Jesus oder Christus? Eine Dialektik, die zu denken gibt.

Eine Dialektik, die zu denken gibt … und eine vernünftige Spiritualität fördert
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Jesus oder Christus? Ein Titel, der provozieren will, der also ein neues Nachdenken fördern möchte. Es geht um eine kritische Reflexion auf ein selbstverständlich daher gesprochenes Bekenntnis, der Einheit von Jesus (von Nazareth) und Christus in einer zusammen geschlossenen Formel „Jesus Christus“.
Dieses Thema sollte nicht nur spirituelle Menschen interessieren. Es bestimmt unsere europäische Kultur/Religions-Geschichte, es ist daher von grundlegender Bedeutung.
Es muss also diese übliche, aber oft gedankenlos gesprochene Synthese „Jesus Christus“ auseinandergenommen werden. Denn diese von den Kirchen schon in frühesten Zeiten definierte Formel „Jesus Christus“ führt letztlich, im Ganzen betrachtet, zur Bevorzugung der Christus-Gestalt und des Christus-Bildes. Dabei ist „Christus“ nur ein Titel! „Christus“ ist als solcher keine bestimmte Person, sondern ein Ehren-Titel, der dann mit der besonderen Qualität dieses Menschen Jesus von Nazareth in eins gesetzt wurde. Später hat die Kirche offiziell Jesus z.B. auch den Titel „König“ gegeben und von „Christ – König“ gesprochen. Abstrakt und nur allein für sich verwendet ist also eigentlich „Christus“ sinnvoll gar nicht sagbar. Aber das geschieht indirekt und unbewusst ständig. Damit ist eine inhaltliche Fixierung auf diesen Titel Christus
Gegeben. Und dann wird doch im zweiten Schritt ein „Christus“ auch inhaltlich konstruiert, der die unabweisbare Bindung an den einmaligen Menschen Jesus von Nazareth (und seine Lebensform, seine humane Praxis etc.) verdeckt. Dieser sozusagen dann halbierte Christus ist in der kirchlichen Dogmatik der Herrscher, der Thronende (siehe die entsprechende Ikonographie, Ravenna et.), der Gott, der logos, die Zweite Person der Trinität usw. Konsequent wird auch dies als Dogma gelehrt: Christus als Gott, man denke an die Gebete in der offiziellen Liturgie etwa der katholischen Kirche, in denen von Christus als „unserem Herrn und Gott“ immer wieder die Rede ist.
Bei der Freilegung dieser Dimension wird erneut bewusst, dass das Christentum als Christus-Religion – trotz aller internen Pluralität – eine ganz und gar eigene Religion ist, die aus dem Judentum herausgewachsen ist. Darum ist die häufige Verwendung des Begriffspaares „christlich-jüdisch“ in christlichen Kreisen eher eine Verschleierung; die tatsächliche Nähe und Verbundenheit mit der jüdischen Religion ist bei dieser Christus-Religion fraglich. Aber das ist ein Thema, das eigens diskutiert werden müsste. Jüdische Theologen sind da deutlicher, sie wissen von der tiefen Differenz von Judentum und Christentum als zwei verwandter, aber verschiedener Religionen….
Nur dies noch: Wenn Christus, sozusagen abstrakt als solcher im Mittelpunkt steht, dann wird auch aus Jesu Mutter Maria folgerichtig die „Gottes-Mutter“ oder die „Mutter Gottes“ in der dogmatischen Welt der Orthodoxie und des Katholizismus genannt. Natürlich wurde den Dogmatikern, die den Christus – Herrscher seit der frühen Kirche verteidigten, etwas blümerant zumute, wenn sie im Rahmen ihrer Definiersucht von Christus „einfach so“ als Gott und von Maria als der Gottes Mutter sprachen. Und sie haben deswegen leichte Nuancen eingeführt, etwa die Lehre von den zwei Naturen Christi, einer menschlichen und einer göttlichen usw.
Aber es ist nicht zu leugnen: Letztlich hat sich in den meisten hierarchischen Kirchen und Staatskirchen die Vorstellung von Christus durchgesetzt, also von Christus ohne Jesus von Nazareth, das gilt für die Sprache, die Liturgie, die Volksfrömmigkeit. Kunsthistoriker könnten zeigen, wie in der Darstellung Jesu Christi sehr deutlich die Christus – Gestalt herausgestellt wurde. Wenn moderne Künstler sehr deutlich die Jesus von Nazareth Person in den Mittepunkt stellten, wurden sie kirchlicherseits ignoriert oder diffamiert.
Aber ist einmal die übliche Verbindung Jesus Christus auseinander genommen, dann eröffnen sich weite und neue Perspektiven: Sie führen in die (Geschichte der) Philosophie, der Literatur, der Kunst usw. Da wird eine Bevorzugung des Menschen Jesus von Nazareth deutlich. Die kann bis heute inspirieren.
Auch die persönliche Lebensgestaltung ist davon berührt: Welches Vorbild ist maßgeblich? Klar ist auch: Über Jesus von Nazareth wissen wir historisch wirklich einiges, selbst wenn einzelne seiner Denkformen wenig inspirierend sind, wie das alsbaldige Ende der Welt und seine „Wiederkunft“. Diese Vorstellung ist nur aufgrund von Jesu Einbindung als Mensch in die damaligen religiösen Vorstellungen zu verstehen.
2.
Wer als spirituell interessierter Mensch Jesus von Nazareth als zentrale „Bezugsperson“ verteidigt, setzt auf persönliche Freiheit in seinem Glauben, auf Pluralität der Deutungen und Haltungen im Umgang mit dem Initiator des Christentums. Wer hingegen Christus gewisser Weise als Mittelpunkt sieht, bevorzugt die dogmatische Fixierung, das Starre, das Herrschende. Man denke nur an die Christus-Darstellungen der Basiliken. Oder, als Gegensatz: Man denke an die frühen Jesus Darstellungen in den Katakomben in Rom, die „Jesus als guter Hirt“ zeigen. Die Tradition der Kreuzweg-Andachten oder die Tradition der „semana santa“ in Spanien sind extrem populäre Beispiele für eine Bevorzugung Jesu im „Volk“. Und man bedenke vor allem: Die Päpste nennen sich bis heute bezeichnenderweise „Stellvertreter Christi“, dieser anspruchsvolle Hoheits – Titel wird in dieser Formulierung im offiziellen römischen Katechismus von 1993 mit Bezug auf das 2. Vatikanische Konzil bis heute verbreitet. Päpste vertreten Christus, den Herrscher, selbst wenn ein Papst Jesuit (Mitglied des Jesuitenordens) ist. Aber auch dieser Orden (der sich als einziger Männerorden in seinem Titel direkt auf Jesus bezieht und nicht bloß etwa nur auf sein heiliges „Herz“) hat im Laufe seiner Geschichte entschieden nur aufseiten der Stellvertreter Christi gestanden und die Inquisition (und die Ausarbeitung des Index der verbotenen Bücher) unterstützt. Der jesuanische Geist setzt sich erst in neuester Zeit durch, etwa in den Aktivitäten des Ordens zugunsten der Flüchtlinge…
3.
Das ist schon komisch: Ein Papst, der sich „Nachfolger des armen Jesus von Nazareth“ nennen würde, ist eigentlich undenkbar. Er müsste sofort seine Allmacht, Unfehlbarkeit, aufgeben und den Vatikan mit seinen Palästen verlassen. Und sich mit einem schlichten Anzug bekleiden. Es wäre historisch sehr reizvoll zu fragen: Inwiefern die große Hochschätzung der Päpste für den eigenen Kirchen – Staat (bis heute) auch in einer einseitigen Christus- (König) Bindung zu tun hatte und hat. Ein Papst als Stellvertreter Jesu von Nazareth, wenn denn diese Formel überhaupt noch Sinn macht, bräuchte keinen Vatikan – Staat. Wenn er sachlich kompetent wäre, würde er wohl trotzdem zur UNO oder ins Europaparlament eingeladen werden. Ob dieser Papst noch Nuntien in allen Ländern bräuchte, die sozusagen auch Spione der jeweiligen Ortskirchen arbeiten, ist noch mal eine andere Frage.
4.
Noch einmal: Es gibt die Bekenntnis-Formel „Jesus Christus“, sie ist weit verbreitet. Aber der rebellische Jesus hatte bei dieser Formel keine Chance, inhaltlich bestimmend zu werden, also nicht der Jesus als Freund der Frauen oder als Freund der Armen, auch nicht der Jesus, der mit einer Anzahl von Geschwistern bescheiden in Nazareth als Tischler lebte (übrigens ein damals hoch angesehener Beruf, der große intellektuelle Fähigkeiten verlangte.) Wer Jesus in den Mittelpunkt stellt, muss immer an Jesus als den Juden denken. An einen Lehrer und Propheten im damals schon pluralen Judentum, der tätiges Tun der Liebe, Praxis, viel wichtiger fand als das bekennende, aber gedankenlos plappernde „Herr – Herr – Sagen“, das Jesus von Nazareth verachtete.
Christus ist immer der in die griechische Philosophie eingerückte „logos“…und auch eine Art Objekt, das man katholischerseits kniend in der Hostie anbetet und diese Anbetung eines Stückchens Brot als Christus in einer goldenen Monstranz dann als wichtige Glaubenspraxis versteht. Unvorstellbar, dass man in diesen goldenen Rahmen irgendein Stückchen des armen Jesus von Nazareth, den Propheten, setzen würde.
5.
Jesus oder Christus ist also alles andere als eine harmlose Alternative: Sie berührt den Anspruch der Kirche(n), machtvoll als Institutionen zu bestehen mit einem aller heiligsten „Objekt“, Christus, das nur entfernt mit Jesus, dem aus dem Judentum stammenden Initiator der christlichen „Bewegung“, zu tun hat. Man bedenke ferner, dass die aktuellen caritativen und diakonischen Hilfen der Kirchen/Christen sich auf Ereignisse, Taten, Erzählungen Jesu von Nazareth beziehen, man denke nur an die Geschichte vom „Barmherzigen Samariter“. Auf den Christus – Imperator, Christ – König, können sich bestenfalls Imperatoren, Kaiser, Könige beziehen.
Eine „Jesus-Kirche“ wäre ganz anders als die übliche machtvoll herrschende Christus-Kirche. Das gilt natürlich nicht nur für die römisch-katholische Kirche, sondern auch für die durch und durch institutionalisierte und damit bürokratisierte evangelische Kirche in Deutschland. Man zähle einmal, wie viele Kirchenräte und Oberkirchenräte es in Deutschland gibt und frage ich, wofür so viele Leiter von Behörden gebraucht werden.Bei den Milliarden-Kirchensteuer – Aufkommen immer noch ist dies kein Wunder. Das gilt auch für die Orthodoxie, die in ihrer, so wörtlich, göttlichen Liturgie eben eine Christus-Liturgie absolviert (in unverständlichen, uralten Sprachen zudem auch die Metropoliten und Patriarchen, etwa der in Moskau, sind eher bestens finanziell ausgestattete Herrscher (und Putin-Ideologen) als Nachfolger des armen Jesus von Nazareth. Das hat in anderer Form schon Tolstoi geschrieben…
6.
Die Tradition der „Jesuaner“ ist keineswegs etwas „Sektiererisches“, abgesehen davon, dass immer die Herrschenden definieren, wer Sektierer ist und wer nicht. Niemals werden sich die machtbesessenen Verwalter der reinen Lehre selbst Sektierer nennen, obwohl sie – theoretisch wie praktisch oft – weit entfernt sind von dem, was Jesus etwa in seiner Bergpredigt lehrte. In der Hinsicht sind also diese Herren Sektierer, Abweichler. Aber das ist ein anderes Thema.
7.
Mir geht es hier vor allem nur darum, an einige Personen, Philosophen, Theologen, Literaten zu erinnern, die in dem Christus geprägten Kirchensystem immer wieder an Jesus von Nazareth erinnerten. Dieses Vorhaben ist naturgemäß umfassend und ist nur interdisziplinär zu leisten, also unter Literaturwissenschaftlern, Religionswissenschaftlern, Philosophen, spirituellen Meistern, ob auch katholische Theologen dazu gehören können, wage ich angesichts der immer noch gegebenen Gehorsams-Bindung dieser Theologen an das offizielle Lehramt zu bezweifeln.
8.
Zunächst nenne ich – vielleicht als „aufmunternden“ Impuls zum Thema – Friedrich Nietzsche, und zwar sein letztes, noch bei geistiger Gesundheit verfasstes Buch „Der Antichrist“. Das Manuskript wurde von seiner Schwester dann verfälscht herausgegeben, und erst in den neunzehnhundertfünfziger Jahren korrekt ediert.
Es fällt auf, dass Nietzsche in dem „Antichrist“ ab Kapitel 27 sehr viel Zuneigung zu Jesu von Nazareth zeigt, in früheren Werken hat sich Nietzsche nie so positiv über Jesus geäußert. „Nietzsche jahrelange Verwerfung Jesu als der Verkörperung alles Hassenswerten am Christentum zerfällt lautlos“, schreibt Heinrich Detering in seiner Studie „Der Antichrist und der Gekreuzigte“, Göttingen 2020, S. 95. Detering hat sehr ausführlich diese in weiten Kreisen eher unbekannte späte Jesus- Zuneigung Nietzsche interpretiert. Es ist immer typisch für den Umgang mit der Jesus – Gestalt, dass jeder und jede sich berechtigterweise die Freiheit, seinen/ihren Jesus zu zeichnen, oft ist dabei die Auseinandersetzung mit den Quellen im Neuen Testament gründlich oder nicht. Nietzsche jedenfalls setzt sich von dem damals populären Jesusbild des französischen Religionsphilosophen Ernest Renans ab. Nietzsche sieht Jesus als einen Menschen, der ganz in der Gegenwart, der dauernden Gegenwart, lebt, jeder Augenblick ist ihm heilig, die innere Regung für das Menschliche…Der Gedanke an die Zukunft spielt keine entscheidende Rolle in Nietzsches Jesus – Deutung. Nietzsche geht soweit, Jesus einen freien Geist zu nennen, „die höchste Auszeichnung, die Nietzsche für einen Menschen zu vergeben hat“ (Detering, S. 52). Aber: Dieser Jesus stirbt am Kreuz und mit ihm stirbt seine Botschaft, das Evangelium. Es folgt nämlich, so Nietzsche, die Kirche, die alles daransetzt, diesen „freien Geist Jesus“ auszulöschen. In dieser spirituellen Lehre danach wird Raum geschaffen für den Antichristen, der eine neue Wertordnung setzt, die leider von den humanen Impulsen Jesu nichts mehr übriglässt. Es wäre darum, Nietzsche folgend, zu diskutieren, wie gerade die Kirche als Institution nicht nur Jesus und sein Evangelium verrät und fallenlässt, sondern auch: Wie die Kirche indirekt dadurch schuld ist an der Durchsetzung des Antichristen….
9.
Genau an dieser Stelle wäre von Leo Tolstoi zu sprechen und seiner Bindung an Jesus von Nazareth, an die Vorliebe des russischen Dichters für die Bergpredigt und die heftigste Kritik an der offiziellen russisch-orthodoxen Kirche und ihrer machtvollen Hierarchie. Es ist der Jesus – Impuls, der das Werk Tolstois bestimmt. „Die kirchlichen Riten etwa die Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi, wurden in Tolstois Beschreibung zur Farce, zu einer Lüge, auf der das gesamte, so wörtlich, menschenfressende System gründete . Deswegen wurde er im Jahr 1901 von dieser Kirche exkommuniziert. Tolstoi schrieb in dem Zusammenhang einen sehr viel beachteten Text: “Ich glaube, dass Gottes Wille ganz klar und verständlich ausgedrückt ist in den Lehren des Menschen Jesus, den als Gott zu betrachten und anzubeten ich für die größte Gotteslästerung halte…“ Der Kampf Tolstois gegen das verbrecherische Regime des Zaren ist bestimmt von seiner Vorliebe für den vorbildlichen Menschen Jesus von Nazareth. (https://www.grundrisse.net/grundrisse44/Anarchismus_und_Christentum.htm).
Selbst in seinen letzten Stunden wünschte Tolstoi keine Versöhnung mit dieser allmächtigen, Christus und nicht Jesus feiernden Staatskirche (Leo Tolstoi, Rowohlt Monographie, Reinbek 2010, S.111 und 136)
10.
Und dieser Jesus – Impuls bricht auf unter marxistischen Intellektuellen, etwa Karl Kautsky oder Ernst Bloch und später dann Milan Machovec oder Leszek Kolakowski bis zu den anarchistischen Philosophen wie Fürst Peter Kropotkin (1842 – 1921). „Peter Kropotkin – einer der wichtigsten Vertreter des kommunistischen Anarchismus und sicher weit davon entfernt ein christlicher Anarchist zu sein – gesteht dem Christentum zum Beispiel zu, dass es erst durch die Institutionalisierung korrumpiert worden ist, wenn er das Christentum als „die Empörung gegen das kaiserliche Rom“ beschreibt, das „durch dasselbe Rom“ besiegt wurde, indem es „dessen Maximen, Sitten und Sprache an[nahm]“ und so „römisches Recht“ wurde. Er ging sogar noch weiter und schrieb, dass es „in der christlichen Bewegung […] zweifellos ernstzunehmende anarchistische Elemente“ gegeben habe. Der „anarchistische[.] Gehalt“, den er in den „Anfängen“ des Christentums verortete, verschwand für ihn aber, als „diese Bewegung [allmählich] zu einer Kirche [entartete]“.
Diese Argumentation unterscheidet ihn von vielen christlich-anarchistischen TheoretikerInnen de facto nicht. Kropotkin war es auch, der in seinem Anarchismus-Artikel für die Encyclopædia Britannica (eleventh ed.) die frühen Hussiten, die Anabaptisten (Wiedertäufer) und den Theologen Hans Denck im positiven Sinne für erwähnenswert erachtete“.(Aus einem Beitrag von Sebastian Kalicha: https://www.grundrisse.net/grundrisse44/Anarchismus_und_Christentum.htm
11.
Von Albert Camus und Jesu wäre zu sprechen: Für Camus ist Jesus eine Art Verleiblichung des Dramas der Menschheit: „Er ist nicht der Gott – Mensch, sondern der „Mensch-Gott“, schreibt Camus. Er ist begeistert von einem Gott mit menschlichem Antlitz, ein Gott, der in Jesus sichtbar wird. In dem Roman Die Pest erscheint dieses Gesicht des Menschen-Gottes im Bild des unschuldig Leidenden, in dem Kind, das im Sterben liegt. Camus nimmt sich natürlich alle Freiheit, seinen Jesus zu zeichnen, der als Gottverlassener am Kreuz eine absurde Erfahrung macht, der sich aber vorher gegen Unrecht aufgelehnt hat.
Erst wenn Menschen frei und unzensiert ihr Jesus – Bild beschreiben können und selbstverständlich auch bei ihrer Position bleiben dürfen, wird der spirituelle Dialog reicher.
12.
Bei unserem Thema kann man auf einen Blick auf Hegel nicht verzichten: In der Philosophie seiner früheren Jahre hat er sich deutlich auf die Gestalt Jesu von Nazareth bezogen. Später, vor allem in Berlin, in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion spricht er nur von Christus. Aber dies ist nicht die Herrscher – Gestalt, sondern die Person, die allen Menschen deutlich macht: Jeder Mensch ist mit dem göttlichen Geist begabt. Dies ist keine fromme Behauptung, sondern im Rahmen seiner Logik eine Erkenntnis, die hier nicht weiter erläutert werden kann. Wichtig ist nur: Wenn der Mensch mit göttlichem Geist ausgestattet ist, dann bedeutet dies: Göttlicher Geist ist Vernunft, und dieser verlangt die vernünftige Gestaltung der Wirklichkeit, selbstverständlich der politischen. Wenn also Hegel Christus in den Mittelpunkt stellt und diesen umfassend und adäquat nur in der Philosophie verstehen kann, dann ist damit auch ein praktisches Lebensverhältnis eröffnet, ein politisches, die Forderung zur vernünftigen Umgestaltung der Welt ist in dieser Christus – Bindung Hegels offensichtlich. Christus wird förmlich zum philosophischen Symbol einer humanen Gestaltung der Wirklichkeit. Hegel sah in diesem vernünftigen Christus-Bild eine Chance für die Moderne, weil dadurch auf religiösen Fundamentalismus verzichtet wird zugunsten der Frage: Wie kann die Wirklichkeit vernünftig (und eben nicht den Geboten einer Religion entsprechend) gestaltet werden
Nicht alle Beziehungen zu Christus sind also von dogmatischer Starre geprägt.
13.
Wo also lebt der jesuanische Geist – heute?
Ich möchte eine Dialektik vorschlagen: Der jesuanische Geist als Idee und Tat, inspiriert von der Weisheit des Propheten Jesus von Nazareth, lebt heute vor allem bei vielen Mitgliedern der NGOs, der „Ärzte ohne Grenzen“, der „Reporter ohne Grenzen“, also der Menschenrechtsbewegungen, der feministischen Bewegungen, der „friday for future“, der Anti-Atom-Bewegungen usw. In der Erinnerung lebt Jesus weiter in den „Samariter-Hilfsdiensten“, bekanntlich bezogen auf Jesu Erzählung vom „barmherzigen Samariter“.
Und Christus? Der gilt sehr viel bei den Dogmatikern, den Menschen, die (nur) schöne lateinische Liturgien lieben, aber Ungläubige verachten, Homosexuelle verfolgen (siehe Polen usw.) und Frauen keine Gleichberechtigung in der Kirche geben, weil eben „ihr“ Jesus als ihr Christus nur Männer als Apostel wollte oder: die Protestanten vom Abendmahl ausschließen usw.
Die Dialektik ist klar: Lebendigkeit, Pluralität, Kritik und Selbstkritik, letztlich demokratische Mentalität, sind bei den direkt oder anonym sich auf Jesus beziehenden Menschen zu finden. Die andere Seite der Dialektik ist klar…
Ob sich noch einmal eine wahrhafte Synthese von „Jesus (von Nazareth) Christus“ finden lässt? Ich bezweifle das. Die Wege der Dialektik haben sich getrennt. Das heißt ja nicht, dass innerhalb der „Christus“ – Kirche einige jesuanische Menschen leben. Aber sie haben keine prägende Stimme in der Institution, sie sind Außenseiter, bestenfalls geduldet. Man denke, um nur drei aktuelle Beispiele zu nennen, an Bischof Casaldaliga (Brasilien) oder Bischof Gaillot (Frankreich) oder auch an Abbé Pierre (Frankreich)…
14.
Ich bin mir bewusst, dass man heute von Jesus von Nazareth nicht naiv fundamentalistisch sprechen darf. Das will ich überhaupt nicht. Ich meine nur, dass heute durchaus einige Kennzeichen des Mannes aus Nazareth ziemlich deutlich sind. Und die allein genügen schon, eine Dialektik gegenüber dem machtvollen Herrscher Christus aufzubauen.
Dialektik strebt für Hegel bekanntlich immer zu einer Versöhnung. Diese kann nur daran bestehen: Immer genau zu sagen: Wir meinen den „Jesus von Nazareth als Christus“. Und dieser Jesus ist, noch einmal, bei aller nun einmal geschichtlichen Begrenztheit seines individuellen Lebens, nicht nur der Menschenfreund, sondern der Verteidiger der Armen, der Zukurzgekommenen, der von Gesetzen Unterdrückten. „Brüderlichkeit“, also „Geschwisterlichkeit“, ist nur mit Jesus von Nazareth erreichbar, nicht mit Christus als dem Symbol der Herrschenden. Es wäre ausführlich zu zeigen, wie etwa die ersten Revolutionäre ab 1789 in Frankreich sich auf Jesus (!) bezogen haben und welche Rolle Jesus spielte 1848 oder in der Pariser Kommune 1871.
15.
Wenn man also noch einmal die kirchlichen Welten betrachtet, dann gilt: Die übliche Formel „Jesus Christus“ weiterhin zu sprechen, reicht nicht mehr! Und diese Formel ist eine ideologische Irreführung. Meines Erachtens kommt eine wirkliche spirituelle und damit menschliche Lebendigkeit erst dann, wenn darauf verzichtet wird, an erster Stelle den Christus (das Herrschaftssymbol) zu verehren, selbst wenn dann noch das Beiwort Jesus gedankenlos mitgesagt wird.
Dieser Christus ist der Gott der Herrschenden und Dogmatiker (Päpste, Patriarchen, Metropoliten, Oberkirchenräte usw.). Christus verlangt Anbetung, Jesus humane Praxis!
16.
Jesus von Nazareth ist ein freier Geist, wie Nietzsche richtig sagte, an ihm kann man sich orientieren, wenn man auch religiös frei, vernünftig und human leben will. Und wenn man als Mensch solidarisch und mit Empathie leben will, ob man nun konfessionell ist oder nicht. Das ist „im Sinne Jesu“ wahrlich egal (vgl. Matthäus, 25, 31-46). Jesus verlangt keine Anbetung, er lehrt, so fragmentarisch auch immer seine Lehre wirkt, eine Philosophie des Lebens als der praktischen Lebensgestaltung.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die neue Enzyklika: Fratelli tutti. Kritik ohne Selbstkritik

Ein Hinweis von Christian Modehn (Siehe auch den Beitrag über die Brüderlichkeit vom 24.9.2020 (https://religionsphilosophischer-salon.de/13017_die-bruederlichkeit-geschwisterlichkeit-eine-politische-tugend-und-eine-weltliche-spiritualitaet_denkbar)

1.
Bei längeren „Abhandlungen“ oder „Lehrschreiben“, wie einer päpstlichen Enzyklika, empfiehlt es sich manchmal, zuerst auf die letzten Seiten zu schauen. Auf die Seiten der Fußnoten. Das habe ich bei der jüngsten Enzyklika von Papst Franziskus probiert. Und siehe da: Der Text enthält 288 Fußnoten! Man möchte meinen, jeder zehnte Satz ist sozusagen „belegt“, also bezogen auf die aktuellen wissenschaftlichen und historischen Auseinandersetzungen zum Thema der Enzyklika, der Brüderlichkeit bzw. wie der Autor, Papst Franziskus, dann öfter doch treffender sagt: der Geschwisterlichkeit. Aber wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema werden nicht zitiert. Es werden fast nur die geistlichen katholischen Brüder, die Kleriker, als inspirierende Quellen erwähnt, und zwar “zuhauf”. Kann man solch ein sicher “gut – gemeintes” Schreiben in einer wissenschaftlich geprägten Welt ernst nehmen? Als nette Predigt ja, aber sonst eher nicht….
2.
Der Titel seines Lehrschreibens ist ohnehin maskulin: Die Brüder bleiben unter sich…

Also: Es sind 288 Fußnoten, also Quellenverweise. Noch einmal: Man glaubt zu träumen: Von den 288 Fußnoten beziehen sich ca. 80 Prozent auf päpstliche Äußerungen, meist von Papst Franziskus selbst, oft auch auf Texte des EX-Papstes Benedikt oder auf so genannte “Kirchenväter”. Einige Fußnoten verweisen auf den mittelalterlichen Thomas von Aquin oder den heiligen Augustinus. Einmal wird der Soziologe Georg Simmel (Fußnote 130) zitiert, der einzige moderne, nicht-klerikale Denker. Manchmal auch eher unbekannte Theologen der sechziger Jahre wie René Voillaume oder Charles de Foucauld.
Der heilige Franziskus wird ganz am Anfang erwähnt: Von daher stellt sich diese doch wohl politisch gemeinte Enzyklika in den Rahmen von Heiligengeschichten. Dabei verschweigt der Papst, dass einst seine päpstlichen Vorgänger die radikalen Lebensregeln des Franz von Assisi verboten hatten und aus der radikalen Laien-Bewegung der Armen einen klerikalen, also päpstlich überprüften Orden aus Priestern machte. Insofern ist Franz von Assisi gescheitert bzw. er wurde ausgebremst.
3.
Ich will diese „Quellen-Studien“ nicht fortführen: Einwandfrei steht fest: Auch Papst Franziskus zitiert sich selbst furchtbar oft und furchtbar gern oder eben seine Vorgänger. Wer die Texte der ZKs entsprechender Parteien in Moskau, Prag oder Ost-Berlin kennt und deren Selbstbezogenheit und „Selbstzitiersucht“ mag, wird jubeln.
Aber auch Päpste werden nicht umfassend zitiert: Denn was wäre dringender gewesen bei dem Thema Brüderlichkeit, auch auf die Päpste Gregor XVI. oder Pius IX. zu verweisen: Diese sind bekanntlich im 19. Jahrhundert immer noch (!) die heftigsten Feinde der Menschenrechte und damit der Brüderlichkeit gewesen. Diese sagen wir es ehrlich, üblen reaktionären Vorgänger übersieht Papst Franziskus in seinem Lehrschreiben. So wird bei Unkundigen heute der Eindruck geweckt, DIE Kirche und die DIE Päpste seien die heftigsten Verteidiger der Brüderlichkeit und damit der Menschenrechte immer schon gewesen. Was historisch gesehen Unsinn ist.
4.
Insofern ist diese Enzyklika nicht nur päpstlich-egozentrisch in der Auswahl der Zitate; sie ist verwirrend, weil sie die Schuld der Kirche im Zusammenhang der Brüderlichkeit nicht eingesteht. Dieses Schuldbekenntnis wäre aber die Voraussetzung für einen Papst-Text, sich überhaupt noch heute für die Brüderlichkeit stark zu machen.
Das heißt ja nicht, dass einzelne Forderungen dieses langen Textes nicht irgendwie wichtig und irgendwie richtungsweisend sind, wie das Plädoyer für Solidarität, für das Eintreten für die Armen usw. Aber es sind Sonntagsreden halt. Besonders interessant scheint mir dann noch der Text unter Nr.119 zu sein, in der der Papst sehr deutlich an die sozialen Funktionen des Privateigentums erinnert! (ZITAT: Nr. 119: “In den ersten Jahrhunderten des Christentums haben einige verständige Menschen in ihrem Nachdenken über die gemeinsame Bestimmung der geschaffenen Güter ein universales Bewusstsein entwickelt.[91] Man gelangte zu folgender Auffassung: Wenn jemand nicht das Notwendige zu einem Leben in Würde hat, liegt das daran, dass ein anderer sich dessen bemächtigt hat. Der heilige Johannes Chrysostomus fasst dies mit den Worten zusammen: »Den Armen nicht einen Teil seiner Güter zu geben bedeutet, von den Armen zu stehlen, es bedeutet, sie ihres Lebens zu berauben; und was wir besitzen, gehört nicht uns, sondern ihnen«.[92] Ähnlich drückt sich der heilige Gregor der Große aus: »Wenn wir den Armen etwas geben, geben wir nicht etwas von uns, sondern wir geben ihnen zurück, was ihnen gehört«. [93] [91] Vgl. Basilius, Homilia 21. Quod rebus mundanis adhaerendum non sit, 3.5: PG 31, 545-549; Regulae brevius tractatae, 92: PG 31, 1145-1148; Petrus Chrysologus, Sermo 123: PL 52, 536-540; Ambrosius, De Nabuthe, 27.52: PL 14, 738s; Augustinus, In Iohannis Evangelium, 6, 25: PL 35, 1436s. [92]De Lazaro Concio, II, 6: PG 48, 992D. [93] Regula pastoralis, III, 21: PL 77, 87)

Von der Verteilung des kirchlichen (!) Privateigentums von Europa in die Regionen der Armut und des Elends ist allerdings keine Rede. Warum soll eigentlich eine Gemeinde in Kongo oder am Amazonas so erbärmlich und ohne brüderliche Gleichberechtigung leben und eine in Köln oder New York förmlich in finanziellem Saus und Braus! Davon ist keine Rede. Der Text will etwas bewegen, aber bitte nicht zu sehr, nicht zu konkret, schon gar nicht für die eigene Kirche!
5.
Das 8. Kapitel ist der größte Skandal dieses schönen frommen Textes: Unter dem Titel „Religionen im Dienst an der Geschwisterlichkeit…“ hätte man ja als heutiger Mensch ein bisschen vermutet, dass da auch von der Geschwisterlichkeit in der katholischen Kirche sehr wegweisend die Rede ist. Also, konkret, was denn sonst, von den gleichen Rechten der Frauen in dieser Kirche. Und von der Abwehr jeglicher Verachtung und Diskriminierung von Homosexuellen und Transgender in dieser Kirche hätte man ein brüderliches Wort erwartet, von einem Papst, der sich nun plötzlich auf die Geschwisterlichkeit besinnt, aber entsprechende weiterführende Forderungen nur an andere stellt. Das hätte -um nur ein Beispiel zu nennen – den vielen drangsalierten Homosexuellen in dem so genannten katholischen Polen so gut getan. Etwa: Dass der angeblich so progressive Papst sagt: Diesen Antisemiten und Homo-Feind, den rechtsextremen Propagandisten Pater T. Rydzyk aus dem Redemptoristenorden mit seinem Medienimperium Radio Marya in Torun/Polen schicken wir sofort als Gärtner in die Vatikanischen Gärten … um der Brüderlichkeit und der Menschenrechte in Polen willen. Denn: Hassredner gegen die Brüderlichkeit in der Kirche haben keinen Platz, hätte der Papst doch sagen könne, macht er aber nicht…Er hätte ja auch ein Wort gegen etliche in dieser Hinsicht auch etwas verkalkten polnische Bischöfe sagen können…Aber diese Oberhirten sind ja „Mit-Brüder“ in dieser klerikalen Kirche. Mitbrüder untereinander schonen sich, „decken sich“, da wissen wir aus den vielen klerikalen Fällen sexuellen „Missbrauchs“…
6.
So ist also wieder viel Papier mit vielen überflüssigen selbstbezogenen Fußnoten entstanden.
Politisch – sozial – kirchlich bewirken werden diese frommen Worte wahrscheinlich nichts. Weil eben nicht gesagt wird: „Liebe Leute, wir als römische Kirche springen nun endlich über unseren Schatten und nehmen die Frauen als völlig gleichberechtigte Partner an. Frauen können selbstverständlich Priesterinnen werden. Der Klerikalismus, dieses unbrüderliche Verhalten, hat ein Ende. Und auch die Homosexuellen sind absolut als solche willkommen. Die vielen schwulen Priester brauchen sich nicht mehr zu verstecken….
Und selbstverständlich feiern wir gemeinsam mit unseren protestantischen Brüdern ab sofort gemeinsam Abendmahl und so weiter“.
7.
Aber solche einzig noch interessanten Worte werden nicht gesagt! Und es wird auch nicht gesagt: Ab morgen unterzeichnet der Staat Vatikan-Stadt als letzter Staat der Erde auch die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte von 1948. „Dieser Winzling von Staat, der Vatikan-Staat, wird in seiner Verfassung nun endlich „brüderlich“, d.h. ja nichts anderes als: den Menschenrechten entsprechend, also demokratisch“.
8.
Solange die katholische Kirche nicht in sich selbst die universalen Menschenrechte als gültig anerkennt, sind alle Enzykliken, auch ein Lehrschreiben zur Brüderlichkeit, überflüssig und sowieso unglaubwürdig.
9.
Es mag ja sein, dass der Papst in seiner neuen Enzyklika von universeller Liebe spricht, von einer humanen Welt, die mehr ist als ein Jenseits-Traum; wichtig sind die beinahe üblichen Forderungen auch an Politiker, im Dialog zu bleiben und Aggressivität aufzugeben, de Papst denkt da wohl an Mr. Trump. Aber diese Forderungen bleiben abstrakt, kein Name wird genannt, nicht Bolsonaro, der Vernichter des Regenwaldes, und nicht Trump, auch nicht die katholischen Politiker in Polen oder der sich christlich nennende in Ungarn. Nicht die sich katholisch nennenden Politiker in Afrika oder etwa auf den Philippinen. Der Papst will wohl als Staatschef diplomatisch bleiben und nicht “anecken”..So bleibt der Gesamteindruck: Viele fromme, zum Teil ja richtige Wort bei diesen ewigen Forderungen…
10.
Darum der Gesamteindruck: Diese Enzyklika bringt keinen Erkenntnisgewinn; sie fördert keine ökologische Umkehr; sie fördert nicht die politische Rebellion zugunsten der Gerechtigkeit; sie bringt für die Kirche selbst keine Reformation, denn um kleinteilige Reförmchen geht es doch längst nicht mehr. So ist es alles andere als arrogant zu sagen: Diese Enzyklika ist überflüssig. Wer wird sie lesen?
Warum sagt der Papst dieses alles nicht in 10 knappen Thesen auf einer DIN A 4 Seite? Diese würden wenigstens viele Leute lesen… und vielleicht ein Tagesgespräch auslösen und heftige Debatten…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Gegen den Verschwörungswahn hilft Philosophie!

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Philosophieren, das lebendige Geschehen von Philosophie – wie Musizieren das lebendige Geschehen von Musik ist –, hat zweifelsfrei immer einen praktischen, auf die Lebensgestaltung bezogenen Sinn. Mag ja sein, dass „l art pour l art“ manchmal einen gewissen Überraschungseffekt hat(te). Für die Philosophie gibt es dieses „Philosophie um ihrer selbst willen“ nicht.
Darum ergeben sich aus dem Philosophieren auch unter den Bedingungen heutigen Lebens praktische Anregungen, man möchte sagen „Denk – Hilfen“ angesichts der vielen Krisen und Katastrophen der Gegenwart.
Ein Verbrechen an der geistigen Verfassung und Autonomie der Menschen begehen die Leute, die Verschwörungstheorien verbreiten. Sie spinnen sich aus politischen oder ökonomischen oder bloß privat-neurotischen Krankheiten Dinge zusammen. Sie verbreiten permanent Lügen, die auch viele, je länger sie diese Lügen hören, irgendwann dann doch glauben. Dies ist die Macht ideologischer Bombardements durch Lügen-Verbreiter. Das ist schon oft passiert, man denke nur an den skandalösen Lügenglauben im Umfeld des „berühmten“ Dreyfus-Prozesses.
Jetzt haben die aus den USA kommenden und dort sehr heftig rezipierten Verschwörungstheorien Hochjunktur. Sie sollen beitragen, dass Mister Trump noch weitere vier Jahre die USA mit seinen Lügen spalten und die Demokratie ruinieren kann. Ich erwähne hier nur die dort unter dem Titel „QAnon“ verbreiteten Wahnideen. Darüber wurde vieles geschrieben, siehe etwa im „Tagesspiegel“ am 6. September 2020 auf Seite 6, den „Report“ hat Sebastian Leber verfasst.
2.
Inwiefern kann in dieser Situation, in der die Lüge zur Gewohnheit, wenn nicht zur Normalität zu werden droht, Philosophie eine Hilfe sein? Für weite Kreise nachvollziehbar nur einige Hinweise.
Philosophieren ist bekanntlich das selbstkritische Nachdenken des einzelnen bzw. das Gespräch in kleinem Kreis. Philosophieren dient, wenn man das Wort verwenden will, der „Reinigung“, der kritischen Analyse des Geistes und innerhalb des umfassenden Geistes der begrifflichen Vernunft. Und diese ist eine Selbst-Reinigung des Geistes, also der lebendigen kritisch reflektierenden Vernunft. Die Vernunft erkennt selbst ihre Irrwege, ihre Sackgassen, ihre Widersprüche. Sie muss nur bereit sein, auf eigene Widersprüche in den eigenen philosophischen Entwürfen und selbst gebastelten Ideologien zu achten! Die Vernunft braucht also zur Klärung und Selbstkritik und „Reinigung“ ihrer selbst keine äußeren Autoritäten, keine Parteien, keine Politiker, keine Religionsführer, die autoritär mit ihren subjektiven Weisheiten und Sprüchen kommen, um andere, manchmal ganze Staaten und Gesellschaften ideologisch zu vergiften.
3.
In unserer aktuellen Situation kann Philosophie die Vernunft retten, die Wahrheit vor der zerstörerischen Macht der Lüge freilegen. Wer die Vernunft rettet, der rettet das vom Geist immer gesteuerte Überleben der Menschen. Das sind große Worte, gewiss, aber sie formulieren die Herausforderung der Gegenwart.
4.
Wenn wir wieder lernen, das SKEPTISCHE Philosophieren zu üben, ist der erste Schritt getan. Auch die populistischen Ideologen der Lügen und Wahnideen nennen sich oft Skeptiker. Aber ihre Skepsis ist nur ein in sich widersprüchliches Instrument, um die Geltung von Wahrheit zu vernichten oder um die Bedeutung der universal geltenden Menschenrechte zu vernichten. Skepsis ist für diese Ideologen ein Kampfbegriff und nicht die Beschreibung einer umfassenden Lebenshaltung, die auch skeptisch ist gegenüber der eigenen Person und ihren Vorlieben.
5.
Skepsis als Prinzip des Denkens und als Form der Lebensgestaltung ist innerhalb der Geschichte der Philosophie ein sehr vielfältiges Phänomen. Hier schlage ich vor, sich eher an den von Hume genannten „gesunden, mehr moderaten Skeptizismus“ zu halten, eine Haltung, die alles prüft, die also keine noch so populären Meinungen und Ideologien unbesehen annimmt. Diese Lebenshaltung schaut also genau hin, sie schaut um sich (dies ist eine Bedeutung des griechischen Verbs skeptein), und verlangt für eine Wahrheit oder Überzeugung nichts als Argumente, die nachvollziehbar-begründet sind und widerspruchsfrei erkannt werden und gelten. Also populistische, demagogische Behauptungen und willkürlich gewählte Sprüche wie „Alle Demokratien haben versagt“ oder „Dieser demokratische Politiker ist vom Teufel besessen“ oder „Es gibt keine Wahrheit“ haben in dieser skeptischen Haltung keinerlei Chance, überhaupt ernstgenommen zu werden.
Schnell können diese Propaganda-Sprüche von der Logik aus einander genommen und als unhaltbar dargestellt werden.
6.
Wenn dann Verfechter diese logischen Widersprüche ihrer eigenen Lebenshaltung einsehen und sogar sagen: „Ja, genau, wir halten trotzdem uns an diese widersprüchlichen Sprüche“, wird man ihnen sagen: Dann lebt ihr in einem geistigen Selbst-Widerspruch: Ihr wollt also als Personen zu einem Teil widersprüchlich, unlogisch, denken und leben. In dem übrigen Alltag, etwa beim Autofahren und Essen, verhaltet ihr euch noch logisch und dem Verstand entsprechend. Ihr esst zum Beispiel keinen Schmutz. Oder respektiert schon aus Selbstschutz die Verkehrsregeln. Aus welchen Gründen also seid ihr dann aber bewusst partiell unvernünftig? Um eurer Wut zur Zerstörung von Demokratie und Humanität und universal gültigen Menschenrechten einen ideologischen Ausdruck zu geben, in der Hoffnung, dass viele den Blödsinn glauben und mit diesem Wahn politisch Unheil anrichten.
7.
Diese hier nur kurz skizzierte Argumentation wird nur jene Verschwörungsideologen von ihrem Wahn abbringen, die es einfach nicht ertragen wollen, sozusagen schizophren zu leben. Die anderen nehmen es in Kauf schizophren zu leben… bis der Arzt dann eingreift oder die hoffentlich noch funktionierende Justiz.
8.
Was also ist eine skeptische Lebenshaltung? Es ist das Misstrauen gegenüber den vielen Sprüchen, die heute auf uns einhämmern.
Es ist das Misstrauen gegenüber Leuten, die uns einreden, hinter die Kulissen geschaut zu haben, die dafür aber nur abstruse Behauptungen und keine faktisch begründeten Argumente haben.
Wer in einer skeptischen Lebenshaltung lebt, betrachtet sich selbst skeptisch und weiß, dass Erkenntnis der Dinge stets einen Fortschritt macht. Hingegen gibt es sozusagen ewig gültige Maximen, wie „Die Goldene Regel“ oder die Prinzipien des Kategorischen Imperativs von Kant. Damit lässt sich schon elementar prüfen, ob die eigenen Maximen, als die eigene Lebenshaltung, ethisch vertretbar, also menschlich gütig ist oder nicht.
9.
Die klassische Skepsis in Griechenland hatte das Ziel, dass sich der skeptische Philosoph sich letztlich eines jeden Urteils enthält, weil er jedes Urteil in Frage stellt. Nur so glaubte der antike Skeptiker, seine Seelenruhe finden zu können.
10.
Darum geht es der hier beschriebenen, heutigen skeptischen Lebenshaltung nicht. Zwar ist für sie auch eine gewisse Form einer geistigen, vernünftigen Ruhe inmitten dieses permanenten Einprasselns von Halbwahrheiten und fake news und Verschwörungstheorien wichtig. Aber eine definitive Seelenruhe (atarexia) ist im menschlichen Leben nicht zu erreichen. Es geht nur darum, die inneren geistigen Reserven wachzurufen, um das ständige Hinschauen auf die Phänomene zu üben, die beständige Prüfung und Infragestellung. Dabei halten sich Skeptiker auch an unaufgebbare Erkenntnisse, wie die universal geltenden Menschenrechte. Diese werden zwar leider selten beachtet und realisiert. Sie sind aber trotz der Labilität demokratischer Politiker in dieser Frage unverzichtbar. Wer auf sie als Leihorizont verzichtet, versinkt im totalen Chaos.
Und der Skeptiker weiß zudem: Selbst wenn diese universal gültigen Menschenrechte in der westlichen Welt 1948 formuliert wurden, sind sie doch trotz einer regionalen Herkunft universal gültig. Wo kämen wir denn hin, wenn wir die universale Gültigkeit bestimmter Erkenntnisse aufgrund ihrer nun einmal regionalen Herkunft, die sich aber einer langen „multikulturellen“ Geschichte verdankt, beiseite setzen würden?
11.
Halten wir uns also um unserer eigenen geistigen Gesundheit und unserer Menschlichkeit willen z.B. an die vernünftigen Erkenntnisse der „Goldenen Regel“ und des Kategorischen Imperativs von Kant. Vor diesen Erkenntnissen haben Verschwörungstheorien keinen Bestand. Sie erscheinen nicht nur als lächerlich, sondern als verwerflich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Mystik als Betrug? Die populäre katholische Seherin Marthe Robin (Frankreich) wird vom glorreichen Sockel gestürzt.

Über ein mittleres Erdbeben in der frommen katholischen Welt.
Ein Hinweis von Christian Modehn

Da lebte eine schwer kranke Frau ans Bett gefesselt. Geboren 1902, gestorben 1981, ernährte sie sich – angeblich – seit 1930 von nichts anderem als der täglichen Hostie; sie erhielt himmlische Visionen, sie soll die Wundmahle Christi an ihrem Körper gehabt haben; wurde deswegen zur Attraktion für Fromme aus aller Welt, die zu Tausenden zu ihr strömten in ihr Haus in Chateuneuf-de-Galaure im Département Drome. Es wurden in ihrem Geist „Heime der Liebe“ („Foyers de Charité“) errichtet. Sie sind weltweit zu finden, auch in Österreich, sowie in Gunzenbach bei Aschaffenburg, aber sehr viele in Frankreich (etwa in Ottrott, Alsace) und Afrika und Lateinamerika. Die neuen geistlichen Gemeinschaften, wie die Charismatiker (Gemeinschaft Emmanuel) oder die weltweit tätigen „Johannesbrüder“ verehren diese so genannte Mystikerin über alles…

Diese Seherin und Autorin viel gelesener mystischer Bücher heißt Marthe Robin. Ihre vielen VerehrerInnen setzten sich natürlich für die Seligsprechung ihrer Marthe ein, Papst Franziskus hatte ihr sogar schon einen „heroischen Tugendgrad“ bescheinigt. Nun sollte es bald so weit sein, dass sie vom Vatikan selig gesprochen werde, sozusagen als heiligmäßiges Vorbild auf die Höhe der Altäre gehoben, wie man so in katholischen Kreisen sagt.

Aber daraus wird nun nichts. Zumal auch die Priester, die so eng mit der Seherin verbunden waren, sexuellen Missbrauch praktiziert haben sollen: Der spirituelle „Vater“ der angeblichen Mysterikerin, Abbé Georges Finet, soll bei der Beichte die armen Sünder, vorwiegend Jugendliche, sexuell belästigt haben. Auch der Priester, der die Seligsprechung im Vatikan voranbringen sollte, Bernard Peyrous, musste erst mal zurückstecken, weil auch er angeklagt wird wegen der „gestes gravement désordonnés“, der schwer ungeordneten Verhaltensweisen also, im sexuellen Bereich, vermutlich.

Bislang war rund um Marthe Robin alles hübsch mit einem Heiligenschein umgeben. Nun kommt die große Ernüchterung: Und Beobachter sprechen von einem neuen, schweren Skandal, der in den kommenden Oktobertagen 2020 einmal mehr die katholische Kirche erschüttern wird: „Paris Match“ hat sich für den 8.Oktober schon mal exklusive Vorabdruck Rechte gesichert, berichtet die Pariser katholische Wochenzeitung „Témoignage Chrétien“,Paris, am 24.9.2020.
Am frühesten hat, ökumenisch sehr mutig, die bekannte protestantische Wochenzeitung „Réforme“ (Paris) am 20.9.2020 über die falsche Mystikerin berichtet. Und der Autor, Philippe Clanché, hat völlig recht, wenn er schreibt: „Die Mehrzahl der neuen spirituellen katholischen Bewegungen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden, sind heute beschmutzt (souillés) durch die Freilegung des Autoritarismus oder des abweichenden sexuellen Verhaltens (also des Missbrauchs) ihrer Gründer.“ Ich habe diese vielfältigen Verirrungen dieser von Papst Johannes Paul so hoch verehrten neuen geistlichen Gemeinschaften auf der website religionsphilosophischer-salon.de dokumentiert. Diese Kreise sollten die so genannte „neue Evangelisierung“ befördern, haben aber oft nur Probleme und Irritationen geschaffen.
Der Autor der Wochenzeitung „Réforme“ fährt fort: „Und wir erfahren heute, dass eine der am meisten populären Heldinnen des frommen Frankreich nun offenbar von ihrem Sockel gestürzt wird“: Marthe Robin, die Betrügerin, umgeben von einem Kreis von Betrügern, die die Seherin hoch puschten, zur Heldin machten …um davon zu profitieren.

Am 8. Oktober 2020 soll also in dem angesehenen Verlagshaus „Editions du Cerf“ in Paris, das von den Dominikanern geleitet wird, ein Enthüllungsbuch erscheinen, über das bisher sehr wenig enthüllt ist: Nur so viel: Die hoch verehrte Mystikerin Marthe Robin (1902 -1981) aus Frankreich war eine Betrügerin. Ihre bewunderten und so außergewöhnlichen Visionen, die sie niederschreiben ließ und die als Bücher erschienen, sind tatsächlich keine außergewöhnlichen himmlischen Einsichten, sondern ganz banal und etwas raffiniert: Eben Plagiate! Abschriften von spirituellen Texten aus dem 19. Jahrhundert. In mühevoller Jahrelanger Arbeit hat das Prof. Conrad de Meester aus Belgien herausgearbeitet, er ist im Dezember 2019 gestorben. Er war ein angesehener Fachmann für Fragen der Mystik und Mitglied in dem auf Mystik sozusagen spezialisierten Orden der Unbeschuhten Karmeliten. Das Manuskript dieses Buches fand man in seinem Kloster in Belgien post mortem in seinem Schreibtisch.
Prof. de Meester zeigt in seinem umfangreichen Buch, dass die angeblich seit Jugendzeit ans Bett gebundene, kranke Marthe Robin doch wohl nicht gelähmt war, wie ihre VerehrerInnen glauben: Der Professor hat z.B. die Hausschuhe von Marthe Robin untersucht, und da zeigten sich „usures inexplicables“, unerklärliche Gebrauchsspuren.
Sehr viel mehr hat „Réforme“ bisher mangels Kommunikation mit dem Verlag nicht publizieren können, lediglich vom Verlag du Cerf wurde für einige Tage eine Pressenotiz im Internet sehr bedeutungsvoll verbreitet: „Dies ist eines der Investigations/Forschungs- Büchern, deren Erkenntnisse ein davor und ein danach markieren. Denn dieses Buch enthüllt eine etablierte Lüge, indem es jedes geheim gehaltene Urteil („raison“) demontiert, auseinandernimmt und auch jedes versteckte Netzwerk freilegt, weil es dessen Autoren, Komplizen und den Opfern die Masken abreißt („démasquer“).
Bemerkenswert ist, dass diese Pressemeldung des Verlages du Cerf noch am 22.9. 2020 auf der Website des Verlages von mir gelesen wurde. Heute, am 24.9.um 15 Uhr, ist diese Pressemeldung von der Verlagswebsite verschwunden! Es kann schon sein, dass gegen dieses monumentale Buch (von ca. 400 Seiten) gerichtlich vorgegangen wird oder dass es in einem nicht-katholischen Verlag erscheinen muss, weil die Dominikaner mit der Angst zu tun bekamen.

Denn Marthe Robin zu entthronen, bedeutet: Mystik als Betrug: Das ist schon „ein Skandal“, den viele kritische Beobachter schon bei dem heiligen Scharlatan Pater Pio oder der Seherin Therese Neumann von Konnersreuth entdeckten. Aber die katholische Kirchenführung hält wider besseren theologischen Wissens an diesem Wunderglauben, diesen Stigmatisierungen und Visionen etc., fest. Die Kirche glaubt mit diesem „Zeug“ die Spiritualität, den Glauben, in der säkularen Welt retten zu können. Aber die Menschen wollen Argumente für Gott, nicht spinöse Wundermärchen und Lügen.
Klar ist schon jetzt: Ein ganzes Werk, diese „foyers de charité“, erscheint in anderem, finsteren Licht von Betrug und Machenschaften…
Und die Menschen nehmen hoffentlich Abstand von einem mysteriösen Glauben, der mysteriös aufgebauscht wurde.

Das Interesse an einer authentischen Mystik, die gibt es ja noch manchmal (!), dieses Interesse bleibt. Meister Eckart oder Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz wird man wohl nicht des Betrugs überführen. Dafür sind ihre Texte echt.

Conrad de Meester, „La fraude mystique de Marthe Robin“. Editions du Cerf, Paris, soll, so Gott und der Vatikan wollen, am 8.10. 2020 erscheinen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die Brüderlichkeit (Geschwisterlichkeit) – eine politische Tugend und eine weltliche Spiritualität

Ein Hinweis von Christian Modehn (Siehe auch einen Kommentar zur Enzyklika “Fratelli tutti” vom 7.10.20: https://religionsphilosophischer-salon.de/13031_die-neue-enzyklika-fratelli-tutti-unglaubwuerdig-und-ueberfluessig_religionskritik)

1.
Von Brüderlichkeit sollte wieder öffentlich debattiert werden, weil sie in Vergessenheit geraten ist oder „obsolet“ wurde: Sie ist eine schwierige Tugend, schwer zu realisieren, sie kann nicht in Gesetze geformt werden wie die „Ideale“ der Freiheit oder die Gleichheit. Brüderlichkeit ist eine Art der Gesinnung, als weltliche. Allgemeine, säkulare Spiritualität, möchte man sagen, in der Vernunft erreichbar für alle, nicht nur für besonders spirituelle oder fromme Menschen. Als die Revolutionäre 1789 eine gerechte Gesellschaft, einen besseren Staat, durchsetzen wollten, schwebte ihnen ja nichts „Technokratisches“ vor, sondern eine neue, eine geistvolle humane Welt ohne Hierarchien, eine Welt, die spirituell geformt sein sollte… durch die Erkenntnis: Jeder Mensch ist des anderen Bruder…Dazu später mehr…
2.
Brüderlichkeit sieht heute jeden anderen Menschen als Bruder und Schwester, als zugehörig zu der einen Familie der Menschheit. Genau so müsste eigentlich jeder und jede betrachtet und entsprechend gewürdigt werden. Bei diesem Denkmodell wird freilich vorausgesetzt, dass es unter den Brüdern/Geschwistern keine Konkurrenz gibt, sondern lautere Eintracht herrscht. Man sieht an diesem Hinweis schon, dass der Begriff der Brüderlichkeit etwas Forderndes, Wegweisendes enthält, etwas, das den Menschen größer macht, als er de facto jetzt ist. Brüderlichkeit ist jedenfalls keine Zustandsbeschreibung!
3.
Das Prinzip der goldenen Regel könnte das Miteinander der vielen gleichberechtigten Brüder/Geschwister bestimmen und als Basistext angesehen werden für den Umgang der Menschen untereinander als Brüder/Geschwister. Aber die tiefe Zuneigung zum anderen, zur anderen, als Bruder (Schwester), ist mit dieser eher bloß respektvollen Haltung, die die „Goldene Regel“ beschreibt, nicht erreicht. Brüderlichkeit weist also auf die enge Verbundenheit, das Mitfühlen und das Besorgtsein um den anderen… Der Philosoph Ernst Bloch hätte wohl Brüderlichkeit in seiner Sprache eine Art „Wärmestrom“ genannt in dieser Zeit emotionaler Kälte, bedingt durch den egoistischen Wahn der Diktatoren und verrückt gewordenen Präsidenten und der populistischen Lügner allerorten sowie durch die neoliberalen Milliardäre und deren erkaltete Seele. Brüderlichkeit kann die notwendigerweise „warme“ Energie liefern, in aller vernünftigen Freiheit gegen den genannten Wahn heute vorzugehen.
4.
Nun wird auch Papst Franziskus eine Enzyklika, also ein offizielles Lehrschreiben, zum Thema veröffentlichen.
Auch wenn man den päpstlichen Text über die „Brüderlichkeit“ noch nicht lesen konnte, er wird erst am 3. Oktober 2020 in Assisi, der Stadt des heiligen Franziskus, publiziert, klar ist: Die Wahl des Ortes in Umbrien/Italien ist nicht zufällig, weil der heilige Franziskus (1182 – 1226) mit seinem Orden dort ein Modell der Brüderlichkeit gelebt hat, so die offizielle Interpretation. Dabei wird vergessen, dass die Päpste den armen Mann (einen „Laien“) aus Assisi damals zwangen, seine radikale Bruderschaft, bestehend „nur“ aus Laien, zu verändern zugunsten eines klerikalen, in die Hierarchie eingebundenen „Bettelordens“. Der Historiker Friedrich Heer (Wien) schreibt: “Franz von Assisis Leben ist der größte, gewagteste Versuch, im Jahrtausend der Herren-Väter die Brüderlichkeit in allen Dimensionen zu praktizieren. Die Päpste brechen diese lebendige Achse (radikale Armut und Friedensbewegung) aus seiner Ordensregel heraus. Der verfolgte, geschändete Franziskus irrt, halb blind, seelisch zutiefst versehrt, in langer Agonie durch die umbrischen Lande…“ (In: „Brüderlichkeit, die vergessene Parole, Gütersloh, 1976, Seite 23).
5.
Aber abgesehen davon: Es ist zu vermuten, dass mit viel Enthusiasmus ein päpstlicher Text über die Brüderlichkeit sowieso nicht aufgenommen werden kann. Zurecht klagen feministische katholische Frauen in den USA gegen diesen männlich bestimmten Titel. Wenn schon, dann also bitte eher von Geschwisterlichkeit sprechen oder von Schwesterlichkeit. Man sieht aber an diesen neu geschaffenen Begriffen, wie mühsam sich die gemeinte Haltung, die Tugend „Brüderlichkeit“, sprachlich und sachlich erweitern bzw. neu übersetzen lässt. Aber wenn mal ein Papst den versucht wagte, von Schwesterlichkeit zu schreiben, dann würde es wohl bald endlich PriesterInnen geben. Passiert aber nicht in dieser erstarrten Männer-Institution. Erst wenn die letzte katholische Frau aus der Kirche ausgetreten ist, wird von Schwesterlichkeit im ergreisten Vatikan die Rede sein… Aber lassen wir das…
6.
Schwerer wiegt: Dass eigentlich kaum noch jemand aus vatikanischem Munde etwas über Brüderlichkeit hören und lesen und lernen will: Es ist ja, gelinde gesagt, ein bisschen komisch, wenn ausgerechnet der Papst Brüderlichkeit für alle Gesellschaften und alle Staaten fordert, aber in der eigenen Institution Kirche alles tut, dass das Ideal Brüderlichkeit gerade NICHT gelebt wird. Auf politischer Eben ist es ja so, dass der Vatikan als Staat die Menschenrechtserklärung von 1948 nicht unterzeichnet hat und auch die universal geltenden Menschenrechte in der eigenen Kirchen-Institution nicht realisiert. Man denke an die nicht vorhandene umfassende Gleichberechtigung der Frauen oder an die Degradierung von Homosexuellen. Über das Fortbestehen des § 175 in der römischen Kirche siehe diesen Link: (https://religionsphilosophischer-salon.de/8029_der-175-besteht-noch-in-der-katholischen-kirche_religionskritik )
7.
Kurzum: Die nachdenklichen Leute glauben einfach nicht mehr, dass ein solcher päpstlicher Text von Papst Franziskus noch ernst genommen werden kann. Das ist sozusagen das gar nicht abzuweisende Vorverständnis für den päpstlichen Text! Man glaubt zu recht einfach nicht mehr, dass diese Kirche als machtvolle „Mega-Institution“ und ebenso machtvolle Bürokratie tatsächlich Brüderlichkeit in den eigenen Reihen verwirklichen kann und will. Denn alles, was entscheidend ist in der römischen Kirche, entscheiden nach wie vor Männer, Kleriker, Priester, Kardinäle, Päpste usw. Und die kleben an ihrer Macht, an ihren Privilegien, die ihnen angeblich der liebe Gott selbst gegeben hat. Welch ein theologischer Unsinn, der sich ungebrochen seit Jahrhunderten hält! Mag sein, dass diese Herren im Vatikan sich untereinander wie Brüder ansehen und untereinander wie Brüder behandeln, Papst Franziskus hingegen sprach ja schon früh von widerwärtigen Intrigen dieser Kirchenfürsten. Bei den Vertuschungen des tausendfachen sexuellen Missbrauchs durch Priester haben sich ja diese „Mitbrüder“ gegenüber den mitbrüderlichen Tätern oft sehr brüderlich, eben familiär-solidarisch-vertuschend, verhalten. Und brüderlich alles „unter den Teppich“ kehren wollen.
8.
Aber das ist nur ein Grund, dem Reden von Brüderlichkeit in der Kirche zu misstrauen: Denn sonst wären ja die Ober-Brüder in Rom auch mal in der Lage, den kleinen Brüdern, also den Katholiken in der Kirche in Deutschland z.B., brüderlich-freundlich-großzügig zu begegnen und etwa die Kommunion unter Katholiken und Protestanten zu gestatten und den anderen Brüdern, den kompetenten theologisch gebildeten Laien, auch die Leitung einer Pfarrgemeinde anzuvertrauen. Aber nein, die großen bürokratischen Brüder im Vatikan verachten die kleinen Brüder in Deutschland und anderswo. In Holland z.B. haben die großen Brüder seit 1970 dermaßen auf die „kleinen Brüder“, die ihre kleinen Brüder, die niederländischen Katholiken eingeprügelt, dass diese Kirche dort de facto heute scheintot ist. Die ist die Schuld der maßlos herrschsüchtigen großen Brüder. Darin sind sich Historiker einig. Aber das ist ein anderes Thema: Das vatikanische System zerstört den lebendigen Glauben.
9.
Alle wissen, dass die Brüderlichkeit, die fraternité, zum ersten Mal von den Revolutionären der Französischen Revolution als Stichwort verbreitet wurde. Hingegen gehörte die fraternité nicht von vornherein zur offiziellen Revolutionsparole! Diese bestand weitgehend nur aus „liberté“ und „égalité“. Lediglich in Grußformeln, etwa in Briefen, war die Rede von „Salut et Fraternité“. Allerdings hat Robespierre am 18. Dezember 1790 erklärt: „Les gardes nationale porteront sur leur poitrine ces mots gravés : LE PEUPLE FRANÇAIS, et, en dessous : LIBERTÉ, ÉGALITÉ, FRATERNITÉ. Les mêmes mots seront inscrits sur leurs drapeaux, qui porteront les trois couleurs de la nation“. Also: „Die Nationalgarden werden auf ihrer Brust graviert diese Worte tragen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Dieselben Worte werden auf die Fahnen geschrieben…“
Erst in der Verfassung der Zweiten Republik vom November 1848 wurde die „fraternité“ den beiden anderen revolutionären und republikanischen Prinzipien beigefügt. Weite Kreise des Klerus schlossen sich dieser – so kurzen – Zweiten Republik an, sie segneten die „Bäume der Freiheit“, sie waren eingeladen zu den „banquets patriotiques“: Einige wenige Kleriker entdeckten 1848 in der Revolution von 1789 eine bleibende, hoch zu schätzende Bedeutung. Abbé Couchoud veröffentlichte am 10.5. 1848 in der Zeitschrift „Voix de l Eglise“ einen Text über die Fraternité: „Wir sind Kinder aus dem einfachen Volk. Aber sind wir denn nicht auch Kinder des himmlischen Vaters? Die Bande des Blutes verbinden uns mit allen, die arbeiten, die leiden, sie sich verloren fühlen“ (zit. in Pierre Pierrard, „L Eglise et la Revolution 1789 – 1889“, Paris 1988, S. 154):
Seit 1880 wird diese „revolutionäre-republikanische“ „Trinität“ etwa auf den Fassaden der Rathäuser als Bekenntnis zur „laicité“ ganz groß sichtbar. Diese Devise wird so zum französischen Kulturerbe, auf Briefmarken und münzen verbreitet, aber nicht immer, eher selten bis heute in die politische Praxis „umgesetzt“. Man denke an den offenen und latenten Rassismus (gegen „Schwarze“) und den Antisemitismus.
Alle wissen zudem: Die katholische Kirche hat die republikanischen Prinzipien seit der Französischen Revolution nicht nur immer ablehnt, sondern auch mit allen Mitteln der ideologischen Propaganda und der Bestrafung von republikanischen Katholiken bekämpft. Erst im 2. Vatikanischen Konzil 1974 wurde etwa die Religionsfreiheit von der Kirche als Wert anerkannt.
10.
Die wohl mögliche Förderung der Brüderlichkeit durch Papst Franziskus kommt also mindestens 231 Jahre zu spät. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ (Gorbatschow).
11.
Nur eines von vielen Beispielen, wie Brüderlichkeit in der katholischen Kirche praktiziert wird, und zwar in den Orden und Kongregationen. Diese Praxis habe ich selbst von 1968 bis 1973 in einem großen Kloster als „Frater“, also als Theologie studierendes Ordensmitglied, erlebt:
Im Kloster gelten offizielle Mitglieder als, so wörtlich, „Mit – Brüder“.
Tatsächlich haben die Leitung im Orden immer die Patres.
Aber: Die Patres, sind wörtlich die Väter. Manche Patres waren wohl auch wirkliche Väter. (Alimente zahlt üblicherweise die Ordensleitung bzw. bei Weltpriestern der Bischof)
Dann gibt es die Brüder. Diese Brüder sind Laienbrüder, gehören also nicht zum Klerus, wie die Patres. Sie verrichteten die handwerklichen (oft Dreck) Arbeiten. Nur einige wenige Brüder konnten sich aus dem Bruder/Laienstatus erheben und entweder Diakone werden, also zu einer unteren Stufe des Klerus gehört oder sogar Priester, „Pater“, werden..
Und dann gibt immer noch die fratres. Der lateinische Titel deutet schon die höhere Dimension als „die Laien-brüder“ an, denn eines Tages, nach ca. 7 Jahren, werden diese Fratres auch Patres, falls sie das Klosterleben durchhalten…
Übrigens gab es auch in den Frauenorden diese Hierarchie unter den „Schwestern“. In den alten Orden gab es die so genannten „Chorschwestern“, die beteten und studierten. Und dann gab es die „Laienschwestern“, die sich um alles Praktische kümmerten, Landwirtschaft, Hausputz etc. Es gab und gibt also sogar unter Frauenorden die „besseren“ und die „dienenden“ (wirklich arbeitenden) Nonnen….
Brüderlichkeit ist also selbst in den sich explizit brüderlich nennenden Orden oft nur ein schönes Wort…
12.
Eigentlich ist es, schon soziologisch betrachtet, schade, dass die Kirche als glaubwürdiges „Vorbild“ der Brüderlichkeit auch heute ausfällt. Die ganze innere Krise der Kirche wird da sichtbar: Sie ist, so wie sie ist, einfach nicht mehr glaubwürdig. Nicht schöne erbauliche Enzykliken helfen weiter, sondern eine neue Praxis, die aus der üblichen katholischen Nicht-Brüderlichkeit endlich Brüderlichkeit, Geschwisterlichkeit, Schwesterlichkeit als Basis-Haltung lebt.
Sonst bleiben Enzykliken nur „Druckerzeugnisse“…
13.
Manch einer wünscht sich Gemeinschaften der realen Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit. Aber diese Gemeinschaften sind wohl auch außerhalb der großen Kirchen noch zu finden, vielleicht in den Formen gemeinschaftlichen alternativen ökologischen oder friedenspolitischen Miteinanders. Vielleicht in NGOs? Wie stark diese Gruppen eine Spiritualität leben und zur Sprache bringen, wäre ein interessantes Projekt…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

Mit Hegel über Hegel hinausdenken – Für eine vernünftige christliche Spiritualität.

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 20.9.2020

(Dieser Hinweis ist eine Zusammenfassung eines Vortrags, den ich kürzlich in Berlin gehalten habe)

Ein Vorwort:
Warum sollen wir uns heute mit Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie befassen und von ihr Inspirationen erwarten für unser Leben? Diese Frage lässt sich nicht in einem Halbsatz beantworten.
Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, wie sie u.a. in seinen Berliner Vorlesungen zur Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie deutlich wird, „entspringt“ einem praktischen „Bedürfnis“, also einer aus dem Leben selbst stammenden Fraglichkeit, wie er selbst immer wieder betont.
Hegel hatte die damalige religiöse Situation (also im ersten Drittel des 19.Jahrhunderts) im sich christlich nennenden Europa vor Augen. Diese Religiosität war bestimmt von einer ganz aufs Gefühl setzenden Frömmigkeit, die über alles das Diffuse, Beliebige, Subjektivistische, Verschrobene, Esoterische liebte und deswegen den „begriffsfeindlichen“, also den nachvollziehbare Argumentationen ablehnenden Glauben empfahl. So wurde der christliche Glaube auch gesellschaftlich und politisch hilflos, weil er ohne Argumente dastand gegenüber der Allmacht der sich immer mehr durchsetzenden reaktionären Politik im „Vormärz“. Auch die heutige „religiöse Situation“ wird als postmoderne Beliebigkeit, als Sieg des Charismatischen und Evangelikalen, der wortwörtlichen, also gedankenlosen Wiederholung von Sprüchen der Bibel oder des Koran beschrieben.
In einer unserer Situation also in gewisser Hinsicht verwandten Problematik entwickelt Hegel seine Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie.

Und gleich zu Beginn dieser Überlegungen muss betont werden: Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie zeigt uns einen „einfachen“, aufs „Wesentliche“ befreiten, vernünftigen, also wissenden christlichen Glauben. Darum sollten wir uns mit Hegel befassen!
Dieser Glaube, wie Hegel ihn zeigt, ist eine Entwicklung der Tatsache, dass der Mensch im Unterschied zu den Tieren wesentlich vom Geist bestimmt ist. Dieser Begriff des menschlichen Geistes „ist eben selber das Göttliche im Menschen“, wie der Hegel – Forscher Walter Jaeschke in seinem Buch „Hegels Philosophie“ (Hamburg, 2020, Seite 285) schreibt. Eine Grundeinsicht, die sozusagen zum Standard jeglicher Hegel Lektüre gehört … und diese Grundeinsicht Hegels ist keineswegs obsolet geworden ist… Die philosophisch sich gebenden Propagandisten, die „Naturalisten“ oder „Materialisten“ , werden kaum noch philosophisch ernst genommen.

Das heißt: Ohne den Mitvollzug der Erkenntnis, dass der Mensch für Hegel wesentlich Geist ist und dieser Geist die Teilhabe am göttlichen Geist ist, bleiben die folgenden Hinweise unverständlich. Dass der Mensch Geist ist und dieser mit dem göttlichen Geist in gewisser Hinsicht eins ist, hat Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“, der „Enzyklopädie“ und der Logik gezeigt. Dies wird hier vorausgesetzt.

Und grundlegend ist auch: Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie als „Rettung der Vernunft des Christentums“ ist alles andere als eine „christliche Philosophie“, wie sie von Friedrich Schlegel und anderen damals entwickelt wurde. Diese „christliche Philosophie“ wollte die Sprüche der Bibel nicht nur, wörtlich verstanden, als Leitlinien des individuellen Lebens propagieren, sondern auch unmittelbar der staatlichen Ordnung als Prinzip vorsetzen. Solche unmittelbare Geltung religiöser Texte kam für Hegel nicht in Frage!

1.
Die Erkenntnis nach Hegels Tod war für seine Schüler verwirrend und wohl erschütternd, aber vorauszusehen: „Eigentlich hat Hegel mit seiner Philosophie alles gesagt, was er in (s)einer Philosophie sagen konnte“. Das gilt, selbst wenn er es noch vorhatte, einige seiner Vorlesungen etwa über Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie selbst zu publizieren oder schon veröffentlichte Werke mit neuen Vorworten zu versehen. Dazu kam Hegel nicht mehr wegen seines plötzlichen Todes 1831.
2.
Wenn man nur die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Hegels betrachtet, die ja bekanntlich eine zentrale Dimension seines Denkens überhaupt ist, dann ergeben sich aus der Beobachtung: „Alles hat Hegel eigentlich gesagt“, doch noch weitere Perspektiven … und mit Hegel denkend über Hegel hinaus.
Diese Perspektiven können hier nur skizziert werden. Das Problem ist: Wenn von Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie die Rede ist, dann muss, seinem Denken folgend, notwendigerweise auch von Gott die Rede sein, ein Name, ein Begriff, der damals noch selbstverständlich war, wenn denn von dem Unendlichen, dem Ewigen, dem schlechthin Schöpferischen philosophisch gesprochen werden sollte. Hegel wusste, wie viele Philosophen auch heute wissen, dass von dieser Dimension des Ewigen im geistvollen Leben gesprochen werden muss, wenn denn das Leben als geistiges Leben umfassend erkannt
werden soll.
3.
Grundlegend für alles ist die Erkenntnis Hegels: Gott ist Geist. Gott als Geist: Was denn sonst sollte Gott sein, wenn man denn den Begriff Gott ernst nimmt? Hegel hat nie religiöse Menschen vergangener Zeiten verachtet, die ihren Gott in den Bäumen, in Naturgewalten usw. sahen oder Bildnisse der Götter als deren reale Repräsentanten über alles verehrten. Hegel wusste aber: Diese Formen der Gottesverehrung waren „nur“ notwendige Entwicklungsschritte hin zu einem Gottesbegriff, der in dem Begriff (und damit für Hegel in der Wirklichkeit) absoluter Geist seinen unübertrefflichen Ausdruck findet. Das Höchste kann nur Geist sein. Noch einmal: Was denn sonst? Denn selbst wenn man, nur einmal spielerisch angenommen, eine chemische Substanz für das Höchste und alles Begründende hält, wäre diese als solche in dieser Bedeutung doch wieder über den Geist erkennend und seine Begriffe vermittelt. D.h. ohne den Geist und seine Begriffe gäbe es diese chemische Substanz als solche gar nicht.
4.
Zu diesem göttlichen Geist steht der Mensch als Wesen des Geistes nicht nur in Verbindung, sondern er ist mit dem göttlichen Geist – bei bleibender Differenz – eins. Diese Erkenntnis wird in Hegels Werken lang und breit entwickelt und braucht hier nicht wiederholt zu werden.
Entscheidend ist das Wissen: Jeder Mensch ist durch seinen Geist eins mit Gott. Im Geist ist diese Einheit da.
Hegel erschließt mit dieser Erkenntnis ja nicht etwas „bloß Philosophisches“, also etwas eher „gedanken-spielerisch Spekulatives“. Seine ganze Philosophie ist vielmehr eine Antwort auf „praktische Probleme im Leben“, auf die Zerrissenheit des modernen Menschen, den Bruches zwischen religiöser Welt und Alltagswelt, die Herrschaft der abstrakten Verstandes-Kategorien.
5.
Wenn Hegel betont: Der Mensch ist mit Gott – in gewisser Hinsicht – identisch: Dann erschließt diese Erkenntnis auch etwas Spirituelles, „Hilfreiches“. Der Mensch weiß sich hineingenommen in den absoluten Geist, also hineingenommen in Gott. Dies hat Konsequenzen für die ganze Lebensgestaltung, weil der Geist Vernunft ist und diese Vernunft ist Freiheit.
(Dieser Zusammenhang ist zentral, hier nur einige Hinweise: Die menschliche Vernunft bezieht sich auf sich selbst, weiß sich selbst in dem Selbstbewusstsein, das immer zugleich auch Bewusstsein des anderen (in der Welt der Objekte) ist. Darin weiß sich die Vernunft frei, weil sie immer auch bezogen ist auf mögliche andere Objekte und sich dabei immer auch frei weiß in der Beziehung auf sich selbst. In dem Zusammenhang entwickelt die Vernunft Begriffe, die sich auf die Objektwelt beziehen. Diese Begriffe haben für Hegel -bei der Identität von Denken und Sein – keinen unbestimmten Inhalt, sondern sie haben auch, etwa bei dem Begriff Mensch, Gesellschaft, Staat, Religion, Kirche usw., einen normativen Inhalt. Nicht jeder Staat ist von vorherein schon ein wahrer Staat, bloß weil er den Begriff Staat für sich selbst verwendet; ein den Menschrechten entsprechender Staat z.B. als Norm muss erst noch entwickelt werden… Insofern also kann man sagen: Geist ist Vernunft, und Vernunft ist Freiheit)
Freiheit als Freiheit des Menschen hat nur Sinn, wenn sie Freiheit aller Menschen ist, sanktioniert in den universal zur Geltung zu bringenden Menschenrechten.
6.
Wer also bewusst im Zusammenhang des göttlichen Geistes lebt, ist ständig mit der Freiheit befasst und aufgerufen, für die politische Freiheit wie für die individuellen Selbstbestimmung einzutreten. Dieser Zusammenhang war Hegel sehr deutlich! Dieser Zusammenhang, also die Verbindung von ewigem, göttlichen Geist und Geist im Menschen, hat viel mit der Frage zu tun hat: Was ist nach dem/meinem Tod – angesichts der Einheit mit dem Ewigen.
7.
Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie hat den Anspruch, begriffliche Erkenntnis also Wissen von Gott zu sein. Dadurch wird die Frage: Was ist Glauben? neu beantwortet: Die Beziehung zu Gott, zum Göttlichen, wird eher in der Form des Wissens erreicht, wobei diese Beziehung eine bestimmte Praxis verlangt, siehe den 5. Hinweis. Und dieses Wissen kann zwar seinen Ausgang nehmen in (religiösen) Gefühlen, die aber nur dann ernst genommen werden, also allgemein erhellend sein können, wenn diese aus der Unklarheit und Diffusität befreit und zur Sprache gebracht, also begrifflich gefasst werden. (Nebenbei: Psychotherapien sind ja erst dann hilfreich, wenn nach Freilegung der Gefühle diese sprachlich gefasst werden).
8.
Und dieses Wissen von Gott ist eigener Art: Es ist nicht das herrschaftliche, selbstherrliche Wissen als Verfügen über die Dinge, etwa sogar über einen als ein „Ding“, „Objekt“, interpretierten Gott. Dieses Wissen von der Einheit mit dem Göttlichen weiß sich selbst als ein verdanktes Wissen: Es verdankt sich letztlich dem alles „gründenden“ unendlichen Göttlichen, dem Gott als Geist. Diese Geist -Philosophie, das muss nicht eigens betont zu werden, ist keine spinöse „Geister-Philosophie“, nichts Esoterisches, sondern Resultat von Argumenten und Beweisen. Hegels Philosophie ist eine Analyse und eine Kritik des Endlichen, also der Dinge der Welt, die der Geist des Menschen als Endliche erkennt. Und dabei weiß der endliche, aber stets über das Endliche hinaus denkende Geist: Der Geist geht über das Endliche stets hinaus, und diese Qualität ist darin begründet, dass das Unendliche selbst wirksam ist in ihm, dem Endlichen. Es ist also der unendliche Geist, der alles Endliches als endlich erkennt und es je neu überschreitet…Es geht also zentral um den unendlichen Gott, „immanent“ im Endlichen.
9.
Das Wissen vom Christentum ist für Hegel vor allem ein Wissen von den Grundlagen der christlichen Lehre. Die historischen und zufälligen Details der biblischen Geschichten stehen nicht im Mittelpunkt seines Interesses. Hegel will diese Lehren des Christentums, die sich sozusagen als objektiver Geist literarisch verfestigt haben, in philosophische Begriffe überführen, in Begriffe, von denen Hegel meinte, dass sie allgemein verstanden werden und die deswegen das Christentum als relevant für die Moderne erweisen. So glaubte er, das Christentum aus der Nische der esoterischen Abgesondertheit, der Welt nur der frommen Gemüter, befreien zu können und zur Sache aller und damit zur weltgestaltenden vernünftigen Kraft zu machen.
10.
Damit vollzieht Hegel eine Konzentrierung der Fülle der christlichen Lehren (etwa im Neuen Testament und im Alten Testament) auf wenige zentrale Begriffe, diese sind Geist Gottes, Geist Gottes im Menschen, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, Kreuz, Auferstehung und Sendung des Geistes als ein einziges Geschehen.
11.
So ist auch klar, dass Hegel in seinen Berliner Zeiten sich ganz auf diese genannten Begriffe (von den Kirchen als Dogmen verstanden) bezieht und damit die sich irgendwie biographisch gebende Vielfalt der Erzählungen, etwa vom „irdischen Leben“ Jesu von Nazareth, beiseite legt. Diese Abwehr des Historischen, Individuellen, Persönlichen, etwa bei Jesus oder den Gestalten des Alten Testaments, mag heute problematisch erscheinen, weil ja für viele die sehr persönliche Lebensgeschichte Jesu von Nazareth faszinierend sein kann, sofern man denn viele Details als historisch bezeugt überhaupt erkennt. Man lässt sich halt von einer konkreten Person und deren Lebensschicksal eher berühren als von der philosophischen begrifflichen Einsicht: Dass in diesem Jesus als dem Gottmenschen die Einheit Gottes mit dem Menschen sichtbar wurde.
12.
Aber diese Einsicht Hegels kann auch „berühren“ und „bewegen“, weil sie, wie er meint, allgemein nachvollziehbar begründet ist, und nicht mehr abhängig ist von einzelnen Wundergeschichten oder einzelnen Ereignissen im Alltag Jesu. Dass dabei aber auch Hegel auf eine Art politisches Porträt des Menschen Jesus von Nazareth verzichten muss, ist auf den ersten Blick klar. Oder doch nicht? Denn, wie schon betont, führt das Wissen von der Einheit des Menschen mit dem Göttlichen in der einen gemeinsamen Vernunft auch zu politischem Einsatz zugunsten der Freiheit aller…
13.
Welche praktischen Hinweise für eine christliche Spiritualität ergeben sich aus der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Hegels? Die folgenden Überlegungen, sozusagen Konsequenzen aus seinem Denken, können hier nur angedeutet werden:
Das Wesentliche ist und bleibt die Erkenntnis für den einzelnen: Er/sie ist mit dem göttlichen Geist verbunden.
14.
Was wäre eine Gemeinde?
Eine Gemeinde ist die Versammlung der Menschen, die sich auf diesen göttlichen Geist gesprächsweise und feiernd beziehen und im praktischen Tun zugunsten der Freiheit /der Menschenrechte/ sich verabreden, als Engagement in der Gesellschaft und im Staat. Dabei werden, wie schon einmal betont, nicht unmittelbar religiöse Prinzipien durchgesetzt, sondern allgemein geltende, vernünftige.
In dieser christlichen Gemeinde selbst, in ihrer inneren Gestaltung, ist selbstverständlich die Gleichheit aller Mitglieder. „Es gibt keine Hierarchie“, wird von Hegel mehrfach betont. In der heutigen Zeit ist damit auch die völlige Gleichberechtigung der Frauen gemeint.
15.
Damals wie heute aktuell ist die heftige Kritik Hegels am Katholizismus, als einer letztlich im mittelalterlichen Geist fixierten und insofern „stehen gebliebenen“ christlichen Kirche. Hegel nennt viele Grundsätze des Katholizismus wesentlich korrupt.
16.
Über den „Kultus“, also die Gottesdienste der Gemeinde, hat Hegel gesprochen, aber immer in Bezug auf die real bestehenden lutherischen Gemeinden.
Hegel hat weitere Konsequenzen nicht beschrieben, wie denn Gemeinden, die sich aufgrund der Verbundenheit mit dem göttlichen Geist versammeln, sich weiter praktisch gestalten.
Man könnte meinen:
Diese Gemeinden aber haben alle Freiheit, auch religiöse Traditionen von einst reflektiert mit zu vollziehen, sofern sich diese Gemeinden nicht an die alten Bräuche klammern oder diese gar für wesentlich halten: Also etwa Wallfahrten, die meditative Spaziergänge, sind kommunikativ wichtig, aber nicht mehr „heilswirkende“ Unternehmungen. Oder das Hören von alten, warum nicht auch lateinischen Messen als Form der „Erhebung“ zum Göttlichen kann anregend sein oder die Feier von Brot und Wein als Form der sinnlichen Gegenwart Jesu von Nazareth (die er selbst empfohlen hat) usw.
17.
Und das Gebet? Es ist ein auch sprachliches Sichbeziehen auf den umfassenden göttlichen Geist. Es ist eine Form des Innewerdens, auch in der Form des sprachlichen Austausches mit anderen. Aber Bittgebete im klassischen Sinn werden überflüssig, weil sich der glaubende Mensch in dem göttlichen Geist bereits geborgen weiß (und diese Geborgenheit meditativ pflegt) und gar nicht egozentrisch um besondere Wunder Gottes zu des eigenen, individuellen Nutzens erbittet.
Gebete sind dann Ausdruck meiner spirituellen Poesie, in die meine Lebensgeschichte einfließt. Diese explizite Poesie kann mir selbst Klarheit über mich selbst bringen. Gebet ist auch das geistige Verbundenheit mit anderen, den Freunden, den Menschen in Not usw: Gebet ist dieses DENKEN AN DICH/EUCH, das keine Wunder bewirkt bei den anderen. Das aber das Wunder des Betenden/Meditierenden/Sprechenden/ wirkt, aus der Verkapselung des Ego herauszutreten.
18.
Was also ist eine Spiritualität, die sich von Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie inspirieren lässt?
Es ist eine einfache Spiritualität, die die Macht der großen Kirchen-Institutionen nicht mehr als zentral einschätzt und sich an der oft nur noch sinnlos erscheinenden Reform der großen „Volkskirchen“ (des Katholizismus zumal) auch nicht mehr abarbeitet. Diese Spiritualität hat Sinnvolleres zu tun, als etwa gegen die Mauern des Vatikans ad aeternum anzurennen.
19.
Diese hier nur skizzierte „einfache“, philosophische Spiritualität, inspiriert von Hegel, hat Chancen, eine Spiritualität der Zukunft sein, weil sie auch Menschen aus „anderen“ Religionen anzusprechen vermag. Und vor allem, weil sie von der Last und dem Ballast der Berge von Dogmen und kirchlichen Vorschriften befreit. Nur die geistvollen, freien und befreienden Impulse des Christentums werden für die Moderne gerettet. Und die Menschen werden eingeladen, Wesentliches zu leben: Dies ist die Beziehung zu Gott als dem die Menschheit, alle Menschen, verbindenden einen, gemeinsamen Geist. Und die Verbundenheit mit anderen Menschen, mit der Pflicht, für die Freiheit und Gleichheit aller einzutreten… und die Welt vor der drohenden Klimakatastrophe, wenn es denn noch möglich ist, zu retten…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der heilige Rummelplatz der guten Bürger: Über den Maler Hans Baluschek

Ein Hinweis von Christian Modehn
Hans Baluschek wurde am 9.Mai 1870 geboren; er starb am 28.9.1935 in Berlin

Ergänzung am 28.8.2024: Im Bröhan Museum in Berlin (-Charlottenburg) findet bis zum 1. Sept. 2024 wieder eine Ausstellung einiger wichtiger Arbeiten von Hans Baluschek statt. Wer diese Ausstellung nicht mehr besuchen kann, sollte sich in jedem Fall das wichtige Begleitbuch zu dieser Ausstellung besorgen mit dem Titel “Geheimcodes. Hans Baluscheks Malerei NEU LESEN!” (hg. von Tobias Hoffmann und Fabian Reifferscheidt.) Das Buch ist über das Bröhan Museum zu beziehen. Es umfasst 136 Seiten, (16 €) , mit etlichen Wiedergaben von Baluschek Gemälden und vor allem: Es bietet weiterführende Bild – Interpretationen: Baluschek ist eben mehr als “nur” ein sozialkritischer realistischer Maler…Das Bröhan Museum sorgt dafür, dass Baluschek allmählich immer “bekannter wird”…

………………

1.
Kaiser Wilhelm II. liebte über alles den schönen Schein, also die Ignoranz der Wahrheit. Er sagte in seiner berühmten „Rinnsteinrede“ 1901: „Kunst soll erheben und erbauen…und nicht das Elend noch scheußlicher darstellen“. Dass das soziale Elend vieler tausend Menschen in Berlin scheußlich war, wusste der Kaiser also. Nur sollten bitte die Künstler davon ablenken und nur Erbauliches, Erhebendes zeigen, also das gute Bürgertum und das Militär beruhigen. Künstler sollten also wohl ins Religiöse ausweichen. Das Religiöse bzw. das offiziell Christliche verstand das protestantische Kirchenoberhaupt, der Kaiser also, eher als etwas Beruhigendes, Marx sprach treffend von Opium.
Mit der offiziellen „schönen“ Kunstpolitik waren etliche Maler nicht einverstanden, sie opponierten und gründeten 1898 die Berliner Secession, unter ihnen Käthe Kollwitz und Hans Baluschek.
2.
Hans Balluschek hat sein ganzes Werk der Darstellung der inhumanen sozialen Realität gewidmet.
Bis zum 27. September 2020 gibt es noch die Chance, ein breites Spektrum seines Werkes im Bröhan Museum in Berlin – Charlottenburg zu betrachten und zu studieren. „Zu wenig Parfüm, zu viel Pfütze“, ist der Titel der Ausstellung.
Baluschek ist für viele, die nicht gerade Kunsthistoriker sind, auch heute eher noch eine Entdeckung! Und was für eine! Betrachter seiner Bilder werden sich die Frage: stellen: In welcher Weise hat sich die soziale Realität des Lebens der Armen in Europa, vor allem aber in den Ländern der sogen. „Dritten Welt“ verbessert? Die Antwort wird sicher alles andere als euphorisch ausfallen.
3.
Ich habe schon 2018 auf eine Ausstellung ebenfalls im Bröhan – Museum hingewiesen und dabei an Baluschek erinnert. „Das unsoziale Berlin“ war der Titel. LINK:
4.
Hier will ich nur auf ein Meisterwerk Baluscheks aufmerksam machen: „Berliner Rummelplatz“, gemalt 1914, also im unmittelbaren Umfeld des 1. Weltkrieges. Die feinen Bürger bzw. fein gemachten Leute mit prächtigen Hüten und Kleidern im „Sonntags-Staat“ stehen voller Staunen und Ergriffenheit vor einem grell erleuchteten Pavillon. Er erscheint wegen seiner dominanten goldenen Farben wie ein Tempel, wie ein mysteriöses Heiligtum, hinter dem allerhand überweltliche Dinge passieren könnten.
Zwei Posaunen-Bläser stehen wie Engels-Gestalten auf der Bühne, sind sie die Engel des Gerichtes oder die Boten guter Nachricht? Deutsche Flaggen in den damals üblichen Farben Schwarz Weiß Rot umrahmen den „Tempel“. Im unmittelbaren Vordergrund des Gemäldes sitzen zwei Jungen aus der armen Welt, die zu diesem Gold – und Glanztempel eigentlich keinen Zugang haben und von der feinen Welt ignoriert werden.
5.
Es ist kein billiger Rummelplatz für das kurze Vergnügen, den Baluschek da malt, sondern eine Art säkularer heiliger Ort, zu dessen Empore die Bürger aufschauen wie in einer Kirche, in der die Gläubigen bekanntlich ihre Augen auf den Altar oder die Kanzel hingebungsvoll fixieren.
Dies ist also die faktische, die „religiöse“ und auch die ethische Bindung der Bürger, der Reichen: Sie blicken wie fasziniert auf Zaubereien in einem vergoldeten Kitschtempel. Diese Interpretation legt Baluschek selbst nahe: Links an einer anderen Bude (an einem anderem Haus?) ist in Großbuchstaben das Wort MYSTIK zu lesen: Mystik, also die höchste Form der Verbundenheit mit dem Göttlichen, ist auf dem Rummelplatz gelandet, als billiger vergoldeter Kram, umgeben von den Flaggen des deutschen „heiligen“ Nationalismus. Diese Menschen verehren letztlich den goldenen Zirkus, ihr Kirchplatz ist der Rummelplatz.
6.
Hans Baluschek hat diese religiösen Dimensionen eher nur angedeutet. Sein Hauptinteresse war auch ein politisches im Rahmen der SPD. Deswegen wurde er von den Nazis verfolgt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin