Spiritualität am Karfreitag…

Spiritualität des Karfreitags:

Der hier publizierte Text ist die ausführliche Fassung einer Ra­dio­sen­dung aus dem Jahr 2014 im RBB, später auch im NDR und HR gesendet. Wegen etlicher Nachfragen zur Lektüre dieses Hörfunk Beitrags hier der Text in voller Länge. Vielleicht sind einige Aussagen inspirierend. Christian Modehn am 7.4.2022.

……………………………….
RBB: Gott und die Welt, Karfreitag, 18.04.2014. Der Text folgt der für Hörfunkproduktionen üblichen Form.

Elend, nackt und bloß
Jesus am Kreuz
Von Christian Modehn

1.SPR.: BerichterstatterIN
2.SPR.: Berichterstatter
3.SPR.: Zitator

21 O Töne, zus. 12 30“
7 Musikal. Zuspielungen. Die Musik Jordi Savalls über Caravaggio, bitte nicht zu knapp einsetzen. Bei jeder Musik etwa 20 Sek. nach Start reingehen!

1. Musik. Ca. 0 12“ freistehend, verwenden ab 0 18“ dort. leise im Hintergrund.

1. O TON, Bachl, 0 28“.
Ich meine das Kreuz, das in unserer christlichen Kulturwelt, in unseren Räumen, doch weithin ein Möbel geworden ist. Zwar ein Möbel, mit einer gewissen Ehrfurcht behandelt, es ist ein Möbel,
ein hübsches Ausstattungsstück für eine Wohnung. Wenn das Kreuz etwas ist in der Kultur, dann ist es der Querbalken in der Kultur.

1. Musik, ca. 0 06“ wieder freistehend

2. O TON, Sander, 0 18“
Man identifiziert sich mit jemandem, der ohnmächtig ist. Und das ist eine ganz schwierige Identifikation. Weil man sich damit mit seiner Ohnmacht auch auseinandersetzen muss. Von daher ist die Auseinandersetzung mit dem Gekreuzigten immer auch das Zu-sich-Selber-Finden in die eigenen Abgründe hinein.

1. Musik, ca. 0 06“ wieder freistehend.

3. O TON, Manfred Richter, 0 31“.
Es ist das Bewusstsein der irdischen, der kreatürlichen Hinfälligkeit, dass dieser Gottessohn selbst in erbärmlicher Nacktheit gezeigt wird. Die Nacktheit war verbunden mit gesellschaftlicher Ausgrenzung.
Und je mehr die Hinfälligkeit des irdischen Lebens bewusst wurde, hat man diesen Aspekt des ausgegrenzten Christus als Trost verstanden

1. MUSIK. 0 06“, aber Titelsprecherin freistehend.

Titelsprecherin:
Elend, nackt und bloß
Jesus am Kreuz
Eine Sendung von Christian Modehn

2. MUSIK, 0 12“ freistehend.

1. SPR.:
Der katalanische Komponist Jordi Savall, [ˈʒɔɾði səˈβaʎ] kann seinem Entsetzen über das Sterben Jesu nur musikalisch Ausdruck geben. In der Sprache der Musik äußert er die Gefühle der Freunde Jesu, erzählt von ihren Tränen, dem Schluchzen, dem Schrei des Entsetzens.

2. MUSIK, 0 08“ freistehend.

2. SPR.:
Jesus von Nazareth hängt leblos am Kreuz; ausgeblutet; qualvoll verendet an diesem Todes-Balken, der nur für Verbrecher bestimmt ist. Dabei galt Jesus unter den Armen und Ausgebeuteten in Palästina als der Gerechte, der Menschenfreund. Er war der Bote eines gütigen Gottes.

2. MUSIK, 0 06“ freistehend.

1.SPR.:
Bei der Marter der Kreuzigung war der lange hinausgezögerte Tod durch Kreislaufversagen durchaus von den Herrschern vorgesehen. Die Römer verurteilten in ihrem Imperium auf diese Weise politische Fanatiker und Rebellen. Aber Jesus von Nazareth dachte gar nicht an ein begrenztes politisches Programm. Ganz andere Projekte sind für ihn entscheidend: Die neue, geschwisterliche Gesellschaft, die in ihrer Liebe zum Nächsten und zu Gott ihren Sinn findet.

2. SPR.:
Seit mehr als tausend Jahren ist für Christen und ihre Gemeinden die Verehrung des sterbenden Jesus am Kreuz unverzichtbar. Sie sind auf das Kreuz Jesu geradezu fixiert, sie forderten ständig Künstler auf, den toten Jesus zu malen. So wird der Schmerzensmann in alle nur denkbaren Landschaften placiert, in Städte, Häuser, Kirchen. Jeder Altar braucht sein Kruzifix. Nur die Reformierten verweigern sich jeglicher bildlicher Darstellung Jesu. Aber in der frommen Phantasie entsteht dann doch ein persönliches, ein inneres Bild von Jesus.

1. SPR.:
Jeder Künstler nimmt auf seine eigene Weise das Kreuzesgeschehen wahr. Raffael und Rembrandt, Tizian und El Greco, Hieronymus Bosch und Rubens, Altdorfer und Caravaggio, um nur einige prominente Maler des 16. und 17. Jahrhunderts zu nennen, schaffen alles andere als dokumentarische, gar historisch korrekte Arbeiten. Sie bieten dem Publikum ihre Sicht des Kreuzweges; sie interpretieren ihren Kalvarienberg und ihre Kreuzesabnahme und Grablegung. So können die Gläubigen immer wieder einem neuen Antlitz des Gekreuzigten begegnen. Aber immer wird ein fast nackter Jesus gezeigt, bemerkt der Salzburger Theologe Hans – Joachim Sander:

4. O TON, Sander, 0 26“.
Der nackte Jesus am Kreuz ist eine Demonstration, und zwar die Demonstration einer Ohnmacht. Der Gekreuzigte selbst, der dann im Mittelpunkt rückt, das ist die Darstellung eines zerstörten, zerbrochenen Männerkörpers, der einer politischen, religiösen Konstellation zum Opfer gefallen ist. Und damit das Zurschaustellen, das Ausstellen, das Aussetzen eines ohnmächtigen Menschen.

3. MUSIK, 0 12“ freistehend.

1. SPR.:
Der Musiker Jordi Savall lässt sich von einem Gemälde des italienischen Meisters Caravaggio inspirieren. Es hat den Titel „Kreuzabnahme“, im Jahr 1603 wurde es für eine Kirche in Rom geschaffen. Der fast nackte Leichnam Jesu wird von Joseph von Arimathäa, einem treuen Jünger, und von Johannes, dem Apostel, sanft gehalten, bevor er ins Grab gelegt wird. Maria von Magdala verbirgt inmitten der Trauernden ihr Gesicht, sie will ihre Verzweiflung nicht zeigen. Maria, die Mutter Jesu, wendet sich, vom Schmerz bewegt, noch einmal ihrem verstorbenen Sohn zu. Dessen rechter Arm, reglos und schlaff, berührt bereits das Grab. Der Apostel Johannes ist so verwirrt, dass er beim Heben des Leichnams in Jesu offene Wunde greift. Sie wurde verursacht, als die Soldaten das Herz durchbohrten. Diese Szene wird von einem schwarzen Hintergrund beherrscht. Die Trauerden stehen wie vor einer undurchdringlichen Mauer. Der Kunsthistoriker Dominique Fernandez schreibt:

3. SPR.:
Es ist ein nicht mehr zu steigerndes, ein absolutes Schwarz. Ein solches Drama ist eigentlich unbegreiflich, unsäglich, jenseits jeglicher Form.

3. MUSIK, noch einmal 0 06“ freistehend.

1.SPR.:
Für die Christen der ersten Jahrhunderte war das Kreuz noch nicht das entscheidende Symbol ihres Glaubens. Sie hatten eine große Scheu, die Gestalt Jesu von Nazareth bildhaft darzustellen. Der Berliner Theologe und Kunst-Kenner Pfarrer Manfred Richter hat sich mit dieser Frage befasst:

5. und 6. O TON Manfred Richter, 0 51“.
Man hat nun, Jahrhundertlange, die erst zwei bis drei Jahrhunderte lang, keine Bilder gehabt. Man hatte keine gebauten Gottesdienststätten. Man ist in den Hauskirchen zusammen gekommen. Und dann hat man ganz andere Motive für Jesus verwendet, wie der gute Hirte, der das Lämmchen auf der Schulter trägt, den verlorenen Menschen. Für die Christenheit, für die Jüngerschaft, war es ein Skandal erster Ordnung, dass der, auf den sie gesetzt hatten, am Kreuz wie ein aufbegehrender Rebell hingerichtet wurde in entehrender Weise. Die Hinrichtung hat ja außerhalb der Stadt stattgefunden, also an einem unreinen Ort.

1. SPR.:
Der elend ans Kreuz Geschlagene, der soll der Erlöser sein? Er soll der Gottmensch sein, dem alle Ehre gebührt? In den ersten Jahrhunderten nach Christus stellten die Gebildeten, vor allem die Philosophen, diese Fragen. Sie fanden die positive Antwort der Christen eher unverständlich, wenn nicht abartig. Erst unter Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert gelang es, die breite Öffentlichkeit umzustimmen und für die Verehrung des Gekreuzigten zu gewinnen. In den neu gebauten Kirchen, den Basiliken, wurde dann ein Kreuz besonderer Art gezeigt: Es verzichtete auf den Corpus, den Leichnam Jesu. Die riesigen Mosaike präsentierten voller Stolz den neuen Herrscher, den Gottmenschen Jesus Christus: In der Apsis der römischen Kirche Santa Pudenziana ist ein entsprechendes Mosaik noch heute zu sehen. Der Kunsthistoriker Horst Schwebel schreibt:

3. SPR.:
Das neue Christusbild des 5. Jahrhunderts greift auf die Darstellungen des Kaiserbildes zurück. Die Kirche, Basilika genannt, wird zur Königshalle des himmlischen Kaisers Christus. In Purpur gekleidet sitzt er auf dem Globus als Symbol für den Kosmos. Bis in die Zeiten der romanischen Kunst wird Jesus hoheitsvoll dargestellt, finster blickend, aber den Sieg Gottes verheißend.

2. SPR.:
Im Mittelalter verlangten die Menschen nach anderen Bildern, seit dem 11. Jahrhundert setzte sich die Überzeugung durch: Dieser machtvoll herrschende Christus ist viel zu abweisend! Er hat kein Mitgefühl. Die Erfahrungen von Leid, Krieg und Gewalt waren so einschneidend, dass nur der mit- leidende Jesus, der Schmerzensmann am Kreuz, eine Antwort auf die letzten Lebensfragen sein konnte.

1. SPR.:
Im Neuen Testament erzählen die Evangelisten von einem demütigen Jesus von Nazareth, sie berichten von seiner Geburt in einer Krippe im Stall. So elend, nackt und bloß wie er geboren wurde, so endete er auch, einsam am Kreuz. Diesem Jesus will Franziskus von Assisi nachfolgen, der Sohn einer reichen Tuchhändlerfamilie. Er befreit sich im Italien des 12. Jahrhunderts von seinen bisherigen Überzeugungen und wirft tatsächlich alles von sich im Moment seiner Bekehrung, berichtet Pater Cornelius Bohl, der Provinzial des Franziskanerordens in München:

7. O TON, Pater Cornelius Bohl, 0 45“.
Franziskus trennt sich von seinem Vater, er gibt ihm also alles zurück, selbst die Kleider, die er hat. Und sagt eben: Bisher habe ich dich meinen Vater genannt, aber jetzt habe ich nur noch den Vater im Himmel. Er steht nackt vor dem Vater und vor der ganzen Stadt, und das wird zum äußeren Zeichen auch seiner radikalen Trennung von seinem bisherigen Leben. Also wenn er sich von den Kleidern trennt, die auch einen Stand ausgedrückt haben, die Reichtum bedeutet haben, die gesellschaftliche Stellung ausgedrückt haben, dann trennt er sich nicht nur vom Vater, sondern von diesem ganzen System, in das er hineingeboren ist; ein System, das auf Macht basiert, auf Geld, all das lässt er los, um etwas ganz Neues zu beginnen.

2. SPR.:
Franziskus von Assisi gründet eine Ordensgemeinschaft von Brüdern und Schwestern, die sich zu einem Leben in radikaler Armut verpflichten. Viel weiter noch reicht seine Anregung, die allen Christen gilt: Sie sollen den leibhaftigen, den historischen Jesus verehren, vor allem sein Leiden am Kreuz. „Nackt dem nackten Jesus nachfolgen“: So umschreibt er selbst das Grundprinzip seines Leben. Bis zu seinem Tod im Jahr 1226 hält Franziskus daran fest.

8. O TON, Pater Cornelius BOHL, 0 19“.
Als er merkt, dass er sterben wird, lässt er sich nackt auf die nackte Erde legen. Er will also ganz bloß und arm, so,wie er geboren ist, auch in den Tod gehen. Er gibt alles von sich, selbst seinen Habit, er liegt nackt auf dem Boden, um geboren zu werden für das ewige Leben.

1. SPR.:
Seit dem 14. Jahrhundert werden Kreuzesdarstellungen immer beliebter, sie zeigen einen von Schmerzen gekrümmten, halbnackten Jesus am Balken des Todes. Diese Tradition setzt sich endgültig durch. Nur einmal und bloß für kurze Zeit, präsentieren Künstler einen schönen Gekreuzigten. Michelangelo zum Beispiel will in der Renaissance, im 15. und 16. Jahrhundert, für einen anderen Christus werben: Er stellt den harmonisch schönen Jüngling am Kreuz dar, den idealen Menschen, der gelassen und vom Schmerz unberührt seinem Tod entgegen sieht. Michelangelo hat als junger Künstler für die Augustinerkirche in Florenz eine viel beachtete Skulptur eines schönen nackten Jesus geschaffen. Auch später noch hat er für die Sixtina in Rom nackte Leiber der Heiligen gemalt. Auch Michelangelo ließ sich von biblischen Impulsen leiten, meint Pater Bohl:

9. O TON, Cornelius Bohl, 0 21“.
Die Nacktheit ist eigentlich der natürliche Zustand, der paradiesische Zustand des Menschen, der Mensch, der so ist, wie er von Gott geschaffen ist, der sich nichts vormacht, der anderen nichts vormacht, der sich nicht verstecken muss, auch durch Kleider nicht verstecken muss. Weil er sich annehmen kann, auch von Gott angenommen ist. Also Nacktheit ist gut und Nacktheit ist paradiesisch.

1. SPR.:
Je mehr sich jedoch die genaue Kenntnis der biblischen Erzählungen durchsetzte, umso deutlicher wurde: Von ästhetisch gefälliger Schönheit kann bei Jesus nicht die Rede sein. Sein Lebensende heißt Leiden, Blut, Schmerz, Einsamkeit. In Zeiten von Pest und Hungersnot stand dieser Schmerzensmann den Menschen näher als ein wohlgeformter Jüngling am Kreuz. Darauf weist der Theologe Gottfried Bachl hin:

10. O TON, Gottfried Bachl, 0 43“
Das, meine ich, müsste man auch sich vergegenwärtigen: Die Hässlichkeit Jesu in ihren verschiedenen Brechungen. Ich meine damit nicht den charakterlichen Mangel oder dass er unsympathisch gewesen sei oder abstoßend gewesen sei. Ich meine damit seine wirkliche Querlage zu dem, was wir gemütlich nennen, hübsch, zu all dem, was wir mit einer gewissen Lust über unser wirkliches Leben hinweg schmieren und zumachen und verniedlichen.

1. SPR.:
Einen gefälligen Jesus, hübsch anzusehen: Davon wollten die Sterbenden im Hospiz von Isenheim im Elsass überhaupt nichts wissen. Sie suchten den verständnisvollen Freund, der im eigenen Todeskampf Vorbild ist und so Hoffnung spendet.

2. SPR.:
Wenn Matthias Grünewald im Jahr 1515 den grauenvollen Leichnam Jesu in Isenheim malte, dann wussten die Sterbenden genau: Wer an Jesus Christus glaubt, wird wie er auch den Tod überwinden. Aber schon damals musste man länger vor dem Bild verweilen, um in dem Gemälde Trost und Hoffnung zu erkennen, betont Pfarrer Manfred Richter:

11. O TON, Manfred Richter, 0 33“.
Wenn man mal beobachtet, gerade bei Grünewald, dass der Lendenschurz, zugleich geschwungen gezeigt wird, dass er nämlich quasi spricht. Das ist das Zeichen, dass sein Leiden sprechend ist und einem Zuspruch bedeutet. Als Trost ja. Als Zuspruch erst mal der Leidenden, die also da im Krankenhaus diesen Christus vor Augen hatten, dass er wie sie leidet, und durch dieses Leiden hindurch die Irdischkeit hinter sich gelassen werden kann.

1.SPR.:
In einer religiös geprägten Kultur gab es für die Menschen keine Zweifel: Die Kreuzesdarstellungen verweisen auf die Lebensgeschichte Jesu. Es gilt also, über den Jesu Tod hinauszuschauen und seinen Alltag in Palästina wahrzunehmen. Dann werden überraschende Erkenntnisse geschenkt, meint der Jesuitenpater Klaus Mertes:

12. O TON, Klaus Mertes, 0 39“
Das ist ein ganz wichtiger Punkt, also dass Jesus ganz offensichtlich jemand ist, der ich sagt. Also er predigt nicht über Dinge, sondern er spricht über sich. Wenn er zum Beispiel sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Dann sagt er nicht: Ich verkündige euch die Auferstehung und das Leben. Sondern er sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Was ich zu sagen habe, zeige ich durch das, was ich bin. Durch mein Sein. Also ich habe nicht etwas im Kopf, was ich euch sagen will, sondern ich zeige euch, was ich lebe, ich zeige euch, welche Menschen ich liebe, ich zeige euch, welche Dinge mich verletzen. Ich zeige euch, was meine Sehnsucht ist. Das ist meine Verkündigung. Es ist ein Sprechen durch Sein mehr als durch Worte. Und das ist die tiefere Nacktheit bei Jesus!

1. SPR.:
Elend, nackt und bloß lebt Jesus von Nazareth bereits während seines ganzen öffentlichen Lebens in Palästina. Da hat er den Mut, sich vorbehaltlos zu zeigen, sein Inneres preiszugeben. So wird sein Wesen klar, nämlich hüllenlos sichtbar:

13. O TON, Klaus Mertes, 0 23“
Sich in die Öffentlichkeit zu stellen, bedeutet auch immer, sich schutzlos zu machen, die Kontrolle über sich aus der Hand zu geben. Und sich aber zugleich von der Öffentlichkeit nicht diktieren zu lassen, sich zu verstecken. Da ist eine ganz starke konfrontative Dimension, einfach nur in diesem Sich Zeigen, wie ich bin, und wie ich fühle und wie ich denke.

4. MUSIK:

1. SPR.:
Vom Kreuz Jesu kommen die Künstler nicht los, selbst wenn sie nicht mehr den Glauben der Kirchen teilen. Seit dreihundert Jahren ist es eher selten, dass ein Bischof und gar ein Papst einen angesehenen, aber kirchenkritischen Maler mit einer Arbeit beauftragt. Und nur selten finden sich Gemeinden bereit, auf den üblichen Gebrauchskitsch der Kunsthandwerker zu verzichten und ein wirkliches Kunstwerk zu bestellen.

2. SPR.:
Wenn seit dem 18. Jahrhundert Künstler ihren Schmerzensmann malen, dann nur aus ihrem eigenem, individuellen spirituellen Interesse. Lovis Corinth hat die Schrecken des Ersten Weltkrieges überstanden. Er sieht das Gemetzel noch Jahre später vor sich, die Leichenberge, die zerfetzten Köpfe der Soldaten. Dann malt er 1922 ein außergewöhnliches Bild. Es zeigt einen Christus mitten der vor Blut triefenden Grausamkeit des Krieges, berichtet Manfred Richter:

14. O TON, Manfred Richter, 0 41“
Lovis Corinth: Der rote Christus, da wird der existentiell bis zum Letzten zerrissene und kaputt gemachte Mensch, wie er im Ersten Weltkrieg erlebt werden konnte, und im zweiten auch erst recht, dargestellt. Und dieser Lovis Corinth Christus ist rot und Fleisch, wie Francis Bacon in drastischerer Weise die Zerrissenheit der menschlichen Figur, darstellt. Da ist noch mal ein neuer Typus der Christusbesinnung da, die ihn aber mit uns, mit unserem zeitgenössischen Schicksal, in engste Verbindung bringt.

1. SPR.:
Lovis Corinth ist nicht der einzige Künstler, der überzeugt ist: Dieser leidende Jesus lebt heute, er ist gegenwärtig. Um nur einige bekannte Namen zu nennen: Der Schmerzensmann wird Max Beckmann oder Arnulf Rainer, Francis Bacon, Georges Rouault, Alfred Hrdlicka und Herbert Falken gemalt.

2. SPR.:
Und etliche Künstler gehen soweit, dass sie sich mit dem sterbenden Jesus identifizieren. Der Schweizer Maler Louis Soutter (sprich Sutär) war dem Ende nahe, seelisch zerrüttet, von der eigenen Familie abgeschoben in ein Heim: Dort hat er seinen persönlichen Heiland Jesus am Kreuz gemalt. Soutter kauerte sich etwa im Jahr 1935 nackt auf den Boden, um seinen nackten Christus am Kreuz zu malen. Davon berichtet der Kunstexperte Pater Friedhelm Mennekes:

15. O TON, Pater Mennekes, O 57“.
Er hat die Christusgestalt immer wieder gemalt, ans Kreuz geheftet. Aber es sind Christusgestalten von einer unglaublichen Spannung und Dichte, bei denen sich zeigt, dass hier an der Gestaltung dieser Figur ein Mensch um sein Überleben als vernünftiger Mensch kämpft, wie ein Mensch im Malen des Christus Trost und Lebensmut erringt, erzeichnet. Am Ende seiner Tage mit bloßen und sogar blutigen Händen. Wir verdanken ihm die ersten Fingermalereien, ohne Pinsel, sondern direkt mit der flachen Hand und den bloßen Fingern gemalt: Das Entscheidende an seinem Christusbild ist, dass hier ein Maler im Zeichen des Christusbildes für sich eine dauerhafte Hoffnung errungen hat und die Therapie: dass er nicht in die völlige geistige Umnachtung zurückfiel.

1. SPR.:
Gehören künstlerische Darstellungen des nackten Jesus am Kreuz in die Mitte eines Kirchengebäudes? Darüber wird kaum noch gestritten: Viele Gemeinden begnügen sich mit einem Kruzifix nach der Art der Schnitzwerkstätten von Oberammergau. Einen anderen Weg geht die evangelische Gemeinde in Berlin – Plötzensee. Ihr damaliger Pfarrer Bringfried Naumann hat den Bildmauer und Maler Alfred Hrdlicka (sprich Hríd-litzschka) aus Wien eingeladen, für diese Berliner Kirche ein umfangreiches Werk zu schaffen, den Plötzenseer Totentanz. Mit diesem Auftrag wollte die Gemeinde auch bezeugen, wie stark sie von der Nachbarschaft zur ehemaligen Hinrichtungsstätte der Nazis in Plötzensee betroffen ist. So entstanden mehrere große Tafeln, in schwarz –weiß gehalten. Auf einer Arbeit wird auch die Kreuzigung Jesu gegenwärtig. Sein Leichnam ist total nackt, berichtet der heutige Pfarrer Michael Maillard:

16. O TON, Michael Maillard, 0 55“
In dem Hinrichtungsschuppen in Plötzensee gibt es einen Stahlträger mit Haken dran. An dem wurden Hitlergegner mit einer Schlinge um den Hals herum gehängt. Ein sehr grausamer Tod. Dann hat Alfred Hrdlicka gesagt, er möchte die Kreuzigung Jesu in diesen Kontext stellen. Obwohl er ansonsten auf diesem Bild Klassisches darstellt,
Jesus in der Mitte mit Dornenkrone und anderen Zeichen, die wir aus der biblischen Überlieferung kennen, rechts und links die beiden Verbrecher, mit denen er zusammen hingerichtet worden ist.
Bei uns ist er völlig nackt dargestellt, die beiden Schächer auch. Es soll dargestellt werden, dass die Leute, die da hingerichtet wurden, aller Würde entblößt worden sind. Und das passiert heute in Gefangenenlagern, Foltercamps, immer noch.

1.SPR.:
Auch hier bricht das Grundmotiv moderner Künstler durch: Jesu Leiden ist keineswegs nur ein Ereignis der Vergangenheit; seine Kreuzigung geschah gestern und geschieht heute in den Hungerregionen Afrikas oder den Todeslagern Nordkoreas. Aber, so will Alfred Hrdlicka sagen, schaut genau hin! Dann werdet ihr Lebensmut empfangen: Denn dieser Jesus, der Gerechte, verhält sich noch sterbend wie ein Erhabener:

17. O Ton, Michael Maillard, 0 46“
Auf der Kreuzigungsdarstellung des Plötzenseeer Totentanzes fällt auf, dass die Christusfigur die Fäuste nach oben reckt, die Hände der beiden anderen Gehängten hängen schlaff nach unten. Aber die Christusfigur hat Kraft in den Händen. Das ist auch sehr wichtig. Da hat Alfred Hrdlicka, das ist überliefert, an Menschen gedacht, die nach dem Todesurteil aufrecht, ungebrochen, in den Hinrichtungsschuppen gegangen sind. Und gewusst habe, eigentlich sind sie die Sieger, und nicht der Freisler, der sie gerade zum Tode verurteilt hat, weil sie das Richtige gemacht haben und den richtigen Weg gegangen sind.

1.SPR.:
Ist das Kreuz das absolute Ende? Diese Frage kann bei der Auseinandersetzung mit dem Kreuz Jesu gar nicht ausbleiben. Aber die Hoffnung auf eine Überwindung des Todes stellt sich bei modernen Künstlern nicht so schnell ein. Hrdlicka denkt zwar an den Auferstanden. Aber er malt eine Szene der Emmausjünger, wie der lebendige, aiuferstandene Jesus mit seinen Freunden das Brot teilt– aber wiederum im Dunkel einer Gefängniszelle.

2. SPR.:
Die übliche, gefällige religiöse Gebrauchskunst mit ihren Schnitzereien vermag vielleicht beruhigendes Opium zu reichen. Aber Künstler wie Hrdlicka sind ehrlicher: Sie sagen: Inmitten des Grauens gibt es Spuren des Lichts, der Hoffnung. An dem Thema hat sich auch der weltweit bekannte Joseph Beuys abgearbeitet. Als spiritueller Mensch war er von der geistigen Präsenz des Gottmenschen Christus in der heutigen Wirklichkeit überzeugt. Selbst noch in den hässlichen Abstellkammern der Kliniken, wo Schwerkranke mit dem Tod kämpfen, gibt es für ihn Hoffnungsschimmer. Eine seiner Installationen nannte Joseph Beuys „Zeig mir deine Wunde“, berichtet Pater Mennekes.

18. O Ton, Pater Mennekes, 0 51“.
Beuys ist ja wirklich einer, der tief davon überzeugt ist, dass auch die Welt der Todeszonen, wie etwa ein Sezierraum, umgriffen ist, von einer Welt, die durchpulst, durchwebt, ist von der Christussubstanz. Beuys hat mir in einem Gespräch gesagt, eines der interessantesten Themen, die es überhaupt für ein Bilderhauer, Maler, Zeichner, gibt, ist das Unsichtbare darzustellen. Das Unsichtbare z.B. des auferstandenen Jesus. Das ist die große Herausforderung eigentlich. Was er möchte, ist, dass der Mensch die eigenen Kräfte zum Leben inmitten von Sterben als Basis der Hoffnung entdeckt.

1. SPR.:
Zu ähnlichen Einsichten gelangt im Jahr 1970 aus der Erfahrung der Philosophie Max Horkheimer. Und das ist wichtig, weil so die Verbundenheit der Künstler mit der allgemeinen Kultur der Moderne wahrzunehmen ist. Max Horkheimer betont:

3. SPR.:
Ich drücke mich bewusst vorsichtig aus: Theologie ist die Hoffnung, dass es bei dem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibe, dass das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge.

1. SPR.:
Wer sich mit dem Kreuz Jesu meditativ betrachtend auseinandersetzt, sucht Antworten auf seine spirituellen Interessen. Es geht um die Frage, wie man angesichts des Todes persönlich reifen und wachsen kann. Die Beschäftigung mit dem nackten Jesus am Kreuz eröffnet dann Möglichkeiten, sich selbst authentisch zu wahrzunehmen, sagt Pater Klaus Mertes:

19. O TON, Klaus Mertes , 0 47“.
Ich kann dem nackten Gott nicht begegnen, wenn ich selbst bekleidet bleibe. Eigentlich habe ich immer das Christentum so verstanden, dass es ein Bekenntnis zur eigenen Nacktheit ist. Und zur Nacktheit Gottes in mir. Und nur in dieser Nacktheit begegne ich Gott. Prunk und Pomp und tolle Gewänder und so sind eben nicht einfach nur eine nette Schwäche, sondern sind ein Symptom.
Und Jesus kritisiert ja die Kleidung und die Funktion von Kleidung. Hinter dieser Fassade wird nämlich das Eigentliche versteckt, worauf es ankommt, nämlich das Leben, das Lebendige. Letztlich begegne ich dem Lebendigen immer nur in der Nacktheit.

1. SPR.:
Wer diesen Spuren folgt, kann definitive, fix und fertige Antworten in der Religion nur verschmähen; er wird im Blick auf den sterbenden Gottmenschen die Fragwürdigkeit des Daseins anerkennen, betont Pfarrer Manfred Richter:

20. O TON Manfred Richter, 0 33“.
Es ist die condition humaine, die Grundbefindlichkeit des Menschen, die und das ist die Stärke der zeitgenössischen Kunst, die darauf verzichtet, jetzt eine definitive Antwort zu geben, sondern das ist ein so lauter Schrei oder eine so totale Stille, dass du selbst aufgerufen wirst, eine Antwort zu suchen. Aber nicht zu schnell, denke erst mal nach.

1. SPR.:
Aus der Kraft des Innehaltens, der Unterbrechung und des Nachdenkens im Angesicht des Kreuzes wächst dann eine neue Spiritualität: Sie braucht keine glanzvollen, keine entzückenden Bilder und wortreiche Lehren. Sie wird als christliche Religion selbst einfach, nackt und bloß! Davon ist der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho überzeugt:

21. O TON Thomas Macho, 0 47“.
Den Begriff der nackten Religion – den finde ich ganz wunderbar, ohne historische, ohne theoretische, ohne wortgewaltige Gewänder, sondern ein Stückweit pur. Und dann sind wir bei etwas angekommen, dass wir alle Sterbliche sind. Und weil wir Sterbliche sind, können wir auch miteinander Teilen, Hoffnung, Angst, Bedürfnis nach Trost und Sicherheit und Geborgenheit und Barmherzigkeit. Und diese Gemeinschaft, die anzustreben, das wäre doch ein mögliches Ziel. Ein humanistisches Christentum, das ist ein wunderschöner Begriff und das heißt: Im Grunde eine solidarische Gemeinschaft der Menschen. Der Menschen, die guten Willens sind, die bilden so was wie eine communitas. Die Communitas heißt, wenn man es wörtlich übersetzt, das geteilte Leid. Die geteilte Last, die Last, die wir gemeinsam teilen.

Jordi Savall, Lachrimae Caravaggio. Le Concert des Nations. Hesperion XXI. Edition lia Vox.

 Russland und die Ukraine werden vom Papst der unbefleckten Jungfrau Maria geweiht! Eine Form des offiziellen Aberglaubens!

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.3.2022.

Die zentrale Aussage der Predigt von Papst Franziskus am 25.3. 2022 im Petersdom anläßlich der Weihe der Ukraine und Russlands  an die “Gottesmutter Maria” siehe unten, am Ende dieses Beitrags.

Jeder kann sich auf seine Art von dem theologischen Niveau dieser Predigt ansprechen lassen. Merkwürdig ist nur, wenn schon der Papst so viel von Maria spricht als der Retterin in der Not: Warum verschweigt er das Magnificat, das bekannte Gebet der Mutter Jesu von Nazareth. Dort rühmt sie Gott, der, so wörtlich, “die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht”, so im Lukas Evangelium, Kapitel 1, Vers 52.  Warum wird diese politische Einsicht Marias nicht auf die heutigen Machthaber und Kriegsherren (und den Patriarchen Kyrill) in Russland bezogen? Mein Eindruck ist: Viele fromme Worte und fromme altbekannte Floskeln sind in dieser Papstpredigt. Keine politische Analyse, keine Nennung der Namen der Kriegsverbrecher, alles hübsch diplomatisch und harmlos verkleistert. CM am 3.4.2022.

…………….Am 17.3. 2022 wurde dieser Hinweis publiziert:

1.

Der Krieg Putins gegen die Ukraine ist auch als Völkermord von so ungeheurer Bedeutung, dass die demokratische Welt von einem Kulturbruch, einer prinzipiellen Wende, einer anderen Epoche spricht.

2.

Diese Zeitenwende erfordert ein anderes, ein neues Denken, ein Denken stets im Schatten eines Krieges bzw. nach einem Friedensabschluss im Schatten eines nach wie vor bedrohlichen Russland. Denn dass Russland nach einem Ende Putins eine Demokratie wird, ist wohl angesichts der historisch gewachsenen Mentalitäten dort ausgeschlossen.

3.

Was tut die katholische Kirche mit ihrem Papst in Rom in dieser Zeitenwende, inmitten dieses globalen Umbruchs? Es ist aus der Distanz und vernünftig gesehen, eher eine schwache Leistung: Der Papst greift auf die üblichen alten spirituellen Mittel zurück, die immer schon in Kriegszeiten propagiert wurden. Papst Franziskus wird am 25. März 2022 Russland und die Ukraine der unbefleckten Jungfrau und Gottesmutter weihen, und zwar in einem feierlichen Gottesdienst im Petersdom. Ein Geschehen der Weihe, das man schlicht und einfach nur noch esoterisch nennen muss. Solche Weihen bestimmter Länder oder auch der ganzen Welt (etwa schon im Jahr 2013 durch Papst Franziskus) sind Ausdruck eines zutiefst mysteriösen, manche sagen zurecht abergläubischen Denkens: Die fromme These des Papstes ist: Maria als Himmelskönigin kann von Büßenden und betenden Katholiken im Himmel bestürmt werden. Denn sie hat, so allen Ernstes in der offiziellen katholischen Theologie, viel Einfluß bei dem himmlisch herrschenden, sehr personal gedachten Gott-Vater. Maria kann als Gottesmutter Jesu Christi also förmlich Gott-Vater beeinflussen, doch bitte schön Frieden zu schaffen, in dem Fall in der Ukraine … und letztlich in Europa.

Man könnte leicht auf den Gedanken kommen, dass diese in göttlichen Sphären höchst einflussreiche Jungfrau Maria doch als eine Art Göttin verehrt wird .… Also: Endlich ein weiblicher Gott im Christentum, mütterlich ansprechbar, freundlicher als der strenge Vater-Gott. Man lese bitte in dem Zusammenhang die alten Marien-Lieder in den katholischen Gesangbüchern bis ca. 1970, da wimmelt es förmlich an Vorstellungen von Maria der Göttin…Aus protestantischer Freundlichkeit  Nachlössigkeit wurden diese Fragen ökumenisch-theologisch bis heute nicht bearbeitet. Man lese aber zur Einstimmung das wichtige Buch “Mythos Maria”, von Hermann Kurzke, C.H.Beck Verlag.  LINK.

Diese Weihe Russlands und der Ukraine durch den Papst von Rom ist natürlich auch eine imperiale Geste, denn nur er, der Nachfolger des Apostelfürsten Petrus, weiß sich befugt, einige Länder oder gar die ganze Welt Maria zu weihen und mit seinem Weihwasser den ganzen Globus zu bespritzen, mit banalem Wasser, das er in heiliges Weih – Wasser verwandelt hat.
Ob die orthodoxen Patriarchen über diese imperiale Geste des Papstes, „bloß“ des Patriarchen von Rom in orthodoxer Sicht, begeistert sind, ist sehr die Frage.

Theologisch wichtiger aber ist die Frage: Was soll Maria im Himmel an Gottes Thron bloß tun: Sie muss Gott bitten, dem Kriegstreiber Putin ein Ende zu setzen. Und sie muss Gott bitten, die Kampfbereitschaft des ukrainischen Volkes zu stärken, vielleicht auch die Unterstützung der Nato göttlich abzusegnen. Einige Freunde fragen mich: Geht `s noch, bei dieser Weihe?

4.

Was wäre aber, wenn der Papst – in seinem (Aber)glauben  –  die Ukraine und Russland aus aktuellem Anlass doch besser dem gemeinsamen, dem ukrainisch-russischen Heiligen Wladimir bzw. Wolodymyr, weihen würde? Wladimir bzw. Wolodymyr (Ukrainisch) ist doch der Vorname von Putin wie von Selenskyi. Wladimir/Wolodymyr könnte doch an Gottes Thron Gott um Hilfe bitten oder? Dabei sollte die jüdische Konfession Selenskyis keine Probleme machen? Selenskyi denkt doch inter-religiös!
Immerhin ist doch auch Wladimir/Wolodymyr auch für die katholische, die römische Kirche, ein Heiliger, sein Feiertag ist der 15. Juli.
Wir sagen also mit dem selbstverständlichen kritischen Ton: „Also, heiliger Wladimir, tu was im Himmel!“ Vergessen wir also die Mittlerin zu Gott, die Jungfrau Maria, setzen wir mal auf Wladimir! Vielleicht sollte der Papst alsbald in dessen heilige Stadt Kiew reisen, solange sich Kiew vom russischen Feind schützen kann?

5.

So wird also im 21.Jahrhundert ohne weiteres die uralte Lehre des Bittgebetes wieder belebt, diesmal richtet sich das Bittgebet der verzweifelten Menschen an die Mittlerin Maria, die die Bitten Gott Vater förmlich überreicht. Maria also doch als Mittlerin der Gnaden, eine These, die von Protestanten zurecht abgelehnt wird und manchmal auch von katholischen Theologen abgelehnt wurde. Aber Maria als Gnadenmittlerin wird aber dann doch weiterhin ganz offiziell gelehrt und geglaubt.

6.

Dass Bittgebet als Einflussnahme auf den göttlichen Willen nun längst theologisch obsolet sein sollte, hat sich bis zu Papst Franziskus leider nicht herumgesprochen. Er selbst hat bekanntlich den mysteriösen Kult von „Maria der Knotenlöserin“ aus Augsburg in seiner argentinischen Heimat als Erzbischof propagiert.

7.

Bittgebete im übertragenen, nachvollziehbaren Sinn haben nur die Bedeutung, den einzelnen und die Gruppe in die Stille zu führen, ins Nachdenken, ins Meditieren, ins Debattieren, und vor allem ins gemeinsame Handeln zugunsten der Leidenden. Es geht in der Poesie des Bittgebetes um menschliche Selbstkritik, nicht um Beeinflussung Gottes im Himmel via Maria.
Aber diese noch mögliche kritische Theologie des Betens als persönliche, kritische Poesie im „Angesicht“ des Unendlichen und Ewigen ist in der katholischen Kirche marginal. Alle Welt fleht nach wie vor Maria an, macht Prozessionen, küsst Ikonen, schmettert alte Lieder („Maria breite den Mantel aus…“), alles in der Hoffnung, dass auf diese Weise Frieden eintritt. Wenn der Russe betet, denn betet er für Frieden in Russland, fürs Überleben seiner Soldaten; der Ukrainer bittet um Frieden, also um Sieg, in seinem Land…, und die Deutschen beten vielleicht. „Lieber Gott mach alles gut und lass uns hier bloß ungeschoren davon kommen“.

Das Bittgebet ist also meistens nationalistisch gefärbt, man schaue sich die Gebetbücher der deutschen und der französischen Soldaten im 1. und 2. Weltkrieg an.

8.

Und kritische Theologen sind so wahrhaftig und sagen: Empirisch, historisch nachweisbar, haben diese Gebete und diese Weihen an die heilige Jungfrau bisher de facto keinen Frieden gebracht, sie haben den Krieg nicht verhindert, den Krieg nicht verkürzt.… Man denke daran, dass Papst Pius XII am 31.10. 1942 die ganze Welt (!) dem Unbefleckten Herzen Marias weihte. Der Krieg endete nicht, die Ermordung des europäischen Judentums ging weiter. Gott hat also geschwiegen, wenn man es klassisch-theologisch sagen will, und Marias Mittlerrolle bei Gott Vater hat versagt. Oder will man uns mysteriös einreden: Hätte diese Weihe nicht stattgefunden, dann wäre alles noch viel schlimmer gewesen? Auf diese Weise kommt man in unendliche haltlose Spekulationen, in religiösen Wahn.

9.

Diese Weihe wird am 25.3.  als Verdoppelung nicht nur in Rom, sondern auch im portugiesischen Marien-Wallfahrtsort Fatima vollzogen. In Fatima ist die Jungfrau Maria leibhaftig im Jahr 1917 kleinen Hirtenkindern erschienen, sie hat Botschaften der Bekehrung den Kindern mitgeteilt und auch zum Gebet für Russland aufgefordert. Fatima ist höchst beliebt bei Päpsten, auch bei Franziskus, aber auch höchst umstritten bei kritisch denkenden katholischen Theologen: Das ganze Szenario der so genannten Erscheinung ist zu sehr von Menschen gemacht, von rechten Politikern in Portugal damals gefördert und gewünscht. Zu viel mysteriöses Rätsel- Raten rund um die „Geheimnisse von Fatima“ hat die Jungfrau den Kindern mitgeteilt, Fatima ist ein Ort, der den Niedergang des klaren Denkens dokumentiert, ein missbrauchter Ort, nur noch für den frommen Massentourismus dort, genannt Pilgerreisen, wichtig.

10.

Natürlich kann in einer Demokratie jeder und jede privat glauben, was er/sie will, zum Beispiel: „Im Himmel ist Jahrmarkt“. Oder aktueller, was jetzt Papst Franziskus propagiert: „Die unbefleckte Jungfrau Maria möge von Himmel aus für den Frieden sorgen in der Ukraine“. Damit wird auch die politische Hilflosigkeit der Kirchen dokumentiert. Wer sagt: „Die Kirchen können nur noch Bittgebete beten und Wunder von der Jungfrau Maria im Himmel erwarten“, formuliert nur das Seufzen der elenden, unaufgeklärten, unvernünftigen Kreatur. Eine solche Kirche, die Weihen Russlands und der Ukraine an die Unbefleckte verkündet, ist schlicht und einfach vergreist, was ja vom Personal her auch stimmt.

11.

Zusammenfassend: Wenn der Katholizismus etwas Spirituelles zum Frieden anbieten will: Dann ist das die gründliche Einübung der Meditation, der Stille, des Nachdenkens, des Dialogs, der Bildung, der kritischen Lektüre kritischer Medien, der Hilfsbereitschaft. Der einzelne Fromme kann sich meditativ in seiner Not in einem absoluten Sinngrund geborgen fühlen. Man denke an das bekannte Gedicht und Lied Dietrich Bonhoeffers „Von guten Mächten wunderbar geborgen.“…
Mehr kann ein Christentum nicht sagen, wenn es vernünftig nachvollziehbar bleiben will. Und das muss es, wenn es nicht als spinöser esoterischer, aber protziger und Geld gieriger Verein gelten will.

In Kriegszeiten als Papst auf den Einfluss der Unbefleckten Jungfrau Maria im Himmel zu setzen, ist schlicht und einfach Aberglauben. Und auch das muss man wohl innerhalb einer kritischen katholischen Theologie sagen. Solche Weihen überhaupt in Erwägung zu ziehen und stolz zu propagieren, ist eine Schande für das theologische Niveau im Vatikan. Damit werden die Brücken für einen Dialog mit aufgeklärten, kritischen Bürgern noch viel weiter abgerissen.

…………………………….

Die zentrale Passage in der Papst-Predigt am 25.3. 2022 im Petersdom:

“Denn wenn wir wollen, dass sich die Welt ändert, muss sich zuerst unser Herz ändern. Dazu lassen wir uns heute von der Gottesmutter bei der Hand nehmen. Schauen wir auf ihr unbeflecktes Herz, an dem Gott geruht hat, das einzige Herz eines menschlichen Geschöpfes, auf dem kein Schatten liegt. Sie ist voll der Gnade (vgl. V. 28) und deshalb frei von Sünde. In ihr gibt es keine Spur des Bösen, und deshalb konnte Gott mit ihr eine neue Geschichte des Heils und des Friedens beginnen. Dort hat sich der Lauf der Geschichte gewendet. Gott hat die Geschichte verändert, als er an das Herz Marias klopfte.
Und auch wir klopfen heute, erneuert durch die Vergebung Gottes, an jenes Herz. Gemeinsam mit den Bischöfen und den Gläubigen in der ganzen Welt möchte ich alles, was wir gerade erleben, feierlich zum Unbefleckten Herzen Mariens tragen. Ich möchte die Weihe der Kirche und der ganzen Menschheit an sie erneuern und ihr in besonderer Weise das ukrainische und russische Volk weihen, die sie in kindlicher Zuneigung als ihre Mutter verehren. Es handelt sich dabei nicht um eine magische Formel, sondern um einen geistlichen Akt. Mit diesem Gestus vertrauen sich die Kinder ganz ihrer Mutter an; in der Bedrängnis dieses grausamen und sinnlosen Krieges, der die Welt bedroht, kommen sie zu ihrer Mutter und legen ihr all ihre Ängste und Leiden ans Herz und übereignen sich ihr. Wie Kinder, wenn sie sich fürchten: Sie gehen zu ihrer Mutter und weinen, suchen Schutz. Es geht darum, die kostbaren Güter der Geschwisterlichkeit und des Friedens, alles, was wir haben und was wir sind, in dieses reine und unbefleckte Herz hineinzulegen, in dem Gott widerscheint, damit sie, die Mutter, die der Herr uns gegeben hat, uns beschützen und behüten kann.
„Wir weihen uns Maria, um in diesen Plan einzutreten und bereit zu sein für das, was Gott vorhat“
Von Marias Lippen kam der schönste Satz, den der Engel Gott überbringen konnte: »Mir geschehe, wie du es gesagt hast« (V. 38). Die Muttergottes findet sich hier nicht passiv oder resigniert mit ihrer Situation ab, sondern hegt den lebhaften Wunsch, ganz Gott zu gehören, der »Gedanken des Heils und nicht des Unheils« (Jer 29,11) hegt. Das ist engste Teilnahme an seinem Plan für den Frieden in der Welt. Wir weihen uns Maria, um in diesen Plan einzutreten und bereit zu sein für das, was Gott vorhat. Nachdem die Mutter Gottes ihr Ja gesprochen hatte, machte sie sich auf den langen Weg in eine Bergregion, um ihre schwangere Verwandte zu besuchen (vgl. Lk 1,39). Sie eilte: Ich denke gerne daran, dass die Muttergottes eilte. So ist es immer: die Muttergottes, die eilt, um uns zu helfen und uns zu beschützen.
Möge sie uns heute bei der Hand nehmen und uns über die steilen und mühsamen Pfade der Geschwisterlichkeit und des Dialogs auf den Weg des Friedens führen.
(vatican news)volume_up

 

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Was ist die Apokalypse? Was die „Apokalypse des Johannes“ im Neuen Testament?

Ein Hinweis von Christian Modehn am 11.3.2022.

Die aktuelle Situation:

Das Ende naht, meinen viele, angesichts des Krieges Putins gegen die Ukraine. (Vom bevorstehenden Ende wegen der Klimakatastrophe einmal abgesehen). Nichts ist ausgeschlossen in diesem Krieg an unberechenbarer Aggressivität durch den russischen Diktator. Und so wird jetzt, wie oft in Krisen und Katastrophen, das Stichwort Apokalypse verwendet als „Verstehenshilfe“ für die aktuelle Situation. Und gemeint ist mit „Apokalypse“, sozusagen „populär“, die von Menschen, etwa von einem Diktator, bewusst inszenierte Zerstörung weiter Teile der Erde und der Menschheit.

Wenn man Apokalypse hingegen im ursprünglichen Kontext verstehen will, und dies ist der biblische, auch der neutestamentliche Kontext, dann muss man beachten: Der im biblischen Text erwartete Untergang der Welt und der Übergang in Neues, Besseres, wird einzig als Tat Gottes erzählt. An diese Differenz im Verstehen des Begriffes Apokalypse sollte man sich erinnern.

Der folgende Hinweis verdeutlicht einige zentrale Aspekte der Apokalypse des Johannes. Es lohnt sich zumal für alle nicht so sehr mit den biblischen Erzählungen Vertrauten, wieder einen Blick in diese befremdliche Welt der Johannes-Apokalypse zu werfen. Dabei muss jede Leserin feststellen: Die Bibel ist gerade hier ein befremdliches Buch, sie ist kein populärer Schmöker, keine unmittelbare, griffige Lebenshilfe. Auch das Neue Testament enthält Erzählungen, wie die Apokalypse des Johannes, die nicht unmittelbar aktualisiert werden können.
Weil dieser Text einem frommen Autor namens Johannes sozusagen göttlich direkt übermittelt wurde, sprechen die Kirchen auch anstelle von Apokalypse des Johannes von „Offenbarung des Johannes“. Klingt weniger bedrohlich vielleicht.
Dieser Beitrag erschien schon in etwas erweiterter Form anläßlich der Veranstaltung des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin am 22.11.2019!

 ERLÄUTERUNGEN zum Buch „Apokalypse“:
1.
Apokalyptisches Denken bezieht sich im Neuen Testamen auf den Glauben der ersten Christen. Sie waren nach dem Tod Jesu von Nazareth überzeugt: Dieser Jesus lebt unter uns auf neue Weise „anders“ weiter, sie nannten diese Erfahrung: Auferstehung Jesu. Und dieser „auferstandene Neu-Lebendige“ wird wieder kommen auf diese Erde, um die Gläubigen in die Auferstehung, also das nicht mehr endliche, das ewige Leben zu geleiten.

Diese Erwartung des wiederkehrenden Jesus ist prägend bis ins Jahr 95, als der Autor Johannes auf Patmos seinen Text schrieb. Im heutigen Erleben der meisten Christen und ihrer Theologie spielt diese „Naherwartung“ des bald wiederkommenden auferstandenen Jesus Christus keine Rolle mehr. Man glaubt an eine allgemeine Auferstehung, hält sich aber vernünftigerweise mit Detail-Beschreibungen zurück.
 Die Apokalypse des Johannes ist ein Text, eine Predigt, ein Brief, eine Prophetie, wie auch immer: Darin wird den von Verfolgung durch den römischen Staat bedrängten Christen gesagt: Ihr seid „letztlich“ geborgen in dem lebendigen Jesus Christus. Ihr seid, trotz aller Leiden, getragen von einem positiven Sinn-Grund. Ihr seid bestimmt von einer Hoffnung auf eine gerechte Erde und einen neuen Himmel, diese Hoffnung ist größer als alles Leiden unter dem römischen Imperium.
Der Text der Apokalypse will also vor allem betonen: Die göttlichen Kräfte sind stärker als das brutale Imperium mit seinen Allmachtsansprüchen und seiner religiösen Intoleranz gegenüber der Minderheit der Christen.
 Insofern ist das Buch Apokalypse des Johannes auch ein politischer Text: Ein Text des Protestes, der Freilegung der imperialen Macht Roms. Und in der Weise wird er vor allem in Lateinamerika heute unter Befreiungstheologen gelesen: Das Imperium der Diktatoren, auch das Imperium des neoliberalen Systems, auch das Imperium der USA, haben nicht das letzte Wort.

2.

Aber dass man diesen Text des Propheten Johannes einen Text des Widerstandes nennen könnte, ist meines Erachtens falsch. Widerstand ist aktives Handeln gegen ein Unrechtsregime, dazu waren die wenigen Christen in Kleinasien gar nicht in der Lage. Sie konnten von Johannes, dem Autor des Briefes nur zum Durchhalten aufgefordert werden,  auch zum Erleiden, zur freiwllig akeptierten Tötung. Diese Empfehlung ist keine Aufforderung zum Widerstand.

Die Apokalypse des Johannes bedeutet also vor allem Freilegung, Offenbarung, Entbergung der wahren Verhältnisse inmitten des Imperiums Rom. Das ist die formale Seite.
 Aber diese Freilegung geschieht in einer Sprache, die extrem verschlüsselt ist und geheimnisvoll, nur für Insider damals verständlich, um die Gemeinden in Kleinasien, also der heutigen westlichen Türkei, zu schützen vor dem Zugriff des Imperiums der Kaiser in Rom.

3.

Aber das ist entscheidend: Das Buch der Apokalypse ist ein Buch für eine ganz bestimmte Zeit, für ganz bestimmte Leute, die sich zudem auskannten in religiösen Symbolen etc. Die Aussagen der Apokalypse, vor allem ihre Aufforderung, mit Zahlen und Daten zu arbeiten, um irgendwelche historischen Berechnungen des Endes und der Erretteten zu erreichen, sind zeitgebunden. Den Fehler des unmittelbaren Verstehens der Apokalypse im wortwörtlichen Sinne begehen Gemeinschaften wie die Zeugen Jehovas, die Mormonen, die Adventisten und andere…Sie müssen ständig die von ihnen berechneten Daten des Weltuntergangs korrigieren und verzichten nun angesichts der falschen Ankündigungen überhaupt auf Datenberechnungen des Untergangs, insofern haben diese Gemeinschaften doch einen Teil der vernünftigen Reflexion in ihre Spiritualität übernommen…

Nebenbei: Auch in der katholischen Kirche gibt es Orte und Gruppen, die stark im apokalyptischen Denken verwurzelt sind, also in der Vorstellung, bald droht das Ende, und so werden Drohungen an die Menschheit verbreitet: Etwa im Wallfahrtstort Fatima, Portugal, oder im Wallfahrtsort La Salette, Frankreich; oder es gibt Gruppen, wie das katholische „Engelwerk“ und den Kreuzorden, die immer an einem Verbot durch den Vatikan vorbei „geschrammt“ sind…

4.

Warum finde ich den Text „Apokalypse des Johannes“ im NT viele Aussagen problematisch?
 Der Text enthält seitenweise Bilder des Schreckens, die mit einer Symbolik arbeiten, die heute kein Leser versteht. Das heißt: Dieses Buch der Bibel ist ohne einen ausführlichen Kommentar gar nicht zu verstehen. Das mag für andere Texte des NT auch gelten, aber da sind doch auch Erzählungen enthalten, wie die vielen schönen Gleichnis Reden Jesu, die sich einem unmittelbaren Verstehen erschließen.
 Die Apokalypse des Johannes hingegen ist hoch komplex, und manche Symbole, wie die Zahl 666 im Buch, ist selbst für gediegene Forscher, wie die Bibelwissenschaftlerin Prof. Schüssler Fiorenza, nicht mehr „entzifferbar“.
 Aber das ist noch das geringste Problem, das ich mit dem Text habe:
 Das Denken des Autors Johannes ist von absoluten Gegensätzen geprägt: Es gibt “die” Guten und “die” Bösen, es gibt keine Mischformen: Es gibt die Hure Babylon, sie steht der heiligen Stadt Jerusalem gegenüber.
In den 7 Gemeinden in Kleinasien, an die sich Johannes mit seinem Brief wendet, gibt es unterschiedlichen Formen im Umgang mit der römischen Herrschaft: Aber da duldet der Autor keine Kompromisse: Entweder sollen die Menschen in ihrem Denken heiß oder kalt sein, die Mischform lau wird nicht geduldet. Kompromisse sind ausgeschlossen. Abweichler vom offiziellen Glauben werden verdammt. Wer sich nicht verfolgen und töten lassen will vom Imperium, ist in der Sicht des Johannes kein guter Christ.

Immerhin gibt es in der Geschichte der Interpretation und Rezeption des 20. Kapitels der Johannes Apokalypse eine Möglichkeit, doch aktiv tätig zu werden: Da ist die Rede vom „1000jährigen Reich“. Der Engel Gottes wird Satan für 1000 Jahre wirkungslos machen. Dieses 1000jährige Reich wurde dann als die große Heilszeit gedacht. Die Gerechten stehen wieder auf aus dem Tod, es gibt ein neues Glück auf Erden. Das Tausendjährige Reich als Bild wurde dann auch wieder politisch missbraucht, wie überhaupt dieser mysteriöse Text der Apokalypse zu wilden Spekulationen Anlass bietet, die vielleicht in der Seele der Menschen ohnehin angelegte Ängste und Untergangsstimmungen bestätigt.
Schon die ersten Christen sahen das Buch der Johannes Apokalyse als problematisch an. Und sie wollten es nicht in den Kanon des NT aufnehmen. Noch im 3. Jahrhundert war man nicht bereit, die Apokalypse in den offiziellen Kanon aufzunehmen! 
Etwa im Jahr 367 wurde der NT-Kanon festgelegt. In der Ostkirche wurde die Apokalypse noch bis ins 17. Jahrhundert verworfen! (Dazu mehr bei Albert Schweitzer, „Werke aus dem Nachlass,“ Straßburger Vorlesungen).

5.

Es ist das Gottesbild des Buches der Apokalypse, das von mir abgelehnt wird: Gott kann fürchterlich und grausam auf dieser Welt agieren, ehe er für einige Erwählte die Rettung bringt. Und vor allem dies: Gott findet das meiste und die meisten in dieser seiner eigenen Schöpfung schlecht und zur Zerstörung bestimmt. Hat Gott also eine missratene Schöpfung geschaffen?
 Erst eine totale Neuschöpfung mit dem Untergang der bösen alten Welt ist die Erlösung. Auch diese Vorstellung hat sich populär durchgesetzt, auch politisch bei Rechtsextremen, die erst nach einer totalen Zerstörung (dem Endkampf) das „Heil“ für möglich halten. Da sieht man die untergründigen Wirkungsgeschichten dieses biblischen Textes. Er stiftet auch politisch Verwirrung und lähmt viele Gutwillige Leute, noch aktiv vernünftig gestaltend zu handeln.
Also auch politisch wird das Buch der Apokalypse missbraucht: Etwa in der Rede vom Armageddon. Dazu gibt es zahlkreiche Bücher, vor allem in den USA. Die These der (rechts)extremen Evangelikalen ist: Erst wenn Israel stark ist, kann der Messias kommen. Weil die vielen Feinde Israel zerstören werden. Dies gilt diesen Christen als der Beginn der Endzeit, bei der nur die bekehrten Juden Rettung finden….Man lese dazu die Studie des Religionswissenschaftlers Prof. Hans G. Kippenberg (Bremen-Erfurt) „Außenpolitik und heilsgeschichtlicher Schauplatz. Die USA im Nahostkonflikt“ in dem Buch „Apokalyptik und kein Ende“, Göttingen 2007, 7 Euro!) auf Seite 290 zitiert Kippenberg entsprechende kritische Äußerungen von jüdischen Forschern zu diesem sich pro-Israel gebenden Konzept, das tatsächlich aber verdeckt antisemitisch ist.
 Man kann auch zur Erstinfirmation wikipedias Stichwort „Reich des Bösen“ lesen; darin wird u.a. deutlich: „Die verkaufsstarken Romane von Hal Lindsay oder Timothy LaHaye sind ein sehr gutes Beispiel dafür, dass es den evangelikalen Eliten gelang, apokalyptische Vorstellungen aus den Kirchen in die Populärkultur zu transportieren. Lindsay verbreitete Anfang der 1970er Jahre sein Buch „The Late Planet Earth“ (Titel in deutscher Übersetzung von 1971: „Alter Planet Erde wohin? Im Vorfeld des Dritten Weltkrieges“), das bis 1990 in 91 Auflagen erschien, in Supermärkten und Flughäfen auslag, über 28 Millionen Mal verkauft wurde und bis in die höchsten Regierungskreise der Reagan-Administration Einfluss entfaltete.
Auch von Steve Bannon, Katholik und (EX)-Berater von Trump wäre zu reden, der meint, erst eine totale Zerstörung der Welt kann einen Neuanfang bringen….

6.

Die Apokalypse hat meiner Meinung nach heftige mentale Schäden angerichtet. Und man hat auch heute oft den Eindruck, die Menschen befassten sich mehr mit der Apokalypse und ihren diffusen Bildern besessener als mit Bergpredigt und den Gleichnissen Jesu.
 Mit dem Buch der Apokalypse lässt sich keine menschenfreundliche Spiritualität und Theologie gestalten. Von dem z.T. grausamen Gottesbild und der offenbar missratenen Schöpfung Gottes war schon die Rede.
Aktuell hat das Buch Apokalypse des Johannes keine größere Relevanz. Der Appel bis zum Tod durchzuhalten hat allenfalls für die wenigen Christen in Nordkorea Sinn.
Sonst sollten Christen wo auch immer zugunsten der Gerechtigkeit handeln und sich niemals einreden lassen „Es gibt keine Alternative“.

7.

Noch ein Hinweis zu den Christenverfolgungen in den ersten drei Jahrhunderten: Sie verliefen in unterschiedlichen Phasen von unterschiedlicher Grausamkeit.
 Die Juden wurden im römischen Imperium nicht verfolgt, sie waren eine bekannte, „andere“, nicht heidnische, also monotheistische Religionsgemeinschaft.
 Die ersten Christen waren zunächst noch Mitglieder der römischen Synagoge. Dann konnten Juden diese Gruppe der Christen in der Synagoge nicht mehr ertragen. Paulus selbst wurde im Jahr 53 aus der Synagoge in Ephesus rausgeschmissen und fand dann erfreulicherweise Zuflucht bei dem dortigen Philosophen Tyrannus und seiner Schule!
 Der Staat sah also in den Christen zurecht eine eigenständige, aber staatskritische religiöse Gruppe.

Der Text der Johannes-Apokalypse ist bezogen auf die Christenverfolgungen unter Kaiser Domitian, um 95. Und in Erinnerung an Kaiser Nero… Damals schon sagten Historiker: „Diese Christen sind gefährlich“. Das sagten Tacitus, auch Sueton, später auch Kelsus: Christen seien eine Stimme des Aufruhrs; Christen reißen sich von anderen Menschen los, machen nicht mit im „System“ der Herrschenden. Weil sie den Kaiser nicht für göttlich hielten, wuden die ersten Christen „atheoi“, also Atheisten, genannt. Ein hübscher, nachdenkenswerter Titel – auch heute? Gegen welche Götter sind denn heutige Christen? Ist z.B. die westliche Wachstumsideologie ein Gott, gegen Christen und Kirchen und Bischöfe entschieden kämpfen? Wohl kaum.
Aber interessant ist doch die Pluralität der Theologie schon in der frühen Kirche: Was hatte da doch Paulus in seinem Römerbrief etwa 30 Jahre vorher gesagt: «Jedermann ordne sich den staatlichen Behörden unter, die Macht über ihn haben. Denn es gibt keine staatliche Behörde, die nicht von Gott gegeben wäre, die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt.» (Römer 13, 1)
Diese Pluralität der Theologien ist bemerkenswert: Sie zeigt, wie unterschiedliche Theologen auf gegebene Verhältnisse reagieren…

8.

Für die eigene Lebensphilosophie bleibt angesichts dieser Überlegungen die Frage:
Gibt es auch eine persönliche, individuelle Apokalypse? Diese Frage wird vor allem deswegen interessant, wenn man den Begriff des Gerichts durch Gott in eine philosophische – anthropologische Überlegung übersetzt: Wie beurteile ich mich, durch mein Gewissen, durch meine Selbstkritik, wie beurteile ich mein Leben? Auch wenn das eigene Ende bevorsteht? Aber diese Überlegung muss ja nicht am Ende des Lebens geschehen. Es geschieht wahrscheinlich sowieso oft inmitten des Lebens, als Impuls zur Korrektur, zum neuen Beginnen und zum Eingeständnis von Schuld. Über diese Frage der individuellen Apokalypse, also meines Endes, müsste als philosophisches Thema weiter nachgedacht werden.

Nebenbei: Die bekannte Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff (Berlin) sprach kürzlich in einem Interview mit „Christ und Welt“, der Beilage der ZEIT, am 20.2.2022 angesichts ihrer Krankheit von ihrer Angst vor dem Gericht Gottes „post mortem“: “Mich beschäftigt die Angst, wegen meiner Sünden gerichtet zu werden”.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die Russisch-orthodoxe Kirche mit Patriarch Kyrill I. gehört nicht mehr zur Ökumene

Ein Hinweis von Christian Modehn am 2. März 2022.  Siehe auch den Hinweis vom 26.2.2022. Siehe auch “Homosexualität ist Schuld an der Krise” (Kyrill I.)

Notiert am 5.3.2022:

Entscheidend ist: Putin und der Patriarch Kyrill I. von Moskau (und mit ihm die meisten seiner Bischöfe) sind sich einig in der leidenschaftlichen Verurteilung der so genannten “westlichen Ideen”, also der Philosophie der Aufklärung, der Demokratie, der Menschenrechte. 

Entscheidend ist zweitens: Die Jahrzehnte andauernde Mitgliedschaft der Russisch-orthodoxen Kirche in verschiedenen ökumenischen, also westlichen, d.h. protestantischen und auch katholischen Gremien und Konferenzen (wie dem “Weltrat der Kirchen” in Genf) hat für die Russisch-orthodoxe Kirche keinerlei Erkenntnisgewinn gebracht. Diese Kirche war offenbar nur des schönen Scheins wegen in den ökumenischen Gremien, um international mit Pomp und Weihrauch zu glänzen. Und die westlichen Kirchen fragten nie: Wie haltet ihr Russisch-Orthodoxen es mit den Menschenrechten in eurem Land? Seid Ihr als Kirche bereit, bei eurer Macht, auch politische Opposition zu sein?

Mit anderen Worten: Nicht nur westliche Politiker waren naiv im Umgang mit Putin, westliche Kirchenführer waren (und sind ?) genauso naiv im Umgang mit Kyrill I. und Co.

Es klingt geradezu lächerlich, wenn katholische Theologen, selbst die Päpste der letzten Jahre, sagen: Wir brauchen die (russisch ?) Orthodoxen als “unsere zweite Lunge”, so Papst Johannes Paul II. und ähnlich auch Benedikt XVI.

…………………………..

1.
Die Russisch-orthodoxe Kirche mit ihrem Patriarchen Kyrill I. ist seit Jahrzehnten schon eine Art Putin-Kirche. Auch im Krieg Putins gegen die Ukraine hat die Russisch-orthodoxe Kirche als eine einflußreiche Organisation in Russland (ca. 60 % der Russen gelten als Mitglieder) bisher nur allgemeine Floskeln zum Frieden in der Ukraine geäußert. Einige Popen in Frankrerich denken wohl anders als der Patriarch und die Bischöfe, aber werden sie ernst genommen, werden sie ausgegrenzt und verfolgt? (Siehe unten Anmerkung 1, der Appell einiger russisch-orthodoxer Pfarrer in Frankreich). Am 3.3.2022 hat auch der Ökumenische Rat der Kirchen durch seinen Generalsekretär einen freundlich bittenden Brief an Patriach Kyrill geschickt.

2.
Die Forderung: Eine Kirche, die sich nur in Worten und feierlicher Liturgie auf das Evangelium Jesu Christi bezieht, aber de facto zur nationalistischen Putin-Kirche entartet ist, gehört nicht mehr in repräsentative christliche ökumenische Gremien (in Genf, auf Landesebene in Europa oder in Landeskirchen/Bistümern).

Diese Kirche kämpft – gut dokumentiert – gegen alle Freiheiten der Bürger, der Frauen, der sexuellen Vielfalt, der Künstler. Und sie will sogar „Väterchen“ Stalin in den Rang eines Heiligen erheben. Eine solche Organisation sollte von demokratischen und christlich gesinnten Kirchen nicht mehr zu einer christlichen Ökumene gehören, die noch dem Niveau des Evangeliums und der Menschenrechte verpflichtet sein will.

3.
Die Erkenntnis ist: Die Russisch-orthodoxe Kirche sollte – mindestens bis zu der von Russland ausgesprochenen FRIEDENS-Garantie eines unabhängigen Staates Ukraine durch Putin oder dessen alsbaldigem Nachfolger – aus allen ökumenischen, christlichen Gremien entfernt werden. Diese Strafe wird eine Wirkung haben in der russischen Öffentlichkeit. Und manche werden sich in Russland fragen: Warum ist diese mächtige Kirche eigentlich nicht zur einzig noch möglichen Opposition gegen das Putin Regime geworden?

4.
Ich weiß, Christen schätzen auch heute nicht den Bruch, die Trennung einer Kirche aus der Ökumene…

Aber im aktuellen Beispiel geht es um etwas Anderes, es geht um eine Kirche, die im 20. und 21. Jahrhundert etwas dazugelernt haben könnte und wissen könnte, dass die nationalistische Treue zu einem diktatorischen Regime, das Krieg führt, niemals ein Kennzeichen einer christlichen Kirche sein kann.

Was wäre denn sonst der Sinn der langjährigen Mitgliedschaften der Russisch-orthodoxen Kirche in so vielen prominenten theologischen Begegungen? Gewiss, in der Zeit der Sowjetunion waren die Delegierten, also die Erzbischöfe bzw. Metropoliten  der Russisch-orthodoxen Kirche, eindeutig Vertreter und Gesandte der herrschenden kommunistischen Partei der Sowjetunion, etwa im Genfer Weltrat der Kirchen. Aber nach 1990 hatte doch allem Anschein nach eine bessere Zeit beginnen können, was die theologische Forschung in Russland angeht.

Man fragt sich jetzt, im März 2022: Waren wirklich dieser ganze ökumenische Aufwand, diese ständigen ökumenischen Konsultationen, Konferenzen und so weiter sinnlos und vertane Zeit, was die Entwicklung des theologischen Niveaus der Russiosch-orthodoxen Kirche angeht? Ja, sie waren sinnlos, wenn man sich das Verhalten von Kyrill I. und Co. seit Beginn des 21. Jahrhunderts bis heute anschaut. So viel Wahrhaftoigkeit muss möglich sein.

Auch die westlichen Kirchen waren naiv und blind, was den theologischen Zustand der Russisch-orthodoxen Kirche angeht.

5.
Es kann also nicht sein, dass die Ökumene der christlichen Kirchen eine kriegerisch – nationalistische orthodoxe Kirchenführung unbesehen als Teil der christlichen Welt gelten lässt.

6.
Die zentrale Erkenntnis ist: Es muss ein neues Denken beginnen, was Ökumene der vielen verschiedenen Kirchen eigentlich bedeutet, es muss genau gefragt werden, wer dazu gehört und wer eben nicht. Kriterium der Mitgliedschaft einer Kirche kann nicht einfach nur sein, dass diese sich christlich nennt; Kriterium muss sein, dass die Praxis dieser Kirche auch dem Geist und dem Buchstaben der Menschenrechte entsprechen. Nicht nur der Bezug auf das Neue Testament also ist entscheidend, sondern auch der praktische Respekt der universalen Menschenrechte.

7.
Der Hintergrund: Alle demokratischen Staaten und Gesellschaften bewerten heute den Krieg Putins gegen die Ukraine als eine „Zeitenwende“, als ein Bruch mit bisherigen Üblichkeiten, Mentalitäten und Denkzwängen in den Demokratien.
Eine gewisse Naivität im Umgang mit politischen Gegnern wird von den demokratischen Gesellschaften und Staaten überwunden. Sie wissen jetzt: Aus dem Gegner Putin von einst ist der Feind Putin geworden. Und dieser Feind darf keine Macht mehr behalten.

8.
Diese Erkenntnis bleibt aber genauso gültig: Immer mehr Waffen schaffen allein durch die Tatsache, dass es immer mehr Waffen in den Demokratien gibt, nicht den Frieden.

Es steht fest: Die Vernunft und der Dialog bleiben das allerbeste Mittel, um ein friedliches Zusammenleben in der pluralen Menschheit zu schaffen. Dazu gehört auch die Einschätzung, dass der andere, der Gegner, immer noch Mensch ist, und dazu gehört trotz Anwendung von Waffen die Überzeugung, dass auch der mörderische Feind immer noch hoffentlich etwas Menschliches bewahrt hat. Deswegen wird, nebenbei gesagt in einem Rechtsstaat selbst ein Massen-Mörder nicht hingerichtet, sondern ins Gefängnis gesperrt.

9.
Insofern bleibt auch die Hoffnung, dass die Russisch-orthodoxe Kirche durch den völligen Ausschluss aus allen internationalen und nationalen ökumenischen Gremien doch noch zur Vernunft kommt und zum Evangelium des Friedens zurückfindet. Sollte dies nachweislich in der Praxis der Fall sein, ist diese Kirche auch in ökumenischen Kreisen wieder willkommen.

10.
Sollten die Patriarchen und Bischöfe jetzt sagen: „Lieber orthodoxer Christ Putin, beenden Sie auch als guter Freund unseres Patriarchen Kyrill I. den Krieg gegen unser„Brudervolk“, die Ukrainer und ihres souveränen Staates“, dann würde der Ausschluss dieser Orthodoxen (orthodox heißt rechtgläubig, dieser Titel passt wahrlich nicht zur russischen Kirche) aus der Ökumene zunächst wohl überflüssig. Aber diesen Schritt kann nur eine Kirche wagen, die entschlossen ist, politische Opposition zu werden. Aber dazu fehlt der russischen Orthodoxie die Kraft, der Geist, der Mut. Die Bequemlichkeiten der Staatskirche – seit Bestehen dieser Kirche – sind für den überwiegenden Teil des Klerus – nicht nur in Russland – oberster Wert.

11.
Diese Hinweise und Vorschläge hier sind wahrscheinlich nur illusorisch. Denn die Christen und die Kirchenführer weltweit sind eingeschüchtert und irenisch, d.h. sie wollen den Streit und Trennung um jeden Preis vermeiden. Sie werden es doch ihren „Brüdern“ in der Ökumene nicht antun, auch einmal eine Strafe auszusprechen.

So werden wohl die westlichen Kirchen die einzige gesellschaftliche Gruppe sein und bleiben, die angesichts des Mordens durch Putin keine mutigen Konsequenzen ziehen, Konsequenzen, die wirklich den Titel „Zeitenwende“ verdienen. Von Zeitenwende, von einem Umschwung und Umbruch, reden alle Organisationen in den demokratischen Staaten. Nur die Kirchen verschlafen diese Zeitenwende. Sie sind ja, wie sie so gern sagen, mit der Ewigkeit verbunden. Was ist da schon die jetzige Zeit?

12.
Trotzdem führt der Krieg auch zu tiefen theologischen Entscheidungen: Es kann deutlich werden, welchen Sinn und auch welchen Unsinn die Bitt-Gebete und die Bitt-Gottesdienste um Frieden haben.

Verändert der liebe Gott im Himmel die Weltpolitik, je nachdem wie intensiv da Gebete wird? Was für eine blasphemische Vorstellung! Wem soll Gott denn folgen, etwa den für ihr Land betenden Russen oder den für ihr Land betenden Ukrainern? Hoffentlich entscheidet sich der liebe Gott für die betenden Ukrainer, möchte man als Religionskritiker sagen.

Spaß beiseite: Gebete um Friede können einzig und allein den einzelnen Menschen seelisch etwa stärken, ihn zu Meditation führen, zur Stille, zum Nachdenken, um ihn dann zur politischen Aktion zugunsten der Menschenrechte zu motivieren.

Aber daran zweifelt doch kein vernünftiger Christ: Bloße Gebete um Frieden werden niemals politischen Frieden bewirken. Friedensgottesdienste werden den lieben Gott im Himmel nicht bestimmen oder umstimmen. Friedensgottesdienste wecken die seelische Stärke und den kritischen politischen Geist, mehr nicht. Und sie sind schöne Erfahrungen von Gemeinschaft. Zu diesem kritischen Bewusstsein müssen die Kirchen endlich finden. Auch sie stehen jetzt, 2002, vor einer theologischen „Zeitenwende“.

Anmerkung 1: Der Appell einiger Pfarrer der russisch.orthodoxen Kirche zum Frieden:

APPEL DU CLERGÉ DE L’ÉGLISE ORTHODOXE RUSSE À LA RÉCONCILIATION ET À LA FIN DE LA GUERRE quelle: https://www.egliserusse.eu/blogdiscussion/APPEL-DU-CLERGE-DE-L-EGLISE-ORTHODOXE-RUSSE-A-LA-RECONCILIATION-ET-A-LA-FIN-DE-LA-GUERRE_a6461.html

Nous, prêtres et diacres de l’Église orthodoxe russe, chacun en son nom propre, lançons un appel à tous ceux dont dépend la fin de la guerre fratricide en Ukraine, avec un appel à la réconciliation et à un cessez-le-feu immédiat. Nous adressons ce message après le dimanche du Jugement dernier et dans l’anticipation du Dimanche du pardon.

Le Jugement Dernier attend chacun d’entre nous. Aucune autorité terrestre, aucun médecin, personne ne nous l’évitera. Soucieux du salut de tous ceux qui se considèrent comme un enfant de l’Église orthodoxe russe, nous ne voulons pas qu’il comparaisse à ce Jugement, portant le lourd fardeau des malédictions proférées par les mères ayant perdu leurs enfants.

Nous pleurons l’épreuve à laquelle nos frères et sœurs ont été injustement soumis en Ukraine.

Nous rappelons que la vie de chaque personne est un don inestimable et unique de Dieu, et c’est pourquoi nous souhaitons le retour de tous les soldats – russes et ukrainiens – chez eux et dans leurs familles, sains et saufs.

Nous pensons avec amertume à l’abîme que nos enfants et petits-enfants en Russie et en Ukraine devront surmonter pour recouvrer l’amitié des uns avec les autres, pour se respecter et s’aimer mutuellement.

Nous respectons la liberté de l’homme donnée par Dieu et croyons que le peuple ukrainien devrait faire son choix de manière indépendante et non sous la menace d’une arme, sans pressions de l’Occident ou de l’Orient.

Dans l’anticipation du Dimanche du pardon, nous rappelons que les portes du Paradis sont ouvertes à quiconque, même à une personne qui a péché lourdement, si elle demande pardon à ceux qu’elle a humiliés, insultés, méprisés, ou à ceux qui ont été tués par ses mains ou sur ses ordres. Il n’y a pas d’autre voie que le pardon et la réconciliation mutuelle.

« La voix du sang de ton frère me crie de la terre ; et maintenant sois maudit et chassé de la terre qui a ouvert la bouche pour recevoir de ta main le sang de ton frère», dit Dieu à Caïn, qui était jaloux de son jeune frère. Malheur à toute personne qui se rend compte que ces paroles lui sont adressées personnellement.
Aucun appel non violent à la paix et à la fin de la guerre ne devrait être réprimé de force et considéré comme une violation de la loi, car tel est le commandement divin : « Heureux les artisans de paix. »

Nous appelons toutes les parties en conflit au dialogue, car il n’y a pas d’autre alternative. Seule la capacité d’entendre l’autre peut offrir l’espoir d’une sortie de l’abîme dans lequel nos pays ont été jetés en quelques jours seulement.

Permettez-vous et permettez-nous à tous d’entrer dans le Carême dans un esprit de foi, d’espérance et d’amour.

Arrêtez la guerre!

Prêtre Alexy Antonovsky
Hegumen Nikodim (Balyasnikov)
Prêtre Hildo Bos
Prêtre Vasily Bush
Archiprêtre Stefan Vaneyan
Hiéromoine Jacob (Vorontsov)
Archiprêtre Yevgeny Goryachev (vétéran de la guerre afghane)
Hiéromoine John (Guaita)
Prêtre Alexy Dikarev
Prêtre Alexander Zanemonets
Archiprêtre Vladimir Zelinsky
Prêtre Georgy Ioffe
Archiprêtre Andrei Kordochkin
Prêtre Lazar Lenzi
Archiprêtre Andrei Lorgus
Hegumen Peter (Meshcherinov)
Prêtre Evgeny Moroz
Hiéromoine Dimitry (Pershin)
Prêtre Alexander Piskunov
Archiprêtre Stefan Platt
Archiprêtre Dionysius Pozdnyaev
Archiprêtre Georgy Roy
Hiéromoine Theodorit (Senchukov)
Archiprêtre Dimitri Sobolevsky
Archiprêtre Alexander Shabanov
-Diacre Valerian

………………………………..

ОБРАЩЕНИЕ СВЯЩЕННОСЛУЖИТЕЛЕЙ РУССКОЙ ПРАВОСЛАВНОЙ ЦЕРКВИ С ПРИЗЫВОМ К ПРИМИРЕНИЮ И ПРЕКРАЩЕНИЮ ВОЙНЫ
Мы, священники и диаконы Русской Православной Церкви, каждый от своего имени, обращаемся ко всем, от кого зависит прекращение братоубийственной войны в Украине, с призывом к примирению и немедленному прекращению огня.
Мы направляем это обращение после воскресенья о Страшном Суде и в преддверии Прощеного воскресенья.
Страшный суд ожидает каждого человека. Никакая земная власть, никакие врачи, никакая охрана не обезопасит от этого суда. Заботясь о спасении каждого человека, считающего себя чадом Русской Православной Церкви, мы не желаем, чтобы он явился на этот суд, неся на себе тяжелый груз материнских проклятий. Мы напоминаем, что Кровь Христова, пролитая Спасителем за жизнь мира, будет принята в таинстве Причащения теми людьми, кто отдает убийственные приказы, не в жизнь, а в муку вечную.
Мы скорбим о том испытании, которому были незаслуженно подвергнуты наши братья и сестры в Украине.
Мы напоминаем о том, что жизнь каждого человека является бесценным и неповторимым даром Божьим, а потому желаем возвращения всех воинов – и российских, и украинских – в свои родные дома и семьи целыми и невредимыми.
Мы с горечью думаем о той пропасти, которую придется преодолевать нашим детям и внукам в России и в Украине, чтобы снова начать дружить друг с другом, уважать и любить друга друга.
Мы уважаем богоданную свободу человека, и считаем, что народ Украины должен делать свой выбор самостоятельно, не под прицелом автоматов, без давления с Запада или Востока.
В ожидании Прощеного воскресенья мы напоминаем о том, что врата райские отверзаются всякому, даже тяжело согрешившему человеку, если он попросит прощения у тех, кого он унизил, оскорбил, презрел, или же у тех, кто был убит его руками или по его приказу. Нет другого пути, кроме прощения и взаимного примирения.
“Голос крови брата твоего вопиет ко Мне от земли; и ныне проклят ты от земли, которая отверзла уста свои принять кровь брата твоего от руки твоей”, сказал Бог Каину, позавидовавшему своему младшему брату. Горе всякому человеку, сознающему, что эти слова обращены к нему лично.
Никакой ненасильственный призыв к миру и прекращению войны не должен насильственно пресекаться и рассматриваться как нарушение закона, ибо такова божественная заповедь: “Блаженны миротворцы”.
Мы призываем все противоборствующие стороны к диалогу, потому что никакой другой альтернативы насилию не существует. Лишь способность услышать другого может дать надежду на выход из бездны, в которую наши страны были брошены лишь за несколько дней.
Дайте себе и всем нам войти в Великий Пост в духе веры, надежды и любви.
Остановите войну.

иерей Алексий Антоновский
игумен Никодим (Балясников)
иерей Хилдо Бос
иерей Василий Буш
протоиерей Стефан Ванеян
иеромонах Иаков (Воронцов)
иерей Александр Востродымов.
священник Дионисий Габбасов
иерей Андрей Герман
протоиерей Евгений Горячев (ветеран Афганской войны)
иеромонах Иоанн (Гуайта)
иерей Алексий Дикарев
иерей Александр Занемонец
протоиерей Владимир Зелинский
протоиерей Петр Иванов
протоиерей Георгий Иоффе
диакон Илия Колин
протоиерей Андрей Кордочкин
иерей Лазарь Ленци
протоиерей Андрей Лоргус
игумен Петр (Мещеринов)
протоиерей Константин Момотов
иерей Евгений Мороз
иеромонах Димитрий (Першин)
иерей Александр Пискунов
протоиерей Стефан Платт
протоиерей Дионисий Поздняев
протоиерей Георгий Рой
священник Николай Савченко
иеромонах Феодорит (Сеньчуков)
протоиерей Иосиф Скиннер
протоиерей Димитрий Соболевский
диакон Пимен Трофимов
протоиерей Александр Шабанов
иеромонах Киприан (Земляков)
иерей Иоанн Леонтьев
протоиерей Виталий Шкарупин
протоиерей Сергий Дмитриев
протоиерей Владимир Королев
протоиерей Сергей Титков
диакон Валериан Дунин-Барковский

Священники и диаконы Русской Православной Церкви, желающие подписаться под письмом, могут написать на адрес russianpriestsforpeace@gmail.com

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Neue Religionen und Kirchen werden gegründet.

Ein unbekanntes Phänomen im 19.Jahrhundert – noch aktuell?
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
„Ich gründe meine Religion, meine Kirche“: Dies könnte als Motto für französische Intellektuelle im 19. Jahrhundert gelten.
Die Gründe dafür nennt der Mentalitäts – Historiker Georges Minois:
„Das 19.Jahrhundert ist reich an Beispielen von Menschen, die wegen der unnachgiebigen Haltung der (katholischen) Kirche und ihrer intellektuellen Unbeweglichkeit den (katholischen) Glauben verloren haben“, (Georges Minois, Geschichte des Atheismus, Weimar, 2000, S. 531).
Eine Erkenntnis, die der Historiker Michel Vovelle weiterführt: „Die Originalität Frankreichs in der Geschichte des westeuropäischen Christentums der Moderne ist: Es wurden weltliche Religionen entwickelt, die transzendente Wahrheiten ersetzten durch einen Kult des Vaterlandes oder der Werte Freiheit und Vernunft“ (in „Histoire de la France Religieuse”, Paris 1991, S. 510.)
Und der Kulturphilosoph Wolf Lepenies ergänzt, in seiner umfangreichen Studie über den Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804-1869):
“In der modernen Welt des 19. Jahrhunderts an der herkömmlichen Religion festzuhalten, war Byzantinismus – der Fortschritt verlangte auch nach der Ausbildung einer zeitangepassten Moral, die zugleich das überzeitliche Bedürfnis des Menschen, sich an Werten zu orientieren und von Vorbildern leiten zu lassen, befriedigte“ (S. 333 in: „Sainte-Beuve“, 2006).

2.
Diese Mentalität weckt förmlich die Bereitschaft, die persönlichen weltanschaulichen Überzeugungen in eigenen Kirchen und Religionsgemeinschaften zu gestalten. Als Kirchengründer oder als Religionsgründer gefahrlos aufzutreten, war erst durch die Revolution von 1789 möglich geworden, sie hatte die Religionsfreiheit als Menschenrecht anerkannt. Es waren oft Laien, also nicht immer Theologen oder Priester, die sich als Kirchengründer betätigten. Sie suchten dadurch für sich und ihre Freunde Auswege aus einem dogmatisch erstarrten Katholizismus: Gleichzeitig wollten sie eine Religion/Kirche gestalten, die die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung respektierte und in einem politisch pluralen Staat den notwendigen ideologischen Zusammenhalt stiftete.

3.
Diesem Impuls zu Neugründungen von Religionen steht um 1800 das Erstarken eines katholischen Volksglauben, zumal in ländlichen Regionen, gegenüber, den selbst manche Priester als Aberglauben deuteten… Aber weil die Kirchenbindung dieser Frommen wichtiger erschien, tolerierten und unterstützten die Kleriker diese Form des zum Teil magisch geprägten Volkskatholizismus. Es waren vor allem Frauen, die sich daran klammerten, wie etwa die exzessive Heiligenverehrung, der Marien-Kult, der aus der Mutter Jesu eine weibliche Gottheit und eine Miterlöserin machte, die Verehrung bestimmter Landpfarrer (wie den Pfarrer von Ars). (Siehe dazu. „Histoire de la France Religieuse“, III, 1991, S. 528.)

4.
Diese Bemühungen um Kirchengründungen sind im Rückblick nicht erfolgreich gewesen, was die Mitgliederzahlen und die Lebensdauer dieser Gemeinden betrifft. Aber in ihrer Vielfalt zeigen diese Gründungen doch, wie umfassend die Unzufriedenheit mit dem Katholizismus war. Der Katholizismus im 19. Jahrhundert war institutionell – unter dem Schutz des Stellvertreters Christi auf Erden – so mächtig, dass er weiterhin den Wissenschaften feindlich eingestellt bleiben konnte, dass er die Werte der Philosophie der Aufklärung, auch die Menschenrechte, als gottlos verurteilte … und dadurch die Einheit von katholischem Glauben und Anti-Moderne zementierte.

5.
Das Thema Kirchengründungen in Frankreich und in einem zweiten Kapitel auch in Deutschland ist sicherlich in einer breiten Öffentlichkeit nicht so vertraut und bekannt ist. Es hat aber durchaus aktuelle Bedeutung, angesichts der tief greifenden Krise der katholischen Kirche in Europa und Amerika am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts.Diese Krise ist begründet unter anderem auch in dem freigelegten sexuellen Missbrauchs durch tausende Priester über viele Jahrzehnte. Viele hunderttausend Katholiken distanzieren sich vom Katholizismus, „treten aus“, die meisten suchen nun individuell den eigenen spirituellen Weg, vielleicht aber auch im Zusammenhang neuer Gemeinschaften oder in progressiven protestantischen Kirchen.
Unabhängige Gemeindegründungen im Katholizismus gibt es im 20.Jahrhundert in den Niederlanden: Seit 1970 wurden neue ökumenische Gemeinden von Katholiken gegründet, oft Basisgemeinden genannt, die sich explizit aus dem System des Katholizismus (d.h. des Bistums) verabschiedeten und zum Teil bis heute bestehen: Wie die inzwischen weltweit bekannte „Ecclesia“, inszeniert vor allem von dem ehemaligen Jesuiten und bedeutenden Poeten Huub Oosterhuis (Liturgie im Kulturzentrum de rode hoed). Oder die „Dominicus-Gemeinde“, ebenfalls in Amsterdam. Die Dominicus-Gemeinde wurde ursprünglich (bis ca. 1970) von Dominikaner-Paters geleitet, dann haben Laien als Team die Leitung übernommen und schließlich hat die Gemeinde, nun ökumenisch, das schöne Kirchengebäude gekauft. Diese Gemeinden sind nicht mehr konfessionell, sondern ökumenisch, sie führen unterschiedliche Theologien zusammen. Auch die ökumenische Gemeinde „de Duif“ in Amsterdam muss in dem Zusammenhang erwähnt werden! Die website der Gemeinde de duif bietet auch etliche links zu ähnlichen Versuchen freier Gemeinden.
(Zu den Kirchengründungen in der frühen Kirchengeschichte siehe Fußnote 1, unten)

Das erste Kapitel: Gründungen von Kirchen/Religionsgemeinschaften im 19. Jahrhundert in Frankreich.

6.
Das Thema ist im katholisch geprägten Milieu ausschlaggebend.
Die protestantische Kirche in Frankreich (vorwiegend Calvinisten und einige Lutheraner) war damals zahlenmäßig zu klein, um Neugründungen oder Abspaltungen innerhalb der Konfession Raum zu geben. Die protestantischen Kirchen waren dank der Revolution von 1789 den grausamen Verfolgungen gerade erst entkommen und konnten frei sein. Es gab hingegen ab 1840 bis ca. 1880 bei etlichen, vorwiegend intellektuellen Katholiken eine Begeisterung für protestantische Ideen, die der Historiker Yves Hivert-Messeca als Philoprotestantismus bezeichnet: (siehe: https://yveshivertmesseca.wordpress.com/2014/05/24/du-philoprotestantisme-dans-la-france-des-annees-1840-1880/)
Hivert-Messeca erinnert dabei an eine wichtigen Vortrag von Sainte-Beuve am 19. Mai 1868 im Senat von Paris: Darin deutet er die religiöse Situation Frankreichs im Bild einer „neuen, großen Diözese“, die „Tausende von Gläubigen aller ideologischer Couleur umfasste …außerhalb des Katholizismus. Zu dieser „großen Diözese“ gehören etwa Katholiken, die sich dem Protestantismus nahe fühlen und z.B. nach der staatlichen Hochzeitszeremonie noch in einer protestantischen Kirche eine religiöse Feier wünschen. Diese Praxis wird vom Historiker als entschieden anti-katholische Haltung gedeutet. (Zu den Neugründungen in den USA und im Katholizismus des 20.Jahrhunderts siehe Fußnote 2)

7.
Seit der Französischen Revolution ist die Bereitschaft groß, neue Religionen für die Franzosen zu inszenieren. Der Gründung der Republik als Ergebnis einer Revolution, also eines tiefgreifenden Umsturzes des Ancien Regime, entsprach bei vielen Revolutionären die Überzeugung, nun auch die einzige Kirche aus dem Ancien Régime, eben die katholische, zu überwinden.
Während der Revolution wurde der „Kult der Göttin Vernunft“ zelebriert, etwa am 10.August 1793 mit der Statue der „Göttin Vernunft“ auf der Place de la Bastille, am 10. November 1793 dann die feierliche „Messe“ in der Kathedrale Notre Dame de Paris mit einer leibhaftigen Göttin der Vernunft.
Robespierre hingegen praktizierte seinen deistischen „Kult des höchsten Wesens“ seit dem 8. Juni 1794. Dieser Kult sollte Staatsreligion werden, um den Katholizismus, DIE Kirche des „Ancien Regime“, zu ersetzen. Nach der Hinrichtung Robespierres wurde auch der „Kult des höchsten Wesens“ beendet.
Nach 1795 versuchte die religiös -humanistische Gemeinschaft der „Theophilanthropen“ (bis 1803) einen rationalen deistischen Kult zu etablieren, der in zahlreichen katholischen Kirchengebäuden parallel zu den Messen gefeiert wurde. (LINK: https://religionsphilosophischer-salon.de/4039_eine-humanistische-religion-die-theophilanthropen-in-frankreich_forschungsprojekt)

8.
Nach 1825 werden Texte veröffentlicht, die sich für ein neues Christentum stark machen. „Nouveau Christianisme“ heißt das schon vom Titel viel sagende Buch des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Claude-Henri de Rouvroy de Saint-Simon (1760-1825), kurz vor seinem Tod 1825 publiziert. Im „neuen Christentum“ sollten nicht mehr die katholischen Dogmen gelten, der Glaube sollte auf die Wissenschaften und die Entwicklung der modernen Technik gegründet sein! Praktische „Hauptaufgabe“ dieses neuen Christentums war die Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen, Brüderlichkeit sollte die wichtigste Tugend werden, schließlich, so Saint-Simon, habe auch Jesus Christus das ewige Leben nur denen versprochen, die den Armen wirksam helfen. Eine Idee, die wohl typisch ist für einige der „Frühsozialisten“…Später haben sich Katholiken in ihren sozialpolitischen Erklärungen auch auf Saint Simon bezogen, sie kritisierten die begrenzte christliche Mildtätigkeit und forderten die umfassende Solidarität unter allen Menschen.

9.
Diese Ideen fanden eine weite Verbreitung. Vor allem der Philosoph und Soziologe Auguste Comte (1798 – 1857) ließ sich von ihnen inspirieren. Er war persönlicher Sekretär Saint -Simons von 1817-1824. Comte ging noch weiter als sein Lehrer, er wurde zum Gründer der Religion des Positivismus. Die Ablehnung der kirchlichen Dogmen ist für Comte nicht zufällig, sondern sie basiert auf dem Gang der Weltgeschichte, den er sich dachte: Von der Religion über die Philosophie als Metaphysik hin zur dritten Stufe, dem Positivismus, als der Form der objektiven Wissenschaften. Die kritischen Zeitgenossen sollen die wissenschaftlichen Erkenntnissen als Wahrheiten respektieren und die alten Dogmen beiseite tun. (Vgl. die Studie des Philosophen Bernard Jolibert: „Science et Religion chez Auguste Comte: https://inspe.univ-reunion.fr//fileadmin/Fichiers/ESPE/bibliotheque/expression/23/Comte.pdf).
Comte plädierte dafür, Religion vom Gottesbegriff und vom Glauben an Gott zu trennen. Er stiftete eine Religion, die sich von den überlieferten christlichen Dogmen absetzte, und sich „positivistisch“ nannte, im Sinne von den „Wissenschaften folgend und mit ihnen verbunden“.
Comte stammte aus einem frommen katholischen Elternhaus, hat sich aber schon bald zum Atheismus bekannt. Trotzdem sah er durchaus die bedeutende, die soziale Rolle der Religion für den Zusammenhalt der Gesellschaft. 1852 veröffentlichte er für seine Kirche einen „catechisme positiviste“, in dem auch die Gestaltungen seines Kultes, seiner Sakramente (!), die Rolle seiner Priester, usw. definiert wurden. Auf bestimmte Elemente der katholischen Kirche konnte Comte nicht verzichten.

10.
Comtes wissenschaftliche Religion ohne Gott sollte als „Religion der Menschheit“ angesichts der Krise des Katholizismus Hilfen bieten für ein besseres Miteinander in der pluralen Gesellschaft. Religion wurde also im Sinne von Comte funktional gebraucht fürs Wohlergehen einer friedlichen Gesellschaft. Der Kult fand zu Beginn durchaus Zustimmung, d.h. Mitglieder. Nach Comtes Tod 1857 wurden die Vorschläge seiner Religion aufgegriffen von Politikern, die sich für die Trennung von Kirchen und Staat einsetzen. Die Vormachtstellung der katholischen Kirche etwa unter Napoleon III. wurde kritisiert und z. T. überwunden, anstelle der Theologie wurde die Religionswissenschaft an staatlichen Universitäten gelehrt und gefördert. Schon 1880 wurde am „Collège de France“ ein Lehrstuhl für Religionsgeschichte eingerichtet, sicher auch Wirkungen der Publikationen von Auguste Comte und seines maßgeblichen Schülers Pierre Laffitte (1823-1903).
Übrigens: Der Schriftsteller Michel Houellebecq bezieht sich in seinen Romanen und Essays oft auf Ideen von Auguste Comte, darauf weist Jérome Grévy hin: In seinem Essay „La Religion positiviste“, in dem Sammelband „Misère de l Homme sans Dieu. Michel Houellebecq et la question de la foi“ (Paris 2022, S.23-44).
Comte, der Kirchengründer, verstand sich selbst als „Erzpriester“, seine Kirche
hatte eigene Kapellen für ihre Gottesdienste, sogar ein neuer Kalender wurde ausgearbeitet. In Paris, in der Rue Payenne, Nr. 5, steht noch ein „Tempel“ der Religion von Comte, die „Chapelle de l Humanité“. Das „Haus von Auguste Comte befindet sich in der Rue Monsieur le Prince, Nr. 10 in Paris.

11.
Diese Kirche besteht als religiöse Institution heute in Frankreich nicht mehr, in Brasilien ist hingegen Comtes Einfluß auch heute noch bedeutend, „Ordem e progresso“ steht auf denFlaggen Brasiliens als Wahlspruch, Worte, die bezogen sind auf das Motto von Comte: „Liebe als Prinzip, Ordnung als Basis, Fortschritt als Ziel“. Die Gründerväter Brasiliens waren mit der Philosophie Comtes eng verbunden. Die „positivistische Kirche“ dort wurde 1881 gegründet, sie hat noch heute Tempel in mehrere Städten Brasiliens. Die Ausstattung des Tempels in Rio de Janeiro erinnert an eine christlichen Kirche. (siehe:https://www.degruyter.com/document/doi/10.31819/9783964566690-012/pdf).
Inspirationen für seine neue Religion fand Comte auch bei der von ihm hoch geschätzten katholischen (!) Schriftstellerin Clotilde de Vaux (1815-1846), in dem neuen positivistisch – religiösen Kalender war der 6. April stets „Clotilde Tag“. So wurden Frauen insgesamt in dieser neuen Kirche hoch geschätzt.

12.
Einige Kirchengründungen wurden auch von katholischen Priestern inszeniert, die mit der offiziellen Lehre nicht mehr übereinstimmten. Vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts gaben viele ihr Priesteramt auf, sie hatten nur Mühe, außerhalb der Kirche für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Viele katholische Priester wurden protestantische Pfarrer, der Ex-Priester Bourrier gründete für diese Konvertiten sogar eine eigene Zeitschrift „Le Chrétien Francas“. (Siehe Jacqueline Lalouette, „La Republique anticléricale“ , Paris, 2002, S. 118)
Zu den Freidenkern wandte sich Abbé Jules Claraz oder die Priester Duhamel, Harren, Blains, Salle, Bertrand usw…( Siehe J. Lalouette, S. 95 f). Auch ehemalige katholische Nonnen wurden militante FreidenkerInnen (S. 118 f. Bei J. Lalouette).
Der Priester Ferdinand Francois Chatel (1795-1857) ist im Jahr 1831 der Gründer der Kirche „Eglise Catholique Francaise“, er nannte sich jetzt „Primas von Gallien“. Diese Kirche feiert die Messe in französischer Sprache, als Gottesdienstzentrum diente ein ehemaliges Ladenlokal in Montmartre. Chatel hob das Zölibats-Gesetz für Priester auf, es wurde die Kelchkommunion auch für Laien gepflegt usw., von Rom frustrierte Katholiken fanden in dieser Kirche Zuflucht. Es kam zu Konflikten mit der Regierung, die Kirche wurde verboten. Über Chatels Tod hinaus bestand seine Kirche nicht mehr. Aber sie ist ein Beispiel, wie schon Jahrzehnte vor der Gründung der „Alt-katholischen Kirche“ (1870) diese Reform – Theologie virulent war.
Chatel war mit Bernard-Raymond Fabre-Palaprat (ein Priester aus Cahors) verbunden, er hatte eine esoterische Kirche, die sich Johanniter-Kirche nannte. Er hat unter anderem eine gnostische Version des Johannes-Evangeliums verfasst.

Der Priester Victor Charbonnel (1860 – 1926) setzte sich schon vor der „Weltausstellung“ in Paris im Jahr 1900 dafür ein, dass dort ein „Interreligiöses Parlament der Religionen“ stattfinden sollte. Denn, so war er überzeugt, „entstammen alle Religionen dem gleichen Prinzip, und dieses erzeugt unter den Religionen mehr gemeinsame als entgegengesetzte Lehren“. Die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten seien nichts anderes als eine Art „Schnickschnack der Konfessionen“, sie seien nur „armselige Motive für Stolz und Rivalitäten“. Der Priester Charbonnel ahnte sehr genau, dass seine Vorschläge Widerstand finden im Katholizismus, zwei Jahre hielt er es noch aus, Priester in einem extrem konservativen theologischen Milieu zu bleiben, dann gab wer sein Priesteramt auf.

13.
Der Historiker Frank Paul Bowman, (1927-2006), einst Professor an der Pennsylvania University, hat in seinem Buch „Le Christ des barricades 1789-1848“, Paris 1987, ein ganzes Kapitel den „neuen Christentümern, den neuen Messiassen“, wie er sagt, gewidmet (S-231- 246). Bowmans Buch zeigt einen Trend auf: Die Kirchengründungen sind nur ein Ausdruck für den Abschied vom offiziellen römischen Katholizismus, genauso wichtig ist: Im 19.Jahrhundert wird eine Fülle von Deutungen zur Gestalt Jesu Christi publiziert: „Die Theoretiker eines sozialistischen Jesus“, heißt bezeichnenderweise ein Kapitel in dem Buch von Bowman (S.167-230), Beziehungen zur lateinamerikanischen Befreiungstheologen des 20. Jahrhunderts müssten eigens dokumentiert werden.

14.
Auch Literaten bemühten sich um ihr persönliches, also gegenüber der Amtskirche „häretischen“ Christus-Bild, etliche dachten auch an die Gründung einer eigenen Kirche.
Hier soll nur George Sand genannt werden. „Manchmal plant sie eine mögliche Erneuerung des Katholizismus, aber dann, ist sie eher überzeugt, eine neue soziale Religion zu gründen, als Modell könnten die Kulte von 1789 dienen,“ schreibt Bowman (S. 265). „George Sand beschreibt eine Religion der brüderlichen Gleichheit und des gemeinsamen Besitzes…“ Sie ist bewegt von den Hussiten wie von Franz von Assisi, Joachim von Fiore und dem Philosophen Lamennais… Sie glaubt, der Mensch könne seinen Kontakt mit dem Göttlichen aufnehmen“, und zwar aufgrund seines Willensentschlusses. (S. 267).
Von Victor Hugo muss man in dem Zusammenhang sprechen, und dabei nicht so sehr an die Phase seiner Begeisterung für spiritistische Sitzungen erinnern. Sondern vielmehr zeigen, wie er außerhalb der Bindung an die katholische Kirche seinen eigenen Glauben an Gott und an die persönliche Auferstehung entwickelte. Politisch wurde die Freiheit und Gleichberechtigung in der Republik Hugos wichtigstes Programm. Das Volk, das sich nach gesetzlich garantierter Freiheit in der Republik sehnt, ist für Hugo „das heilige Volk“, schreibt Alain Decaux in seinem Aufsatz „Victor Hugo et Dieu“ (2002).
Im Klerikalismus sah Hugo den größten Feind, zumal für die Errichtung der staatlichen Schulen für alle. Hugo sagte 1850. „Ihr Kleriker seid die Parasiten der Kirche, ihr seid die Krankheit der Kirche, ihr seid Sektierer einer Religion, die ihr gar nicht versteht. Mischt nicht die Kirche in eure Affären, in eure Strategien, in eure Lehren und eure Ambitionen“. (Quelle: Ein Beitrag von „France Culture“ am 8.12.2020; https://www.franceculture.fr/emissions/ils-ont-pense-la-laicite/hugo-limprecateur)
Noch kurz vor seinem Tod bekannte er: „Je crois en Dieu“. … und er glaubte nicht an die katholische Kirche.

15.
Unter den Komponisten soll nur Eric Satie (1866-1925) erwähnt werden. Er komponierte eine „Messe der Armen“, die allerdings ein Fragment blieb. Und er gründete seine eigene Kirche, mit dem irritierenden Titel: „Eglise Metropolitaine d` Art de Jésus Conducteur“, „Metropolitane Kunst- Kirche von Jesus dem Führer“.
Satie gab sogar eine Art Gemeindeblatt heraus, als Kirchengründer verurteilte er auch bestimmte Sünder, und er genierte sich nicht, tatsächlich als das einzige Mitglied seiner Kirche aufzutreten, was wohl den Tatsachen entsprach. Eine gewisse individualistische Verschrobenheit ist dieser Kirchengründung gewiss nicht abzusprechen. Satie stand auch in Verbindung mit dem Schriftsteller und Esoteriker Josephin Péladan, der eine Symbiose suchte zwischen Rosenkreuzertum und katholischem Glauben.

Zweites Kapitel: Kurze Hinweise zu Deutschland

16.
Ein wichtiges Beispiel im 19. Jahrhundert für die Idee einer Gründung einer neuen Religion bietet Friedrich Hölderlins (1770 – 1843). Hölderlin ist tief verwurzelt im Christentum, aber er will es in seiner ursprünglichen Gestalt, gemäß den Zeugnissen des Neuen Testamentes. Die „orthodoxen“ Kirchen – Lehren und die Institutionen der Kirchen zu seiner Zeit waren Hölderlin ein Grauen, von dem er sich abwandte. Aber die Christus- Gestalt schenkte ihm eine innere prägende Erfahrung. Nur deswegen konnte er Christus in Verbindung setzen mit den Mythen und Göttergestalten Griechenlands. Christus wird, so der Philosoph Heinrich Rombach, „neben die anderen Götter der Menschheitsgeschichte gestellt. Es gibt dann eigentlich keine heidnischen Götter mehr, darum vor allem sprechen wir von Universaltheologie bei Hölderlin“ ( S. 66 in: „Der Friede allen Friedens. Hölderlins Universaltheologie“, Rombachs Aufsatz in dem Buch „Gott alles in allem. Religiöse Perspektiven künftigen Menschseins“, Herder Verlag, 1985).
Hölderlin plädiert für einen “Gestaltwandel” Gottes: Nur als konkreter Geist ist Gott lebendig! Und dem entspricht auch ein Gestaltwandel der Gemeinde, der Kirche: Gemeinde ist keine Massenveranstaltung, kein anonymes Beisammensein Fremder: Gemeinde ist für Hölderlin vor allem ein eher kleiner Freundeskreis, ein Kreis von Gleichberechtigten, ohne Hierarchie, ohne Vorschriften, ein Kreis, der gemeinsam mit Brot und Wein feiert und dabei ins wesentliche religiöse Gespräch kommt, das dann als Poesie, als Dichtung, Gestalt wird. Und diese Feier geschieht im Wissen der geistigen Anwesenheit des universalen Christus, der alle Schranken und Grenzen der Religionen überwindet und überwinden hilft: Dies ist die „Friedensfeier“. „Der Himmel wird (von Hölderlin) in ein irdisches Geschehen verlegt, nämlich in die Gemeinde“ (Rombach, S. 68). Diese feiert ihre Feste, in denen man, „die Götter nicht zählt“ (S. 51), also diese Götter auch gelten lässt als Ausdruck der Versöhnung und des Friedens. Das sind die Ideen Hölderlins, als Wirklichkeit kann er sie nicht erleben…

17.
Der Autor der Romantik, Friedrich Schlegel, schreibt Ende Dezember 1798: „Ich denke daran eine neue Religion zu stiften, dass dies durch ein Buch geschehen soll, darf um so weniger befremden, da die großen Autoren der Religion – Moses, Christus, Mohammed, Luther – stufenweise immer weniger Politiker und mehr Lehrer und Schriftsteller werden“, (Zitat bei Rüdiger Safrans, „Romantik“, München 2007, S. 136).
Allerdings zweifelt Friedrich Schlegel dann doch an seinem Mut und begibt sich als Konvertit 10 Jahre später in den sicher erscheinenden Hafen des Katholizismus. Er schreibt: „Die ästhetische Träumerei (von 1798), dieser unmännliche pantheistische Schwindel müssen aufhören, sie sind der großen Zeit unwürdig und nicht mehr angemessen“ (S. 137).

Auch an Novalis (also Friedrich von Hardenberg, 1772-1801) muss erinnert werden, er will eine neue, neu-geborene universale Christenheit hervorrufen. Dabei helfen ihm Erkenntnisse, die Privatoffenbarungen genannt werden können. Die historische Gestalt des üblichen Christentums wird verblassen und vergehen, das ist seine Überzeugung, ein neues Zeitalter einer universalen Religion werde beginnen. So Novalis in „Die Christenheit oder Europa“, 1799 verfasst, 1802 in Auszügen veröffentlicht.
Bei aller pauschalen Kritik von Novalis an der Aufklärung und hier Philosophie ist seine Idee einer künftigen Religion der Diskussion wert: Ich zitiere eine Würdigung dieser von Novalis neu erdachten Religion aus dem Novalis-Beitrag von wikipedia (gelesen am 2 1.2.2022): „Die neue, dauerhafte und von konfessionellen Schranken befreite Kirche, eine Verbindung von Christentum und Naturphilosophie, soll an die Stelle des Papsttums und des Protestantismus treten. Hiermit ist jedoch nicht so sehr ein institutionelles Gebilde gemeint, sondern eine Friedensgemeinschaft. Diese europäische Friedensgemeinschaft wäre der erste Schritt zu einer Weltgemeinschaft. Novalis fordert „echte Freiheit“, das heißt einen freieren und poetischeren Umgang mit den biblischen Schriften. Somit soll das Christentum ausgeweitet werden. Mit der Auflösung der Abgrenzung von den übrigen Religionen nähert sich das von Novalis erdachte neue Christentum immer weiter einer allgemeinen Weltreligion an. Diese visionäre Zukunftsreligion sollte im Alltag erfahrbar sein und soziale Gemeinschaft schaffen, aber dennoch nicht die Freiheit einschränken…In der neuen goldenen Zeit soll dagegen die Freiheit in der Religion vorherrschen. Das Ende dieser angestrebten Entwicklung ist jedoch noch nicht gekommen, aber der Sprecher in der Rede vertröstet den Hörer und betont, dass diese Zeit sicher kommen wird. Nur ein wenig Geduld ist notwendig“. Siehe Fußnote 3, unten.

18.
Auch an Richard Wagner muss bei unserem Thema erinnert werden. Er war überzeugt: Die religiöse und theologische Krise der Kirchen hat viele Menschen in eine Art Leere und Sinnlosigkeit geführt: Wagners Musik, seine Opern insbesondere, „sollten ein Gemeinschaftserlebnis, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln, wie es sonst nur religiösen Veranstaltungen eigen war“, so Herfried Münkler in seiner Studie „Marx, Wagner, Nietzsche“, Berlin 2021, S. 213. Wagners Festspiele, so Münkler, sollten – wie die Kirchen und Religionen es versprachen – einen neuen Menschen schaffen. „Nicht von ungefähr sprach man von einer Bayreuther Theologie, die Sektencharakter hatte…Erst in den 1950er Jahren kam ein Prozess der Deskralisierung in Gang..“ (S. 214).

3. Kapitel: Jeder gründet seine eigene Religion?

19.
Die Überzeugung setzt sich durch: Religionen und Kirchen werden nicht mehr von göttlich berufenen Propheten, Aposteln oder Evangelisten oder gar von Gott selbst gegründet, wie die katholische Kirche von sich selbst überzeugt ist. Religionen und Kirchen können auch von Laien oder einfachen Priestern und Theologen, auch von Philosophen, Künstlern und Schriftstellern ins Leben gerufen werden. Sie sind als Institutionen zwar oft nur von kurzer Lebensdauer, weil die Gründer nicht den militanten missionarischen Elan und die finanziellen Mittel haben, wie etwa die Gründer neuer Religionsgemeinschaften in den USA. Und diese neuen Religionen konnten gegenüber den Jahrhunderte alten Institutionen (Papst im Vatikan, und Könige/Kaiser als protestantische Kirchenchefs) nicht konkurrieren.

20.
Jeder Mensch, der irgendwie seine persönliche Beziehung zu einer transzendenten Wirklichkeit oder einem „absolut geltenden Sinn“ auf seine Weise denkt und auf die eigene, persönliche Weise lebt, gründet oft unbewusst und wenig reflektiert, seine eigene ganz individuelle – persönliche Religion. Jeder Mensch wählt aus dem ihm zur Verfügung stehenden Angebot spiritueller Weisheit das ihm Passende. Wichtig ist, dass dann die subjektive, die eigene Religion das Gespräch mit anderen sucht, nicht nur um der Informationen willen, sondern auch um die eigene Position zu erweitern und zu korrigieren. Ob auf diese Weise noch einmal neue Gemeinschaften entstehen, ist offen, wahrscheinlicher ist, dass Christen, die etwa in Deutschland aus den Kirchen ausgetreten sind, in der individuellen Position der Vereinzelung verbleiben. Das kann man aus sozialen – kommunikativen Gründen wie aus theologischen und philosophischen Einsichten bedauern.

…………………….

Fußnote 1:
Abspaltungen von den offiziellen sich „orthodox“, rechtgläubig nennenden Kirchen gab es seit Etablierung der offiziellen (Staats-) Kirchen im 4. Jahrhundert und auch schon vorher. Aber diese Spaltungen waren meist nur Varianten, Zuspitzungen, der sich als rechtgläubig definierenden Kirche mit dem Papst als Oberhaupt. Diese „Varianten“ des Katholischen wurden dann Sekten genannt und als Häretiker entsprechend verfolgt und oft ausgelöscht, man denke nur Hus und die Hussiten oder den breiten Strom der Reformatoren seit dem 16. Jahrhundert.

Fußnote 2:
Bekanntlich gab es im 19. Jahrhundert in den USA viele Abspaltungen von den dort etabliert traditionellen protestantischen Kirchen. Einige religiöse, christlich inspirierte Gemeinschaften wurden gegründet, wie die Mormonen, die Zeugen Jehovas, die Christliche Wissenschafter usw. Diese Gemeinschaften gehen auf Erleuchtungen bzw. neue Erkenntnisse einzelner zurück. Sie sind, was die Anzahl der Mitglieder betrifft, durchaus erfolgreich.
Auch auch innerhalb der etablierten „mainstream“ Kirchen, wie den Anglikanern oder Reformierten, gab es und gibt es dann Abspaltungen. Dies ist ein durchaus typisches protestantisches Phänomen.
Wer sich von der katholischen Kirche löst und eine neue Gemeinschaft gründet, wie etwa Alterzbischof Marcel Lefèbvre, wird automatisch exkommuniziert, als er im Jahr 1988 eigenmächtig vier seiner Priester zu Bischöfen weihte, um das Überdauern seiner Gemeinschaft sozusagen kirchenrechtlich korrekt abzusichern. Darum sind Lefèbvres Bischöfe zwar unerlaubt (vom Papst), aber gültig (von einem gültig geweihten Erzbischof) geweiht…Das macht die Sache so kompliziert in diesem Römischen Rechts – Denken. Die Exkommunikation Lefèbvres und der vier von ihm geweihten Bischöfe wurde durch Papst Benedikt XVI. am 21.1.2009 aufgehoben! Übersehen wurde dabei, dass einer der vier Bischöfe sich kurz zuvor extrem antisemitisch öffentlich geäußert hatte.
Im 20.Jahrhundert wurden weltweit viele neue religiöse Gemeinschaften gegründet, manche beziehen sich auch auf das Christentum, aber auch auf andere spirituelle Quellen. Die religiösen Umbrüche in Afrika,. Lateinamerika oder Asien konnten hier nicht berücksichtigt werden.

………………………
Fußnote 3 zu Novalis: Aus einer Ausgabe von 1826:
„Die Chriſtenheit muß wieder lebendig und wirkſam wer¬
den, und ſich wieder ein ſichtbare Kirche ohne Ruͤckſicht auf
Landesgraͤnzen bilden, die alle nach dem Ueberirdiſchen durſtige
Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der
alten und neuen Welt wird.
Sie muß das alte Fuͤllhorn des Seegens wieder uͤber die
Voͤlker ausgießen. Aus dem heiligen Schooße eines ehrwuͤrdi¬
gen europaͤiſchen Conſiliums wird die Chriſtenheit aufſtehn,
und das Geſchaͤft der Religionserweckung, nach einem allum¬
faſſenden, goͤttlichem Plane betrieben werden. Keiner wird dann
mehr proteſtiren gegen chriſtlichen und weltlichen Zwang, denn
das Weſen der Kirche wird aͤchte Freiheit ſeyn, und alle noͤ¬
thigen Reformen werden unter der Leitung derſelben, als fried¬
liche und foͤrmliche Staatsprozeſſe betrieben werden“.  S. 208 in: Novalis Schriften Bd I, Berlin 1826. Hg. von Tieck und Schlegel, https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/novalis_christenheit_1826?p=30

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Der Mensch soll sich die Erde untertan machen. Und auch die Kirche soll sich alle Menschen untertan machen.

Biblische Weisungen mit totalen Ansprüchen.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Dieser Beitrag zeigt:
Mit dem göttlichen Auftrag an die Menschen „Macht euch die Erde untertan“ ist eng verbunden der Auftrag Jesu Christi an die (katholische) Kirche „Macht alle Menschen zu meinen Jüngern, also zu Kirchenmitgliedern“. Die Missionsgeschichte und die der Kolonisierung beweist: Auch der Auftrag Jesu wurde als Unterwerfung, als „Untertan-Machung“, verstanden und praktiziert. Und innerhalb der katholischen Kirche gibt es dann noch eine weitere Form der Unterwerfung, die Unterwerfung der menschlichen Natur (Sexualität) des Klerus durch klerikale Gesetze.
Wie stark ist in der biblischen Lehre also eine Geschichte der Unterwerfung, der Erzeugung von Untertanen, angelegt? Und wenn das so ist: Wie sehr macht das herrschende Verständnis der Bibel die Menschen und die Welt krank?

1.
Die Zerstörung von Welt/Natur/Tieren und damit verbunden die seelische und physische Selbst-Zerstörung der Zerstörenden, der Menschen, wird immer mehr Leuten bewusst, und manche leisten dagegen Widerstand, förmlich „in letzter Stunde“.
Um diesen total gewordenen Willen zur Zerstörung von Welt und Menschheit zu verstehen, muss man sich auch auf die seit langem herrschenden und wie selbstverständlich gelebten Mentalitäten beziehen. Das heißt: Ideologie, Glaube, Überzeugungen müssen beachtet werden, um diese Zerstörung zu verstehen.
Trotz der „Säkularisierung des Bewusstseins“ lebt immer noch die prägende, christlich/kirchlich vermittelte Ideologie, die als Zitat Gottes höchstpersönlich bekannt ist mit dem Spruch: „Macht euch die Erde untertan.“ Diese biblische Lehre wirkt de facto selbst dann noch, wenn viele Europäer sich heute von Bindungen ans Christentum befreien.
2.
Die Zerstörung der Natur heute, kaum noch zu reparieren, ist als eine Art totales Geschehen zu verstehen. Dies ist heute tägliche Erfahrung der kritischen Menschen. Diese ökologische Katastrophe muss nicht mehr im Detail beschrieben werden, sie hat viele zerstörerische Aspekte: Luft, Meere, Tiere, Pflanzen, Wälder, Städte, soziale Beziehungen und so weiter, alles soll unter die Herrschaft der alles gebrauchenden und verbrauchenden Menschen gebracht werden. Alles wird zum Untertan des Menschen.
Aber allmählich beginnt diese Überzeugung wirksam zu „bröckeln“. Der „Mensch“ als „Herr der Schöpfung“, der sich alles untertan machen darf mit göttlichem Segen, erscheint trotz aller riesigen technischen „Errungenschaften“ der Naturbeherrschung auch als eine kleine, jämmerliche und unvernünftige Kreatur. Selbst Milliardäre als die Gewinner der totalen Natur- und Technikbeherrschung wissen, sie sind als Menschen begrenzt, endlich, also sterblich. Nebenbei: Vielleicht ist das der letzte Trost der Millionen Hungernden. Sie hätten gern menschlich gelebt, wenn nicht so viele Herren der Welt so besessen und gierig nur zu eigenem Profit auf die Welt zugegriffen hätten.
3.
Das ist eine zentrale Frage: Sind es „die“ Menschen, wie der Bibelspruch suggeriert, die sich als Herrscher über die Natur etabliert haben? ODER sind es die Herren in Ökonomie, also bestimmte Privilegierte, die überall Profit machen und alles beherrschen und alles sich (!) untertan machen. Diese Herren brauchen dabei Massen-Menschen, die z.B. das globale Projekt der Naturvernichtung unterstützten, weil sie, die „kleinen Leute“, von der totalen Naturzerstörung irgendwie doch noch finanziell profitieren. Ohne diese „Klassenanalyse“ kann also eine Debatte über die Auswirkungen des göttlichen Befehls an die Menschen „Macht euch die Erde untertan“ (AT, Buch Genesis, 1,28) gar nicht geführt werden.

Bibelwissenschaftler versuchen heute in ihren Interpretationen dieses Textes das “Untertan-Machen” durch den Menschen abzumildern. Sie wollen uns beinahe plausibel machen,  als empfehle der liebe Gott den Menschen schon den Tierschutz und die ökologische Lebensform. Siehe dazu unten den ausführlichen Hinweis, Fußnote 1.
Die herrschende Mentalität ist also vor allem die Mentalität der Herrschenden, die allen anderen – auch durch die Medien – vermittelt, besser: „aufgedrückt“ wird.
4.
Die allgemeine Mentalität bestimmt über die christlich – jüdischen Bereiche hinaus Menschen weltweit: Menschen sahen und sehen ihr Lebensziel darin, sich die Erde untertan zu machen! Es geht um Untertanen und Herren! Diese Ideologie hat sich seit der frühen Neuzeit in Europa durchgesetzt.
Die Natur wurde als „das für den Menschen andere und Fremde und weniger Wertvolle“ wahrgenommen. Die Natur wurde zur Welt der „Objekte“. Zu diesen Objekten zählte man seit der frühen Neuzeit explizit auch die Tiere. In dem Zusammenhang wäre über Descartes ausführlicher zu sprechen: Er betont: Das Denken des Menschen steht der Welt der „Ausdehnungen“, also der Natur gegenüber, die Natur wird zu einem „Mechanischen“ degradiert. Tiere deutete Descartes als „seelenlose Maschinen“ , „Automaten“, dies schrieb er in seinem Brief an den Marquis von Newcastle vom 23.11.1646.
Immanuel Kant hat dann später in seiner „Metaphysik der Sitten“ die Tierquälerei verurteilt, aber nicht so sehr um der Tiere willen (die sind vernunftlos), sondern weil der Mensch sich selbst dabei seelisch schadet, weil er „verroht“. Tierschutz und Naturschutz werden also, wie schon seit dem Mittelalter „anthropozentrisch“ verstanden, immer steht der Mensch (als Herr) im Mittelpunkt.

Und der Mensch sieht nicht: Wenn er die Natur zu dem “Fremden”, “Anderen” erklärt, dass er dann als Mensch seine menschlichen Kategorien des Denkens diesem Anderen, Fremden, aufdrückt, um über das Andere, Fremde umgehen zu können, um über es zu verfügen. Und die Natur gehorcht ja auch dem Zugriff des Menschen, indem sie sich bearbeiten und verändern lässt. Der Mensch will letztlich in dieser Herrschafts – Beziehung zur Welt, als seiner Welt, mit sich allein sein.

Und der Mensch kann in dieser Haltung der totalen Menschen – Herrschaft nicht mehr die Natur, die Tiere, vor allem: die anderen, befremdlich erscheinenden Menschen als solche respektieren und sein und leben lassen. Alles wird also unter die letztlich tötende Verfügung des Menschen gestellt: Er kann dann die gute und wahre Stimme der “anderen” nicht mehr hören. Eine Form von Taubheit und Blindheit ist die Konsequenz dieses herrschenden monologischen Verhältnisses des herrschenden Menschen zum anderen, Fremden, auch zur Natur, zu den Tieren.

„Naturschutz“ wurde als Begriff für eine von Menschen bedrohte Natur erst 1888 von dem Komponisten Ernst Rudorff (1840-1916) geprägt, als ein normativer Begriff, der den Zustand (die Lebendigkeit) der Natur bewerten sollte. Auch von den Leistungen Albert Schweitzers wäre hier zu sprechen, von seiner Erkenntnis: „Alles, was lebt, ist wie eine große Familie“ und der „Mitgeschöpflichkeit“ als Verbindung aller Lebewesen inklusive des Menschen.
Aber diese Erkenntnisse blieben marginal, sie konnten den Willen zur totalen Herrschaft über die Natur weder im Staats-Sozialismus noch im Kapitalismus/Neoliberalismus bremsen.

Ein aktuelles Beispiel (Februar 2022): Der neue Film von Andrea Arnold mit dem Titel “Cow”: Die Protagonistin in diesem Film ist die Kuh “Luma”, ihr Leben als Leiden wird eindringlich und empatisch vorgestellt. Schon kurz nach der Geburt ihres Kalbes wird das junge Tier der Mutter entrissen. Das Tier erlebt das Drama der Trennung, dem kann sich der Zuschauer nicht entziehen. “Luma” ist nur ein Objekt in der kapitalistischen Milch – und Fleischproduktion, eine Maschine, die den menschlich vorgebenen Effizienz – Normen entsprechen muss. Dass man dem Tier einen Namen gibt, dient wahrscheinlich der höheren “Effizienz”, diese wird bei freundlicher Namensgebung wohl erwartet. “Ist alles aus dem Körper der Kuh für die Menschen herausgeholt, findet ihre Existenz ein frühes Ende”, schreibt Esther Buss in einer Rezension des “Tagesspiegel” (9.2.2022, S. 20).
5.
Diese Mentalität hat in der Metapher ihr sozusagen „göttliches Zentrum“: „Der Mensch soll und darf sich alles untertan machen“. Es muss noch einmal an das viel zitierte Wort „Gottes” bei der Erschaffung der Menschen erinnert werden, mitgeteilt gleich in den ersten Zeilen der Bibel, im Buch Genesis, 1.Kap. Vers 28 ff. Gott befiehlt: „Seid fruchtbar und vermehret euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.” Dass dieser göttliche Spruch auch die ungehemmte Vermehrung der Menschen erlaubte, ist klar. Unkontrollierte Vermehrung der Menschheit und Herrschaft über die ganze Natur sind nur zwei Seiten desselben Phänomens. Dieser Text wurde ca. 600 v.Chr. geschrieben, also in einer Welt, in der sich die Menschen von wilder Natur und wilden Tieren bedroht sahen, dies nur als historische Einordnung. Das Schlimme ist, dass dieser Spruch, geschrieben vor ca. 2.600 Jahren sich offenbar bruchlos in den Köpfen festgesetzt hat bis heute: Mit der Zuspitzung: Die Herrschenden sollen herrschen. Und die Herrschenden sind die Weißen. Sie haben Untertanen nicht nur in den Tieren, sondern in den für minderwertig bewerteten „anderen“ Menschen, etwa den Schwarzen, den „Einheimischen“ Amerikas und Asiens usw.
Es führt also eine direkte Linie von dem göttlichen Auftrag zur Naturbeherrschung zur Herrschaft einiger Herrenmenschen über andere Menschen, die nicht mehr als vollständige, gleichberechtigte Menschen, sondern als Sklaven betrachtet und behandelt wurden und werden. Die mediale Aufregung über drei verunglückte Skifahrer in Europa ist größer als das Hungersterben von vielen tausend „Schwarzen“ in Afrika. Rassismus ist eine Konsequenz von „Macht euch die Erde untertan.“
6.
Für die christlichen Kirchen kommt zu diesem universalen, praktisch-technischen Herrschaftsauftrag durch Gott noch ein weiterer Befehl im Neuen Testament hinzu! Und dieser Befehl ist der die Kirche betreffende Auftrag, alle Menschen zu Mitgliedern der vom Klerus bestimmten Kirche zu „machen“. Die vielen „Laien“ macht sich der Klerus zu Untertanen der einen großen Kirche. Denn nur der Klerus tauft, nur der Klerus lehrt, nur der Klerus darf der Eucharistie vorstehen, die Sakramente spenden etc. Pluralität vieler unterschiedlicher Religionen soll es nicht geben, sondern Ziel ist die Einheit der Menschheit in EINER Kirche. Der immer noch bestehende Anspruch der römischen Kirche, „allein seligmachend“ zu sein, hat darin seine Wurzeln.
Wie kam es zu dieser totalitär erscheinenden Auffassung: Die Christen und ihre Kirchenführer werden, so erzählt der Mythos, von dem auferstandenen Jesus Christus persönlich aufgefordert, zu allen Völkern zu gehen: „Und macht alle Menschen zu meinen Jüngern…und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe”, so heißt es am Schluss des Matthäus-Evangeliums Kap. 28, Vers 19.
Jesus von Nazareth wird also in diesem Text aus den Jahren zwischen 75-90 bereits als Kirchengründer gedeutet mit einem universalen Anspruch. Dass Jesus von Nazareth, am Kreuz elend gestorben im Jahr 30, diese Worte, von einem Autor Matthäus geschrieben, überhaupt nicht gesagt haben kann, schon gar nicht als ein der menschlichen Sprache nicht mehr mächtiger Auferstandener, ist historisch-kritisch erwiesen.
Der universale Missionsbefehl Jesu ist also eine theologische Erfindung der ersten Gemeinde, die sich als universale „Heilsgemeinschaft“ (Kirche) trotz (oder gerade wegen) ihrer damals zahlenmäßigen (UN)Bedeutung positionieren musste. Tatsache ist, dass Jesus von Nazareth so sehr von einem Ende der Zeiten und dem Beginn des Reiches Gottes „alsbald“ überzeugt war, dass er an eine lange Zeit bestehende kirchliche Organisation gar nicht denken konnte. Der aus der katholischen Kirche exkommunizierte französische Theologe Alfred Loisy (1857-1940) sagte treffend: „Jesus verkündete das Reich Gottes. Und gekommen ist die Kirche“.
Worauf diese universale Missionstätigkeit auch gesellschaftlich-politisch hinausläuft, ist für die Kirche selbst nicht deutlich oder wird heute eher verschwiegen: Was soll denn werden, wenn alle Menschen (!) katholisch sind? Sollen also alle dem Papst gehorchen? Und ein katholisches Welt-Regime errichten?
7.
Die erste Kirchengemeinde fühlte sich aber so stark, einen totalen Anspruch formulieren zu müssen: ALLE Menschen sollen „Jünger Jesu“ werden. Einen Jünger Jesu könnte man sich grundsätzlich auch außerhalb einer Kirchen-Organisation vorstellen: Jünger Jesu waren (und sind) auch (und vor allem!) alle Friedfertigen, Gerechten, Solidarischen usw., siehe die Bergpredigt Jesu! Das Jüngersein sprengt also alle kirchlichen Eingrenzungen.
Aber daran denkt der Autor Matthäus nicht: Er betont: Wer Jünger Jesu sein will, muss sich taufen lassen und dabei ein Bekenntnis ablegen zum trinitarischen Gott. Dass diese Formel des trinitarischen Gottes schon in der Frühzeit der Kirchen höchst umstritten war und als offizielles Bekenntnis eher vom Kaiser den Christen aufgezwungen wurde, kann hier nur nebenbei erwähnt werden. Bedeutende Theologen, wie Sozzini und seine Kirche im 16. Jahrhundert, haben ein Christentum zeigen wollen und gelebt, das ohne diese klassische trinitarische Formel auskommt. Aber Sozzini und die Seinen haben sich in den großen, sich selbst unbescheiden rechtgläubig nennenden großen Kirchen nicht durchgesetzt: Ob Inder oder Chinesen, Indigenas am Amazonas oder Philosophen und Naturwissenschaftler in Europa usw., sie alle müssen, wollen sie denn Jünger Jesu sein IN der Kirchen-Organisation, das trinitarische Bekenntnis sprechen (ob sie es verstehen, ist eine andere, aber entscheidende Frage).
Die Kirche will heute spirituell, vor allem, im Mittelalter auch sehr „weltlich“-politisch, herrschen über die Menschheit. Sie hat dabei diese Herrschaft immer als Dienst, als Hilfe zum guten Leben etc. darstellen wollen. Aber mit sanftmütigen Worten wurde grausam missioniert, man denke an die Kreuzzüge im Mittelalter, vor allem an die Kreuzzüge ins „Heilige Land“ zur Vertreibung der Muslime von den „heiligen Stätten“ UND zur Stärkung der eigenen Wirtschaft. Die Kreuzzüge sind also eine Art Bündelung von „Machst euch die Erde untertan“ UND „Macht alle Völker zu Kirchenmitgliedern“. Dafür gibt es viele weitere Beispiele. Man denke an die Verbindung von Mission und Kolonisierung in Amerika seit 1492.
Ich zitiere nur kurz einen kirchenoffiziellen Text aus den missionarischen Jahren der „Entdeckung“ Amerikas (siehe dazu den Historiker Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt, C.H.Beck Verlag München, 2016, S. 311): Die spanischen Missionare in (Latein)Amerika forderten die Indigenas auf, sich dem katholischen Glauben anzuschließen. Dann sei alles soweit geregelt, sagten die Spanier. Aber wer sich NICHT taufen ließ? Da heißt es in dem Dokument u.a. (zit bei W. Reinhard): „Wenn Ihr („die Indios“) aber nicht die Kirche als Herrin anerkennt, so tue ich euch kund, dass ich mit der Hilfe Gottes euch bekriegen und euch unterwerfen werde unter das Joch und den Gehorsam der Kirche und ihrer Hoheiten. Und eure Personen und eure Frauen und Kinder werde ich gefangen nehmen und zu Sklaven machen und als solche verkaufen… Und ich erkläre, dass die Tötungen und Schäden, die sich daraus ergeben werden, von euch selbst verschuldet sind“.
Die offizielle Proklamation, Requerimiento genannt, wurde seit 1513 „freundlicherweise“ von der Kirche den Einheimischen zur Kenntnis gebracht.
8.
Menschliche Herrschaft und ineins damit kirchliche Herrschaft über die „anderen“ haben ihre Wurzeln in der Bibel, vorausgesetzt, dass man die entsprechenden Befehle Gottes (im AT) und Jesu Christi (im NT) in der üblichen, durchaus bis heute populär verbreiteten Bibellektüre und Interpretation versteht. Dass es Minderheiten innerhalb der Kirche gab, die den Missionsbefehl eher als „Aufforderung zum Dialog“ verstanden, wie Franziskus von Assisi, muss erwähnt werden. Aber Franziskus von Assisi hat sich auch in dieser Hinsicht in seiner Kirche NICHT durchgesetzt.
9.
Der Herrschaftsanspruch der Kirche ist immer der Herrschaftsanspruch des Klerus, der sich selbst als die einzig authentische Elite zur Interpretation biblischer Texte und zur Formulierung von Dogmen ermächtigt hat – bis heute ist diese totale Herrschaft eine Realität, „Synodale Vorgänge“ („Synoden“) in einzelnen „Landeskirchen“ sind dann nur Beschäftigungstherapien für oft mutlose Laien… Für die Spitze der katholischen Kirche, die sich, so wörtlich, als göttliche (!) Stiftung versteht, gibt es aber noch spezielle Anweisungen zur Herrschaft: Die Priester werden per Kirchengebot zum Zölibat verpflichtet: Nur als Ehelose können die Kleriker treue Untertanen von Papst und Bischöfen sein!
Das hat eine leidvolle Konsequenz, sie betrifft eine besondere Unterdrückung der Natur, nämlich der menschlichen, leiblichen, sexuellen Natur des Klerus. Es geht um das Verbot, der eigenen menschlichen Natur zu folgen, und der Klerus soll auf Sexualität „freiwillig“ verzichten, auf körperlicher Vertrautheit und Vereinigung mit anderen Menschen. Auch die menschliche Natur aller Priester soll wegen einer Entscheidung des hohen Klerus im Mittelalter geknechtet und stillgelegt werden.
10.
Auf ein weithin unbekanntes Detail muss hingewiesen werden: Der führende Klerus, selbst „zölibatär“, fordert die jungen Priesteramtskandidaten (also oft schon im Alter von 19/20 Jahren) zu einer problematischen, wenn nicht krank, neurotisch machenden Askese auf. Im Dekret über die Priesterausbildung des 2. Vatikanischen Konzils (1962-65), im § 10 ,heißt es: „Auf die Gefahren, die ihrer Keuschheit besonders in der gegenwärtigen Gesellschaft drohen, sollen die Priesterkandidaten hingewiesen werden. Sie müssen lernen…eine vollkommene Herrschaft über Leib und Seele und eine höhere menschliche Reife zu gewinnen und die Seligkeit des Evangeliums tiefer zu erfahren.” Das wagen die greisen Konzilsväter den jungen Männern zuzumuten, diese Herren-Bischöfe, Exzellenzen, Hochwürden etc. genannt, wissen, dass sie damit die jungen Männer seelisch und dann auch körperlich krank machen. Und dann schwafeln diese Herren noch von der bei so viel Leiden und „Opferbringen“(!) Erfahrenen, wörtlich, der „Seligkeit des Evangeliums“.
Man kann hier nur von einer verordneten Vergewaltigung („Untertan – Machung“) von Seele und Leib sprechen. Und jetzt wissen so viele: Der dekadente, wegen sexuellen Missbrauchs verbrecherische Teil des Klerus ist sozusagen der leibhaftige Ausdruck dieser Herrschaft über die eigene Natur und die eigene Sexualität.
Schon im § 9 des genannten offiziellen Konzils-Dokumentes wird empfohlen: Die jungen Priesterkandidaten sollten „im Geist der Selbstverleugnung erzogen werden, so werden sie dem gekreuzigten Christus ähnlich”. Da wird also die Unterdrückung von Sexualität mit dem Kreuz Jesu von Nazareth verbunden: Jesus ist ja nicht wegen unterdrückter Sexualität hingerichtet worden, sondern wegen seiner umfassend lebensbejahenden und erotisch gefärbten Haltung, auch zu den Frauen, einen „Lieblingsjünger“, Johannes mit Namen, hatte Jesus ja bekanntlich auch, er ruhte an der Brust des „Herren“. Nebenbei: Über die Erotik Jesu von Nazareth ist viel zu wenig geforscht worden. Aber dafür muss man sich mehr für den Juden Jesus von Nazareth interessieren als für den vergöttlichen, leibfreien „Christus“ – also auch den trinitarischen himmlischen „Logos.“
Der genannte Konzilstext erklärt, warum diese ganze Prozedur der Unterdrückung der menschlichen Natur durch die Priester geschehen soll: Im § 9 heißt es weiter: „Dann werden die Priester dem Stellvertreter Christi, also dem Papst, in demütiger und kindlicher Liebe ergeben sein, und sie werden später als Priester dem Bischof als ergebene Mitarbeiter anhangen…” In Liebe ergeben: Wer als Priester dies war, der wurde auch als wegen pädosexueller Verbrechen durch die Liebe des Bischofs vor den Gerichten bewahrt…Aber auch dies: In Liebe ergeben darf man bitte nicht wörtlich nehmen, im Sinne von homosexueller Liebe, das würde offiziell pervers genannt, aber de facto praktiziert. Siehe das Buch von Frédéric Martel, Sodom. LINK.
11.
Dieser kurze Hinweis beschreibt nur ein ausbaufähiges Projekt, das schon mehrfach von verschiedener, auch nicht-theologischer Seite aufgegriffen wurde.
Uns liegt nur daran, an die fatalen Folgen bestimmter biblischer Texte zu erinnern, weil sie – wie so viele andere biblische Sprüche – aus Gründen der Herrschaft wörtlich verstanden werden. Diese Sprüche haben sich wegen einer gewissen „griffigen Formulierung“ als herrschende Mentalität durchsetzen können. Es wäre für aufgeklärte Christen besser und heilsamer, diese uralten Texte aus einer fernen, vor-modernen Welt nur noch als historisch interessante Mythen zu lesen. Unmittelbar praktisch „umsetzbar“ sind sie nicht und sollten sie um der Welt und der Menschen NICHT sein.
Kritisches Verstehen der Bibel vermag vielleicht schlimmste Missverständnisse, selbst wenn sie sich „eingeprägt“ haben, zu verhindern. Die Bibel ist eben nicht total „Gottes Wort“.
Die Bibel kann für eine kritische Theologie nur ein Buch sein, das literarisch unterschiedliche religiöse Überzeugungen versammelt, von Menschen aus den Jahren 1000 vor Christus bis ca. 120 nach Christus. Und diese religiösen Überzeugungen und Erzählungen früherer Menschen sind nicht automatisch „göttlich“.

12.

Es kommt also darauf, die genannten Weisungen Gottes zur “Untertan – Machung” beiseite zu legen und neue Weisungen zu formulieren, die den Menschen aus der totalen Rolle des Alleinherrschers über die Natur und die “anderen” befreien. Der Philosoph Hans Jonas hat da schon großartige Vorschläge gemacht.

FUßNOTE 1: Die Bibelwissenschaftler Prof.Karl Löning und Prof. Erich Zenger befassen sich in ihrem Buch „Als Anfang schuf Gott“ (Düsseldorf 1997) auch mit dem Auftrag Gottes an die Menschen „zur Gestaltung der Welt“, wie beide Wissenschaftler dann sehr moderat die von Gott empfohlene und befohlene „Herrschaft des Menschen über die Natur“ nennen. Die Exegeten wehren sich explizit gegen die Luther-Übersetzung „Macht die Erde euch untertan“, und sie wehren sich auch gegen die katholische Einheitsübersetzung „Unterwerft die Erde euch und herrschet“ (S. 149).

Aber diese Kritik an den Übersetzungen schränken die beiden Professoren dann sofort wieder ein: “Beide Übersetzungen sind nicht voll falsch, aber sie sind in zweifacher Hinsicht problematisch“ (S. 149). Was soll schon „voll falsch“ bedeuten?

Es ist also für die Bibelwissenschaftler eine Art „Grauzone“, im einzelnen betonen sie:
Gemeint sei in der Bibel nicht, der Mensch solle wie ein kriegerischer Feldherr gegen die Erde kämpfen!
Falsch übersetzt sei sogar, wenn in beiden genannten Übersetzungen von EUCH (bezogen auf die Menschen) die Rede ist. „Das Dativ `euch` steht nicht im hebräischen Text“. (ebd.)

Dabei muss aber die Frage gestellt werden: An wen wendet sich dann aber Gott? Irgendeinem Wesen muss der tätige Umgang mit der Welt und den Tieren ja gelten! Also dann doch den Menschen, selbst „wenn das Dativ im hebräischen Text fehlt“.

Beide Autoren verweisen dann noch auf den Grundgedanken des Schöpfungsberichtes: Und dieser sei die „Gottebenbildlichkeit des Menschen“ (S. 153), mit diesem Verweis meinen sie, die „Härte“ des Auftrages Gottes „zur Gestaltung der Welt“ abzumildern.

Dennoch müssen die Exegeten zugeben: „Eine gewalttätige und nur dem Menschen dienliche Herrschaft über die Welt, Tiere usw. Ist – bei Berücksichtigung der Gottebenbildlichkeit des Menschen – WENIG WAHRSCHEINLICH“ (153). Diese gewalttätige Herrschaft des Menschen ist also dann doch auch denkbar und wahrscheinlich. Man hat bei diesem Hin und Her der Argumente den Eindruck, die beiden Exegeten betreiben eine Art apologetische Bibeldeutung, nach dem Motto: In der Bibel darf es nur richtige und gute Empfehlungen „Gottes“ geben. Noah und seine Arche, die auch Tiere rettete, werden dann noch als Beleg gedeutet förmlich für den Tierschutz, den schon Noah leistete.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Papst Franziskus – ein Papst der Widersprüche. Versuch einer Erklärung.

Ein Hinweis von Christian Modehn, zuerst veröffentlicht am 14.2.2022.

Inhaltsverzeichnis zu diesem Hinweis:

1.Der von Kardinal Bergoglio gewählte Papst-Name Franziskus (von Assisi) ist von vornherein ein Hinweis auf die inneren Spannungen und Widersprüche in seinem „Pontifikat“.

2. Die offenkundigen Widersprüche im Reden und Handeln von Papst Franziskus lassen sich auch mit der zentralen Ideologie seiner argentinischen Herkunft, konkret: seiner Nähe und Sympathie für die „Guardia de Hierro“, „die Eiserne Garde „des Peronismus, besonders von 1972-1974, erklären.

Das Motto:

Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie muss sich immer gleichzeitig mit der gedanklichen Entwicklung von Beziehungen des Menschen zu einer göttlichen Wirklichkeit befassen UND in gleichem Maße mit den gegenwärtigen Formen sich religiös nennender Praxis. Kritik der Religionen (auch Kritik des Glaubens, der sich „Atheismus“ nennt) und Kritik der Kirchen gelingt nur mit dem Maßstab der Vernunft. Sie ist die innere Mitte der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie. Es ist also ausgeschlossen, dass religiöse, konfessionelle Normen oder so genannte heilige Bücher das Kriterium liefern für religionsphilosophische Debatten.

Erinnerung an einige allseits bekannte Fakten:

Das wissen alle, die sich mit dem jetzigen Papst Franziskus beschäftigen: Papst Franziskus ist eine zwiespältige Gestalt. Er glaubt an den Teufel, argumentiert oft in  volkstümlicher Überzeugung mit dessen Existenz. Andererseits gibt Papst Franziskus sich theologisch ein bisschen auf der Höhe der Diskussionen: Er fordert mehr synodale Strukturen,  also eine Art bescheidene katholische Variante von Demokratie. Aber er führt als Papst synodale Entscheidungen nicht zu Ende, siehe die berühmte „Amazonas-Synode“ und die dort geforderte Aufhebung des Pflichtzölibates für Priester. Einerseits zeigt er sich als Freund der Armen und Flüchtlinge, er besucht Lampedusa, auch Lesbos usw. und diese Besuche lassen ihn in der Öffentlichkeit glaubwürdig erscheinen. Andererseits ist er als Papst schon aufgrund des Amtes autoritärer Herrscher im Vatikan (Legislative, Judikative, Exekutive alles in seiner „Hand“). Er hat nach wie vor nicht die Erklärung der Universalen Menschenrechte unterschrieben. Einerseits plädiert Papst Franziskus für „mehr Ökumene“, aber er verfügt nicht, dass die römische Kirche volles Mitglied im Ökumenischen Weltrat der Kirchen (Genf) wird. Denn so glaubt er: Die katholische Kirche ist eben doch etwas Besseres und Einmaliges, das ist die Botschaft der Päpste bis heute! Einerseits will er vieles gegen die Sexualverbrechen durch Kleriker tun, ist aber in der Realisierung dieses Vorhabens sehr zurückhaltend, gerade was den umfassenden Respekt für die Opfer angeht.

Es gibt hunderte weiterer Beispiele: Papst Franziskus sagt nicht nur mal dieses und dann mal jenes. Seine Worte und Taten sind oft widersprüchlich. Diesem Papst fehlt die innere konsequente Linie. Er jongliert. Nur gelegentlich spricht er päpstliche Allmachtsworte, wie den Rausschmiss Kardinal Müller aus dem Amt des obersten Glaubensbehörden-Verwalters, später wurde Müller wieder etwas rehabilitiert. Gegen die aktuelle Polemik Müllers schreitet er hingegen nicht ein…

1.Papst FRANZISKUS

Für die Widersprüchlichkeit im Sprechen und Handeln von Papst Franziskus (man denke nur an die elenden Debatten um Homosexuelle) gibt es eine erste Erklärung, sie wurde meines Erachtens bisher zu selten beachtet: Es ist die Spannung, wenn nicht der Widerspruch, der sich im Namen und Titel „Papst Franziskus“ zeigt. Mit anderen Worten und etwas zugespitzt gesagt: Ein Papst kann sich eigentlich nicht und darf sich nicht „Franziskus“ nennen, wenn denn mit „Franziskus“ der heilige Franziskus von Assisi gemeint ist. Bis jetzt hat sich auch kein Papst „Petrus II“ .genannt, offenbar aus Ehrfurcht (oder Aberglauben) vor diesem verheirateten Fischer, der angeblich von Jesus höchstpersönlich zum „Fels“ der Kirche ernannt wurde.

Zur Biographie des ständig idealisierten un auch verkitschten Franziskus von Assisi: Er war ein Laie, der im Mittelalter bei einer reichen Kirche in Italien für eine radikale Kirchenreform kämpfte. Er wollte eine Reform-Bewegung von Laien, die gegen die mittelalterliche Prunksucht der Päpste und Bischöfe aufbegehrten und eine andere Kirche wollten, eine Kirche im Sinne des armen Jesus von Nazareth, ohne die Allmacht des Klerus, auch die Allmacht der Päpste. Sein Zeitgenosse, Papst Innozenz III., selbst ein Allmächtiger, wusste, welche theologische „Sprengkraft“ in Franziskus von Assisi vorhanden war… und ihm gelang es, Franziskus, den Antiklerikalen, in diese bestehende Kirche einzubinden. So wurde des Franziskus` eher papstkritische Laienbewegung der Armen gestoppt … und ein klerikaler Franziskanerorden entstand.

Wenn sich ein Papst auf diesen Franziskus von Assisi bezieht, tritt er selbst automatisch in eine antiautoritäre, antiklerikale und letztlich antipäpstliche Tradition ein. Er kann sich aber als weiterhin im Vatikan-Staat mit seinen Palästen, allerdings dort bescheiden lebender Papst damit trösten, dass Franziskus von Assisi sozusagen von Innozenz III. und den Kardinälen „umgedreht“ wurde und sich auf eine „Entschärfung“ und „Ent-Radikalisierung“ seiner Botschaft einließ…in Gestalt eines strukturierten klerikalen Ordens.

Mit anderen Worten: Wenn ein Kardinal sich als Papst den Namen Franziskus (von Assisi) gibt, kündigt er eigentlich mit dieser Wahl auch das Ende des (bislang üblichen) Papsttums an.  Dieser Namenswahl könnte etwa, leicht zugespitzt, eines Tages auch der Papstname „Papst Martin Luther I.“ entsprechen. Das wäre sicher das Ende des „klassischen“ Papsttums, hoffentlich, ist aber unwahrscheinlich.

2. Bergoglio – der Peronist.

Es wurde in der theologischen und religionskritischen Forschung bis jetzt leider der wichtige Aufsatz von Colm Tóibín übersehen, den der irische Journalist und Literaturwissenschafter, Lehrbeauftragter an der Stanford University usw., in der Zeitschrift „Lettre International“, Ausgabe Frühjahr 2021, S. 68 -75, veröffentlichte.

Der Titel von Tóibíns Studie: „Das Lächeln Bergoglios. Vom peronistischen Jesuiten zum Heiligen Vater im Vatikan – Eine Karriere“.

Tatsache ist, dass Bergoglio von 1972 bis 1974 der peronistischen Bewegung „Guardia de Hierro“ („Eiserne Garde“) nahestand, das wird von Historikern überhaupt nicht bestritten. Wie sich daraus eine Nähe UND Distanz des Provinzials der argentinischen Jesuiten Bergoglio zu den mordenden Militärs in Argentinien (von 1976-1983) entwickelte, wird noch weiterhin hoffentlich umfassend studiert und diskutiert. Der Sozialist und Ökonom Roberto Pizarro H. entschuldigt förmlich die bekannte damalige „Schwäche“ („debilidad“) des führenden Jesuiten Bergoglio in dieser Zeit damit, dass Bergoglio nun als Papst so viel Gutes tut zugunsten der Armen. So kann man auch politische Fehler eines Jesuitenprovinzials reinwaschen. Quelle: https://www.eldesconcierto.cl/opinion/2018/01/13/el-papa-francisco-la-guardia-de-hierro-y-el-genocida-massera.html.

Über die undeutliche Haltung des Jesuitenprovinzials Bergoglio während der Militärdiktatur spricht auch Tóibín in seinem Artikel. Auch seine spirituelle Praxis, volkstümlicher Art („Verehrung von Heiligenbildern und der Kultus der Madonna“, S. 70) wird ausführlich behandelt. Wichtig ist die innere Verbundenheit mit „dem“ Peronismus: „Bergoglio ist ein Peronist, und die Pointe des Peronismus ist es, dass er sich niemals definieren lässt. Die Montoneros, die in den siebziger Jahren Argentinien mit einer Terrorismuskampagne überzogen, waren Peronisten. Und die Eiserne Garde, die rechte Gruppe, mit der Bergoglio in Verbindung stand, bestand ebenfalls aus Peronisten. Präsident Carlos Menem war Peronist und die Präsidenten Kirchner waren es auch. Ein Peronist zu sein, heißt alles und nichts. Es heißt, dass man zeitweise mit genau den Dingen einverstanden sein kann, die man ansonsten ablehnt. Man kann sowohl Reformer sein wie gleichzeitig ein Konservativer“ (S. 74). …“Bergoglio konnte in einem Augenblick den Anarchisten spielen und im nächsten in seine autoritäre Rolle zurückfallen“ (S. 73).

Das heißt: Es ist dieses taktische Lavieren, dieses Schwanken je nach der machtpolitischen Situation zwischen Ja und Nein, es ist diese Dialektik von Zustimmung und Widerspruch ohne zu einer neuen höheren Ebene zu führen, die den – in Deutschland weithin unbekannten – Peronismus auszeichnet…und die, wie Colm Tóibín schreibt, auch den peronistischen Jesuiten Bergoglio und Papst Franziskus prägt. So wird eine Antwort gegeben auf das widersprüchliche Verhalten dieses Papstes etwa zum Zölibat – angesichts der „Amazonas-Synode“ – oder zur konsequenten Bestrafung von sexuellen Missbrauchstätern im Klerus. Oder zum äußerst verständnisvollen und geduldigen Umgang mit den in dem Zusammenhang hoch belasteten Kardinälen (wie Woelki in Köln). Andererseits: Der rasante Rausschmiss des Pariser Erzbischofs Aupetit, der den „furchtbaren“ Makel hat, sich in eine Frau ein bisschen verliebt zu haben und das auch noch dummerweise veröffentlichte. Aber solche heterosexuellen  Makel werden wohl immer seltener, mangels heterosexueller Priester…

Das ist erstaunlich: Die katholische Wochenzeitschrift „Christ in der Gegenwart“ (Herder-Verlag) scheibt in ihrem Kommentar vom 6.1.2022, wie Papst Franziskus geradewegs ungeniert und nur aus machtstrategischen Überlegungen (dies ist auch peronistischer „Geist“ !) Kardinal Marx (München) zur Fortsetzung seines Amtes als Erzbischof verdonnert, obwohl Marx nachweislich viele Fehler begangen hat…Weil er viele pädosexuelle Verbrechen im Klerus nicht der staatlichen Justiz übergab. André Lorenz scheibt in „Christ in der Gegenwart“: „In bitterer Erinnerung bleibt der Satz von Papst Franziskus aus seinem Schreiben an Kardinal Marx, in dem er dessen Rücktrittsangebot am 10. Juni 2021 abgelehnt hatte: „Das ist meine Antwort, lieber Bruder. Mach weiter, so wie Du es vorschlägst, aber als Erzbischof von München und Freising. “Das ist das Problem…:So lange Bischöfe, in deren Zuständigkeitsbereich sexueller Missbrauch durch Geistliche systematisch vertuscht worden ist, im Amt bleiben dürfen, wird nichts mehr gut in unserer Kirche“, soweit „Christ in der Gegenwart“. .

Man wird also sagen: Trotz aller großen Worte und so sympathischer populärer Gesten (Umarmen von Kindern, Fußwaschungen von Obdachlosen etc.), ist auch Papst Franziskus ein Vertuscher, ein Machtpolitiker üblicher vatikanischer Tradition seit Jahrhunderten, und eben ein Peronist.

Und man wird dadurch erneut aufgefordert, Bergoglios Verhalten als Provinzial der Jesuiten in Argentinien zu studieren, sein zwiespältiges Verhältnis zur Militärjunta und zu so genannten linken Jesuiten, die sich seines Schutzes als Provinzial vor der Gewalt des Militärregimes nicht sicher fühlten, also etwa die Jesuiten Franz Jalics und Orlando Yorio…

Pater Jalics hat nach seiner Freilassung aus den Gefännissen der Militärs Bergoglio freigesprochen, für die erlittenen Qualen durch die Militärs mit-verantwortlich zu sein. Es war „die ständige Anrufung Jesu im Gebet“, die bei dem frommen Pater Jalics diese Läuterung des Verzeihens (gegenüber Bergoglio) bewirkte. (Fußnote 15 im wikipedia Beitrag zu Franz Jalics SJ).

Papst Franziskus wird, wenn nicht ein Wunder geschieht, als jonglierender, hin – und her zerrissener Papst in die Geschichte eingehen. Er ist eben nur zum Teil ein so genannter Progressiver. Und es sieht alles danach aus, dass die tatsächliche Allmacht der katholischen Klerus-Kirche (die manche noch verbliebenem Katholiken förmlich zur Verzweiflung bringt heute) ad aeternum fortbestehen wird. Wenn einmal ein persönlicher Hinweis erlaubt ist: Wer noch Vernunft und Mut hat, sollte darüber nachdenken, sich dem theologisch-liberalen Protestantismus anzuschließen, auch als Beitrag zur Ökumene, oder den mystischen Weg zu gehen… Man muss nur gut hinhören in all den Kommentaren aus seriösen katholischen Zeitschriften, wie „Christ in der Gegenwart“. Der Tenor ist doch klar: Dieser klerikale Katholizismus ist vorbei, inhaltlich, theologisch, spirituell, auch wenn er noch als machvolles institutionelles Skelett mit vielen alten Klerikern fortbesteht (solange das Geld fließt)…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin