, sie haben nicht durch eigene Leistungen und Anstrengungen ihre Milliarden und Millionen erwirtschaftet, d.h. selber verdient: Das könnten sie gar nicht allein schaffen, sie haben viele andere für sich arbeiten lassen oder sich der Finanzspekulation hingegeben. Viele haben Talente und Glück gehabt, und beide Gaben für sich radikal ausgenutzt, oder sie haben Unsummen geerbt, von Verwandten, die schon den Profit über alles setzten. „Die Reichen haben ihren Reichtum nie verdient“ (51 f., auch 49) …Denn Reichtum beruht nicht auf Leistung“ (52).

6.
Eine weitere These im Buch: Der Autor plädiert für einen maßvollen Abschied von den Superreichen und Reichen, indem diese sanft, wie es sich bei Forderungen braver demokratischer Bürger gehört, bloß mit zusätzlichen Steuern belastet werden sollen. Der Autor bietet zwar eine radikale Reichen-Kritik, aber er ist in den wenigen praktischen Vorschlägen alles andere als ein „sozialistischer Umstürzler“. Kann der einzelne noch etwas tun gegen die Allmacht der Reichen und Superreichen, gegen ihren verschwiegenen und nur mit Mühe freizulegenden Einfluss auf die Politik?

7.
Auch über Neid und Gier spricht der Autor, wobei er den Neid durchaus vor Missverständnissen verteidigt; ganz übel ist für ihn zurecht die Gier: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der jeder alles haben will“.
Auch die These zur „sozialen Würde“ aller Menschen verdient viel Beachtung: Menschenwürde ist ja mehr als der Respekt vor der inneren unantastbaren Dimension des Menschen. Menschenwürde hat ein soziales Gesicht für eine Welt, in der nicht länger Millionen Menschen hungern und krepieren und einige hundert Milliardäre maßlos sich ihrer totalen Gier hingeben dürfen.

8.
Ich hätte mir noch mehr anschauliche Beispiele gewünscht, wie die Superreichen die Restbestände unserer Demokratie weiter verderben, durch ihre Lobbys, Einflüsse, Werbungen, und aktuell wieder einmal durch das schamlose Ausnützen der Armen in der so genannten 3. Welt: Etwa in der Kleiderproduktion unter sklavenähnlichen Bedingungen in Bangladesch z.B. Dies ist verbrecherisch auch, weil für die dortigen für Deutschland fabrizierenden Fabriken nicht deutsche Standards eingefordert und bei den deutschen/europäischen Firmen durchgesetzt werden. Diese Verbundenheit unserer Regierungen mit dem „Kapital“ entspricht der treuen Bindung an die herrschenden Unternehmer. So, wie die Verkehrspolitik in Deutschland eindeutig eine Politik zugunsten der Autoproduzenten ist usw.

9.
Noch einmal: Das Buch ist trotz seiner Kürze wegen der klaren Ausführungen sehr zu empfehlen und man wünscht ihm weite Verbreitung und viele LeserInnen, die zu weiterem Fragen und Forschen zum Thema angeregt werden. Die Literaturangaben im Buch sind da hilfreich!

Christian Neuhäuser, „Wie reich darf man sein? Über Gier, Neid und Gerechtigkeit“. Reclam Verlag, Reclams Universalbibliothek Nr. 19602. 2019, 88 Seiten, das Buch kostet nur 6 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Trump – Wähler: Es sind die fundamentalistisch-Frommen, die wieder für TRUMP stimmten.

Skepsis als Therapie gegen religiös-politischen Wahn der christlichen Fundamentalisten: Ihr Gott heißt “Pro Life”

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Die Tatsachen sind bekannt:
Es ist – wieder einmal – eine Niederlage der Vernunft, dass so viele Millionen US- Bürger für Mr. Trump stimmen. Wie schon 2016 haben vor allem viele Millionen (vor allem “weiße”) Evangelikale, Pfingstler, konservative Katholiken auch 2020 Trump gewählt. Die aktuelle Statistik ist wieder eindeutig: Je gläubiger im klassischen, dogmatischen, fundamentalistischen Sinn Christen fühlen, um so eher wählten sie wieder Trump. Dabei ist für sie absoluter Mittelpunkt ihres Glaubens das leidenschaftliche Bekenntnis zu “Pro LIFE”. Um es klar zu sagen: “Pro Life” ist der so gen.”liebe Gott” dieser Fundamentalisten. Deswegen haben einige katholische Bischöfe der USA auch Jo Biden, weil er ein Gegner von Pro Life ist, als” nicht katholisch” bezeichnet. Darum merke für die Zukunft des immer mehr fundamentalistisch werdenden christlichen Glaubens: Es geht den Glaubenden und ihren Führern eigentlich nicht um mehr um Gott, es geht um Pro Life. Aber Pro Life ist nur ein Vorwand für eine insgesamt reaktionäre, frauenfeindliche, homo-feindliche, Armen-feindliche Politik…
2.
DIE AKTUELLE STATISTIK:
62 Prozent der Katholiken wählten Trump
Protestantische Christen und weiße Evangelikale sind US-Präsident Donald Trump bei der Wahl am 3. November offenbar treu geblieben. Laut einer Nachwahlumfrage des Instituts “Edison Research” für die “New York Times”, die “Washington Post” und andere Medienfirmen haben 76 Prozent der weißen Evangelikalen für Trump gestimmt und 23 Prozent für den demokratischen Herausforderer Joe Biden.
Weiße Evangelikale stellten den Angaben zufolge 27 Prozent der Wählerinnen und Wähler. 2016 hatten sich rund 80 Prozent der weißen evangelikalen Wähler für Trump ausgesprochen.
62 Prozent der Katholiken und 68 Prozent der Wähler in der Kategorie “protestantisch, sonstige Christen” wählten laut dem Edison-Institut Trump. Wähler “ohne Religion” entschieden sich danach zu 36 Prozent für Trump und zu 58 Prozent für Biden.
Trump hat der Umfrage zufolge die Mehrheit der weißen Stimmen bekommen (57 Prozent). Schwarze stimmten danach zu 87 Prozent für Biden und Latinos zu 66 Prozent. Wohlhabende stimmten eher für Trump als für Biden, hieß es weiter. Verheiratete Wähler stimmten zu 54 Prozent für Trump und zu 44 Prozent für Biden. (epd/04.11.2020)
3.
Zu den Prinzipien einer Demokratie gehört, dass jeder selbstverständlich frei ist, seinen Kandidaten zu wählen. Bei dieser anerkannten Liberalität muss aber auch die normative Frage gestellt werden: Ist der Kandidat, den man da wählt, in der Lage, moralisch, intellektuell, das höchste Amt zu übernehmen. Im Falle Trumps ist die Antwort eindeutig nein. Spätestens nach 4 Jahren Trump Herrschaft müsste das allen, die nachdenken können und wollen, klar sein.
Entscheidende Kritik an Trump ist tausendmal gesagt worden: Mr. Trump ist ein Lügner, ein Volksverhetzer, ein kranker Egozentriker eigentlich, könnte man sagen, ein mieser Diktator, jedenfalls kein Politiker, der Demokratie und Menschenrechte hochschätzt. Dieser Herr, auch dies wurde tausendmal gesagt, glaubt nur an sich selbst, dass er seine Show noch einmal 4 Jahre spielen kann. Er ist ein Nihilist, auch dies wurde und wird tausendmal kommentiert.
Und nun sage ich aus philosophischer Sicht, analytisch und nicht arrogant, sondern eben als Beschreibung: Die vielen Trump Wähler sind dumm, begrenzt, dass sie diese Person wieder als Präsidenten ihrer so viel gerühmten, aber gar nicht berühmten, also gar nicht allseitig hochgeschätzten Demokratie wünschen. Diese Wähler können einem leidtun. Nichts gelernt, nichts wahrgenommen, nur an den eigenen kleinen Betrieb gedacht, den Mr. Trump eventuell schützt, den eigenen Vorteil, wenn er den Job verspricht in einer Branche (etwa Kohle), die objektiv keine Zukunft mehr haben wird. Trump Wähler, so darf man fragen, sind selbst so ich-fixiert wie ihr Führer. Das heißt ja nicht, dass aufseiten der Demokraten alle Heilige sind. Aber die Bereitschaft, kritisch zu reflektieren, ist bei Demokraten grundsätzlich ausgeprägter als bei evangelikalen Trump Wählern.
4.
Die Trump Wähler folgen alle nur einem Glauben. Sie glauben ihrem Führer Trump, sie glauben, dass er recht hat, Kraft hat, kämpferisch ist, sie glauben, bei ihm förmlich zu Hause zu sein, weil er genauso denkt wie sie selbst, weil er den eigenen „inneren Schweinehund“ so wunderbar artikuliert: Man denke an den rassistischen Bau der Mauer gegenüber Mexiko, an seine Behauptung, Biden sei Sozialist; Anarchie würde mit hm herrschen usw. Diese Leute haben das „Glauben“ zu ihrer geistigen Haupttätigkeit erklärt: Nicht mehr selber denken und prüfen, nicht mehr sich umfassend informieren, sondern den Sprüchen der Trump Medien blind vertrauen. Sie glauben ihrem Führer Trump, sie glauben damit ihren Vorurteilen, sie glauben, ihre Ressentiments seien wahr.
Und ich behaupte: Der Grund für diese totale Glaubensbereitschaft, die sich dann im Wahlverhalten zeigt, ist begründet im exzessiven religiösen fundamentalistischen evangelikalen oder auch katholischen, aber dann reaktionären Kirchen-Glauben.
5.
Meine soziologisch längst bewiesene These ist also: Je gläubiger in dem beschriebenen religiösen Sinne ein Mensch ist, um so größer ist seine Bereitschaft, Mr. Trump zu wählen. Der religiöse Glaube im fundamentalistisch evangelikalen Sinne ist sozusagen die Basis für eine Haltung, die bereit ist, die Demokratie (in den USA) abzuschaffen mit und durch Trump. Mit dem Glauben geht einher die Bevorzugung des Wunders und des Wunderbaren, die Liebe zum Diffusen und Unsichtbaren, die Einwilligung, Autoritäten zu folgen, gehorsam zu sein. Ich finde es bezeichnend, dass der Mittelpunkt dieser genannten evangelikalen Frommen der Kampf gegen die Abtreibung des ungeborenen Lebens ist. Wann ein ungeborenes Leben die Qualität eines Menschen wird in diesen Kreisen nicht gefragt. Differenzierung ist unerwünscht bei ihnen. Das Ungeborene, wie eine Schimäre, schwebt diese pauschale Idee über den „Pro Life“ Leuten. Das Ungeborene ist der Gott dieser Frommen, es ist ihnen dabei völlig egal, wie es bei rigiden Gesetzen dabei den Frauen ergeht. Das Ungeborene, das insofern Unsichtbare, ist das Zentrum, man möchte fast sagen: der Gott. Und genau dies sagt Mr. Trump, er würde dieses alles verteidigen. Er sagt das, weil er die Stimmen dieser religiösen Kreise braucht. „Sollen diese naiven Christen doch glauben, dass Gott die Erde und die Menschen in 6 Tagen erschaffen hat, sollen sie doch gegen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften wüten“: Solange sie mich wählen, bin ich ihr Freund, denkt Trump. Das geborene Leben aller menschlich zu hüten, zu pflegen, Mitleid und Barmherzigkeit zu praktizieren, die Armen zu fördern, Gerechtigkeit zu schaffen, wäre des Präsidenten oberste Aufgabe, gerade in Corona-Zeiten. Aber Mr. Trump ist dieses „Zeug“ bekanntermaßen völlig egal. Und das stört diese unreflektiert frommen Glaubenden nicht. Sie glauben dumm und blind ihrem Führer. Wird es einen Ausweg geben? Gibt es eine Therapie, die Skepsis erzeugt und das Fragen wieder fördert? Dies ist alles auch ein Problem der Bildung und vor allem des Abschiedes von diesen fundamentalistischen und evangelikalen Kirchen. Werdet unkirchlich, möchte man als Theologe diesen Leuten zurufen. Nur dann werdet ihr etwas reifer als Menschen. Nennt auch Skepsis eure Konfession!
6.
Man verstehe mich recht: Ich habe gar nichts gegen einen vernünftigen religiösen christlichen Glauben, der z.B. in der Sinnfrage eine absolute Dimension entdeckt oder in der Kunst Chiffren der Transzendenz wahrnimmt; der die Bibel als Zeugnis religiöser Menschen von einst historisch – kritisch liest; der Jesus von Nazareth als wegweisendes Vorbild deutet usw…Der dabei aber in der theologischen Aussage einfach und bescheiden und selbstkritisch bleibt, der auch skeptisch ist gegen alle religiösen und politischen Führer.
7.
Es ist also die verblendete Religion, dieser religiöse Fanatismus, der zum Führerkult ausartet. Und selbst wenn er sich 2020/2021 vom Weiße Haus verabschieden muss, die Frommen werden an ihm hängen, als einem der ihren. Trump II. wird darum immer wieder möglich. Wenn nicht Religionskritik zur Tugend religiöser Menschen erklärt wird.
8.
Mein Vorschlag also. Wenn religiös, dann bitte nur vernünftig-religiös, also nachdenklich, selbstkritisch, gebildet. Und skeptisch.
Wäre in den USA die Skepsis die stärkste Religion, Mr. Trump hätte null Chancen gehabt.
9.
Großzügigkeit und Milde sind gewiss christliche Tugenden. Aber sie stehen stets im Konflikt mit der genauso wichtigen Frage: Ist jeglicher theologische Unsinn (nach heutigem wissenschaftlichen theologischen Verständnis) aus us-funamentalistisch – christlichem Mund akzeptabel und ALS christlich zu tolerieren? Ist theologische (!) Liberalität grenzenlos?
Diese Frage wird angesichts des Wahlverhaltens so vieler fundamentalistischer Christen aus allen Konfessionen ganz dringend. Ich stelle zur Diskussion: Diese fundamentalistischen christlichen Kreise nicht ur in den USA sind für ein modernes Christentum völlig inakzeptabel. Man muss als Christ und Theologe diese fundamentalistischen Kreise kritisieren, vor allem auch, weil sie mit ihrem Glauben das Zusammenleben der Menschen gefährden, weil sie als Trump Wähler blind sind für soziale Gerechtgkeit und den grundlegenden Schutz der Ökologie usw. Trump ist ja bekanntlich aus dem “Pariser Klima-Abkommen” ausgetreten. Es sind also nicht allein explizit theologische Gründe, die zu einer heftigen Ablehnung fundamentalistisch – evangelikaler Kreise verpflichten. Es mag ja einige vernünftige Evangelikale geben. Aber sie sollen alles daran setzen, ihre reaktionären GlaubensgenossInnen zur Vernunft zu bringen. Ja, es geht wirklich um die vorrangige Geltung der selbstkritischen, reflektierenden Vernunft im christlichen Glauben und der Theologie. Aber die Chancen, dass dies gelingt, sind gering: Wer, wie die Evangelikalen, glaubt,liebt die Wunder und die Autoritäten! Und glaubt an den Teufel,der z.B. “Wahlbetrug” macht. Also: Ohne die vorrangige Geltung der kritischen Vernunft,kann es keinen religiösen Glauben geben, der als human gelten will.

PS.: Weitere Untersuchungen zum Wahlverhalten der unterschiedlichen christlichen Konfessionen, siehe etwa: https://nationalpost.com/news/world/who-won-the-christian-vote-in-the-2020-u-s-election-its-complicated

Copyright: Christian Modehn. www.religionsphilosophischer-salon.de

Was hält uns am Leben? Ein Interview in Zeiten der Krise mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Berlin
Von Christian Modehn

1.
Manche meinen mit vielen Gründen zurecht: Die Krise der Mensch-heit sei heute ziemlich total: Um nur krasse Beispiele zu nennen: Die Klimakatastrophe, die Zunahme autoritärer Systeme, Kriege, Flücht-lingselend … und Corona. Bleiben wir bei der Corona-Pandemie: Da wird Abstandhalten, also körperliche Distanz, „bloß nicht berühren oder umarmen“, als Schutz vor Ansteckungen – zurecht – genannt. Das bedeutet: „Meidet die leibliche Nähe!“ Sollte man daraus sinn-vollerweise schließen: Steigern wir unsere geistigen Kräfte, Sprache, Vernunft, Mitgefühl? Sollte man sich und anderen förmlich als Trost sagen: Auch wenn die körperliche Kommunikation momentan sehr reduziert sein muss, fördern wir um so mehr unser geistiges Mitei-nander? Und: Wie kann das gelingen?

Natürlich ist es für alle eine große Belastung, dass wir jetzt schon so lange diese Kontaktbeschränkungen erleiden müssen. Im Moment werden die Maßnahmen, die uns voneinander fernhalten, erneut ver-schärft. Die Politik bereitet uns bereits auf ein „einsames Weihnach-ten“ vor. Da fällt es gewiss nicht leicht, aus dieser Not eine Tugend zu machen und darauf zu verweisen, dass wir ja doch die fehlende kör-perliche Nähe durch gesteigerte geistige Verbundenheit ersetzen könnten. Gerade wenn wir an die Menschen in den Krankenhäusern und Seniorenheimen denken, aber auch an die vielen Menschen, die allein leben und sich jetzt vielleicht in besonderer Weise einsam und verlassen fühlen!

Und doch, so denke ich, haben Sie Recht, dass wir dieser Pandemie ebenso wenig hilflos ausgeliefert sind, wie all den anderen Bedro-hungen, Krisen und moralischen Katastrophen, die Sie ansprechen. Das genau ist es, was für uns Menschen den Unterschied ausmacht, angesichts unserer natürlich-organischen Verfassung, die wir mit al-len anderen Lebewesen teilen. Es ist das, was wir „Geist“ nennen. Mit „Geist“ meinen wir die Fähigkeit, die uns von anderen Tieren unter-scheidet, obwohl sie uns nur in Verbindung mit unserer natürlich-organischen Verfassung zur Verfügung steht. Aber unsere Geistbega-bung sorgt dafür, dass wir auf überlegte Weise, sinn- und zielorien-tiert, damit auch ethisch verantwortlich, mit den Herausforderungen, vor die wir uns gestellt sehen und mit den Krisen, in die wir geraten, umgehen können. Wir können uns auf bewusste Weise zu dem ver-halten, was uns betrifft, bewegt und belastet, herausfordert und nie-derdrückt, erfreut oder traurig macht, ängstigt oder gar in die Ver-zweiflung treibt.

Statt vom Geist, der uns Menschen in besonderer Weise qualifiziert, kann man auch davon sprechen, dass es die Vernunft ist, die uns aus-zeichnet. Aber die Rede vom Geist bringt besser die transzendente Dimension zum Ausdruck, in die unsere Geistbegabung uns versetzt. Die Vernunft ist ein unseren Selbst- und Weltumgang qualifizierendes Vermögen. Der Geist ist eine Kraft, die uns zwar auch individuell zu-kommt, aber doch nur dann, wenn sie über uns kommt und uns, von jenseits unserer selbst her, ergreift.

Wo der Geist uns erfüllt, sind wir voll Begeisterung bei einer Sache und zugleich bei denen, die unsere Begeisterung mit uns teilen. Geis-tesgegenwärtig sind wir ganz bei uns selbst wie bei der Aufgabe, die unseren Einsatz fordert. Zugleich fühlen wir die Verbundenheit mit anderen, die unser Engagement teilen. Wir suchen die Nähe zu de-nen, die desselben Geistes sind, mit denen wir uns verstehen, die für die gemeinsame Sache streiten. Das gilt, so möchte man schnell hin-zufügen, leider in jeder Hinsicht. Auch für Hassbotschaften, Ver-schwörungsmythen und faschistische Ideologien. Auch der Ungeist menschenverachtender Bewegungen sucht in diesen Zeiten, in denen wir weitgehend auf soziale Kontakte in leiblicher Präsenz verzichten müssen, gesteigert danach, sich weltweit zu vernetzen.

Die internetbasierte Kommunikation durch die „sozialen Medien“ schafft Verbundenheit und soziale Nähe, was eine ambivalente Ange-legenheit bleibt. Aber auch viele gute Erfahrungen können gerade jetzt durch die virtuelle Kommunikation gemacht werden. Menschen teilen z.B. ihre Trauer über Twitter oder Facebook mit. Sie bekom-men daraufhin viel mehr Anteilnahme selbst von entfernten Bekann-ten als dies sonst zu erwarten gewesen wäre. Die weltweite Jugend-bewegung zur Durchsetzung der Klimawende „Fridays for Future“ wäre ohne das Internet ebenfalls nicht vorstellbar.

Die Digitalisierung schafft die Voraussetzungen für virtuelle und d. h. eben von körperlicher Präsenz unabhängige Kommunikation. Wir se-hen, dass technische Mittel zur Verfügung stehen, die helfen, die Kommunikation, in die der uns erfüllende Geist drängt, auch zu ver-wirklichen. Der Geist schafft Verbundenheit! Und bei Licht besehen ist alles, was Verbundenheit schafft, geistiger Natur: Liebe und Ver-trauen, Glauben und Wissen, Angst und Hoffnung. Allerdings auch Hass und Hybris, Egoismus und Feindschaft.

Deshalb ist, sofern wir auf die Steigerung der Verbundenheit im Geist setzen, zugleich die Unterscheidung der Geister so wichtig! Auch sie aber setzt Kommunikation voraus und ist nur durch diese möglich. Die Verbundenheit im Geist ist nie nur eine private Angelegenheit. Sie sucht die Öffentlichkeit – und sie geschieht heute vor allem durch die sozialen Medien, durch Podcasts oder auch Internetauftritte wie sie der „Religionsphilosophische Salon“ und viele Initiativen zur Er-möglichung von Kommunikation über das uns als Zeitgenossen gleichermaßen Betreffende und zum Handeln Herausfordernde reali-sieren. Sobald wir an dieser virtuellen Kommunikation teilnehmen, sehen wir, wie sehr wir einander brauchen, gerade in der Suche nach Lösungen für die Probleme, die Sie zu Beginn ihrer Frage angespro-chen haben.

Es ist vollkommen klar, dass uns viel Lebensqualität verloren geht durch die Kontaktbeschränkungen, die wir pandemiebedingt in Kauf nehmen müssen. Aber richtig ist auch, wie Sie sagen, dass wir gestei-gert die Kräfte zum Einsatz bringen können, die uns als Menschen zur Verfügung stehen – und das ist nicht zuletzt die Offenheit und Emp-fänglichkeit für die Geistbegabung.

2.
Wenn man also den Krisen zum Trotz auf die „Trotzmacht“ des Geis-tes“ setzt (wie der Therapeut Viktor E. Frankl sagt), muss man ja nicht in die uralte Falle des Dualismus stolpern, der da vorgibt: Das Materielle, Leibliche, sei bedeutungslos gegenüber dem Geist. So sind doch wohl auch nicht die Weisheiten im Neuen Testament zu verstehen, wo es heißt: „Der Geist macht lebendig“ (Joh. 6.63) oder „Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig“ (2 Kor.3,6)? Die Fra-ge ist entscheidend: Wie können wir dieses lebendig machenden Geistes innewerden?

Viktor Frankls treffliche Rede von der „Trotzmacht des Geistes“ weist darauf hin, dass der uns Menschen ergreifende und in glücklichen Momenten ganz erfüllende Geist höher ist als unsere menschliche Vernunft. Der Geist ist es, der uns dazu befähigt, auch noch gegen ei-ne bedrückende und niederschlagende Wirklichkeit anzugehen, im Glauben daran, dass sie nie schon das Ganze und nicht unsere Be-stimmung ist. Der Geist bewahrt uns davor, in eine letzte Verzweif-lung zu geraten, er lässt uns immer noch auf eine Wende zum Guten hoffen. Der Geist macht es, dass die Liebe nicht aufhört, selbst dort nicht, wo der Hass und die Bosheit unter den Menschen uns den Glauben an die Menschlichkeit rauben wollen. Der Geist ist die uns Menschen über alles Trennende hinweg verbindende Kraft. Das ist er, weil er uns Menschen nicht nur untereinander, sondern zugleich mit dem göttlichen Ursprung unseres Daseins verbindet. In der Sprache des christlichen Glaubens ist dies so ausgedrückt, dass alle Menschen Gottes Geschöpfe, ja, seine geliebten Kinder sind.

Wir können die über uns Menschen hinausreichende und ins Dasein rufende Macht des Göttlichen selbst nur als geistig verfasst denken. So ist dann Gott der unendliche Geist, der uns Menschen an seinem Geist Anteil gibt. Die Bibel redet immer wieder, wie Sie schon zitiert haben, von dem uns lebendig machenden und lebendig erhaltenden Geist Gottes. Der Geist, der es macht, dass wir uns zu uns selbst, zu unseresgleichen wie zur Welt auf verantwortliche, sinn- und zielori-entierte Weise verhalten können, ist Geist von Gottes Geist.
Gottes Geist ist umfassender und höher als unser menschlicher Geist, aber gerade deshalb befähigt uns unsere Teilhabe an Gottes Geist zu dieser „Trotzmacht“ unseres menschlichen Geistes. Dazu, dass wir in der Kraft unseres Geistes uns einsetzen für das Gelingen des Lebens, das Gott mit der Schöpfung der Welt im Sinn hatte – auch dann und dort noch, wo wir angesichts der Größe der Aufgabe und der Wider-stände, die sich in den Weg stellen, resignieren möchten.

Die Frage bleibt jedoch, wie das zugeht, dass wir mit dieser Geistes-kraft erfüllt werden. Dazu braucht es ganz offensichtlich dies, wie Sie selbst sagen, dass wir der uns erfüllenden Kraft des göttlichen Geistes innewerden. Wir müssen zur Einsicht finden, dass unser endlicher, begrenzter menschlicher Geist tatsächlich Geist von Gottes Geist ist, wir an Gottes unendlichem Geist teilhaben. Genau daraus erwächst uns die Fähigkeit, unserer Begrenztheit und Endlichkeit, unserem Versagen und allen Widerständen zum Trotz, doch im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe zu bleiben – und, ja, das auch, nach univer-sal geltenden, alle Menschen gleichermaßen in ihrer unverletzlichen Würde anerkennenden und ihnen gerecht werdenden Prinzipien zu handeln.

Ich will den Bibelstellen, die Sie schon genannt haben, noch ein mir sehr wichtiges Wort aus dem Johannesevangelium hinzufügen: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ (Joh 4, 24) Hier ist dies zum Ausdruck gebracht, nicht nur, dass wir uns Gott als Geist zu denken haben, auch nicht nur, dass er uns an seinem Geist Anteil gibt, sondern auch, dass wir, um in dieses Geistgeschehen aktiv einbezogen zu werden, uns zu diesem ins Verhältnis setzen müssen. In der Wahrheit erst, im Eingeständnis also dessen, wie es um uns in Wirklichkeit steht, im Eingeständnis unserer Endlichkeit und Begrenztheit, unserer Schwachheit und Bedürftigkeit, unserer Fehlbarkeit und unseres Versagens, gewinnt die Bitte um den Geist ihre Kraft. Dann erst, wenn wir selbst leer werden, will und kann der Geist uns ganz erfüllen. Dann erst gewinnen wir den Mut, aus der Kraft des Geistes zu leben. Dann erst finden wir in diese an-dere Einstellung dem Leben gegenüber. Dann erst geben wir das ei-gene Leben und er recht die krisengeschüttelte Welt auf keinen Fall verloren.

3.
Wenn man also in Krisenzeiten besonders auf den Geist, die Vernunft, setzt, sollte dann nicht immer auch der kritische politische Geist ge-meint sein, den es zu pflegen gilt? Also der Geist im emphatischen Sinne, der sich den universalen Menschenrechten verpflichtet weiß? Wie kann es gelingen, dass wir in diesen „Corona – Zeiten“ nicht nur auf uns (in Deutschland, Europa) schauen, sondern die Weite des Mitgefühls finden mit den Leidenden weltweit?

Ja, „der Geist hilft unserer Schwachheit auf“ (Römer 8, 26), um noch einmal den Apostel Paulus zu zitieren (und die wunderbare Mottete von Johann Sebastian Bach zu assoziieren). Die Pandemie fordert alle unsere Kräfte. Sie ist nicht nur mit Kontaktbeschränkungen, sondern für viele auch mit harten ökonomischen Verlusten verbunden. Da kommt es leider viel zu oft vor, dass die Not derer, die in den Flücht-lingslagern, an den Rändern Europas oder in den Kriegs- und Krisen-gebieten des Nahen und Mittleren Ostens und in vielen Ländern Afri-kas um ihre Existenz kämpfen, aus unserem Blick gerät.

Umso dringender brauchen wir den Geist, diese unwahrscheinliche Kraft, die uns untereinander und mit dem Göttlichen über alles Tren-nende hinweg verbindet, ja, der recht eigentlich diese zerrissene Welt doch immer noch im Innersten zusammenhält. Unsere Bitte um diesen Geist, unser Ruf „Veni Creator Spiritus!“, dass er doch unsere Schwachheit vertreiben und über uns kommen möge, der schöpferi-sche, uns zum Handeln befähigende Geist, er verbindet uns zugleich mit all denen, die um ihr Lebensrecht betrogen werden. Er treibt uns dazu, ein europäisches Grenzregime anzuklagen, dass die Menschen-rechte allenfalls für diejenigen, die über einen europäischen Pass verfügen, gelten lässt.

Dieser Geist, der unserer Schwachheit aufhilft, ist politisch, eine öf-fentlich wirksame Kraft des Protestes gegen die Missachtung der für alle gleichermaßen geltenden Menschenrechte – in der Sprache des Geistes genau deshalb für alle geltend, weil alle Geschöpfe Gottes und seine geliebten Kinder sind.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Langeweile – Eine Chance, sich selbst wahrzunehmen

Langeweile – Eine Chance, sich selbst wahrzunehmen
Von Christian Modehn

Der folgende Beitrag wurde im Mai 2013 in der Zeitschrift PUBLIK FORUM veröffentlicht. Der Beitrag bleibt anregend, ist nicht veraltet. Denn Langeweile mag sich ja bei vielen mal einstellen in diesen Corona – Zeiten…(Siehe am Ende dieses Beitrags einen Hinweis auf das künstlerische Werk von Edward Hopper).

1.
Ich habe den Zug verpasst. Der nächste wird erst in zwei Stunden fahren. Die Bahnhofskneipe ist geschlossen, sie “lohnt” sich nicht mehr an der Strecke der »Regionalbahn«. Weit und breit kein Mensch. Die Sonne bringt die Wälder und Wiesen fast zum Glühen. Was kann ich bloß machen, wo ich meine Zeitung schon längst »ausgelesen« habe. Ich gehe auf dem Bahnsteig hin und her, betrachte immer wieder den Fahrplan, als könnte er plötzlich Änderungen verheißen. Dann beginne ich die Kiefern vor mir zu zählen, schaue auf die Gleise, blicke in die Ferne: Wann kommt endlich der Zug? Die Minuten dehnen sich, sie werden zur Qual: Was versäume ich bloß alles zu Hause? Ich fühle mich wie aus dem Leben geschleudert.
2.
Als ich dann endlich im Zug sitze, habe ich schon nach einigen Minuten die beiden Stunden verdrängt; mich interessieren nur noch die nächsten Verabredungen, die Familie, die Arbeit. Das Erlebnis der Langeweile wird schnell aus dem Bewusstsein vertrieben. Denn eine leere Zeit ohne jegliche Aktivität sei nicht lebenswert, das haben wir verinnerlicht. So wird dann sofort die Routine des Alltags fortgesetzt. Die Frage wird nur selten gestellt: Kann Langeweile nicht vielleicht auch ein Segen für uns sein?
3.
Aber wir gehorchen offenbar unerschütterlich den »Dogmen« der Moderne, die da heißen: »Es muss etwas geschehen!« Oder: »Du hast nur Bedeutung, wenn du Beschäftigungen hast.« Langeweile darf kaum besprochen werden, sie gilt in unserer Kultur nicht nur als peinlich, sondern von vornherein als schändlich.
4.
Wenn sich mehrere Menschen, vor allem Männer, auch noch als Gruppe langweilen, kann es gefährlich werden. Kriminologen wissen: Gewalttätigkeiten, Überfälle, Einbrüche und Ähnliches entstehen auch aus dem Gefühl der Orientierungslosigkeit und Unfähigkeit, mit der eigenen freien Zeit etwas Sinnvolles anfangen zu können. Davon ist der Psychologe und Sozialarbeiter Kazim Erdogan überzeugt. Er ist als »türkischstämmiger« Berliner seit etlichen Jahren bemüht, sinnvolle Freizeitaktivitäten besonders für Jugendliche und junge Männer im »Problembezirk« Berlin-Neukölln anzubieten: »Ich höre immer wieder von den jungen Leuten, wenn sie negativ auffallen und gewalttätig werden: Das hat mit meiner Langeweile zu tun. Sie hätten halt nicht gewusst, was sie am Samstag machen, und haben sich dann mit anderen auf der Straße getroffen. Und dann sind wir auf ›komische Ideen‹ gekommen, haben dies und jenes angestellt.” Kazim Erdogan bietet Alternativen: Er gründet Gruppen und Gesprächskreise, die sich bemühen, die eigenen Lebensfragen einmal in Ruhe zu besprechen, auch die Erfahrung der Langeweile. Wer mit einer leeren Zeit ohne »Action« und »Betrieb« nicht umgehen kann, fragt sich dann notgedrungen, wie man die freie Zeit totschlagen kann: Aber wer die eigene Lebenszeit totschlagen, auslöschen möchte, der verhält sich, wie die Sprache verrät, aggressiv zum Leben, zu seinem eigenen wie dem Leben der anderen.
5.
Schon die Mönche im frühen Mittelalter wussten, dass Langeweile gefährlich werden kann: Wenn die Ordensbrüder ihre Arbeit in den Klostergärten getan hatten und die Zeit des Studiums beendet war, beteten sie zur Mittagszeit nicht ohne Grund den Psalm 91. Einen Vers sangen sie mit besonderer Inbrunst: »Des Herrn Wahrheit ist Schirm und Schild vor der Pest, die im Finstern schleicht und die am Mittag Verderben bringt.« Diese Pest »am Mittag« nannten Mönche den »Mittagsdämon«. Und den hielten sie für den großen Verführer, der den braven Mönchen einredet: »Gönn dir doch mal die Langeweile, sie ist doch nicht so schlimm, du musst nicht immer nur beten und arbeiten.« Aber nein! Das passte wenig in die Klosterordnung, die auf ständige spirituelle Konzentration fixiert war. Zeigte sich Langeweile, musste der Mönch tätig werden. Abt Cassian hatte schon im fünften Jahrhundert eine Empfehlung parat: »In solcher Anfechtung von Langeweile durch den Mittagsdämon besucht der Mönch die anderen Klosterbrüder. Er besucht die Kranken in der Ferne; er legt sich religiöse Pflichten auf; er beschließt, Verwandte wieder zu sehen und die Menschen in der Umgebung zu begrüßen.«
6.
Das weithin unbefragte Motto heißt: Langeweile gilt es zu verdrängen. Auch viele christliche Philosophen halten sich daran, etwa Blaise Pascal (1623-1662). Er hat in seinem noch heute viel zitierten Hauptwerk, den fragmentarisch hinterlassenen »Pensées«, gelehrt: Nichts sei für den Menschen unerträglicher, als ohne Aufgaben zu leben. Dann stelle sich das Gefühl der Verlassenheit ein, Düsternis und Trauer machten sich breit. Es entstehe die Langeweile, und dies sei eine elende Situation, die nur in einem mutigen Sprung in den Glauben überwunden werden kann, meinte der fromme Pascal. Nur Gott befreie von der »furchtbaren« Langeweile. Gleichzeitig kritisiert Pascal aber alle, die nicht glauben wollen, sondern sich im Amüsement »zerstreuen« (Pensée Nr. 131).
7.
Auch die gläubigen Schriftsteller der Romantik verbreiten dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre tiefe Verachtung der Langeweile. Der Dichter Ludwig Tieck (1773-1853) schreibt in seinem Roman »William Lovell«: »Langeweile ist gewiss die Qual der Hölle. Nenn mir eine Pein, die diesem Krebse gleichkäme: So wie ich dasitzen und im Zimmer die Nägel betrachten, auf- und niedergehen, aus dem Fenster sehen, um sich wieder hin zu setzen, um sich auf etwas zu besinnen … und man weiß nicht worauf: Nenn mir eine Pein, die diesem Krebse gleichkäme. Der nach und nach die Zeit verzehrt, wo die Tage so lang und der Stunden so viele sind.«
8.
Aber weder Abt Cassian noch Pascal oder Tieck kamen auf den Gedanken, die Erfahrung der Langeweile als solche erst einmal anzunehmen und in Ruhe anzuschauen. Und dann zu fragen: Könnte es nicht eine sinnvolle Aufgabe sein, dieses Lebensphänomen Langeweile auch einmal ohne Vorurteile gedanklich auszuhalten?
9.
Mit Nachdruck weist die Psychotherapeutin Verena Kast (Zürich) heute darauf hin: »Wir können von der Langeweile ›profitieren‹, also Nutzen ziehen für unser weiteres Leben, wenn es uns gelingt, uns darauf zu konzentrieren und zu sagen: Ja, es spricht uns jetzt gar nichts mehr an, wir erleben die Langeweile. Wenn man das aushält, dann kann auch eine neue Idee auftauchen. Dann merken wir plötzlich, wo eigentlich unsere Interessen wären, was uns von innen her wirklich ansprechen würde. Aber dazu braucht man eben einen Mut zur Langeweile, sie aushalten zu wollen. Und das wissen Menschen verhältnismäßig gut, die kreativ sind. Sie haben vorher etwas geschaffen, haben eine Idee ausgearbeitet. Und dann fällt ihnen zunächst mal nichts ein. Eine Leere entsteht, sie langweilen sich. Aber sie wissen aus Erfahrung: Wenn ich mich auf diese Langeweile konzentriere, sie aushalte, dann wird wieder etwas Neues entstehen.«
10.
Philosophen unterstützen diese Empfehlung. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813-1855) machte da einen Anfang, betont der Theologe Professor Michael Bongard: »Kierkegaard nennt Langeweile ausdrücklich eine Kunst, nämlich die Kunst, sich selbst zu langweilen! Und das ist schon wieder ein bewusster Akt. Die Langeweile ist dann eine Form des Menschseins, die für sich selbst wertvoll ist. Und wenn sie dann auch nur damit gefüllt wird, dass einem spontan Bilder, Ideen, Gedanken kommen, die man für nichts brauchen kann, die einfach aber auch ihre Qualität darin haben, dass sie für mich bereichernd sind.«
11.
Im 20. Jahrhundert ist dann der Philosoph Martin Heidegger noch viel weiter gegangen. Er ist da ganz radikal: Ohne die ausgehaltene und dann auch reflektierte Langeweile kann es kein wahres menschliches Leben geben. Er hat die Langeweile von der so tief sitzenden negativen, unheilvollen Färbung befreit. Vor allem sein Buch »Die Grundbegriffe der Metaphysik« ist in dem Zusammenhang wichtig. In diesem Text wird deutlich, dass Philosophie durchaus helfen kann, das eigene Leben sinnvoller zu gestalten, wenn wir nur nicht die Langeweile verdrängen! Um den schwierigen Text allgemein zugänglich zu »übersetzen«, könnte man sagen, Heidegger legte den Menschen nahe: Nimm die Langeweile als eine wichtige Grundstimmung an. Dabei ist die Achtsamkeit auf die so genannte »tiefe Langeweile« entscheidend, wo du sozusagen tief erschüttert »den Boden unter den Füßen« verlierst. Die tiefe Langeweile findet ihren sprachlichen Ausdruck in der Alltagssprache, etwa in der Formel »Es ist einem langweilig geworden«. Wer so spricht, nimmt sich in der Langeweile gar nicht mehr als »Ich« oder als Person wahr. Der Mensch ist dann nur noch »einer«, also ein anonymes Wesen, dem es da langweilig wird. Der Mensch erlebt, wie die ganze bisherige vertraute Welt »einem entgleitet«, wie sich das bedrängende Gefühl der Sinnlosigkeit breitmacht. Aber gerade an dem Punkt gilt es, die Widerstandsreserven des Denkens zu aktivieren, meint Heidegger. Gerade im tiefsten Moment der Leere und Langeweile, so hat es der Philosoph selbst erlebt, kann der Mensch noch so viel Energie wecken, dass er diese tiefe Langeweile überwinden kann. Der Mensch muss nur in der tiefsten Not der Langeweile die »Wachheit« des Fühlens und Denkens weiter pflegen. »Höre auf das, was die Langeweile zu sagen hat«, heißt Heideggers Aufforderung. Langeweile ist dann nichts »Schlimmes«, im Gegenteil: Im Sinne Heideggers »spricht« die Langeweile, sie sagt, wieder in freier Übersetzung aus dem Buch »Die Grundlagen der Metaphysik«: »Du bist jetzt mit dem Grund deines Lebens, deines Daseins, konfrontiert. Du siehst, wie du in die stetig weiter laufende Zeit hineingestellt bist. Du kannst der Zeit nicht entkommen. Aber du bist ihr nicht hilflos ausgeliefert: Wenn du Langeweile erlebst, mach daraus eine lange Weile, also eine lange Gegenwart. Erfreue dich der Dinge um dich herum. Etwa auf dem Bahnhof: Zähle nicht die Bäume, sondern bedenke das Geschenk der Natur. So kannst du deine Lebenszeit selbst gestalten. Du merkst: Auch meine Zukunft kann ich mir formen, ich bin nicht der Sklave meines Terminkalenders. Du musst nicht ein Leben führen, das andere dir vorschreiben.
ür Heidegger wird die akzeptierte und bedachte Langeweile zur Chance im Leben, wenn er betont: »Es geht um die äußerste Zumutung an den Menschen. Was ist das? Es ist dieses, dass dem Menschen das Dasein (sein eigenes Leben) als solches zugemutet wird, dass ihm aufgegeben ist – da zu sein.« Mit anderen Worten: In der eigentlich belastenden Langeweile wird mir augenblicklich klar, mir ist mein eigenes Leben übergeben, ich habe es selbst zu leben, nur ich sollte der Gestalter meines Lebens sein. Oder wie Heidegger sagt: »Ich habe mein Dasein auf meine Schultern zu werfen«, muss also mein eigenes Leben wie eine Gabe tragen und manchmal auch ertragen, aber immer bin ich es, der mein Leben selbst gestaltet.
12.
Aber der immer weiter fragende Philosoph Heidegger bleibt auch da noch nicht stehen: Wenn ich mein Leben in der tiefsten Not der Langeweile ergreife, dann nehme ich auch den unergründlichen Grund meines Lebens wahr und sehe: Ich bin in diese Welt hineingesetzt, bin aber getragen und umfangen von einem gar nicht greifbaren Geheimnis allen Seins. Der Weg in eine philosophisch zu denkende Welt der Transzendenz eröffnet sich hier, dank einer neuen, radikal positiven Deutung der Langeweile.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin
…….
Ein NACHTRAG: Zu Edward Hopper:
Viele Interpreten der Arbeiten des us – amerikanischen Künstlers Edward Hopper (1882 – 1967) weisen darauf hin, dass seine Gemälde zur us – amerikanischen Lebenswelt (und damit wohl auch der westeuropäischen des 20. Jahrhunderts) das herrschende Lebensgefühl kritisch bearbeiten. Langeweile ist dabei ein häufiges Thema der dargestellten Lebenswelt, etwa die Arbeit “Room in New York” von 1932. Es “liefert einen voyeuristischen Einblick durch ein Fenster. Im Zimmer sitzt ein Mann auf einem Polstersessel, über eine Zeitung gebeugt. Im rechten Bidrand schlägt eine Frau auf einem Klavier eine Taste an…Hopper hat offensichtlich Degas`Bild “Bouderie” zum Vorbild genommen, dieses aber umgedeutet. Nicht Missstimmung ist nunmehr der Tenor des Bildes, sondern Langeweile, =ennui=”, so Ivo Kranzfelder in “Edward Hopper”, Taschen Verlag 206, S. 129. Die beiden Personen, nebeneinander und ohne jegliche Verbundenheit, langweilen sich, weil sie ihren eigenen “ennui” nicht als solchen wahrnehmen, sich also ihrer Langeweile nicht bewußt stellen, sondern im Dämmerzustand des “Zeitvertreibens” nebeneinander hockend verharren. Erst die bewusste Langeweile kann hilfreich sein.

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Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen: Ein neues Buch von Eva von Redecker

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Eva von Redecker, die als junge Philosophin durch Publikationen über Judith Butler und Hannah Arendt bekannt ist und die nicht nur an der Humboldt – Universität lehrte, sondern auch in Cambridge (UK) und New York, erörtert in ihrem neuen Buch in vielen Aspekten die Erkenntnis: Der Kapitalismus ist zerstörerisch und tödlich, nicht nur für die Natur, auch für die von ihm beherrschten, leidenden Menschen. Moderner Kapitalismus ist geprägt, so betont die Autorin, von der „Sachherrschaft“, die eine absolute Verfügungsgewalt des Eigentümers über seine eigenen Dinge bedeutet, bis hin zu dem Recht, diese eigenen Dinge (selbst Wasser, Wälder, Tiere, auch Menschen als Abhängige, als Sklaven usw.) nach eigenem Belieben zu vernichten.
Und diese Erkenntnis beweist sie in einer Sprache, die eine gewisse Eleganz hat und andererseits immer auch mit (eigenen) alltäglichen Lebenserfahrungen verbunden ist. Manchmal fühle ich mich an Walter Benjamin erinnert, etwa wenn Eva von Redecker vom „Sturm der Verwertung“ spricht, der „aus der Zukunft zurückbläst (S. 57): Man lese etwa Benjamins Text „Über den Begriff der Geschichte“, IX. Kapitel.
2.
Von Redeckers hat einen zentralen Focus: Der jetzt wieder lebhafte Widerstand gegen die kapitalistische Allmacht muss auch philosophisch ernst genommen werden. Könnte dies argumentativ gelingen, dann könnten sich viel mehr Menschen diesem Widerstand, also der „Revolution für das Leben“, anschließen, aus Einsicht und Denk- Notwendigkeit. Genauer gewürdigt werden etwa Aktionen wie die „Die-Ins“ etwa von „Extinction Rebellion“ (XR), oder die „Friday for future“. Eine große Bedeutung haben für die Autorin die Widerstandsformen indigener Völker, etwa in Nordamerika (269), dabei werden auch spirituelle Dimensionen des Widerstands deutlich. Indigene Völker, so von Redecker, treten in ihrem uraltem Wissen ein für die Weltbewahrung, sie kämpfen gegen den Profit, den Verbrauch und Verkauf der Natur, pflegen die „Gezeiten“, wie sie oft betont (etwa 284). Ein Begriff, der ausführlicher hätte erläutert werden sollen! In den letzten Kapiteln ihres Buch spricht die Autorin von der Utopie eines „umsichtigen Kommunismus“ (284), auch hier hätte der Leser sich gern weitere Erläuterungen und Differenzierungen gewünscht. Jedenfalls will die Philosophin keine esoterischen Erleuchtungen verbreiten, sondern argumentativ für eine neue Interpretation der alten Formel „Omnia sunt communia“ eintreten, was ja nicht heißt „Alles soll allen gehören“, sondern, wie sie betont: „Alles ist allen anvertraut. Alle sind einander anvertraut“ (282).
3.
Viele Erläuterungen im Buch zur Zerstörungswut des Kapitalismus sind bekannt (der Reale Sozialismus war bekanntlich auch in der Hinsicht des Umgangs mit der Natur zerstörerisch, dies wird leider von der Philosophin nicht ausführlich beschrieben). Aber in der Zusammenfassung und Deutlichkeit sollten diese Analysen immer wieder Beachtung finden: Die umfassende Zerstörungswut des Kapitalismus geschieht um des Profits willen und der Vermehrung des Eigentums einiger weniger. Bekanntlich haben Millionäre und Milliardäre an ihren täglich neu gewonnen Millionen kein vorrangiges Interesse, es geht um die Lust des Vermehrens als solcher. Dies wäre eher ein Fall für die Psychotherapie und vor allem für eine neue, gerechte Gesetzgebung, die Grenzen des Privateigentums setzen kann…Und dieser Kapitalismus ist kein neutrales, sozusagen naturwüchsiges Ungeheuer, sondern es sind Menschen, meist Männer, die um des „schnellen, konkurrenzgejagten Profits“ (S. 64) willen die lebendige Natur zerstören … und dabei noch unüberschaubare Berge von Schutt, Bruch, Schlamm, Überreste produzieren.„Die Erde wird als Schutthalde hinterlassen“. „Alles, worum es (der kapitalistischen Wirtschaft) geht, ist der Profit von ein paar Konzernen“ (S.238). Es droht so, Hannah Arendt folgend, der „Weltverlust“: „Alles wird in die (zerstörerische) Logik des Massenkonsums hineingezogen“ (S. 110).
4.
Ich finde den Titel des neuen Buches von Redeckers sehr treffend, weil er den wirklichen elementaren, also den politischen und ökonomischen Kampf um das Leben zeigt, und damit alle blamiert, die mit ihrem fundamentalistisch verdorbenen Tunnel-Blick nur auf das ungeborene Leben starren und förmlich im Schutz des ungeborenen Lebens ihren neuen Gott sehen, dem sie alles opfern, vor allem den eigenen, alle Güter abwägenden Verstand. Dieser neue Gott „Ungeborenes Leben Schützen“ ist die esoterische Inspirationsquelle aller reaktionären Leute in den USA, Polen, in ganz Lateinamerika und anderswo. Sie nehmen den Tod junger Frauen in Kauf, wenn diese ohne kompetente ärztliche Hilfe abtreiben müssen. Diese fundamentalistischen Pro-Life Fanatiker sehen in dieser brutalen Gesetzgebung, von Kirchen und Christen und Bischöfen und Päpsten unterstützt, den obersten Willen Gottes. Von einer Geburtenkontrolle spricht ohnehin niemand mehr. Und alle Pro Life-Leute meinen, die klassische Hetero-Familie sei für die Kinder und die Frauen ein heiler Ort wunderschöner Geborgenheit, was evident Unsinn ist…Aber dieses Thema wird leider in dem neuen Buch von Eva von Redecker nicht entfaltet!
5.
Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin interessieren wir uns besonders für die Religionskritik auch in diesem Zusammenhang. Dazu bietet die Autorin knappe Hinweise. Dadurch dass christliche Institutionen (also Kirchen) „nur noch als Phantombesitz der Leitkultur fungieren, liefert die Esoterik der Bevölkerung diverse Opiate“ (S. 103). Esoterik also als Ersatz konfessioneller Kirchlichkeit…Unter „Phantombesitz“ versteht die Autorin „gegenstandslose Herrschaftsansprüche“ (S. 34), also den Glauben von Institutionen, sie hätten noch Besitz, wo dieser doch längst faktisch entschwunden ist. Für die Kirchen in Deutschland oder in weiten Teilen Europas mag das zutreffen: Die Kirchen haben keine – wie einst – „Verfügungsgewalt“ mehr über ihre Mitglieder, die zwar in Deutschland noch das enorme kirchlichen Eigentum und die Unsummen von Kirchensteuern erzeugen. Aber die meisten Kirchen-Mitglieder verhalten sich überhaupt nicht konform den Gesetzen „ihrer“ Institution gegenüber. Insofern ist die religiöse, die kirchliche Situation in Europa durchaus mit dem Stichwort „Phantom“ zu beschreiben.
6.
Das Buch „Revolution für das Leben“ passt gut in diese Corona-Zeiten. Es zeigt, dass es heute die -dringendste Aufgabe gibt, für die Rettung des Lebens der Menschen und der Natur im ganzen einzutreten. Was nützt eine hoffentlich bald Corona – freie Welt, wenn sehr viele Menschen keine saubere Luft mehr atmen und kein sauberes Wasser mehr trinken können, wenn ArbeiterInnen in den großen neoliberal gesteuerten Firmen nicht als Menschen, sondern wie ausrangierbare, wegwerfbare Dinge behandelt werden und so weiter und so weiter….
7.
Die Überwindung dieses undemokratischen Systems, das diese Unmenschlichkeit erzeugt und fortsetzt, ist, ganz elementar gesprochen, ein ethisches Gebot. Ein kategorischer Imperativ! Dem soll der einzelne mit viel frustrierender Mühe und viel intelligenter Menschlichkeit entsprechen und dabei die Schönheit der Gruppen erleben, die sich nicht unterkriegen lassen und die die universalen Menschenrechte als ihr vernünftiges Glaubensbekenntnis betrachten. Ob sich dafür die meisten nun erschöpften und sowieso ausgehungerten Menschen weltweit noch einsetzen (wollen/können), ist eine Frage. Aber die Hoffnung darf nicht getötet werden.

Eva von Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 2020, 316 Seiten, 23 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Leo Tolstoi als Philosoph. Anläßlich seines Todestages am 20. November 1910

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Ist Leo Tolstoi (1828–1910) ein Philosoph? Was für eine Frage! Sie kann nur mit einem Nein beantworten, wenn als Philosoph nur gelten kann, der an einer Universität oder Hochschule lehrt und ein möglichst perfektes Denk – System errichtet. Aber, unnötig zu betonen: Philosophie ist zunächst Philosophieren, lebendiges, selbstkritisches Frgen. Und diese Praxis des kritischen Denkens und Zweifelns findet überall statt, z.B. auch in der Literatur, unter den Schriftstellern.
Natürlich ist Leo Tolstoj ein Philosoph, der in seinem äußerst umfangreichen Werk sich voller philosophischer Vorschläge äußert, selbst wenn er Philosophie sozusagen als „wissenschaftliche und strenge Disziplin“ dann doch eng findet.
2.
Immerhin widmet Wilhelm Goerdt in seinem umfangreichen Buch „Russische Philosophie“ (Karl Alber Verlag, Freiburg, 2002, 686 Seiten) fünf Seiten dem „Philosophen Tolstoi“ (S. 534 ff.). Goerdt betont gleich am Anfang, dass man die politischen und sozialen Überzeugungen Tolstois in die Nähe des Anarchismus stellen könnte. Tolstois zentrale Einsicht ist: Gewalt(herrschaft) verschwindet nicht, wenn neue Gewalttäter die Herrschaft übernehmen. Die Erneuerung des „inneren Menschen“, also die Veränderung des Bewusstseins in Richtung Liebe und Gewaltverzicht, ist die Voraussetzungen einer gelingenden humanen Welt.
Tolstoi hat sich mit vielen Lebensentwürfen auseinandergesetzt, z.B. mit dem Glauben an den Fortschritt oder dem Glauben an die dogmatischen Kirchenlehren oder dem populären Glauben der einfachen Bauern: Übrig bleibt für ihn nach all dem Suchen die Frage: Wozu ist das alles sinnvoll? Und für Tolstoi die entscheidende Frage: Was ist der Tod, was kommt nach dem Tod?
3.
In Tolstois Leben und Denken geht es darum: Das beständige Hinterfragen zu üben, das Verlassen vertrauter Positionen, die Bindung an Eigentum, an Wohlstand, es geht ihm um das ewige Weitersuchen, das Misstrauen gegen schnelle Lösungen…Letztlich, so Tolstoi, muss die wahre, das ist die an allem zweifelnde Philosophie, ihr Nichtwissen eingestehen. Hier deutet sich an, dass Tolstoi in eine Haltung gerät, die man nur Glauben nennen kann. Aber es ist ein Glaube, der in sich selbst die Kraft der Vernunft bewahrt. Mit der Vernunft verwirft Tolstoi die Lehren der Kirche, die Macht der Kirche bekämpft er ohnehin. Übrig bleibt bei der vernünftigen Religionskritik die Hochschätzung der Bergpredigt Jesu (Siehe dazu etwa Tolstois Werk „Worin besteht mein Glaube, 1883, auf deutsch: https://www.projekt-gutenberg.org/tolstoi/glaube/chap001.html)
4.
Wichtig ist der Text: „Das Reich Gottes ist in euch!“ Damals in Russland verboten, 1894 in Deutschland erschienen, meines Wissens leider auf deutsch jetzt nicht greifbar. Hier wird wohl die Mitte seines christlichen Denkens erreicht, freilich in einer wörtlichen Interpretation der Bibel-Texte. Aber diese bezieht sich auf die politisch relevanten Texte des Neuen Testaments. Auf andere Weise meinte Tolstoi wohl kaum, die umstürzlichere, die „anarchistische“ Kraft des Evangeliums deutlich machen zu können, oder besser: praktisch werden zu lassen. Sein Buchtitel bezieht sich auf das Lukas Evangelium, Kap. 17, Vers 21. Die Orthodoxe Kirche deutete Tolstoi richtig als Staatskirche, die nichts für den Frieden tut und die jesuanische Forderung der Gewaltlosigkeit ignoriert.
Tolstois Grundsätze heißen: „Du sollst nicht zürnen. Du sollst deine Frau nicht verlassen. Du sollst nie, nichts und niemandem schwören. Du sollst dem Bösen nicht gewaltsam Widerstand leisten. Du sollst Menschen anderer Völker nicht für deine Feinde halten“.
5.
Gandhi kannte dieses Buch Tolstois: „1908 schrieb Tolstoi einen Leserbrief an eine indische Zeitung (A Letter to a Hindu), in dem er die Meinung vertrat, dass das indische Volk die britische Kolonialherrschaft nur durch passiven Widerstand auf der Basis von Nächstenliebe zu Fall bringen könne. Im Jahr darauf schrieb Gandhi an Tolstoi mit der Bitte um Rat und für die Genehmigung, A Letter to a Hindu in seiner eigenen Sprache Gujarati zu veröffentlichen. Tolstoi antwortete und es folgte eine andauernde Korrespondenz bis zu seinem Tod im Jahr 1910. Die Briefe enthalten unter anderem praktische und theologische Anwendungen der Gewaltlosigkeit.[4] Tolstois Idee wurde schließlich durch Gandhis Organisation landesweiter gewalt freier Streiks und Proteste in den Jahren 1918–1947 realisiert“ (wikipedia, gelesen am 19.10.2020). Tatsache ist, dass Tolstoi Gandhi hochschätzte, wenn nicht bewunderte. (vgl.: https://www.asthabharati.org/Dia_Oct%20010/y.p..htm)
6.
Zentral bleibt für den freien Denker und Philosphen Tolstoi: Er war trotz – oder wegen – seiner Vorliebe für einzelne Aussagen des Neuen Testaments (das er auch auf Altgriechisch lesen konnte) ein Kritiker der Kirche, er lehnte die verfasste Institution Kirche ab. „Die kirchlichen Riten wurden in Tolstoijs Beschreibung zur Farce, zu einer Lüge, auf der das gesamte menschenfresserische System gründete“ (Lew Tolstoj, Rowohlt Monographie, 2010, S. 111). Und er lebte seine eigene Spiritualität, wobei er traditionelle Dogmen (wie die „Göttlichkeit Jesu“) ablehnte.
7.
Tolstoi hatte schon als junger Mann im Jahr 1855 in sein Tagebuch geschrieben, was er als seine Lebensaufgabe ansehen will: „Die Idee ist die Gründung einer neuen Religion, die der Entwicklung der Menschheit zum Segen gereicht, eine Religion Christi, die jedoch gereinigt ist von Aberglaube und Geheimnis, eine praktische Religion, die nicht künftiges Heil verspricht, sondern Heil auf Erden zu geben vermag“ (zit. in „Lew Tolstoj“, Rowohlts Monographie, von Ursula Keller und Natalja Sharandak, S. 69).

Hinweise zu „Tolstoi und der christliche Anarchismus“ finden sich auch in dem Sammelband „Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung“, hg. on Sebastian Kalicha, Verlag Graswurzelrevolution, 2013, 192 Seiten.

Copyright: Christian Modehn.www.Religionsphilosophischer-Salon.de